p-4ra-3Über die Notwendigkeit marxistischer Sprachforschung    
 
A.N. LEONTJEW / A.R. LURIA
Die Rolle des Sprechens bei
der Organisation geistiger Prozesse


Dieser ganze Vorgang der Übertragung von Wissen und der Bildung von Begriffen konstituiert den zentralen Prozeß der intellektuellen Entwicklung des Kindes.

Die Sprache, die den Erfahrungsschatz ganzer Generationen oder, allgemeiner gesagt, der Menschheit verkörpert, ist von den ersten Lebensmonaten an im kindlichen Entwicklungsprozess inbegriffen. Indem der Erwachsene Gegenstände benennt und auf diese Weise deren Verknüpfungen und Beziehungen definiert, schafft er neue Formen der Reflexion der Wirklichkeit im Kinde, die ungleich tiefer und komplexer sind als jene, welche es durch individuelle Erfahrung hätte bilden können.

Dieser ganze Vorgang der Übertragung von Wissen und der Bildung von Begriffen, worin ja der grundlegende Weg der Beeinflußung des Kindes durch Erwachsene besteht, konstituiert den zentralen Prozeß der intellektuellen Entwicklung des Kindes. Wenn diese Bildung der geistigen Tätigkeit des Kindes im Erziehungsprozeß außer acht gelassen wird, ist es unmöglich, irgendeine der Tatsachen aus der Psychologie des Kindes zu verstehen oder ursächlich zu erklären. Deshalb ist es ja das wichtigste Prinzip der sowjetischen Psychologie, das alle Forschung durchdringt, die geistigen Vorgänge im Kind als Produkt seiner Kommunikation mit der Umgebung und als Erwerb der allgemeinen menschlichen Erfahrungen vermittels des Sprachgebrauchs zu untersuchen.

Da dieses Prinzip eine so entscheidende Bedeutung besitzt und weil es auch im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht, ist es unerläßlich, diese Frage noch gründlicher ins Auge zu fassen. Es wäre ein Mißverständnis anzunehmen, die sprachliche Kommunikation mit Erwachsenen ändere lediglich den Inhalt der kindlichen Bewußtseinstätigkeit und nicht auch deren Form.

Die Kommunikation mit Erwachsenen ist deshalb von höchster Bedeutung, weil die Aneignung eines Sprachsystems die Reorganisation sämtlicher grundlegenden geistigen Leistungen des Kindes einschließt. Das Wort wird so zu einem extrem wichtigen Gestaltungsfaktor der geistigen Aktivität, der die Reflexion der Wirklichkeit vervollkommnet und neue Formen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der Einbildungskraft, des Denkens und Handelns hervorbringt.

Mit der Erwerb einer solchen "außergewöhnlichen Ergänzung", wie sie das Wort, als der wichtigste neue Faktor darstellt, der im Stadium der Menschwerdung auftritt, wird - mit den Worten PAWLOWs -
    "ein neues Prinzip der Nerventätigkeit ... die Abstraktion und mit dieser die Verallgemeinerung der zahllosen Signale des vorhergehenden Systems eingeführt, und von der Analyse und Synthese dieser neuen verallgemeinerten Signale hängt wiederum des Menschen grenzenlose Fähigkeit zur Orientierung in seiner Umwelt ab sowie die höchste Form seiner Anpassungsfähigkeit: die Wissenschaft."
Das Wort hat nicht allein deshalb eine grundlegende Funktion, weil es ein entsprechendes Objekt in der Außenwelt bezeichnet, sondern auch, weil es das notwendige Signal abstrahiert und isoliert, die wahrgenommenen Signale verallgemeinert und auf bestimmte Kategorien bezieht. Diese Systematisierung der unmittelbaren Erfahrung macht die Rolle des Wortes bei der Ausprägung der geistigen Leistungen so außerordentlich bedeutsam.

Die ersten Worte der Mutter, wenn sie ihrem Kinde verschiedene Gegenstände zeigt und sie jeweils mit einem bestimmten Wort benennt, üben einen kaum wahrnehmbaren, aber entscheidenden Einfluß auf dessen geistige Bildung aus. Das mit der unmittelbaren Wahrnehmung des Objekts verknüpfte Wort isoliert dessen wesentliche Merkmale. Die Bezeichnung eines wahrgenommenen Dinges mit dem Wort "Glas" und die Hinzufügung seiner funktionellen Rolle "zum Trinken" heben die wesentlichen Eigenschaften des Gegenstandes hervor und drängen seine unwesentlichen zurück (wie sein Gewicht oder seine äußere Form). Wenn mit dem Wort "Glas" jedes beliebiges Glas bezeichnet werden kann, ohne Rücksicht auf seine Form, dann wird die Wahrnehmung dieses Gegenstandes beständig gemacht und verallgemeinert.

