cr-2Atomphysik    
 
JAMES JEANS
Gewaltsame Vereinfachung

Die zwei Sprachen
Qualität und Quantität
Viele Philosophen stellten sich vor, daß das Naturgeschehen in isolierte Vorgänge auseinandergebrochen werden könne, und diese in Paare eingeteilt, dergestalt, daß die Vorgänge jedes Paares durch die Beziehung von Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind.

Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: der Philosoph stelle sich die Frage, warum eine Blume im philosophischen Sinne rot aussieht - worauf beruht die philosophische Röte? Wie so manche Grundprobleme der Philosophie geht auch dieses Problem auf PLATON zurück; im Theatetum kommt SOKRATES zu dem Schluß, daß die Farbe weder in unserem Auge noch in dem wahrgenommenen Gegenstand ihre Sitz hat.

Der heutige Philosoph pflegt PLATONs Anleitung insoweit zu folgen, als er alle Faktoren von der Erörterung ausschließt, ausgenommen die Blume und den wahrnehmenden Geist; denn bestimmt sind diese und nur dies (so ist seine Meinung) das Wesentliche an dem Problem. Er kann nun argumentieren, daß die Blume dem einen karminrot, dem andern scharlachrot vorkommt; also kann die Farbe ihren Sitz nicht in der Blume haben; also muß ihr Sitz der wahrnehmende Geist sein.

Der Wissenschaftler weiß, wie viele andere Faktoren noch beteiligt sind. Im besondern das Licht muß wichtig sein, von dem die Blume bestrahlt wird, denn wo keine Lichtstrahlung, kann die Blume auch nicht rot aussehen - sie würde schwarz erscheinen. Sie kann auch nicht rot aussehen ohne rote Lichtstrahlen, die von ihr reflektiert werden, also muß das Licht, das die Blume bestrahlt, einen roten Bestandteil enthalten. Und selbst, wenn rotes Licht da ist und reflektiert wird, so wird der Mensch es nicht sehen, wenn seine Netzhaut nicht für rotes Licht empfindlich ist; er darf nicht rotblind sein. Wir sehen also, damit eine Blume rot aussieht, müssen drei Bedingungen erfüllt sein:
  • die Lichtstrahlen, die die Blume treffen, müssen rotes Licht enthalten,
  • die Oberfläche der Blume muß die Fähigkeit haben, rotes Licht zu reflektieren,
  • der Mensch, der die Blume sieht, darf nicht rotblind sein.
Das Problem, wo die philosophische Röte der Blume ihren Sitz hat, scheint uns nun nicht mehr besonders glücklich formuliert, aber wenn eine Antwort gegeben werden soll, so ist es wohl klar, daß die Röte ihren Sitz hat in
  • der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, die rotes Licht enthält,
  • der Oberfläche der Blume, die rotes Licht reflektiert,
  • der Netzhaut des Wahrnehmenden, die rotes Licht wahrnimmt.
Diese kurze Erörterung dürfte bereits gezeigt haben, daß der Begriff der Röte weit komplizierter ist, als die übliche einfache Behandlung seitens des Philosophen annehmen ließe; und selbst so sind wir noch von Vollständigkeit weit entfernt.

Wenn wir, anstatt zu fragen, warum die Blume rot aussieht, fragen wollten, warum die untergehende Sonne rot erscheint, dann ist die eben erteilte Antwort völlig fehl am Platz. Die Antwort auf die neue Frage muß zunächst betonen, daß die Erdatmosphäre gewisse Bestandteile des Sonnenlichts bei ihrem Durchgang zurückhält; daß sie mehr Blau als Rot zurückhält (und so die Bläue des Himmels erzeugt); daß dadurch die relative Menge des Rot in der verbleibenden Lichtstrahlung vermehrt wird, so daß die Sonne  immer  röter aussieht, als sie wirklich ist.

Aber bei Sonnenauf- oder -untergang hat das Sonnenlicht einen längeren Weg als gewöhnlich durch die Atmosphäre zurückzulegen, so daß mehr als der gewöhnliche Betrag von blauem Licht zurückgehalten wird; verglichen mit ihrem gewöhnlichen Aussehen, sagen wir dann, die Sonne erscheine rot.

