cr-2Zen oder EntwederSchweigen und Sprechen im Zen
 
TOSHIHIKO IZUTSU
Zen-Unsinn

Der wahre Mensch ohne Rang
Ausschaltung des Denkens
Der Zweifel am Denken
Die meisten Zen-Sprüche haben anscheinend keine Bedeutung und sind sogar unsinnig, vom gewöhnlichen Sprachverständnis aus gesehen.

Das Hauptthema dieses Essays ist das Problem der Bedeutung und Bedeutsamkeit im Zen. Dieses Thema ist mit dem der grundlegenden Struktur der Selbstheit eng und untrennbar verbunden. Oder wir sollten eher sagen, daß das Problem der Sprache und der Bedeutung wesentlich verbunden ist mit und letztlich reduzierbar auf das Problem der Selbstheit. Natürlich kommt man, welchen Aspekt des Zen auch immer man aufnehmen und unter welchem Gesichtspunkt auch immer man es behandeln mag, doch am Ende immer auf das Problem der Selbstheit zurück.

Mit diesem grundlegenden Verständnis möchte ich mich sofort der Erörterung der Bedeutsamkeit zuwenden, wozu Zen eine Anzahl sehr interessanter Probleme zur Sprache bringt. Wie man sich vorstellen kann, werden die Probleme in einem gewissen Kontext aufgeworfen, denn die Sprache wird von Zen sehr unnatürlich gebraucht. Im Zen-Kontext bleibt Sprache meistens nicht in ihrem natürlichen Zustand. Sie wird oft so entstellt, daß sie beinahe bedeutungslos und sinnlos wird.

Das Problem der Bedeutung im Zen-Buddhismus ist deswegen eher als Paradoxon interessant, denn die meisten Zen-Sprüche haben anscheinend keine Bedeutung und sind sogar unsinnig, vom gewöhnlichen Sprachverständnis aus gesehen. Sprache existiert zum Zweck der Kommunikation zwischen den Menschen. Wo es kein Kommunikationsbedürfnis gibt, muß man auch nichts sagen. Dieses grundlegende Prinzip ist auch für Zen gültig. Wenn wir zwei Personen beobachten, die in einem Zen-Kontext in ein Gespräch miteinander verwickelt sind, dann haben wir natürlich den Eindruck, daß irgendeine Kommunikation stattfindet. Wir werden jedoch gleichzeitig durch die Beobachtung befremdet, daß die ausgetauschten Worte überhaupt keinen Sinn haben, daß sie uns - als Außenstehenden - meistens bedeutungslos oder unsinnig erscheinen. Gibt es überhaupt Kommunikation, wenn die benutzten Worte keinen Sinn ergeben? Was für eine Kommunikation wird es wohl sein, die sich sinnlos äußert?

Dies ist fürwahr die wichtigste Frage, die sich uns dann stellt, wenn wir Zen unter dem Gesichtspunkt der bedeutungsvollen Kommunikation angehen.

Um den Kern der ganzen Fragestellung in den Mittelpunkt zu rücken, wollen wir sogleich ein typisches Beispiel für eine sinnlose Kommunikation auf der prälinguistischen Ebene des Verhaltens, das heißt eine Kommunikation durch Gestik, anführen. Wir wollen dabei bemerken, daß im Zen-Buddhismus die Gestik eine genauso wichtige Rolle wie die Sprache spielt, außer daß die Sprache eine kompliziertere Struktur aufweist, weil Sprache, wie wir später sehen werden, den Faktor des Artikulierens, das heißt der semantischen Artikulation der Wirklichkeit, die den Gesten fremd ist, mit einführt. Eben wegen dieser Einfachheit und Unkompliziertheit sind die Gesten eher als die Sprache dazu geeignet, uns einen einführenden Begriff von der Lage des zentralen Problems zu geben.