Das Wort, das die in der Sprache verkörperte Erfahrung von Generationen weitergibt, erschließt ein komplexes System von Beziehungen im Gehirn des Kindes und wird so zu einem Werkzeug von überragendem Rang, um Formen der Analyse und Synthese in die Wahrnehmung des Kindes einzuführen, die es niemals aus sich selbst heraus zu entwickeln vermöchte.

Wenn das Kind z.B. "Tintenfaß" (tschernilnitsa) lernt, erwirbt es damit zwangsläufig zugleich eine Form zur Systematisierung wahrgenommener Erscheinungen. Es bezieht "Tintenfaß" auf die Gruppe von Dingen, die mit Farben ("tschern-" = schwarz), mit Werkzeugen ("il-" Suffix für die meisten russischen Wörter, die Werkzeuge bezeichnen) sowie mit Behältern ("nits-", Suffix für deren Bezeichnung) im Zusammenhang stehen. In dem Maße, wie das Wort im Sprachgebrauch des Kindes Einfluß gewinnt, vertieft und bereichert es dessen unmittelbare Wahrnehmung unermeßlich und formt sein Bewußtsein.

Mit dieser Reorganisation der Wahrnehmung, dieser Verlagerung menschlicher Bewußtheit vom Stadium der unreflektierten sinnlichen Wahrnehmung auf das Niveau des verallgemeinernden rationalen Begreifens ist indessen der Einfluß des Wortes auf die Bildung der geistigen Prozesse keineswegs erschöpft. Wenn sich das Kind ein Wort zu eigen macht, das ein bestimmtes Ding isoliert und als Signal für eine bestimmte Handlungn dient, dann ist es, etwa bei der Ausführung der mündlichen Weisung eines Erwachsenen, diesem Wort geradezu unterworfen.

Das Wort des Erwachsenen wird zu einem Regulator seines Verhaltens, und die Organisation der kindlichen Aktivität wird dadurch auf ein höheres, qualitativ neues Niveau gehoben. Diese Unterordnung seiner Reaktionen unter das Wort eines Erwachsenen ist der Anfang einer langen Formationskette von komplexen Erscheinungen seiner bewußten und willentlichen Aktivität.

Indem sich das Kind den mündlichen Anforderungen eines Erwachsenen fügt, erwirbt es ein System von verbalen Instruktionen und beginnt, diese allmählich für die Regelung seines eigenen Verhaltens nutzbar zu machen. Indem es die wörtliche Bezeichnung einer Sache wiederholt, gibt es ihr einen Platz unter den anderen Wahrnehmungsdaten und macht sie damit zum Objekt seiner differenzierenden, willkürlichen Aufmerksamkeit. Wenn es so die komplexen Verbindungen und Beziehungen zwischen den wahrgenommenen Phänomenen im Medium der Sprache herstellt, führt das zu Veränderungen, die seine Dingwahrnehmungen erheblich beeinflußen.

Es beginnt den sprachlich artikulierten Einflüssen entsprechend zu handeln, indem es die durch frühere Instruktionen von seiten Erwachsener verstärkten sprachlichen Zusammenhänge reproduziert. Im Anschluß daran verändert es jene Einflüsse dahingehend, daß es die gegenwärtigen und zukünftigen Ziele seines Verhaltens sowie die Mittel zu ihrer Verwirklichung selbst bezeichnet und diese damit ebenfalls der sprachlichen Instruktion unterordnet.

Auf diese Weise erreicht das Kind eine neue Stufe und Form der Verhaltensregulierung, die sich, nach PAWLOWs Worten, schrittweise zu "einem System, einer einheitlichen höheren Form der Selbstregulation" entwickelt. Alles in allem wird der Sprachgebrauch, das grundlegenden Mittel der Kommunikation, damit auch zu einem Instrument der Wirklichkeitsanalyse und -synthese sowie, was noch fundamentaler ist, zu "einem höheren Regulator des Verhaltens".

Das alles ist für die materialistische Psychologie von entscheidender Bedeutung. Die Tatsache, daß das Wort zum Inhalt nahezu aller basalen(an der Basis gelegen) Formen menschlicher Aktivität gehört, daß es bei der Bildung der Wahrnehmung und Erinnerung, beim Handlungsanreiz wie bei der Handlung mitwirkt, ermöglicht einen neuen Zugang zu einem wichtigen Bereich der Geistestätigkeit.

Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Erinnerung und Einbildungskraft, Bewußtsein und Handlung werden so nicht mehr einfach als unveränderliche, angeborene geistige "Eigenschaften" angesehen. Sie werden vielmehr verstanden als das Produkt der komplexen sozialen Formen, in denen die geistigen Prozesse des Kindes ablaufen, als komplexe "Funktionssysteme", die als das Ergebnis der Entwicklung der kindlichen Aktivität im zwischenmenschlichen Umgang erscheinen, als komplexe reflektive Akte in einem Zusammenhang, dem auch die Sprache zugehört.

Diese Akte werden, in PAWLOWs Terminologie, durch das enge Zusammenwirken der beiden Signalsysteme realisiert, des ersten Signalsystems, das aus den unmittelbaren Wahrnehmungsanreizen, und des zweiten, das aus den sprachlichen Leistungen besteht. Nur wenn wir begreifen, daß die Quellen aller komplexen geistigen Vorgänge nicht in den "Tiefen der Seele" liegen, sondern in den komplexen Formen des menschlichen Soziallebens und in der Kommunikation des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung zu finden sind, können wir uns endlich von den Vorurteilen freimachen, die sich jahrhundertelang in der psychologischen Wissenschaft eingenistet haben.

Vor drei Jahrzehnten begannen sowjetische Psychologen, die geistige Entwicklung des Kindes in enger Verbindung mit der Sprachentwicklung zu erforschen, und es gibt eine ganze Anzahl von Werken, die diese Frage behandeln. L.S. WYGOTSKI war einer der ersten, die diese Einsicht äußerten, daß das Sprechen eine entscheidende Rolle bei der Bildung der geistigen Prozesse spiele und daß die grundlegende Methode zur Analyse der Entwicklung höherer psychischer Funktionen die Untersuchung jener Reorganisation der geistigen Prozesse sei, die unter dem Einfluß der Sprache stattfindet.

Er untersuchte die Entwicklung der Begriffsbildung bei Kindern und gelangte zu dem Schluß, daß charakteristische Formen der Kommunikation beginnen, wenn aufgrund unmittelbarer Eindrücke mehrere Objekte zu einem Ganzen verallgemeinert werden, und immer dann enden, wenn der Prozeß der Wirklichkeitsanalyse und -synthese durch ein Wort definiert wird, das die notwendigen Merkmale unterscheidet und das wahrgenommene Objekt zu einer bestimmten Kategorie in Beziehung setzt.

WYGOTSKI und seine Kollegen befaßten sich in einer ganzen Reihe experimenteller Untersuchungen mit der Entstehung der willkürlichen Aufmerksamkeit, die durch die richtende (direktive) Mitwirkung des Wortes aufgebaut wird, mit der Entwicklung des Gedächtnisses, das durch die Vermittlung des Wortes fortschreitend in die aktive, willensmäßige Erinnerung verwandelt wird, und schließlich mit der Entwicklung mehrerer anderer höherer geistiger Vorgänge, deren Analyse gleichbleibend zeigte, daß deren komplexe funktionelle Organisation durch die äußerst starke Mitwirkung des Sprechens zustandekommt.

Alle diese Forschungen überzeugten WYGOTSKI von der großen Bedeutung des Sprachgebrauchs bei der Bildung der geistigen Prozesse. Außer der Untersuchung grundlegender Entwicklungsstadien komplexer geistiger Prozesse durch die Organisation des Sprechens gelangte er auch zu der fundamentalen Schlußfolgerung, daß die geistige Entwicklung des Menschen ihre Quellen in der verbalen Kommunikation zwischen Kind und Erwachsenen hat und daß
    "eine Funktion, die zunächst zwischen zwei menschlichen Wesen aufgeteilt ist, später für das Kind zum Mittel der Organisation des eigenen Verhaltens wird".
Auf WYGOTSKIs Forschungen folgten zahlreiche andere Studien über den Anteil der Sprache als Basis der Konnexionssysteme (Beziehungssysteme), die die weitere Ausprägung der geistigen Prozesse des Kindes ermöglichen. Gegen Ende der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre nahm G.L. ROSENGARDT eine interessante Reihe von Untersuchungen vor, welche die Funktion des Wortes bei der Bildung der Wahrnehmungen sowie der Erinnerung während der zwei ersten Lebensjahre verdeutlichten.

