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HERMANN LÜBBE
Der Streit um Worte
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Der Kampf gegen den politischen Gegner wird nicht zuletzt geführt als Kampf gegen seinen politischen Sprachgebrauch.

Hier ist evidenterweise eine Integrationsleistung fällig, und sie wird auch in unserer Gesellschaft ständig von Instanzen durch ideelle, verbale Mittel besorgt, in Beziehung auf die es ein Streit um Worte wäre, ob man sie nun  Ideologien nennen will oder nicht. Nicht selten und nicht zufällig nennen sich solche Instanzen  Büros für Information und Meinungspflege oder so ähnlich. Es handelt sich hier zumeist um Verbandsbüros, die Anzeigenkampagnen planen und durchführen. Was sie leisten, ist, was ich sagte: Aus dem anbrandenen Gewühl zufälliger Informationen formen sie eigene Meinung durchs Apriori von Gruppeninteressen. Sie befreien aus dem Widerspruch von Meinungszwang und Meinungsunfähigkeit, den jeder erfährt, der als Zeitungsleser auch das zur Kenntnis nimmt, wovon er nur wenig versteht.

Er hat keinen verständigen Sinn, gegen die in dieser Weise funktionierenden ideellen Gebilde, die man nun  Ideologien nennen mag oder nicht, sich in jedem Falle ausschließlich in der Absicht zu verhalten, sie außer Funktion zu setzen. Zumindest muß man sagen: Solange Politik ihre Rolle nicht ausgespielt hat, ist eine minimale ideologische Integration unserer Gesellschaft ein zwangsläufiger Vorgang. Erst durch solche Integration bilden sich relativ stabile Bewußtseinslagen heraus, die einen kontinuierlichen politischen Willen zu tragen vermögen und Handlungsmöglichkeiten festlegen, die erst politisches Handeln von einiger Konstanz möglich machen.

Man sollte sich einmal die Frage vorlegen, aus welchen Gründen die der modernen Gesellschaft seit der Aufklärung zugehörigen Ideologien weniger in ihrer praktischen Funktion gewürdigt als ideologiekritisch bekämpft worden sind. Die Antwort fällt, wenn man die Geschichte der Ideologiekritik übersieht, nicht schwer. Es liegt daran, daß einmal die Spitze der Ideologiekritik sich fast stets gegen die Ideologie des politischen Gegners richtet und daß zum andern die Ideologiekritik an den totalitären Ideologien fixiert ist. Vor allem entnehmen die neueren Analysen des politischen Sprachgebrauchs ihre einschlägigen Beispiele mit Vorliebe den totalitären Ideologien.

Man analysiert Sätze, die aus Worten gebildet sind, die uns Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts politisch vertraut klingen: die Rasse, die Reaktion, das Proletariat, die Volksgemeinschaft, die Arbeiter- und Bauernmacht, die Nationale Front, die Volksfront, der Klassenfeind -: Ich verzichte auf Weiteres und verlasse mich auf das assoziative Gedächtnis, das diesen Faden lange fortspinnen könnte. Das, worauf es ankommt, ist unverkennbar. Es handelt sich bei den zitierten ideologischen Gebilden keineswegs um schlechterdings sinnleere sprachliche Elemente. Sie haben nämlich alle Deutlichkeit genug, um Freund-Feind-Gruppierungen zu erlauben.

Entsprechend sind mit ihnen per se politische Ziele gesetzt. Man ist in Solidaritäten eingewiesen. Es sind Begriffe, die erlauben zu sagen, was man wolle oder wer man sei, und sie treffen Unterscheidungen. Dabei ist die mangelnde Präzision dieser Begriffe kein Mangel, sondern Bedingung ihrer politischen Wirksamkeit. Ihre hohe Allgemeinheit erlaubt es nämlich, sie durch geeignete Interpretationen an Unvorhergesehenes anzupassen. Desgleichen wird nur auf diese Weise legitimierende Dauerzitation ideologischer Klassiker möglich. Der möglicherweise gefährliche politische Immobilismus als Folge ideologischer Kanonbildung bleibt vermeidbar. Von eminenter politischer Wichtigkeit wird dann natürlich die Frage der Interpretation der kanonischen Texte.