Das Beispiel, das ich zitiere, ist sehr berühmt. Es kann in der Koan-Sammlung  Wu Men Kuan,  Nr. 3, nachgelesen werden; es befindet sich auch in einer anderen gerühmten Koan-Sammlung, dem  Pi Yen Lu, Nr. 19. Die Anekdote ist als der Ein-Finger-Zen des Meisters CHÜ CHIH bekannt.

Der Held dieser Anekdote ist CHÜ CHIH, ein berühmter Meister des 9. Jahrhunderts. Dieser Meister erhob immer einen Finger, wenn er etwas über Zen gefragt wurde. Das Hochhalten eines Fingers, ohne weiter etwas zu sagen, war seine stets gleiche Antwort auf jede Frage über Zen. "Welches ist die oberste und absolute Wahrheit? " - Antwort: Das stille Hochheben eines Fingers. "Was ist die Essenz des Buddhismus?" - Antwort: Wieder genau das gleiche stille Hochheben eines Fingers.

Es ist klar, daß in einer normalen Lebenssituation diese Handlung keinen Sinn hat, denn das einfache Hochheben eines Fingers stellt überhaupt keine vernünftige Antwort auf irgendeine der gestellten Fragen dar, außer man würde fragen: "Wo ist dein Finger?" Die Antwort ist nicht verständlich, und da sie nicht verständlich ist, ist sie auch keine Antwort, und da sie weiterhin keine Antwort mehr ist, ist sie sinnlos. Auf der anderen Seite spüren wir in unserem perplexen Geist etwas, das uns ahnen läßt, es müsse eine versteckte Bedeutung in dem Hochheben des Fingers von Meister CHÜ CHIH geben, es könne keine reine Sinnlosigkeit sein.

Welches ist nun diese versteckte Bedeutung, die der Meister durch das stille Hochheben seines Fingers übermitteln wollte? Dies ist  das  Problem. Ich werde die Bedeutung von CHÜ CHIHs Ein-Finger-Zen später erklären. An dieser Stelle müssen wir vorläufig vieles andere erklären, um den Kern der ganzen Fragestellung erfassen zu können.

Die Anekdote ist, um nur kurz darauf hinzudeuten, noch nicht zu Ende. Meister CHÜ CHIH hatte einen jungen Schüler, einen Lehrling, der dem Meister überallhin folgte und ihn zu Hause und außerhalb bediente. Da er das Verhalten seines Meisters beobachtet hatte, erhob auch er immer einen Finger, wenn er während der Abwesenheit seines Meisters über Zen befragt wurde. Zuerst bemerkte es der Meister nicht, und alles ging für einige Zeit gut. Der fatale Moment mußte kommen, und er kam - der Meister erfuhr, was der junge hinter seinem Rücken getan hatte.

Eines Tages versteckte der Meister ein Messer in seinem Ärmel, rief den Jungen zu sich und sagte: "Ich höre, daß du das Wesen des Buddhismus verstanden hast. Ist das wahr?" Der Junge antwortete: "Ja, das ist so." Daraufhin fragte der Meister: "Was ist der BUDDHA?" Als Antwort hielt der Junge einen Finger hoch. Meister CHÜH ergriff den Jungen unversehens und schnitt den hochgehaltenen Finger mit dem Messer ab. Als der Junge vor Schmerzen schreiend aus dem Zimmer rannte, rief der Meister ihn zurück. Der Junge drehte sich um. In diesem Augenblick kam des Meisters Frage wie ein Blitz: "Was ist der BUDDHA?" Beinahe einem konditionierten Reflex gehorchend - könnten wir sagen -, hob der Junge seine Hand, um seinen Finger hochzuhalten. Aber da war kein Finger mehr. Es wird gesagt, daß der Junge an Ort und Stelle die Erleuchtung erreichte.