Von einer anderen Seite her betrachtet, könnte man sagen: ein langer entwicklungsgeschichtlicher Prozess hat unserm Geschlecht Augen gegeben, die nur für diejenigen Lichtwellenlängen empfänglich sind, welche die Sonne hauptsächlich zur Erde sendet, und am empfänglichsten für diejenigen, die in größter Menge ankommen. Bei Sonnenuntergang ist das normale Gleichgewicht der Farben gestört, wie wir eben darlegten, und das Sonnenlicht erscheint uns rot.

Fragen wir wiederum, warum die allerentferntesten Objekte im Raum rot aussehen, wie sei sämtlich tun, so kommen wir in Berührung mit einem der großen, noch offenstehenden Probleme der heutigen Astronomie. Die fraglichen Objekte sind die großen jenseits der Milchstraße befindlichen Neben, und sie reflektieren nicht Licht wie eine Blume, sondern senden ihr eigenes aus.

Je weiter entfernt ein Nebel, um so röter sein Licht. Es ist möglich, daß einem Bewohner des Nebels das Licht gelb, grün oder blau schiene, und daß es nur für uns rot ist, weil wir uns von dem Nebel entfernen (oder er von uns, was auf dasselbe hinauskommt), und zwar mit einer Schnelligkeit, die in die Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit gehört. Dies müßte bewirken, daß die Lichtwellen weniger häufig unser Auge treffen, und das wiederum hätte zur Folge, daß das Licht uns röter erscheint als einem Bewohner des Nebelflecks. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, zu spezialistisch, um hier erörtert zu werden.

Andere Farbenprobleme mit wieder ganz anderen Antworten sind: die Röte eines Feuers, die Bläue des elektrischen Lichtbogens, die Bläue des Himmels, die Bläue des Mondlichts und der Schatten auf dem Schnee, die verschiedenen Farben des Regenbogens, eines Schmetterlingsflügels oder eines schmutzigen Ölflecks auf der Straße. Aber ob wir die Farben der Rose oder des Schmetterlings untersuchen, des Nebelflecks oder des Regenbogens, die Philosophen müssen zugestehen, daß es mehr Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, als ihre Schulweisheit sich träumen läßt; die Welt ist nicht so einfach, wie sie sie machen möchten.

Atomistische Arten des Denkens
Ein weiterer Unterschied der Methode besteht darin, daß der Philosoph in seinem Denken weit mehr "atomistisch" eingestellt ist als der Wissenschaftler. Er ist geneigt, die Welt als eine Ansammlung getrennter Gegenstände zu betrachten, die Natur als eine Ansammlung von Momenten, deren jeder eine endliche Dauer hat, und den Raum als eine Ansammlung von Gebieten, ebenfalls endlicher Ausdehnung.

Der Wissenschaftler seinerseits denkt vielmehr in  stetigen  Begriffen. Er sieht die Natur eher als eine Bühne, auf der sich Veränderungen in fließendem Übergang vollziehen, denn als eine Aufeinanderfolge von Einzelzuckungen - eher als einen abrollenden Kinofilm denn als eine Reihe von Laterna-Magica-Bildern. Während der Philosoph die Zeit als eine Aufeinanderfolge endlicher Momente ansieht, erscheint sie dem Wissenschaftler als ein ewig fließender Strom; wenn er sie in Einzelmomente teilt, so ist jeder von diesen unendlich klein, so daß das Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Momenten gleich null ist.

Ebenso ist es mit dem Raum; der Philosoph teilt ihn auf in kleine endliche Bezirke, der Wissenschaftler hingegen in unendlich kleine, oder Punkte, und die Entfernung zwischen zweien ist wieder gleich null. Kurz, das Denken des Philosophen richtet sich auf Begriffe, die der Mathematiker  endliche Differenzen  bezeichnet, das Denken des Wissenschaftlers auf Begriffe vom  Unendlichkleinen. 

Diese letzte Bemerkung faßt möglicherweise die Unterschiede nicht bloß zusammen, sondern erklärt auch ihren Ursprung, der, wenigstens zum Teil, historischer Natur ist. Die philosophischen Denkmethoden hatten sich kristallisiert, bevor LEIBNIZ die Differentialrechnung erfand, bzw. NEWTON seine Theorie der Fluxionen. Wie die Wissenschaft zu immer neuen Problemtypen fortschritt, mußte der Wissenschaftler wohl oder übel sich mit den neueren und genaueren Denkmethoden bekannt machen, wenn seine Bemühungen nicht fehlschlagen sollten; wohingegen der Philosoph, immer mit den gleichen alten Problemen befasst, keine derartige Nötigung erfuhr.

