tb-1SokratesL. ZieglerAristoteles    
 
FRIEDRICH ALBERT LANGE
Sokrates - Platon - Aristoteles
[2/2]

Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Worte abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre...

FRANCIS BACON hat die Behauptung aufgestellt, daß die Zusammenstellung des Wissens zu einem System den ferneren Fortschritt hemme. Dies Bedenken hatte ARISTOTELES wenig anfechten können, denn er hielt die Aufgabe der Wissenschaft im großen und ganzen für erschöpft und zweifelte keinen Augenblick daran, daß er imstande sei, alle wesentlichen Fragen genügend zu beantworten. Wie er in ethischer und politischer Beziehung sich auf die hellenische Welt als die mustergültige beschränkte und für die großen Veränderungen, die unter seinen Augen vorgingen, wenig Sinn hatte, so kümmerte ihn auch nicht die Fülle neuer Tatsachen und Beobachtungen, welche dem Forscher durch die Züge Alexanders des Großen zugänglich gemacht wurde. Daß er Alexander begleitet habe, um seine Wißbegierde zu befriedigen, oder daß man ihm Tiere und Pflanzen ferner Zonen zur Untersuchung gesandt habe, sind alles Märchen.

ARISTOTELES hielt sich in seinem System an das, was man zu seiner Zeit wußte und war überzeugt, daß dies die Hauptsache sei, daß es zur Entscheidung aller prinzipiellen Fragen ausreiche. Gerade diese Geschlossenheit seiner Weltanschauung und die Sicherheit, mit welcher er sich in dem engen Kreise seines Universums bewegt, machte ARISTOTELES vorzüglich geeignet zum philosophischen Lehrer des Mittelalters, während die zum Fortschritt und zur Umwälzung neigende Neuzeit nichts Wichtigeres zu tun hatte, als die Fesseln dieses Systems zu sprengen.

Konservativer als PLATON und SOKRATES sucht ARISTOTELES sich überall möglichst enge an die Überlieferung, an die Volksmeinung, an die in der Sprache ausgeprägten Begriffe anzuschließen, und seine ethischen Forderungen entfernen sich möglichst wenig von den üblichen Sitten und Gesetzen hellenischer Staaten. Er ist daher zu allen Zeiten der Lieblingsphilosoph konservativer Schulen und Parteiströmungen gewesen.

Die Einheit seiner Weltanschauung erreicht ARISTOTELES durch den rücksichtslosen Anthropomorphismus. Die schlechte, vom Menschen und seinen Zwecken ausgehende  Teleologie bildet einen der wesentlichsten Bestandteile seines Systems. Wie für das Wirken und Schaffen des Menschen, z.B. wenn er ein Haus oder ein Schiff bauen will, stets die Idee des Ganzen als Zweck der Tätigkeit zuerst auftritt und sodann diese Idee durch Ausführung der Teile sich im Stoffe verwirklicht, so muß notwendig auch die Natur verfahren, weil ihm eben diese Folge von Zweck und Ding, Form und Stoff für alles Existierende mustergültig ist.

Nächst dem Menschen mit seinen Zwecken wird die Welt der Organismen zugrunde gelegt. Sie dienen ihm nicht nur, um im Samenkorn die reale Möglichkeit des Baumes zu zeigen, nicht nur als Urbilder für die Einteilung nach Art und Gattung, als Musterbeispiele für das Prinzip der Teleologie usw., sondern namentlich auch um durch Vergleichung der niederen und der höheren Organismen die Anschauung zu begründen, daß alles in der Welt sich nach Rangstufen und Wertbegriffen ordnen lasse: ein Prinzip, welches ARISTOTELES sodann nicht ermangelt, auf die abstraktesten Verhältnisse, wie oben und unten, rechts und links usw. anzuwenden und zwar mit der unzweideutigen Meinung, daß alle diese Rangverhältnisse nicht etwa nur in der menschlichen Auffassung, sondern in der Natur der Dinge begründet seien.