Diese Anekdote kann fiktiv sein. Fiktiv oder wirklich - es ist eine interessante und bedeutsame Anekdote, und dies nicht nur, weil die Geschichte in einer Atmosphäre hoher dramatischer Spannung erzählt wird, sondern auch, weil die ganze Anekdote eine bewundernswerte Dramatisierung dessen ist, was wir Zen-Erfahrung nennen können. Die Zen-Erfahrung wird nicht nur in der letzten maßgebenden Phase, in der der Junge die Erleuchtung erreichte, vergegenwärtigt. Die ganze Geschichte, von Anfang bis zum Ende, ist mit dem Geist des Zen erfüllt. Jedes einzelne Geschehnis der Geschichte stellt auf dramatische Art und Weise einen besonderen Zustand in der Entwicklung des Zen-Bewußtseins dar. Wir wollen uns jedoch jetzt davon zurückhalten, die analytische Erklärung des eigentlichen Inhalts dieser Anekdote weiter zu verfolgen. Unser Interesse gilt jetzt einem viel formaleren Aspekt der Geschichte.

Es ist wichtig, hier festzustellen, daß die Anekdote als Dramatisierung der Entwicklung des Zen-Bewußtseins nur dann von Interesse ist, wenn sie sich in einem authentischen Zen-Kontext befindet. Mit anderen Worten, die Anekdote erzählt etwas Positives, sie ist nur für diejenigen sinnvoll, bedeutungsvoll, die schon mit Zen oder mit einer anderen ähnlichen religiösen Tradition vertraut sind. Sonst würde die ganze Anekdote unsinnig bleiben, weil keine einzige Phase der Entwicklung der Geschichte überhaupt verständlich wäre. Erstens - Warum hielt Meister CHÜ CHIH immer einen Finger hoch, wenn er etwas über Buddhismus gefragt wurde? Warum schnitt er dern jungen, der ihn nachahmte, den Finger ab? Wie erreichte der junge die Erleuchtung, als er den Finger, der nicht mehr da war, hochhalten wollte? Nichts ist verständlich, außer für denjenigen, der Theorie und Praxis des Zen schon kennt.

Was für einen Zen-Buddhisten bedeutungsvoll ist, kann für einen Außenstehenden völlig bedeutungslos sein. Darüber hinaus ist selbst in dem engbegrenzten Kontext der Anekdote der Akt des Hochhebens eines Fingers nur im Falle des Meisters bedeutungsvoll, während derselbe Akt als bedeutungslos und unsinnig angesehen wird, wenn er als Nachahmung vom Schüler vollzogen wird. Und wieder erhält derselbe Akt des Hochhebens eines Fingers durch den Schüler plötzlich eine entscheidende Wichtigkeit und wird bedeutungsvoll, als es dazu kommt, den Finger als Nicht-Finger hochzuheben.

All diese Beobachtungen müßten uns glauben lehren, Zen besitze einen Maßstab, mit dem es alles messen könne, sei es verbal oder nichtverbal, mitdem es allem Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit in dem gegebenen Fall zuschreiben könne, und weiter, daß es ein sehr eigenartiger Maßstab sein müsse, dervon der Norm der Bedeutsamkeit, die normalerweise auf die gewöhnlichen Situationen angewandt wird, völlig verschieden ist in einem Maß, daß ein Urteil, welches mit dem Zen-Maßstab gefällt wird, sehr oft dem normalen Urteil einer solchen "Situation" völlig gegensätzlich ist.

Ich hätte diese Darlegung genauso "Das Problem des Kriteriums der Bedeutsamkeit im Zen-Buddhismus" betiteln können. Denn dies ist das Problem, das ich hier besprechen möchte. Mit anderen Worten: Das Grundproblem, das uns beschäftigen wird, ist die Frage, ob es so etwas wie ein Kriterium der Bedeutsamkeit im Zen gibt und, wenn es ein solches gibt, ob es eine verläßliche Methode gibt, durch die wir die innere Struktur des Kriteriums erkennen können.

Bedeutungsvoll oder bedeutungslos?
Bedeutsamkeit ist offensichtlich eine der Grundfragen heutiger Intellektueller. In der Philosophie ergab sich aus der Entwicklung des englischen Empirismus und des amerikanischen Positivismus - mit deren außerordentlichem Nachdruck auf dem Problem der Bedeutung -der Begriff der Bedeutsamkeit (oder der Bedeutungslosigkeit) dessen, was wir sagen, als eines der größten geistigen Probleme.