Im eigentlich totalitären Zusammenhang bilden sich entsprechend Interpretationsmonopole heraus, während Liberalisierungstendenzen überall dadurch charakterisiert sind, daß sich das Interpretationsmonopol zersetzt und die Mitglieder der Partei oder der Bürgerschaft gleich unmittelbar zum ideologischen Text werden. Man kann dann, wie beispielsweise gegenwärtig in Beziehung auf Polen, sagen, daß der Marxismus gleichsam in seine protestantische Phase eingetreten sei. Von der politischen Sprache totalitärer Ideologien unterscheidet sich die politische Sprache liberaler Systeme von pluralistisch-ideologischer Struktur natürlich im Inhalt und auch im geringeren Grade ihrer propagandistischpolitischen Kontrolliertheit. Ihre doktrinären Manifestationen sind daher weniger monolithisch verfaßt, sondern nach differenten politischen Gruppen mannigfach variiert.

Aber strukturell funktioniert sie nicht anders, und selbst der Grad der sozialen Penetranz ist kaum geringer. Soziale Marktwirtschaft, Abendland, der Westen, Gemeinschaft der freien Völker, Sozialstaat, Pluralismus, Gemeinsinn, Gemeinschaftsaufgabe - auch bei den Worten dieser Reihe ist die definitorische Präzision gering, und der Informationswert der aus ihnen gebildeten Aussagen ist unbefriedigend. Dennoch erfüllen sie uns allen vertraute praktisch-politische Zwecke; sie legen Richtung und Meinung fest, ermöglichen die Erfahrung politischer Zugehörigkeit und fixieren so jene Aktions- oder Zustimmungsbereitschaft, ohne die politisches Handeln nicht möglich wäre.

Gegenüber dem sprachkritischen Positivismus ist festzuhalten, daß die Gebilde der ideologischen Sprache ihren praktisch-politischen Zweck nicht durch ihre schlechthinnige Leerheit und Sinnlosigkeit, sondern durch den relativen Inhalt erfüllen, den auch sie haben. Andererseits ist unübersehbar, daß Formen verbalen politischen Handelns zunehmend an Aktualität gewinnen, die nach Inhalt und Informationsleistung sich schlechterdings gegen Null zu bewegen scheinen. Von dieser Art sind oft moderne Wahlkampfparolen. Man hat erlebt, daß beim letzten Bundestags-Wahlkampf die CDU plakatierte: "Unsere Sicherheit - CDU". Die SPD setzte, wenn anders so zu reden noch einen Sinn hat, dagegen: "Sicher ist sicher - darum SPD". Die FDP allein wagte eine Alternative und formulierte: "Neue Wege wagen".

Die These vom Leerformelcharakter politischer Parolen scheint angesichts solcher Gebilde evident zu sein. Aber das ist, sieht man genauer hin, nur dann der Fall, wenn man sich bemüht, solche Sätze im Kontext von Aussagesystemen zu hören. Aber der Kontext, in den sie tatsächlich gehören, und in dem man sie daher auch hören muß, ist nicht der von Aussagesystemen, sondern eher der von erzählten Geschichten. Wenn man Geschichten kommunistischer Aggression erzählt, wird die Parole "Für unsere Sicherheit" plötzlich lebendig, und es ist die Funktion dieser Parole, assoziativ an Geschichten zu erinnern, in der sie plausibel wird. Umgekehrt könnte man beispielsweise an die Spiegel-Affäre denken, um der Parole "Sicher ist sicher" einiges Salz abzugewinnen.

Man sieht dann auch, daß die beiden zuerst zitierten Parolen, trotz ihrer verbalen Nähe zueinander, politisch durchaus verschieden orientiert sein können, und man begreift auch, daß das Geschäft, solche Parolen zu erfinden, eine bedeutendere intellektuelle Leistung sein kann, als dem sprachkritischen Positivisten zunächst scheinen will.