Natürlich gibt es die Ausnahmen. LEIBNIZ - wie vom Erfinder der Differentialrechnung nicht anders zu erwarten - hat stets mit aller Strenge auf der Stetigkeit aller Veränderungen in der Natur bestanden, und ebenso BERGSON in neuerer Zeit.

Die Frage ist mehr, als bloße Formsache. Es ist eine recht gewöhnliche Ansicht, daß unstete Veränderung unvermeidlich in stetige übergeht, wenn die Intervalle verschwindend klein gemacht werden. In gewisser Hinsicht ist das richtig, in anderer aber nicht. Wie klein wir auch die Stufen machen, eine Treppe wird niemals dasselbe werden wie eine schiefe Ebene. Eine hinreichend kleine Kugel kann immer noch auf der Treppe in Ruhe bleiben, auf der schiefen Ebene wird sie hinunterrolle; man braucht mehr Farbe, um eine Treppe anzustreichen als ein eine schiefe Ebene - 41 Prozent mehr, wenn die Neigung 45 Grad beträgt, gleichgültig, wie groß oder klein die Stufen sind. Auch eine Säge wird nicht zum Messer, wenn man ihre Zähne unendlich klein macht; die beiden Instrumente werden den Schneideprozess auf ganz verschiedene Weise ausführen.

Ein Beispiel der atomistischen Denkart und ihrer Folgen liefert uns ein weiteres der berühmten Paradoxa von ZENO. Wir stellen uns einen fliegenden Pfeil vor, der sich in einem Moment A an einem Ort P befindet, und im nächsten Moment B an einem andern Ort Q.

Betrachten wir die Zeit als eine Aufeinanderfolge von getrennten Momenten A, B, C ..., dann muß es einen Zeitpunkt geben, wo der Moment A dem Moment B Platz macht, und dieser Zeitpunkt ist den Momenten A und B gemeinsam. Da er zu A gehört, so muß der Pfeil an diesem Zeitpunkt in P sein, und da er zu B gehört, muß der Pfeil in Q sein. Aber da es für den Pfeil unmöglich ist, im gleichen Zeitpunkt an zwei verschiedenen Punkten P und Q zu sein, so müssen P und Q zusammenfallen, was bedeutet, daß der Pfeil sich in dem Zeitintervall A-B überhaupt nicht bewegt haben kann.

Auf diese Weise behauptete ZENO (wenn auch vermutlich mit verschmitztem Augenzwinkern) zu beweisen, daß Bewegung unmöglich sei, und aller Wechsel eine Jllusion. Die Realität müßte also unveränderlich sein - das ist die Lehre des PARMENIDES im Gegensatz zu dem  panta rhei  des HERAKLIT.

Übersetzt man die Beweisführung in die Sprache der Wissenschaft, so bleibt nichts davon übrig. Da das Intervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Momenten nunmehr gleich Null ist, so hat es keine Bedeutung weiter, wenn die Bewegung des Pfeils in diesem Intervall ebenfalls gleich Null ist. Um mit dem Problem zu Rande zu kommen, müssen wir in Betracht ziehen, daß die Bewegung des Pfeils sich eine unendliche Zahl von Momenten hindurch vollzieht, denn nur so erhalten wir ein endliches Zeitintervall. Die Strecke, die der Pfeil in einer unendlichen Zahl dieser unendlichen kleinen Momente zurückliegt, ist dann natürlich
    unendlich X null,
und das kann, wie jeder Schuljunge weiß, entweder null sein, oder endlich oder unendlich. So ist Bewegung wieder möglich geworden, und das Universum hat wieder die Freiheit, sich zu verändern.

Als die Philosophen späterer Zeit dazu kamen, die Probleme von Bewegung und Veränderung zu studieren, wurde ein großer Teil ihrer Überlegungen dadurch verfälscht, daß sie immer noch der Gewohnheit folgten, die Zeit in getrennte Momente zu teilen, und die Veränderung in getrennte Vorgänge; es war, als ob sie auf der großen Nordstraße nichts sehen könnten als eine Aufeinanderfolge von Meilensteinen.

Weder KANT noch BERKELEY haben scheint's je das Grundprinzip der Infinitessimalrechnung erfaßt. Der letztere protestierte heftig gegen sie als "eine Erfindung, um der Trägheit des Geistes zu schmeicheln, der sich lieber in indolentem Skeptizismus zur Ruhe begibt, als die Mühe auf sich zu nehmen, die Grundsätze, die er seit je für wahr gehalten hat, einer strengen Prüfung zu unterziehen."