So wird allenthalben das Allgemeine aus dem Spezialfall, das Leichte aus dem Schwierigen, das Einfache aus dem Zusammengesetzten, das Niedrige aus dem Höheren erklärt; und gerade hierauf beruht zum großen Teil die Popularität des aristotelischen Systems, denn der Mensch, welchem ja nichts vertrauter ist als seine subjektiven Zustände beim Denken und Handeln, neigt stets dazu, auch die Kausalbeziehungen derselben zur Welt der Objekte für einfach und klar zu halten, indem er die offen vorliegende Zeitfolge des Inneren und Äußeren verwechselt.

So konnte z.B. SOKRATES das "Denken und Wählen", durch welches die menschlichen Handlungen nach dem Zweckbegriff zustande kommen, für etwas Einfaches halten; das Resultat eines Entschlusses schien nicht minder einfach und die Vorgänge in Muskeln und Nerven werden dabei gleichgültige Nebenumstände. Die Dinge in der Natur scheinen Zweckmäßigkeit zu verraten, also entstehen auch sie durch das so einfache und natürliche Denken und Wählen. Ein menschenähnlicher Schöpfer ist damit gegeben, und da dieser unendlich weise ist, so ist auch der Optimismus der gesamten Weltanschauung damit begründet.

ARISTOTELES hat nun freilich in der Art, wie er sich den Zweck in den Dingen wirkend denkt, einen bedeutenden Fortschritt gemacht. Sobald man überhaupt über die Art und Weise der Verwirklichung des Zwecks näher nachdachte, konnte der naivste Anthropomorphismus, welcher den Schöpfer mit menschlichen Händen arbeiten läßt, nicht mehr in Betracht kommen. Eine rationalistische Weltanschauung, welche überhaupt die Religionsvorstellungen des Volkes als bildliche Darstellung übersinnlicher Verhältnisse ansah, konnte natürlich mit der Teleologie keine Ausnahme machen, und da ARISTOTELES hier wie überall in seiner Weise zu völliger Klarheit durchzudringen suchte, so mußte er notwendig durch die Teleologie selbst und durch die Betrachtung der organischen Welt zu einem Pantheismus geführt werden, welcher den göttlichen Gedanken überall in die Stoffe eindringen und sich auf immanente Weise im Wachsen und Werden der Dinge verwirklichen läßt.

Dieser Anschauung, die sogar mit einer geringen Modifikation zu einem vollständigen Naturalismus fortgebildet werden konnte, steht jedoch bei ARISTOTELES eine transzendente Gottesidee gegenüber, welche in theoretischer Hinsicht auf dem echt aristotelischen Gedanken ruht, daß alle Bewegung in letzter Instanz von einem Unbewegten ausgehen müsse.

Die empirischen Anflüge bei ARISTOTELES finden sich teils in vereinzelten Aussprüchen, von denen die wichtigsten jedenfalls diejenigen sind, welche den Respekt vor Tatsachen fordern, teils aber in seiner Lehre von der Substanz, die freilich an einem unheilbaren Widerspruche krankt. ARISTOTELES - hierin grundverschieden von PLATON - nennt im ersten und eigentlichen Sinne die einzelnen Wesen und Dinge "Substanzen". In ihnen ist die Form, das Wesentliche, verbunden mit dem Stoff; das Ganze ist ein konkretes und durchaus reales Sein; ja, ARISTOTELES redet bisweilen so, als komme dem konkreten Dinge eigentlich allein volle Wesenheit zu.

Dies ist der Standpunkt der mittelalterlichen Nominalisten, die aber in der Tat die Meinung des ARISTOTELES durchaus nicht auf ihrer Seite haben; denn ARISTOTELES verdirbt gleich wieder alles damit, daß er noch eine zweite Art von Substanz zunächst in den Artbegriffen, sodann aber in den allgemeinen Begriffen überhaupt zuläßt. Nicht nur dieser hier vor meinem Fenster stehende Apfelbaum ist eine Wesenheit, sondern auch der Artbegriff bezeichnet eine solche. Nur wohnt das allgemeine Wesen des Apfelbaumes nicht etwa im Nebellande der Ideen, von wo es einen Ausfluß in die Dinge der Erscheinungswelt strahlt, sondern das allgemeine Wesen des Apfelbaumes hat seine Existenz in den einzelnen Apfelbäumen.

