ra-1 F. A. LangeJ. FrauenstaedtW. OstwaldA. CornillDas Ungegebene    
 
HERMANN SCHWARZ
[mit NS-Vergangenheit]
Der moderne Materialismus
als Weltanschauung und Geschichtsprinzip

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"Die alte aristotelische Entelechie war ein triebartiges Prinzip, das  den  Stoff bewegen sollte, an den sie selber als an ihr Substrat gebunden war: das hatte Sinn und Vernunft. Die anziehende und abstoßende Kraft der Nach-Leibnizianer galt auch als mit ihrem Stoff verbunden. Aber gerade diesen soll sie nicht bewegen, sondern geht von ihm aus, um vielmehr einen anderen von ihm entfernten Stoff in Bewegung zu setzen: in ihr sich nähernde, wenn sie eine anziehende, in von ihr sich entfernende, wenn sie eine abstoßende Kraft ist. Das ist keine logische Notwendigkeit, sondern eine Absurdität. Die Kraft soll ein bewegendes Prinzip sein; und doch, dort, wo sie ist, bewegt sie nicht, und wo sie nicht ist, bewegt sie. Eine solche Vorstellung geht gegen Sinn und Vernunft; dergleichen ist Zauberspuk."

"Der Atombegriff ist der Naturwissenschaft ursprünglich gar nicht willkommen gewesen; muß doch mit ihm der Nonsens leerer Zwischenräume in Kauf genommen werden. Erst nachdem ihn die Entdeckung der chemischen Valenzen  mathematisch  fruchtbar gemacht hatte - das ist es ja immer, was über physikalische Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit entscheidet - wurde auch er  innerhalb  der mechanischen Methode geduldet: als brauchbarer Ansatzpunkt für Konstruktionen und Rechnungen. Gleichwohl haben die Materialisten auch hier wieder das Ephemere und Unwesentliche der mechanischen Methode für das Wesentliche genommen. Sie haben diese abstrakten Wesenheiten der Atome, denen man die mathematische Zugestutztheit ansieht, hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], haben sie mit dem toten, trägen Stoff Galileis in eins gesetzt und mit dem Besitz anziehender und abstoßender Kräfte ausgestattet. Dieses Ganze heißt bei ihnen  Substanz." 

"Bekanntlich können sich die einzelnen Eigenschaften und Vorgänge, die wir beobachten, nicht gegenseitig stützen und tragen. Sie haften, glaubt jedermann, einem  Ding  an, das sie alle zusammen stützt und trägt. Man beobachtet z. B., daß die weiße Farbe eines Kreidestücks, die prismatische Gestalt desselben, die geringe Härte, durch die es sich zum Schreiben eignet, sein kalkiger Geruch usw. in einer solchen Vereinigung immer wiederkehren. Das gleichzeitige Zusammenauftreten von so vielerlei wird nur verständlich, wenn wir ein tragendes Etwas zu allen diesen Eigenschaften hinzudenken, ein Ding, das sie  hat,  eine  Substanz,  als deren  Eigenschaft  sich all das gibt.  Substanz  bedeutet in der Philosophie nichts anderes, als jeden Träger irgendwelcher Eigenschaften und Vorgänge, das Ding  hinter  denselben."


2. Vorlesung
Die materialistische Weltanschauung
im Licht der Logik

Drei Fragen wollten wir dem Materialismus vorlegen. Erstens: Ist er sich selbst gegenüber vollständig? d. h. vermag er sich dadurch zur Wissenschaft zu vervollständigen, daß er den Anspruch auf objektive Gültigkeit seiner Behauptungen beweist? Zweitens:  Ist er dem Denken gegenüber notwendig?  Drittens: Ist er den Tatsachen gegenüber ausreichend?

Daß die erste, die erkenntnistheoretische Frage, zu verneinen ist, haben Sie gehört. Wir wenden uns jetzt zur  zweiten oder logischen Frage. 

Es wird zweckmäßig sein, uns den Zusammenhang, in dem wir stehen, ganz kurz zurückzurufen. Der Materialismus war uns als die Metaphysik der mechanischen Methode entgegengetreten, jenes Verfahrens, das das äußere Geschehen gedanklich in Ausdrücke der Bewegung umsetzt. Im Gebrauch dieser Methode war der Begriff von Atomen und Kräften gebildet worden. Dieselben seien, meint der Materialist, nicht nur innerhalb dieser Methode denkwesent lich,  sondern sie existierten eben deshalb auch draußen dinglich, wesen haft. 