Der Funktionsmodus politischer Parolen ist, wie man längst bemerkt hat, strukturell dem von Werbesprüchen analog. Man kennt die Art der pharmazeutischen Industrie, ihre Präparate dem Publikum gelegentlich durch Beschreibung in Termini medizinisch-fachlicher Art vorzustellen, die dem Laien im Informationssinn zwangsläufig unverständlich bleiben müssen. Gerade durch ihre Unverständlichkeit hindurch aber wird dann die imponierende Autorität von Fachleuten spürbar, von Kapazitäten der Wissenschaft, von denen man weiß, daß sie es wissen müssen. Die Applikation eines Bildes von SAUERBRUCH tut das übrige. In analoger Weise werden heute auch in der Politik Programme und Ziele in einer Sprache entworfen, die nicht durch ihren öffentlich verstehbaren Sachgehalt, sondern in einer Weise imponierend wirken, die dem Bürger zugleich den Mut nimmt, weiter nachzufragen.

Ein aktuelles Beispiel ist dafür die vor einiger Zeit als politisches Programm ausgerufene  formierte Gesellschaft. Befragt, was denn die formierte Gesellschaft sei, gab ihr Programmierer vor einer breiten Öffentlichkeit die folgende Antwort: "Wenn ich es sehr einfach sagen darf: Das Modell einer solchen modernen Gesellschaft besteht in der Synchronisierung einer dynamischen Wirtschaft mit einer sozialen Schichtung des Sozialprodukts." Wer solche Sätze bloß unter dem Informationsaspekt betrachtet, wird natürlich nicht finden können, daß die zu formierende Gesellschaft damit zu einer über ihre eigene diesbezügliche Zukunft informierte Gesellschaft geworden sei.

Diese und ähnliche Beispiele politischen Sprachgebrauchs werden von der Sprachanalyse in der Absicht zitiert, einen kritischen Impuls auszulösen. Bevor man jedoch seinem Unwillen Lauf läßt, sollte man die Frage stellen, welche Strukturveränderungen unseres gesellschaftlichen Lebens die Parteien gezwungen haben, an die Stelle klassischer politischer Agitation, die auch die Agitation durch Argumentation war, Werbung zu setzen. Die Antwort auf diese Frage müßte natürlich eigentlich eine sehr ausführliche sein. Ich begnüge mich mit einer allgemeinen These. In demselben Maße, in welchem in der industrialisierten Gesellschaft sich die wissenschaftlich zu beschreibenden Sachzwänge technischer, ökonomischer, verwaltungsmäßiger und sozialer Art durchsetzen, wird der Spielraum politischer Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Die Anzahl möglicher politischer Alternativen reduziert sich. Das bedeutet konkret, daß etwa der politisch mobile Anteil der Staatshaushalte klein wird im Verhältnis zu denjenigen Mitteln, über deren Verwendung rebus sic stantibus ein politischer Streit gar nicht mehr möglich ist. In der Konsequenz dieser Entwicklung ließe sich ein Zustand denken, in welchem die Träger der konkurrierenden politischen Willensbildung in ein Verhältnis zueinander geraten, das beispielsweise dem heutigen Verhältnis zweier Markenbenzine sich angleicht. In der Substanz sind sie so sehr einander angeglichen, daß die noch verbleibenden Unterschiede nicht ausreichen, unterschiedliche Wünsche oder Interessen zu mobilisieren.

Um so wichtiger wird nun die Kunst der Unterscheidung durch optisch unterstützte verbale Mittel. Es ließe sich ja denken, daß dem Tiger im Tank eines Tages ein Büffel im Tank Konkurrenz macht. Entwicklungen, die in diesem Bereich absehbar sind, könnten schließlich sich auch jene politischen Unterscheidungen ausschließen, die uns z. B. aus den USA im Verhältnis von Esel und Elefant geläufig sind. Aber ein solcher Zustand ist keineswegs volle politische Realität, sondern er hat seinen Ort im Denkmodell der Technokratie das gewisse, allerdings durchaus reale Tendenzen unserer gesellschaftlichen Entwicklung idealtypisch auszieht.

In Wirklichkeit gibt es vorerst politische Alternativen, politische Spannungs-zustände genug, und in Beziehung auf sie bleibt politisches Handeln so deutlichund scharf, wie die realen Gegensätze und Freund-Feind-Gruppierungen es tatsächlich sind. Entsprechend behält auch die politische Sprache hier unübersehbar Kontur. Die Wortwahl wird subtil, und der Kampf gegen den politischen Gegner wird nicht zuletzt geführt als Kampf gegen seinen politischen Sprachgebrauch.