Auf Grund der Voraussetzung, von der er nie abging, daß Existenz im Wahrgenommenwerden bestehe, weigerte er sich empört, die Existenz von unendlich kleinen Größen zuzugeben, die zu klein sein sollen, um wahrgenommen zu werden, und verurteilte die Mathematiker, die sich etwas davon erhofften, solche Größen als existenz vorzustellen, wenn sie doch nicht existierten. Besonders streng war er gegen diejenigen, die "behaupten, es gebe unendlich kleine Teile von unendlich kleinen Teilen von unendlich kleinen Teilen usw. ohne Ende. So daß nach ihrer Ansicht ein Zoll nicht bloß eine unendliche Zahl von Teilen enthält, sondern eine Unendlichkeit von Unendlichkeit ad infinitum von Teilen."

"Was immer die Mathematiker über  Fluxionen  oder  Differentialrechnung  denken mögen, ein wenig Überlegung wird sie belehren, daß sie sich mit Hilfe all dieser Methoden doch keinen Begriff oder Vorstellung von Linien oder Flächen bilden können, die kleiner wären, als unsere Sinne sie wahrnehmen können, die kleiner wären, als unsere Sinne sie wahrnehmen können. Mögen sie immerhin solche kleinen und beinahe unfaßbaren Größen  unendlich klein  oder  unendlich mal unendlich klein  nennen, ganz nach Belieben: aber im Grund ist das alles, denn in Wahrheit sind sie  endlich,  auch ist es zu Lösung der Probleme nicht erforderlich, daß irgend etwas anderes vorausgesetzt werde."

Kausalität
Besonders verhängnisvoll waren die Folgen in den Diskussionen über das Kausalitätsproblem. Viele Philosophen stellten sich vor, daß das Naturgeschehen in isolierte Vorgänge auseinandergebrochen werden könne, und diese in Paare eingeteilt, dergestalt, daß die Vorgänge jedes Paares durch die Beziehung von Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind.

Auf dieser trügerischen Basis stellt KANT den Satz auf: "Der größte Teil der wirkenden Ursachen in der Natur ist mit ihren Wirkungen zugleich", aus dem Grunde, weil "wenn jene (die Ursache) einen Augenblick vorher aufgehöret zu sein, diese (die Wirkung) gar nicht entstanden wäre". Als Beispiel nennt er ein warmes Zimmer, das, wie er sagt, warm ist, weil ein Feuer darin  brennt,  obwohl, wie jedes Dienstmädchen weiß, der Grund ist, daß ein Feuer darin  gebrannt hat. 

KANT sieht wohl, daß, wenn Ursache und Wirkung wirklich gleichzeitig sind, es schwierig wird, zu sagen, welcher von einem Paar zusammengehöriger Vorgänge die Ursache und welcher die Wirkung ist, aber behauptet, die Unterscheidung zwischen den beiden machen zu können "durch das Zeitverhältnis der dynamischen Verknüpfung beider". Um sein eigenes Beispiel zu nehmen: eine Bleikugel auf einem Kissen ist unvermeidlich von einer Mulde in dem Kissen begleitet. "Denn wenn ich die Kugel auf das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben das Grübchen; hat aber das Kissen ein Grübchen, so folgt darauf nicht eine bleierne Kugel."

Später legte HUME eine abweichende Ansicht der Kausalität vor; alle Wirkungen berührten sich mit ihren Ursachen im Raum, und ebenso hintereinander in der Zeit. Aber räumliche Nachbarschaft und Aufeinanderfolge genügen an sich nicht, um zwei Objekte oder Vorgänge als Ursache und Wirkung zu erklären; es muß eine  konstante Verbindung  hinzukommen. In andern Worten, wir müssen die räumliche Nachbarschaft und zeitliche Aufeinanderfolge sich in einer großen Zahl von Fällen wiederholen sehen.
    "Wir erinnern uns, die Art Objekt gesehen zu haben, die wir Flamme nennen, und die Art Empfindung gefühlt zu haben, die wir Hitze nennen. Wir rufen ebenso in unsern Geist die konstante Verbindung zurück, die sie in allen früheren Fällen gezeigt haben. Dann nennen wir ohne jede weitere Förmlichkeit das eine  Ursache,  und das andere  Wirkung,  und schließen von der Existenz des einen auf die des andern."
Auch das ist, wissenschaftlich betrachtet, wenig überzeugend, teils, weil oft genug Hitze ohne Flamme beobachtet wird, und Flamme ohne merkliche Hitze; teils, weil wir kein Mittel haben, um zu entscheiden, welches Ursache und welches Wirkung ist. Wirklich erzeugt oft die Hitze die Flamme, und die Flamme erzeugt gewöhnlich Hitze. Aber wenn wir zu einem brennenden Haus kommen, wird es nicht leicht sein zu sagen, ob die letzte Ursache der Entzündung die Hitze oder die Flamme war, oder vielleicht etwas von beiden Verschiedenes.