Wie steht es mit der logischen Notwendigkeit genannter Begriffe? Sind sie wirklich so notwendig für das wissenschaftliche Denken, wie es der Materialismus darstellt? Sehen wir uns daraufhin zuerst den  Begriff der Atome und Kräfte  an! Derselbe ist, wirde unser Ergebnis lauten, für das Denken  nicht notwendig.  Denn er ist nicht einmal für die engere Betrachtungsweise der mechanischen Methode  wesentlich.  Lassen Sie mich Ihnen zwei Stichworte geben! Gegenstand der vorigen Vorlesung war, daß die  Dingwesenhaftigkeit  der Atome und Kräfte unbewiesen geblieben ist, selbst unter der Voraussetzung, daß diese Begriffe im Gebrauch meiner gegenwärtigen Ausführungen ist: schon die  Denkwesentlichkeit  dieser Begrife ist eine falsche Behauptung.

Ein Blick auf die  Geschichte  der mechanischen Methode wird das beweisen.

Sie hörten mich schon öfters andeuten, welchen  Sinn  die mechanische Methode hat. Dieselbe lehrt uns, damit ich nun genauer spreche, alles Geschehen unter dem Bild von Bewegungen anzusehen, die Bewegungen selbst aber in Bildern der Geometrie aufzufassen. Licht und Töne z. B. sind keine Bewegungen, sondern unauflösbare Tatsachen des Empfindungslebens. Aber die Mannigfaltigkeit aller beobachteten optischen und akustischen Erscheinungen läßt sich im mechanischen Material der Äther- und Luftschwingungen gleichsam widerspiegeln; und die Äther- und Luftschwingungen ihrerseits hat man gelernt, mittels des Koordinatensystems der analytischen Geometrie rechnerisch darzustellen. Wir gebrauchen also in der mechanischen oder geometrischen Methode ein doppeltes Abbildungsverfahren, zuerst Bewegungsgleichnisse, dann Bewegungsgleichungen; dadurch wird erreicht, daß wir letztlich die Ereignisse des Licht- und Tonreichs selber in mathematischen Lettern beschrieben haben. (1) So ist es allgemein und überhaupt. Der Kunstgriff der mechanischen Methode, die Methode jener doppelten Umsetzung, trägt die mathematische Faßlichkeit der Bewegungen in das Gebiet  beliebiger  anderer Vorgänge hinüber. Das bedeutet  nicht,  daß wir hiermit über den  Ursprung  des Seienden irgendwie reflektieren. Es  bedeutet,  daß wir die  Tatsächlichkeit  des Seienden in das Geistesnetz der Messung und Rechnung spannen, daß wir sie mittels des mathematischen Instruments der Bewegungsgleichungen zu analysieren versuchen  (analytische  Mechanik). Wir machen es mittels jenes genialen doppelten Kunstgriffs der stummen und doch beredten Sprache von Zahlen, Formeln, Gleichungen, Figuren zugänglich und können in dieser Sprache oft einfacher, sicherer und genauer als im Urtext studieren, was  ist Die Grundvoraussetzung einer solchen Methode ist die geometrische Darstellbarkeit von allem erst einmal der Bewegungen selber. Diese mußte zuvor gefunden worden sein, ehe man mittels des Gleichnisses von Bewegungen allerlei sonstiges Geschehen mathematisch zu fassen lernte. Der Mann, der die geometrische Darstellbarkeit der Bewegungen fand, war GALILEI. Damit stehen wir nun schon bei der  Geschichte  der analytischen Mechanik. Sogleich der Beginn dieser Geschichte zeigt uns, daß die geometrische Methode früh mit einem andern, ihr heterogenen Gedanken verquickt worden ist.

Vor GALILEI galt bekanntlich alle Bewegung als Zweckverwirklichung. Von innen heraus, durch die geistige Triebkraft einer Entelechie [mit innewohnendem Zweck - wp], sollte jeder Stoff bewegt werden. ARISTOTELES entnahm letztere Lehre dem Blick auf die organische Natur. Man denke an den Samen eines Eichbaumes. Daß er sproßt, wächst und sich zum Baum entfaltet, scheint das nicht anzuzeigen, daß hier der künftige Zweck des Samens, ein Eichbaum zu werden, d. h. eben seine Entelechie, schon jetzt in ihm wirkt, ihn bewegt und gestaltet? Solche Entelechien glaubte ARISTOTELES in allen Bewegungen, nicht nur den organischen, sondern auch den unorganischen wirksam.  Alles  sei Bewegung von innen heraus.