Hier liegt in der Tat, solange man sich an die Organismen hält und hier nur Art und Individuen vergleicht, ein verführerischer Schein, der auch manche Neuere geblendet hat. Wir wollen versuchen, den Punkt, wo Wahrheit und Irrtum sich scheiden, scharf zu bezeichnen.

Stellen wir uns zunächst auf den nominalistischen Standpunkt, der ein vollkommen klarer ist! Es gibt nur einzelne Apfelbäume, einzelne Löwen, einzelne Maikäfer usw. und außerdem Namen, mit welchen wir die Summe der existierenden Gegenstände zusammenfassen, die durch ihre Ähnlichkeit zusammen gehören. Das Allgemeine ist nichts als der Name. Nun ist es nicht schwer, dieser Auffassungsweise den Schein der Oberflächlichkeit zuzuschieben, indem man darauf hinweist, daß es sich hier nicht um zufällige, beliebig vom Subjekt zusammengefaßte Ähnlichkeiten handelt, sondern daß die objektive Natur uns offenbar geschlossene Gruppen entgegenbringt, welche durch ihre reale Zusammengehörigkeit uns zu dieser Zusammenfassung zwingen.

Die verschiedensten Individuen von Löwen oder Maikäfern stehen einander doch ganz anders nahe, als der Löwe dem Tiger oder der Maikäfer dem Hirschkäfer. Diese Bemerkung ist unzweifelhaft richtig. Ihre Tragweite brauchen wir jedoch nicht lange zu prüfen, um zu finden, daß das reale Band, welches wir der Kürze wegen ohne weiteres einräumen wollen, auf jeden Fall etwas ganz anderes ist, als der allgemeine Typus der Art, den wir in unserer Phantasie mit dem Namen "Apfelbaum" in Verbindung bringen.

Man könnte nun die metaphysische Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen, des Einen zum Vielen hier noch weiter verfolgen. Gesetzt es sei uns eine Formel der Stoffmischung oder der Erregungszustände in einer Keimzelle bekannt, durch welche bestimmt werden könnte, ob der Keim sich zu den Formen des Apfel- oder Birnbaums entfalten wird. Dann wird vermutlich eine jede einzelne Keimzelle außer den Bedingungen dieser Formel auch noch ihre individuellen Abweichungen und Zutaten haben, und wirklich ist im Grunde überall erst das Resultat aus dem Allgemeinen und Individuellen, oder vielmehr das konkret Gegebene, worin gar keine Unterscheidung des Allgemeinen und Individuellen stattfindet. Die Formel liegt rein in unserm Geist.

Man sieht hier leicht, daß dagegen nun wieder realistische Einsprache erhoben werden könnte; allein um den Irrtum der aristotelischen Lehre vom Allgemeinen zu verstehen, haben wir nicht nötig, diese Kette weiter zu verfolgen. Dieser Irrtum liegt schon weiter oben; denn ARISTOTELES hält sich direkt an das Wort. Er sucht nichts Unbekanntes hinter dem allgemeinen Wesen des Apfelbaums. Dasselbe ist vielmehr völlig bekannt. Das Wort bezeichnet direkt eine Wesenhaftigkeit, und dies geht so weit, daß ARISTOTELES, in der Übertragung dessen, was bei den Organismen gefunden wurde, auf andre Gegenstände, sogar an einem Beil noch die Individualität dieses bestimmten Beiles von seinem "Beilsein" unterscheidet.

Das "Beilsein" und der Stoff, das Metall, zusammengenommen machen das Beil, und kein Stück Eisen kann Beil werden, ohne von der Form, die dem Allgemeinen entspricht, ergriffen und durchdrungen zu werden. Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Worte abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre und führt in ihren Konsequenzen, so wenig sich ARISTOTELES mit denselben zu befassen liebt, doch folgerichtig zu der gleichen Überschätzung des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen, welche wir bei PLATON finden.
LITERATUR - F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Band 1, Frankfurt/Main 1974