Ferner ist klar, daß die konstante Verbindung zweier Vorgänge uns nicht berechtigt, ihnen die Ursache-Wirkung-Relation zuzuschreiben. Ich habe vielleicht zu wiederholten Malen den Schottland-Expreß meine Station durchfahren sehen, wenn die Zeiger meiner Uhr auf 12 zeigten, aber das beweist nicht, daß einer der beiden Vorgänge die Ursache des andern sei. Wir können zu wiederholten Malen den Vollmond bei klarem Himmel gesehen haben, und niemals, wenn der Himmel bewölkt war, aber dürfen doch nicht schließen, daß der Vollmond den Himmel klar macht (obwohl ein populärer Aberglaube ihm diese Wirkung zuschreibt), oder daß der klare Himmel den Mond voll macht.

Für eine modernere und mehr wissenschaftliche Haltung zum Kausalitätsproblem ist die Definition typisch, die BERTRAND RUSSELL kürzlich vorgeschlagen hat: "Wenn ein Vorgang E1 gegeben ist, dann gibt es einen Vorgang E2 und ein Zeitintervall T, derart, daß sooft E1 vorfällt, nach einem Intervall T E2 darauf folgt." Aber wissenschaftliche Untersuchung zeigt, daß auch das nicht wahr ist, wenigstens nicht mit der Genauigkeit stimmt, die die Philosophie anstreben sollte, ausgenommen in dem einen Sonderfall, wenn E1 den Zustand der ganzen Welt in einem Zeitpunkt bedeutet, und E2 den Zustand nach einem Zeitintervall T.

Die wissenschaftliche Tatsache ist einfach die, daß es nicht zulässig ist, die Kausalbeziehung in irgendeiner dieser Arten zu behandeln. Sie alle gründen sich auf unbegründete Vereinfachungen der Vielfältigkeiten unserer wirklichen Welt; sie sind Abstraktionen, die uns bestenfalls Annäherungen zur Wahrheit liefern können. Es gibt keine wissenschaftlich Rechtfertigung, um das Weltgeschehen in getrennte Vorgänge zu teilen, und noch weniger für die Annahme, daß diese Vorgänge in Paaren zusammengebündelt seien, etwa wie ein Dominospiel, so daß ein jeder die Ursache der folgenden Wirkung wäre und gleichzeitig die Wirkung der vorhergehenden Ursache. Die Veränderungen in der Welt sind viel zu sehr durch flüssige Übergänge verbunden und viel zu innig miteinander verwoben, als daß ein solches Vorgehen gültig sein könnte.

Nehmen wir an, ich schieße einen Vogel und er fällt zu Boden. Es ist klar, daß das Zubodenfallen als Wirkung betrachtet werden wird, aber wo sollen wir die Ursachen sehen? Ungeachtet KANTs gegenteiliger Stellungnahme, die wir eben erwähnten, werden die meisten Menschen sagen, die Ursache sei, daß ich vorher den Hahn meines Gewehrs abgedrückt habe. Aber das ist ganz deutlich eine gewaltsame Vereinfachung der Situation; dem Abdrücken des Hahns muß hinzugefügt werden, daß ich vorher das Gewehr mit einer Patrone geladen habe, welche wieder vorher jemand mit Pulver und Schrot in der richtigen Verteilung und im richtigen Mengenverhältnis gefüllt hat, weiter, daß ich mein Gewehr richtig gehalten, daß ich den Hahn im richtigen Augenblick abgedrückt habe, nachdem ich vorher eine richtige Schätzung betreffs Geschwindigkeit und Richtung des Vogelflugs, Stärke und Richtung des Windes, Wirkung des Luftwiderstands und der Erdanziehung gemacht hatte.