Selbst in der gewöhnlichen nichtphilosophischen Situation werden wir des öfteren an die Wichtigkeit des "Sinn-Findens" erinnert. Wir hören uns selbst oft sagen: "Das hat Sinn", "Das hat keinen Sinn" und ähnliches. Und dieses Urteil wird immer durch eine positive oder negative Bewertung begleitet; oder es ist selbst ein Werturteil. Keinen Sinn haben ist das gleiche wie Unsinn sprechen, etwas Absurdes oder Lächerliches sagen. Unsinnig sprechen wird als etwas Beschämendes betrachtet. So vermeiden wir natürlich, unsinnig zu sprechen.

In den letzten Jahren wurde eine Anzahl von Büchern veröffentlicht, deren Aufgabe es war und ist, uns zu lehren, wie wir es vermeiden können, in die Falle des unsinnigen Sprechens oder des unsinnigen Denkens zu geraten. So schrieb zum Beispiel der Semantiker IRVING J. LEE ein Buch mit dem Titel:  Wie man mit anderen sprechen soll,  mit dem bedeutungsvollen Untertitel:  Ein Programm, das Störungen des gemeinsamen Sprechens vermeiden soll.  Ein anderes Buch seriöserer Natur von Professor LIONEL RUBY hat den Titel:  Die Kunst der Vernunft,  mit dem Untertitel:  Ein Führer zum logischen Denken . Diese und ähnliche Werke analysieren sehr ausführlich die Fallen des Unsinns und versuchen den Leser zu dem zu führen, was "richtiges" Denken genannt wird. Mit anderen Worten: Diese Bücher haben es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu zeigen, wie man die Sprache bedeutungsvoll benutzen kann. Sinn haben ist nun eine Kunst. Es ist eine spezielle Methode, die für das moderne Leben unerläßlich zu sein scheint.