Diese und andere, ähnliche Forschungen zeigten überzeugend, daß das Wort nicht nur stufenweise von anderen Komplexen, die das Kind wahrnimmt, abgesondert wird, sondern auch die entscheidend wichtige Tatsache, daß unter seinem Einfluß Wahrnehmung und Gedächtnis des jungen Kindes neue Züge gewinnen; denn das Wort setzt es instand, die wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes zu unterscheiden, macht seine Objektwahrnehmung allgemeingültig und dauerhaft und schafft neue Möglichkeiten für die Entwicklung zusammenhängender, differenzierter Gedächtnisinhalte.

Die Methoden
Die bereits beschriebenen Forschungen haben bewiesen, daß die Sprache eine vitale Rolle bei der Organisation komplexer Formen geistiger Tätigkeit spielt. Das bedeutet jedoch nicht, daß die detaillierte Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Sprachgebrauch und allgemeiner Geistesentwicklung leicht sei.

Die Aufgabe, diese unter spezifischen Bedingungen zu untersuchen, führt zu mehreren grundlegenden Schwierigkeiten. Wir müssen deshalb zunächst dazu übergehen, die Methoden zu erörtern, die diese Forschungen am besten fördern, wobei wir gleichzeitig den Anforderungen exakter Wissenschaft in vollem Umfang Genüge tun müssen.

Drei Methoden werden in der Regel bei der Erforschung des Anteils der Sprache an der Formung der geistigen Prozesse angewandt. Erstens gibt es Untersuchungen über die geistige Entwicklung des Kindes, die sich auf Variationen seiner Aktivitätsstruktur im Verlauf der Sprachentwicklung konzentrieren. Zweitens beschäftigt sich die Forschung mit Fällen, denen Hirnschäden zu einer Zersetzung der Sprachfähigkeit geführt haben.

Die Analyse der Veränderungen in den geistigen Leistungen solcher Patienten führt zu Schlußfolgerungen über die Rolle der Sprache im Ablauf der normalen geistigen Entwicklung. Drittens wird eine besondere experimentelle Mathode benutzt, die die Mitwirkung der Sprache bei der Erfüllung verschiedener Aufgaben entweder einschließt oder ausschließt.

Wenn wir die Variationen untersuchen, die sich bei der Sprachentwicklung in der Geistestätigkeit des Kindes ergeben, können wir in der Praxis zwei eng miteinander verknüpfte Faktoren nicht voneinander trennen: die Änderung in der Organisation der mentalen Prozesse, die mit der Reifung zusammenhängt, und jene, die von den wechselnden Formen der kindlichen Lebensaktivität ingesamt abhängt, d.h. von den Wandlungen in seinen Lebensbedingungen. Diese beiden Faktoren überschneiden sich in der Entwicklung der Sprachfähigkeit so stark, daß es praktisch unmöglich ist, den einen vom anderen zu trennen.

Daher ist es ganz natürlich, daß Forscher, die sich dieser Methode verschrieben haben, häufig zu Unrecht Wandlungen auf die Entwicklung der Sprache zurückführen, die in Wahrheit das Ergebnis komplexerer Faktoren der Gesamtentwicklung der kindlichen Aktivität sind. Obwohl eine beträchtliche Anzahl der oben referierten Forschungen eindeutig die Abhängigkeit der geistigen Vorgänge von der Entfaltung der Sprachfähigkeit zeigt, gehen diese damit jedoch noch keine ausreichende Antwort auf die Frage, welche Veränderungen in diesen Prozessen mit der Beteiligung der Sprache verbunden sind und welches die Resultanten der allgemeinen Veränderungen in der Aktivität des Kindes in Zusammenhang mit dessen Reifung und mit den Wandlungen in seinen Lebensumständen sind.

Die zweite Methode, welche die Veränderungen in denjenigen Fällen von Hirndefekten analysiert, die zu einer Desintegration der Sprachfähigkeit führen, ist nicht so präzise, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Hirnverletzungen verursachen tiefgreifende Störungen in der Dynamik der Nerventätigkeiten, die für das normale Funktionieren des Gehirns charakteristisch sind. Dieses wird zwangsläufig in der Dynamik mehrerer höherer kortikaler (die Gehirnrinde betreffend) Funktionen reflektiert und damit indirekt auch in der Aktivität des Sprechens. Es ist schwer zu verifizieren, welche der Veränderungen in den geistigen Prozessen das Ergebnis von Störungen im Gesamtablauf der Hirnfunktionen und welche die spezifischen Folgen von Sprachstörungen sind.