Dieser von ARISTOTELES überkommenen Physik stellte GALILEI das Prinzip der neuen Physik gegenüber, das er an den Verhältnissen lebloser Körper studiert hatte, Verhältnisse, die nun auch er auf alle Bewegungen übertrug. Danach wird  kein  Körper von innen bewegt. Er bedarf äußerer Anstöße, um bewegt zu werden, oder aber um seine bisherige Bewegung zu verändern. Man denke jetzt an eine ruhende Billiardkugel. Sie fängt nicht von selbst an, sich zu bewegen, sondern muß erst von außen, z. B. durch eine andere, ihrerseits bewegte Billardkugel angestoßen werden. Mit einem Wort, GALILEI lehrt die  Notwendigkeit fremder Anstöße.  Das war ein  kausales  Prinzip. Der große italienische Forscher und Denker ergänzte es durch ein  mathematisches.  Jede sich selbst überlassene Bewegung, lehrte er, gehe geradlinig in immer gleicher Richtung und Geschwindigkeit fort. Hierdurch ergab sich ihm sofort ein Maß für die Größe oder Stärke einer jeden Bewegung:  m • v,  wo  m  die Masse,  v  die Geschwindigkeit des bewegten Körpers ausdrückt. Die genannte Formel bedeutet, daß eine Bewegung umso wuchtiger ist, sowohl je massiger der Körper ist, wie auch je rascher er dahinsaust.

Es ist wichtig zu beachten, und ich betone es nochmals, daß GALILEI in seiner Auffassung der Bewegung einen mathematischen und einen kausalen Gedanken nebeneinander hergehen läßt. Dort die mathematischen Formulierung des Tatsächlichen an ihr,  das deskriptive Messen der vorhandenen Bewegung,  hier  die genetisch-kausale Frage  nach der Art, wie die Bewegung erst in die Welt gesetzt worden ist.  Jener mathematische Gedanke ist,  um es jetzt ausdrücklich zu sagen, das  Wesentliche  in der durch GALILEI geschaffenen Mechanik. Er ist ebenso das Wesentliche in der mechanischen Methode oder erweiterten Mechanik, von der wir oben hörten, daß sie mittels des Bildes von Bewegungen auch andere als kinetische Verhältnisse mathematisiert. Den  mos geometricus  [auf geometrische Art nach Euklid - wp] nannten im richtigen Verständnis die großen Physiker jener Zeit das neue Verfahren.  Der kausale Gedanke aber ist das Unwesentliche  in der Mechanik und in der mechanischen Methode. GALILEIs Zeitgenosse HOBBES verkannte gründlich den innersten Geist dieser Denkart, wenn er sie als "Erkenntnis der Wirkungen aus den Ursachen und der Ursachen aus den Wirkungen" definiert wissen wollte. Kein Zufall, daß  er  der Vater des neuzeitlichen mechanistischen Materialismus geworden ist. In der Folgezeit haben alle Fortschritte der Physik auf der Entwicklung des mathematischen Gedankens beruth. Welcher Triumph z. B. und welche Tragweite der Entdeckung, als endlich das mechanische Äquivalent der Wärme durch ROBERT MAYER und HELMHOLTZ gefunden wurde! Andererseits, alle Dunkelheiten und Widersprüche im naturwissenschaftlichen Denken sind aus der Nachwirkung des kausalen Gedankens geflossen. Den gegenwärtigen Physikern ist das endlich zum Bewußtsein gekommen. Sie fangen an, klar zu erkennen, daß das Wesen ihrer Wissenschaft messend-deskriptiv und mathematisch ableitend ist, und so sehen wir in unseren Tagen den kausalen Gedanken immer entschiedener aus der Physik herausgewiesen. Die heutige Wissenschaft will es nur noch mit Energiemengen und den mathematischen Beziehungen zwischen ihnen zu tun haben.

So die physikalische Wissenschaft. Es ist aber die, beinahe möchte man sagen, Trägodie der Materialisten, daß sic hihr System gerade auf dem unwesentlichen, kausalen Zusatzgedanken der mechanischen Methode aufgebaut hat. Schlimmer, die noch unwesentlichere, noch mehr ephemere [vergängliche - wp] Einkleidung dieses Gedankes in den Kraftbegriff ist das  A  und  O  ihrer Weltanschauung geworden. Eben der Kraft- (und Atom-)begriff, auf den sie sich fortwährend berufen, gehört nur einer  Episode  in der vergangenen kausalen Periode des physikalischen Denkens an. Den Begründern der mechanischen Methode war er unbekannt, und er verschwindet heute wieder aus den Denkgewohnheiten der Physiker.