Aus der Fülle der Beispiele, die WALTER DIECKMANN in seiner Studie zum Wortgebrauch der politischen Werbung in Deutschland analysiert hat, bringe ich dafür ein einziges. Es gibt in unserem Staate eine Gruppe von Bürgern, die man politisch neutral als die Gruppe derjenigen bezeichnen könnte, die vor dem 31. März 1946 in den ehemaligen preußischen Provinzen Ostpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien ansässig waren. Ich merke an, daß die Neutralität dieser Definition allerdings nur dann besteht, wenn man streng von ehemaligen preußischen und nicht etwa von ehemaligen deutschen Provinzen spricht. Da die Existenz dieser Gruppe in der Bundesrepublik, desgleichen aber auch in der DDR tatsächlich ein Politikum darstellt, wird die Frage, wie man diese Gruppe bezeichnen solle, zwangsläufig selber zu einem Politikum. In der Bundesrepublik Deutschland hat es sich durchgesetzt, von Heimatvertriebenen zu sprechen. Uns ist dieses Wort so sehr geläufig, daß wir nicht mehr das Bewußtsein haben, etwas Politisches zu tun, wenn wir es gebrauchen.

Gerade darin aber besteht die politische Leistung derjenigen, die das Wort  Heimatvertriebene erfolgreich durchgesetzt haben. Dieses Wort hat unverkennbar einen präzisen politischen Sinn. Es verbindet die Erinnerung an die Heimat mit der Betonung der illegitimen Gewaltsamkeit des Exodus, und es konserviert so in Verbindung mit dem politischen Neologismus  Heimatrecht den Anspruch auf Rückkehr in die genannten Gebiete. Ein diametral entgegengesetzter politischer Richtungssinn verbindet sich dagegen mit den in der DDR gebräuchlichen Worten  Umsiedler,  Neusiedler oder  Neubürger. Diese Worte beschweigen die Vergangenheit; sie lenken den Blick auf den gegenwärtigen Zustand und gliedern die gemeinte Gruppe allenfalls in einem sozial- und verwaltungstechnischen Sinne aus der Gesamtheit der Bürger aus. Es ist das eine Politik durch Sprachregelung, die auf eine Politik, die sich auf die Oder-Neiße-Linie als auf die sogenannte Friedensgrenze bezieht, genau abgestimmt ist.

Um Worte dieser und ähnlicher Art ist zwangsläufig politischer Streit, und die Entschiedenheit, mit der die Heimatvertriebenen darüber wachen, daß sie so und nicht etwa  Flüchtlinge oder gar  Neusiedler genannt werden, entspricht der Entschiedenheit ihres politischen Willens im Verhältnis zu denen, die gleichgültig oder anders entschieden sind. Es sind Worte, Neologismen mit solchem präzis definierten politischen Richtungssinn, die neben den erwähnten unbestimmteren Parolen doktrinär-ideologischer Provenienz Freund und Feind nach sprachlichen Kriterien zu unterscheiden erlauben.

Zahlreiche Untersuchungen zum politischen Sprachgebrauch sind genau von dieser Absicht bestimmt, den gegenwärtigen oder auch schon erledigten Feind durch seine Sprache zu identifizieren und alsdann diese Sprache zu indizieren. Die sprachpolitische Gewalt totalitärer ideologischer Systeme provoziert als strukturell gleichfalls totalitäre politische Antwort eine Art Sprachpolitik, die nach Analogie des alten Bilderverbots Wortverbote erläßt. Der Wortgebrauch steht für den Feind, und durchs Wortverbot wird es möglich, ihn sogar über den Tod hinaus zu bekämpfen und selbst seine Vorläufer bis ins dritte und vierte Glied der vorhergehenden Generation zu verfolgen.