Es ist interessant zu bemerken, daß von einem solchen Standpunkt aus beinahe alle berühmten Zen-Sprüche den reinen Unsinn versinnbildlichen. Damit will ich sagen, daß die Zen-Sprüche in den meisten Fällen nicht dem Kriterium der Bedeutsamkeit, das in diesen Büchern vertreten wird, genügen. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß, vom Standpunkt des Zen aus gesehen, diese völlig gewöhnlichen Worte und Aussagen, die dem normalen Kriterium der Bedeutsamkeit genügen, sehr wohl bedeutungslos und unsinnig sein können. Das sogenannte "richtige" Denken und das sogenannte "bedeutungsvolle" Sprechen kann vom Zen als "krumm" und sinnlos erklärt werden, da es die Zen-Wirklichkeit der Dinge verdreht und verformt. Zen sagt zum Beispiel:
Mit leeren Händen halte ich ein Schwert.
Ich laufe zu Fuß, aber auf dem Rücken eines Ochsen reite ich.
Während ich über die Brücke Lo komme,
Fließt das Wasser nicht, es ist die Brücke, die fließt.
Dieser Spruch, der, wie jeder sehen kann, ganz aus schillernden Widersprüchen besteht, ist laut Zen völlig sinnvoll. Es ist in einem Zen-Kontext sinnvoller zu sagen: "Ich habe leere Hände und halte ein Schwert; ich laufe zu Fug und reite auf dem Rücken eines Ochsen; das Wasser steht still, während die Brücke fließt", als zu sagen: "Ichhabe keine leeren Hände, weil ich ein Schwert halte; ich laufe zu Fuß, deshalb reite ich nicht auf dem Rücken eines Ochsen; der Fluß fließt und die Brücke steht still." Wie und auf welcher Grundlage kann dieser sinnlose Spruch im Zen sinnvoll werden? Bevor ich diese Kernfrage beantworten werde, möchte ich hier noch ein Beispiel für einen etwas andersartigen Zen-Unsinn anführen. Es ist ein äußerst kurzes Koan, das in dem oben angeführten   Wu Men Kuan,  Nr. 18, überliefert wird. Es sagt:
Ein Mönch fragte den Meister TUNG SHAN: "Was ist der BUDDHA?"
TUNG SHAN antwortete: "Drei Pfund Flachs!"
TUNG SHAN, ein Schüler des gefeierten Meisters YÜN MEN des 10. Jahrhunderts (?-949), war selbst ein hervorragender Zen-Meister. Als er eines Tages Flachs wog, trat ein Mönch an ihn heran und stellte ihm plötzlich eine Frage: "Was ist der BUDDHA?", eine Frage, die im Abendland mit der Frage "Was ist Gott? " oder "Was ist die absolute Wirklichkeit?" identisch wäre. TUNG SHAN Antwort kam sofort: "Drei Pfund Flachs! " Die Zen-Werke sind voll von solchen Beispielen. Nur noch ein Beispiel: YÜN MEN, der Lehrer TUNG SHANs, wurde von einem Mönch genau dasselbe gefragt. Er antwortete nur: "Ein ausgetrockneter Fußabstreifer!"
Einst fragte ein Mönch YÜN MEN: "Was ist der BUDDHA?"
YÜN MEN antwortete: " Ein ausgetrockneter Fußabstreifer!"
Das ist nicht alles. Für einen Außenstehenden wäre dieser kurze Dialog reiner Unsinn. Man kann jedoch wenigstens die Existenz eines bestimmten Musters, dem diese beiden Dialoge folgen, feststellen. Als Antwort auf eine rnetaphysische Frage über das Absolute konfrontieren sowohl TUNG SHAN als auch YÜN MEN den Fragenden plötzlich mit einem konkreten, verbalen Gegenstand: "Drei Pfund Flachs" im Falle TUNG SHAN und mit einem ausgetrockneten, das heißt nutzlosen Fugabstreifer im Falle YÜN MENs. TUNG SHAN war wahrscheinlich dabei, Flachs abzuwiegen, als ihm diese metaphysische Frage gestellt wurde. Er antwortete, ohne zu zögern, und nannte das konkreteste Ding in seiner Reichweite.

Zen richtet sich auf das Konkreteste. Dies ist eines seiner Hauptmerkmale. Aus den alten Zen-Aufzeichnungen können unzählige Beispiele dafür gegeben werden. Das Problem der Bedeutsamkeit betreffend, kann dies an das Prinzip der Verifikation erinnern, das von den heutigen Positivisten entwikkelt wurde. Für sie ist die Verifizierbarkeit das letzte Kriterium der Bedeutsamkeit. Nur was durch Erfahrung verifizierbar ist, wird als Wirklichkeit akzeptiert; demzufolge ist ein Wort oder eine Aussage dann bedeutungsvoll, wenn und nur wenn es mögliche Sinneswahrnehmungen gibt, die die Gegenwart oder das Vorhandensein des bezeichneten Gegenstandes oder Geschehnisses verifizieren können. "Gott" und das "Absolute" sind typische Beispiele für die Bedeutungslosigkeit, da es keine mögliche Sinneswahrnehmung gibt, die die Existenz eines solchen Wesens verifizieren könnte.

Nach einer rein oberflächlichen Betrachtung könnte man meinen, daß Zen mit seiner scheinbar besonderen Vorliebe für konkrete Dinge der Regel der Verifikation, wie sie die Positivisten postulierten, entsprechen würde. Kühn forderte Zen seine Schüler auf, "den Buddha zu töten", "den Patriarchen zu töten", kurz: Gott zu töten! Anstatt über Gott und das Absolute zu sprechen, reden die Zen-Meister über "drei Pfund Flachs" oder "einen ausgetrockneten Fußabstreifer", "die Zypresse im Hof" und ähnliche Dinge. Diese Worte und Aussagen sind völlig sinnvoll und entsprechen dem Kriterium der Bedeutsamkeit der Positivisten, weil sie alle verifizierbar sind und besonders, weil sie meistens in Gegenwart des sinnlichen Gegenstandes ausgesagt werden.