Daß der Schuß sein Ziel traf, als ich gerade in diese Richtung zielte, war vielleicht die Folge einer Depression, die vor drei Tagen ihr Zentrum über Island hatte, sich dann ostwärts bewegte und starken Südwestwind bewirkte; die Ursache davon wieder war vielleicht ein Wirbelsturm eine Woche zuvor in Westindien usw.  ad infinitum.  Man sieht, wie jede Wirkung mit den vorhergehenden Ereignissen durch eine unendliche Abfolge von Ketten von Ereignissen verknüpft ist, die allesamt zu der Wirkung ihren Beitrag leisten.

Wir sehen schon, wie außerordentlich naiv die Annahme ist, daß alle Ereignisse in der Welt sich in Paaren anordnen lassen, zwischen denen die Ursache-Wirkung-Relation herrscht. Das würde bedeuten, daß jede Wirkung nur eine Ursache hat, und jede Ursache nur eine Wirkung. Wenn wir annehmen, daß das Naturgeschehen dem Kausalgesetz gehorcht, so hat jede Wirkung als Ursache den gesamten vorherigen Zustand der Welt, als eine unendliche Zahl von Ursachen.

Einige davon werden natürlich von so geringem Einfluß sein, daß man sie vernachlässigen kann. Z.B. wird mein Erfolg beim Vogelschießen nicht in einem merkbaren Ausmaß davon abhängen, ob der Sirius gerade aufgegangen ist, oder ob ich gerade einen Spiegel zerbrochen oder das Salz verschüttet habe - aber möglicherweise davon, wie lange ich den Abend zuvor wach gesessen habe.

Indessen ist es bei der Betrachtung irgendeines Vorkommnisses nicht erforderlich, sämtliche vorhergegangenen Ereignisse der Weltgeschichte als einzelne Ursachen zu betrachten. Die Wirkungen der früheren unter ihnen sind ja bereits in die späteren eingegangen und brauchen nicht zweimal in Ansatz gebracht werden. Es genügt, den Querschnitt an irgendeinem einzelnen Zeitpunkt zu betrachten. Der Zustand der Welt in diesem Zeitpunkt - einem beliebig gewählten Zeitpunkt - stellt die zureichende Ursache der betrachteten Wirkung dar.

Wenn ich z.B. den Zeitpunkt wähle, wo ich den Hahn abdrückte, um den Vogel zu schießen, dann ist in dem Zustand der Welt zu diesem Zeitpunkt die Patrone in meinem Gewehr und der Südwind inbegriffen; und wir brauchen uns nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, wer das Gewehr geladen und wodurch der Wind entstanden ist.

Der gewählte Querschnitt braucht sich nicht durch den ganzen Weltraum erstrecken; sehr weit entfernte Gegenden können völlig außer Betracht bleiben. Denn kein Einfluß kann sich schneller fortbewegen als das Licht, und es wird immer Teile des Universums geben, die so weit entfernt sind, daß das Licht, welches sie im Augenblick der Querschnittsführung verlassen hat, uns noch nicht erreicht haben kann; was in solchen Gegenden geschieht, kann offenbar keinerlei Einfluß auf den Ablauf der Ereignisse hier und jetzt ausüben.

Zwei Spezialfälle des Querschnitts sind von besonderem Interesse. Man kann erstens den Querschnitt im Beginn der Zeit legen, oder, wenn man es lieber so ausdrücken will, bei der Erschaffung der Welt; dann müßten wir alles, was jetzt geschieht, als eine direkte Folge davon ansehen, in welcher Weise die Atome der Welt bei ihrer Schöpfung angeordnet waren. Oder zweitens, wir können unsern Querschnitt so lange durch die Zeit vorschieben, bis sein Zeitpunkt nur noch um einen unendlich geringen Betrag von der Gegenwart entfernt ist.

Dann können wir alle Teile des Universums vernachlässigen, außer unserer unmittelbaren Nachbarschaft; wir finden dann den Zustand der Dinge jetzt und hier nur noch abhängig von dem Zustand, der einen unendlich kleinen Zeitabschnitt vorher in unserer unmittelbaren Nachbarschaft herrschte. Das führt uns zu der äußerst eingeschränkten Auffassung der Kausalität zurück, die von KANT vertreten wird, aber die Wissenschaft hat keinen Grund, ihre Auffassung in dieser Weise zu beschränken. Ebensowenig tut es der einfache Mensch, der bestimmt dabei bleiben wird, daß sein Hund heute gestorben ist, weil er gestern Gift gefressen hat.
LITERATUR - James Jeans, Physik und Philosophie, Zürich 1944