III.
Ein harmloserer, strukturell aber höchst interessanter Fall ist der der sprachpolitischen Bewältigung der Vergangenheit. Dabei wird man bei uns vorzugsweise an das unmittelbar nach Kriegsende erschienene, seither des öfteren neuaufgelegte  Wörterbuch des Unmenschen denken. Linguisten haben an diesem  Wörterbuch fällige Kritik geübt. Dieser Kritik möchte ich mich anschließen. Es sei als wortgebrauchs-statistisch erwiesen unterstellt, daß in ideologisch relevanter, nationalsozialistischer Rede Worte wie  untragbar,  charakterlich oder  Betreuung auffällig häufig vorgekommen sind, und zwar zugleich im Zusammenhang politischer Aktionen oder Institutionen, die für die Herrschaftspraxis der Nationalsozialisten charakteristisch waren.

Alsdann ist es in der Tat, sofern der statistisch erwiesene Bestand auch in unserer Spracherinnerung noch lebendig ist, ein plausibler Akt, daß man sich von den Nazis nach ihrem politischen Ende, aber doch angesichts ihrer Hinterlassenschaft sprachpolitisch distanziert, indem man ihre Sonder-Wortgebräuche aufspürt, um sie zu meiden. Es ist das nur der politische Sonderfall des generellen sprachsoziologischen Phänomens der Distanzierung durch diffamierende Meidung von Spracheigentümlichkeiten der anderen. Dergleichen ist ja selbst im Bereich der Wissenschaft zu beobachten, nämlich überall dort, wo sie, wie beispielsweise die Philosophie, nach quasi-politisch, nämlich ideenpolitisch sich gegeneinander abgrenzenden Gruppen dissoziiert ist. So mied man in Freiburg lange Zeit alle Worte, die  Soziologismus oder  Psychologismus zu signalisieren schienen, während man in Frankfurt den  Jargon der Eigentlichkeit perhorreszierte.

Eine Aktion der Reinigung unserer Sprache von Nazismen ist offensichtlich überflüssig, was die Haupt- und Kernworte der Sprache nationalsozialistischer Ideologie betrifft. Worte wie  Herrenrasse,  Dreivierteljude,  Rassenschande etc. sind, jedenfalls gegenwärtig und jedenfalls als diese Worte, dadurch ungebräuchlich, inzwischen historisch geworden; sie sind mit den Nationalsozialisten zugleich abgetreten. Es sind aber Worte der genannten Art, die man, im Sinne einer cajetan'schen analogia metaphorica, allenfalls  unmenschlich nennen darf. Die metaphorische Unmenschlichkeit dieser Wörter besteht evidenterweise darin, daß die durch sie benannten Begriffe oder Vorstellungen im ideologischen Vermittlungszusammenhang Handlungsprädispositionen oder Einstellungen erzeugen können, deren politischer Effekt kaum etwas anderes als Unmenschlichkeit sein kann und bei den Nationalsozialisten auch tatsächlich gewesen ist.

Aber wie gesagt: Mit dem Ende des Naziregimes war auch das Ende des aktiven politischen, geschweige denn wissenschaftlich gemeinten Gebrauchs jener sinnvollerweise metaphorisch  unmenschlich zu nennenden Worte gekommen. Insofern verzeichnet sie auch das  Wörterbuch des Unmenschen nicht; denn es ist sein Programm, diejenigen Wörter aufzuspüren, die als verbale Hinterlassenschaft der Unmenschen gleichwohl bislang nicht außer Kurs geraten sind, z.B. das Wort  Betreuung. "Die Betreuung", so heißt es, sei "diejenige Art von Terror, für die ... der Betreute ... Dank schuldet". In der Tat: Es hat Betreuungsfälle und -aktionen gegeben, auf welche diese Definition zutrifft. Wieso ist dennoch das Wort  Betreuung aus unserem Sprachschatz bis heute nicht verschwunden? Die Meinung der Verfasser des Wörterbuchs des Unmenschen ist, das sei deswegen nicht der Fall, weil wir, zwar nicht in so groben Dingen wie  Aufnordung etc., aber eben doch im Sublimeren ungebrochen in der Einstellung des Unmenschen verharren.