Diese Worte und Aussagen werden in dem Augenblick bedeutungslos, wenn wir sie in ihren ursprünglichen Kontext zurückversetzen. Damit will ich sagen, daß keine dieser Äußerungen ein sinnvoller Teil des ganzen Dialogs ist. "Was ist die wahre Bedeutung des Besuches des Bodhidharma aus dem Westen (das heißt der Reise von Indien nach China)?", fragte ein Mönch (A). CHAO CHOU antwortete: "Die Zypresse im Hof des Tempels." (B) Der Dialog ist sinnlos, da es augenscheinlich keine Kommunikation geben kann zwischen dem Mönch, der die Frage stellt, und dem Meister, der die Antwort gibt, weil es keine vernünftige Beziehung zwischen A und B gibt.

Kern der Sprüche sind die  mondos , die jeweiligen persönlichen Dialoge, die in einer konkreten Situation zwischen dem Meister und dem Schüler oder einen besuchenden Mönch stattfinden. Das typische  mondo  besteht meistens aus einer Frage und einer Antwort. Der Dialog zeichnet sich daher meistens durch äußerste Knappheit und Kürze aus. Es ist eine wahre verbale Schlacht. Und der Kampf ist sofort beendet, genau wie ein echter Schwerterkampf zwischen zwei japanischen Schwertmeistern. Es gibt keinen Raum für die  dialektikè . Der Zen-Dialog dauert nicht so lange wie ein platonischer Dialog, der endlos währen kann, bis zu den äußersten Grenzen der logischen Entwicklung und der intellektuellen Ausarbeitung eines vorgegebenen Themas.

Der Zen-Dialog versucht viel eher, die endgültige und ewige Wahrheit in dem momentanen Aufblitzen der Worte zu ergreifen, die zwischen zwei Personen an den beiden Enden der geistigen Spannung in einer konkreten und einzigartigen Lebenssituation ausgetauscht werden. Der momentane Dialog kann dabei etwas hervorbringen, das dem Außenstehenden als reiner Unsinn erscheint. Das macht nichts. Denn für die beiden Teilnehmer ist der Kampf ausgefochten worden. Die Wahrheit wurde erblickt oder wurde nicht erblickt. Das tut nichts zur Sache, denn die Wahrheit leuchtete für einen Augenblick auf.

Die Natur des Zen-Dialogs eröffnet auf außerordentliche Weise, oder, wie wir sagen würden, vielleicht auf schockierende Weise, die typische chinesische Denkart, die darin besteht, auf der Stelle die ewige Wahrheit in einer konkreten Situation, die niemals wiederholt werden kann, zu erfassen. Dieser Aspekt des chinesischen Denkens kann in viel milderer Form in den  Anakleten  des KONFUZIUS nachgelesen werden. Es ist eine Denkart, die grundverschieden ist von den Denkformen, die in der abstrakten und theoretischen Schicht des Intellekts oder der Vernunft begründet sind. Im Gegensatz dazu ist es eine eigenartige Weise des Denkens, die sich inmitten des konkreten Lebens entwickelt und durch ein konkretes Geschehnis oder konkretes Ding hervorgerufen wird.

Diese typische Art des chinesischen Denkens wurde einst überschattet von einem logischen diskursiven Denken, das unter dem Einfluß des Mahayana-Buddhismus, der dem Aufkommen des Zen-Buddhismus voranging, entstand. Mit dem Zen wurde es in der Zeit von den Anfängen der Tang-Dynastie bis hin zum Auslaufen der Sung-Dynastie neu belebt. Viele der repräsentativen Dialoge, die wir in den Aufzeichnungen der Sprüche finden, wurden in der Sung-Dynastie, zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert, in Form von  Koans  als wirkungsvollen Mitteln zur Erziehung und Belehrung des Zen-Schülers kodifiziert.