Zahlreiche psychologische Forschungen über Aphasie (Verlust des Sprechvermögens aufgrund von Hirnstörungen) haben daher keine völlig überzeugenden Schlüsse über die Abhängigkeit verschiedener Aspekte der mentalen Tätigkeit von der Sprache geliefert. Die Benutzung dieser Forschungsmethode wird außerdem durch den Umstand kompliziert, daß die aus örtlichen Hirnschäden resultierende Störung der Sprachfähigkeit selten eine vollständige ist.

Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, daß Hirnschäden zu Störungen des einen oder des anderen "Analysators" (1) führen können, so daß Störungen verschiedener Komponenten des komplexen Sprechakts hervorgerufen werden, denen jedoch nicht jedesmal die gleichen geistigen Störungen entsprechen.

Die Untersuchung von Fällen örtlicher Hirnschädigung erlaubt uns mithin nicht, in angemessener Weise die Rolle der Sprache bei der Organisation der normalen Geistestätigkeit zu bestimmen. Dieser Forschungsansatz leidet unter mehreren Mängeln und darf daher nur mit erheblichen Vorbehalten akzeptiert werden.

Aber noch größere Schwierigkeiten ergeben sich aus der dritten Methoden, der experimentellen Einbeziehung der Sprache bei der Erfüllung verschiedener Aufgaben bzw. der experimentellen Ausklammerung der Sprache vom zu untersuchenden Prozeß. Forscher haben versucht, die Mitwirkung der Sprache bei geistigen Leistungen durch verschiedene Mittel künstlich auszuschließen, um festzustellen, welche Vorgänge durch eine solche Ausklammerung gestört werden.

Aber das Gesetz der selektiven Ausstrahlung von Hirnpartien besagt, daß das innere Sprechen an nahezu sämtlichen Formen menschlicher Geistestätigkeit intim beteiligt ist. Der Versuch, das auszuschließen, führt meistens zu nicht mehr als einer teilweisen Begrenzung dieser Mitwirkung des inneren Sprechens. Deshalb läßt sich diese Methode nur in Ausnahmefällen erfolgreich nutzbar machen.

Der beste Weg, diese grundlegenden Schwierigkeiten zu umgehen, besteht in der Untersuchung von Fällen in der Sprachentwicklung zurückgebliebender Kinder. Sprachliches Zurückgebliebensein bedeutet, daß ein körperlich normal herangereiftes Kind kein entsprechend entwickeltes Sprachsystem besitzt. Fälle retardierter (zurückgebliebener) Sprachentwicklung bei gemeinsam aufwachsenden Zwillingen sind für unsere Forschungszwecke ganz offensichtlich am geeignetsten.

Es ist schon früh bemerkt worden, daß eine gewisse Tendenz zur Verlangsamung der Sprachentwicklung besteht, wenn Zwillinge zusammen aufwachsen. Da ihre Lebenswege aufs engste miteinander verbunden sind und weil sie einander im Gang ihrer gemeinsamen praktischen Tätigkeiten gut verstehen, stehen Zwillinge nicht vor der objektiven Notwendigkeit, ebenso häufig wie andere Kinder zur sprachlichen Kommunikation überzugehen.

Die Zwillinge
Unsere Versuchspersonen waren zwei eineiige Zwillinge, Jura und Ljoscha G., die komplexe phonetische Schwächen und in vergleichsweise fortgeschrittenem Alter eine retardierte, primitive Sprechweise zeigten, die sogenannten "autonome (2) Sprechweise". Diese Zwillingsbrüder waren die jüngsten Kinder von neun bis zweiundzwanzig Jahren, die alle gesund waren und sich alle gut entwickelt hatten.

Keiner von beiden zeigte irgendein Merkmal geistiger Zurückgebliebenheit. Ihr einziger Mangel bestand in einer beträchtlichen Verlangsamung ihrer Sprachentwicklung. Bis zum Alter von zwei Jahren sprachen die Zwillinge überhaupt nicht. Mit zweieinhalb Jahren hatten sie nur gelernt "Papa" und "Mama" zu sagen. Mit vier Jahren bestand ihr Wortschatz nur aus einer geringen Anzahl kaum differenzierter Laute, die sie beim Spielen und zur Verständigung benutzten.