Die Erklärung, die, ohne daß er damit der besagten Meinung per se widersprechen müßte, dem Sprachwissenschaftler näher liegt, ist eine andere: Der ältere, vornationalsozialistische Gebrauch des Wortes  Betreuung hat seine Forcierung während des Dritten Reiches einigermaßen überstanden und ist deswegen verwendbar geblieben. Wer freilich über die Sprachempfindlichkeit der Verfasser des Wörterbuchs des Unmenschen verfügt, wer überdies als überlebendes Opfer gewisser Betreuungsaktionen verständlicherweise die Assoziationen meiden möchte, die zwangsläufig sich einstellen müssen, wo ihm heute, wie harmlos auch immer, von  Betreuung gesprochen wird - der wird auch das Wort  Betreuung selber vermeiden. Gleichwohl ist das Wort  Betreuung noch zu retten - wenn anders das nötig wäre, angesichts der unvermeidlich beschränkten Wirkung auf unsere Sprache, die das besagte Wörterbuch allenfalls ausüben wird.

Ein linguistisch empfehlbares Mittel zur Rettung von Worten, die peinliche Assoziationen auslösen können, ist stets, sie jedenfalls übergangsweise vor allem in unverfänglichen, vom alten Ort der fatalen Handlung möglichst entlegenen Kontexten zu verwenden. Wer sich also, inzwischen alt, oder doch jedenfalls älter geworden, seiner als organisiertes Jung-Mädel verbrachten Zeit nicht gern erinnert, wird vermeiden, junge Vereins-Mädchen heute noch  Mädel zu nennen, und er wird es nicht gern hören, wenn das geschieht. Aber er wird seine Empfindlichkeit zweckmäßigerweise nicht gegen verbliebene Relikte romantisch kultivierten, aus Public-Relation-Zwängen bereits hochdeutsch eingetönten Volkstons richten, der bei alpenländischen Trachten-Festivals, und zwar nicht nur in Österreich, nun einmal dazugehört. Sonst müßte man ihn hypersensibel und das  Mädel eine sprachpolitisch verfolgte Unschuld nennen. Ehemalige Pimpfe haben übrigens solche Probleme nicht: Das Wort  Pimpf ist mit den Pimpfen zugleich verschwunden, denn es war ja auch vorher ungebräuchlich.

Selbst auf das Wort  Sonderbehandlung sind solche Überlegungen anwendbar.  Sonderbehandlung, ein amtssprachlicher Euphemismus für Tötung als Amtshandlung, sofern sie nicht Hinrichtung ist, ist natürlich ein Wort, das gegenwärtig auch im harmlosesten amtssprachlichen Zusammenhang unerträglich zu hören wäre. Aber nicht über jeden Abgrund hinweg, der sich zwischen verschiedenen Verwendungsbereichen ein und desselben Wortes auftut, sind semantische Brücken, gespannt, die für kräftige Erinnerungen tragfähig wären. Die Sonderbehandlung rostgefährdeter Maschinen-Teile ist, im entsprechenden Handlungskontext, gänzlich assoziationssteril.

Wenn man sich, noch einmal, klarmacht, daß  Sonderbehandlung im Sprachgebrauch des SD und der SS, innersprachlich gesehen, doch nichts anderes als eine Verharmlosungsvokabel für befohlene Tötung war, so gewinnt man den Eindruck, daß die politische Sprachkritik, die sich an solchen und ähnlichen Wörtern entzündet, in Wahrheit weniger Kritik der politischen Sprache als politische und moralische Kritik dessen ist, wovon in dieser Sprache die Rede war. Und man darf sagen: Je schlimmer, eindeutiger die Wirklichkeit ist, je penetranter sie selbst im Euphemismus und in sonstigen Weisen, beschönigend oder sich verstellend zu reden, präsent ist, um so harmloser sind diese Redeweisen selbst. An ihnen und an den Worten liegt es dann nicht; durch sie am wenigsten läßt man sich dann noch blenden oder verführen und kann sich auch nicht darauf hinausreden, durch sie verführt worden zu sein.