Es sollte verständlich geworden sein, daß alle Worte, die in der besonderen Zen-Weise benutzt werden, beinahe immer in einer sogenannten Grenzsituation geäußert wurden. Daher rührt die charakteristische Umformung oder Mißbildung der Alltagssprache, die wir in den mondös beobachten konnten. Zen meidet oder verachtet die Sprache nicht. Es fordert nur, daß Sprache auf besondere, nicht diskriminierende Art benutzt werde. Es fordert weiter, die Sprache müsse einer bestimmten Quelle entstammen, die wir die "erste Dimension der Wirklichkeit" nennen würden.

Die Struktur dieser Wirklichkeitsdimension soll später analysiert werden. jetzt wollen wir uns mit der Bemerkung begnügen, Zen würde nur der Quelle, aus der die Worte stammen, Wichtigkeit beimessen. Die Sprache, deren Quelle und Grundlage der gewöhnliche Bewugtseinsbereich ist, hat für Zen keine Bedeutung. Vollkommene Stille ist tausendmal besser als bedeutungslose Rede. Das berühmte Zen-Mahnwort: "Kein Gebrauch von Worten und Buchstaben", bezieht sich auf diesen Aspekt der Stellung zur Sprache.

An einer Textstelle seiner  Strukturellen Anthropologie  nennt LEVI-STRAUSS zwei verschiedene Haltungen, die gegenüber dem Sprachgebrauch angenommen werden können, und unterscheidet sie als Kulturmuster. Er sagt:
"Unter uns (das heißt in der europäischen Kultur) wird Sprache auf unbesonnene Art und Weise benutzt; wir sprechen die ganze Zeit und stellen über vieles Fragen. Dies ist kein allgemeiner Zustand. Es gibt Kulturen ... , die eher geizig mit der Sprache umgehen. Sie glauben nicht, Sprache könne wahllos benutzt werden, sondern sei nur im gewissen Rahmen und sparsam zu gebrauchen!"
Ich weiß nicht, ob LEVI-STRAUSS dabei an die östlichen Kulturen dachte. Auf jeden Fall bezieht sich das zweite von ihm beschriebene kulturelle Muster auf den linguistischen Aspekt des Zen.

Wir assoziieren das Wort Zen natürlich mit der Ausübung des  zazen,  das heißt "mit übergeschlagenen Beinen in Meditation sitzen". Während des  zazen  hört Sprache - selbst die innere und gedankliche - auf zu funktionieren, ganz zu schweigen von der äußeren. Denn sie ist nur ein Hindernis für die geistige Konzentration; sie muß völlig entfernt werden. Der Student kann, einmal aus der Meditation hervorgekommen, plötzlich vom Meister aufgefordeit werden - "Sag etwas, sag etwas!" -, Sprache zu benutzen, natürlich nicht diskriminierend, sondern in einem bestimmten Bezugsrahmen. Der Meister drängt den Schüler dauernd, seinen Mund zu öffnen und etwas zu sagen. Er befiehlt ihm: "Gib mir einen Satz!", das heißt einen entscheidenden Satz.

Die Aufforderung zum Sprechen, die an den Studenten gerichtet wird, ist ein Bestandteil des Zen-Lehrprozesses, denn in dem Augenblick, in dem der Student seinen Mund öffnet und "einen entscheidenden Satz hervorbringt", enthüllt er dem Blick des Meisters das genaue Ausmaß seiner geistigen Reife.

Von äußerster Wichtigkeit ist, hierbei zu bemerken, daß das linguistische Verhalten, das von dem Studenten erwartet wird, ganz spezieller Natur ist. Es besteht weder darin, auf gewöhnliche Art zu sprechen, noch darin, zu schweigen. Die Forderung lautet, aus einer gewissen Bewußtseinsdimension heraus zu sprechen, die weder die des Sprechens noch die des Schweigens ist.
LITERATUR - Toshihiko Izutsu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Reinbek 1986