In diesem Stadium konnte ihre Mutter keine Wörter feststellen, die sie beständig für irgendeine Sache oder Tätigkeit verwandten. Im Alter von fünf Jahren setzte sich ihr Wortschatz aus einer kleinen Anzahl zumeist arg entstellter gebräuchlicher Wörter und aus einigen "autonomen" Wörtern und Lauten zusammen. Die Wörter der Alltagssprache wurden hauptsächlich im Umgang mit Erwachsenen und meist in Form von Antworten auf Fragen gebraucht.

Bei der Kommunikation miteinander gebrauchten die Zwillinge Laute und einzelne Wörter, die unentwirrbar mit ihren Handlungen verknüpft und von lebhafter Gestikulation begleitet waren. Im ganzen war ihre sprachliche Aktivität sehr spärlich, und oft äußerten sie während eines Spiels im Zeitraum einer halben Stunde lediglich einige wenige Worte und Laute. Beim Auftauchen eines Erwachsenen unterbrachen sie dieses "autonome" Sprechen in der Regel bzw. hörten ganz damit auf.

Ein geringer Vorrat normaler Wörter umfaßte die Bezeichnungen von häuslichen Gegenständen, Körperteilen, einiger Tiere und elementarer Handlungen. Die Sprache der Zwillinge war in phonetischer Hinsicht mangelhaft; viele Laute wurden gar nicht ausgesprochen, andere wurden nur schwach angedeutet.

Das Verständnis der Zwillinge für die Sprache anderer war offensichtlich unbefriedigend. Sie verstanden in der Regel die Umgangssprache, wenn sie direkten Bezug auf sie selbst hatte. Gänzlich ungenügen war jedoch ihr Verständnis für eine grammatikalisch komplexere Sprache, die nicht durch erklärende Handlungen begleitet wurde. Worte, die sich nicht direkt auf sie bezogen, gingen gewöhnlich völlig an ihnen vorbei.

Zu Hause verbrachten die Zwillinge die meiste Zeit im Spiel miteinander. Es war nichst organisiert, um sie zu beschäftigen, und gewöhnlich waren sie sich selbst überlassen. Niemals wurde ihnen aus einem Buch vorgelesen oder eine Geschichte erzählt. Sie hörten Fremden nur dann zu, wenn sie merkten, daß ihre eigenen Namen ausgesprochen wurden.

Dennoch machtend die Zwillinge nicht den Eindruck, geistig zurückgeblieben zu sein. Sie waren gutherzig, heiter, energisch, mutwillig, freundlich und anhänglich. Ihre Bewegungen waren ziemlich behende und rhythmisch, und sie ließen Musikalität erkennen. Beide benahmen sich bei den Mahlzeiten und in bezug auf ihre Kleidung normal; sie konnten sich selbst helfen und wiesen Hilfe zurück. Wenn sie im Kindergarten mit den anderen Kindern zusammen waren, beteiligten sie sich willig an den kleinen Pflichten, orientierten sich rasch in der neuen Umgebung und machten der Erzieherin keine Schwierigkeiten.

Eingehendere Beobachtungen brachten allerdings einige Besonderheiten in ihrem Verhalten ans Licht, die sie von anderen Kindern gleicher Altersstufe unterschieden. Der Inhalt ihrer Spiele war immer primitiv und monoton; er beschränkte sich auf das bloße Herumhantieren mit den Gegenständen ohne Rücksicht auf die Funktion irgendeiner der vorliegenden Spielsachen. Niemals wurde eine Neigung beobachtet, mit Bauklötzen etwas Einfaches zu bauen. Würfel wurden lediglich aufeinandergestellt oder in einer Reihe auf den Boden hingelegt.

Sie liebten große Bauklötze, aber ihr Spiel mit diesen bestand nur darin, sie von einer Ecke in die andere zu befördern, ohne daß sie sie zum Bauen zu benutzen versuchten. Spiele kreativer, sinnvoller Art kamen selten vor, sie waren überaus eintönig und wurden ohne Variation immer wiederholt.
LITERATUR - A.N. Leontjew / A.R. Luria, Die psychologischen Anschauungen L.S. Wygotskis, in L.S. WYGOTSKI, Denken und Sprechen, Berlin 1964
    Anmerkungen
    1) Der Terminus "Analysator" wurden von Pawlow anstelle des Terminus "Sinnesorgan" eingeführt, um so den gesamten analytischen Aspekt des Nervensystems zu bezeichnen.
  1. Unter "autonomer" Sprechweise verstehen wir eine solche, die nicht über das entwickelte System der normalen Sprache verfügt.