Gleichwohl bleibt richtig, daß man mit sprachlichen Mitteln verführen kann. Aber mit  Verderb der Sprache hat das nichts zu tun. Ganz im Gegenteil sind es sublime Register der Sprache, durch die sie geeignetes Mittel der Verführung wird. Das Wort  Verderb in einem moralischen und politpädagogischen Zusammenhang auf die Sprache anzuwenden - das ergibt nicht einmal einen metaphorischen Sinn. Was also sollen wir denken, wenn wir nun sogar hören: "Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen"? Mir ist dieser Satz unverständlich. Ich kann ihm daher auch nicht widersprechen.

Sicher ist es richtig und trivial, daß der Feind in dem, was er sagt, als potentieller Feind bereits erkennbar ist, bevor er noch gehandelt hat, z.B. seinerzeit für die osteuropäischen Völker Hitler vor seiner Machtergreifung durch Lektüre seines Buches  Mein Kampf. Aber ist er als Feind auch an der Sprache erkennbar, in der er seine schlimmen Thesen entwickelt und seine Ankündigungen macht? Verrät ihn seine Syntax? Ich sehe nicht, daß  Mein Kampf in dieser Hinsicht anderes verriete, als daß es sich bei diesem Buch, gemessen an anerkannter, vergleichbarer Literatur, nicht um ein gutes Buch handelt.

Der sprachkritische Kurzschluß zwischen Sprache und Politik ist strukturell totalitär, in Konsequenz der strukturell gleichfalls totalitären Behauptung, daß man in seiner Sprache den ganzen Menschen habe. Gemessen an ihren potentiellen politisch-praktischen Konsequenzen sind dieser Kurzschluß und diese Behauptung gleichwohl nicht so schlimm, weil sie zugleich allzu unklar sind, als daß man klar sehen könnte, welche Handlungen man nun an sie anschließen soll. Schlimmstenfalls, so scheint mir, wird der Sinn für linguistische Fragestellungen verdorben.

Im Blick auf die generelle Entwicklung der politischen Sprache läßt sich sagen, daß sprachpolitische Aktionen nicht nötig sind, um mit politisch oder ideologisch spezifischen Elementen der Sprache abtretender politischer Regime fertig zu werden. Es macht sich das im wesentlichen von selbst. überall hinterlassen die politischen Regime riesige Massen verschlissenen oder auch unübertragbaren sprachlichen Materials. Das sogenannte Parteichinesisch, die Sondersprache der politischen Kader, die Abkürzungs-Chiffren der Verwaltungen und Armeen - dieses alles umlagert als sprachlicher Schutt die Ruinen zusammengebrochener politischer Macht.

Auch im aktuellen, lebendigen politischen Zusammenhang läßt sich ja ständig beobachten, wie Elemente politischer Sprache abbröckeln. Man denke an das Schicksal des Wortes  Genosse. Dieses Wort  Genosse war noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständliche Anredeform in der deutschen Sozialdemokratie, und zwar in sprachlicher Entsprechung zu der Tatsache, daß die deutsche Sozialdemokratie unbeschadet ihrer tatsächlichen politischen Praxis durch ein klassenideologisches Selbstverständnis geprägt war. Die neuere Politik dieser Partei, sich aus diesem Selbstverständnis zu emanzipieren und damit auch ideologisch als Volkspartei sich darzustellen, stieß u. a. auf das sprachpolitische Hindernis der Vokabel  Genosse. Man war gehalten, den Genossen durch die Dame und durch den Herrn oder durch den Freund und die Freundin zu ersetzen. Der Genosse verlor sich, vor allem als Residuum der Erinnerung an alte Zeiten, in öffentlichkeitsferne Zirkel eines von Alt-Mitgliedern beherrschten innerparteilichen Bei-sich-selbst-Seins.

Es ist damit dem sozialistischen Genossen genau so ergangen, wie einst in der Französischen Revolution dem Bürger. Auch dieser vermochte sich nicht gegen den feudalen oder höfischen Herrn zu behaupten, und er verschwand aus der Anrede in Briefen ebenso wie jene egalitäre Schlußformel, mit der konsequente Demokraten als  Ihresgleichen grüßten. Der feudale und höfische Herr hat damit jedenfalls sprachpolitisch über den Bürger wie über den Genossen triumphiert.
LITERATUR - Hermann Lübbe in Hans-Georg Gadamer (Hrsg), Das Problem Sprache, Achter Deutscher Kongress für Philosophie, München 1967