Schon GALILEI wollte von anziehenden und abstoßenden  Kräften  nichts, auch nicht das geringste wissen.  Sein  kausale Prinzip war ja gerade, daß jeder Körper durch einen äußeren  Anstoß  bewegt werden müsse: durch äußeren Anstoß, d. h. vermöge unmittelbaren Herüberwirkens, durch Druck, Zug und Stoß, teilt ein bereits bewegter Stoff dem anderen unbewegten von seiner Bewegung mit. GALILEI weist also den Gedanken anziehender und abstoßender Kräfte sozusagen schon von der Schwelle der durch ihn geschaffenen Physik hinweg. Solche Kräfte wären ihm wie seelenartige Wesen erschienen; sie hätten ihn gar zu sehr an die kaum überwundenen Entelechien des ARISTOTELES erinnert. Ebenso sorgfältig vermied er den Gedanken von Atomen und leeren Zwischenräumen. Die Materie war ihm wie in ins Unendlich teilbares Fluidum. Diesem Protest gegen Kräfte, Atome und leere Zwischenräume traten die großen Nachfolger GALILEIs, vor allem NEWTON bei. Letzterem war es nur um die  Tatsachen der Gravitation  zu tun und er war hier noch strenger als GALILEI.  Nichts  als die deskriptiv-mathematischen Beziehungen der Gravitation wollte er klarlegen, indem er die Annahme gegeneinander gerichteter Massenbeschleunigung einführte. Wodurch die Massen in ihre Beschleunigung gegeneinander, in ihre Bewegung aufeinander zu, gerieten, darum kümmerte er sich nicht. Mit dem vornehmen Wort: "Ich erdichte keine Hypothesen" wehrte er es ab, danach gefragt zu werden. Er wollte eine kausale Erklärung der Gravitation überhaupt nicht suchen, noch versuchen; am wenigsten mit der Annahme fernwirkender Kräfte, "kleiner Seelchen", wie sie DESCARTES spottend genannt hatte.

Seitdem war der englische Philosoph BERKELEY auf den Plan getreten. Er hatte im neuen Ursachbegriff, eben in jenem Anstoß materieller Teilchen aufeinander, der durch GALILEI aufgekommen war, einen klaffenden Widerspruch nachgewiesen. Wie, fragte er? Die Materie soll träge, aus sich heraus bewegungslos sein und doch auf andere Stoffteilchen wirken können? Man sah, das war absurd. Das kausale Prinzip GALILEIs, die unmittelbare Berührungswirkung toter Massen aufeinander, mußte fallen gelassen werden. Denselben Widerspruch scheint noch früher der deutsche Philosoph LEIBNIZ erkannt zu haben. BERKELEY griff den Ursachgedanken des großen Italieners nur an, LEIBNIZ ersetzte ihn schon vorher durch einen andern. Er war es, der den Begriff anziehender und abstoßender Kräfte schuf. Damit führte er wieder einen seelenartigen Ursachbegriff in dieselbe neue Bewegungslehre ein, die sich gegen das alte aristotelische Entelechiensystem hatte richten sollen. LEIBNIZ ließ auch gar keinen Zweifel am spiritualistischen Charakter des Begriffs. Er identifizierte die innerste Natur der von ihm in Empfehlung gebrachten Kräfte ganz unverhohlen mit Tätigkeiten des Strebens und Widerstrebens. Zugleich aber verstand er, dem Begriff eine mathematisch feste Gestalt zu geben, indem er in der Formel  • mv²  ein klares Maß der Kraft aufstellte. In dieser Formel lag die Zukunft des Kraftbegriffs. In kausaler Beziehung, wir werden es sogleich sehen, leistete er  nicht,  was er leisten sollte; diese Lehre von fernwirkenden Kräften ist um nichts besser als die von der Berührungswirkung toter Massen. Aber seine mathematisch-physikalische Brauchbarkeit ließ über die metaphysische Absurdität auch dieses Ursachbegriffs lange hinwegsehen; bis endlich der Fortgang der mathematisch-physikalischen Entwicklung, die Entdeckung der Begriffe "Arbeit" und "Energie", die Kraftvorstellung überhaupt beseite schieben sollte. Wie sehr man sich in der gegenwärtigen Naturwissenschaft gewöhnt hat, ohne jene einst so beliebten metaphysischen Agentien, Kräfte genannt, auszukommen, zeigt die Formulierung von Gesetzen wie "Wärme geht  von selbst  von Körpern höherer Temperatur auf Körper niederer Temperatur über. Ihr umgekehrter Übergang macht den Aufwand von Arbeit nötig."

In der Tat mutet uns der Begriff der Kraft in Bezug auf ihr Verhältnis zum Stoff logische Ungeheuerlichkeiten zu. Man findet die letzteren noch nicht bei LEIBNIZ. Der gab vielmehr GALILEIs Lehre vom Stoff überhaupt und unnachsichtig  preis.  Dieses träge, tote, wirkungslose Etwas war ja kein Begriff, mit dem man etwas anfangen konnte. Darum löste er das Wesentliche der sogenannten Materie ganz und gar in sein aktives Kraftprinzip auf. Jenes Wesentliche besteht darin, daß dort, wo wir die Gegenwart von Stoffen annehmen, Widerstand geleistet wird. Solcher Widerstand ist nach ihm die Wirkung  un ausgedehnter Wesenheiten, seiner berühmten Monaden. LEIBNIZ' physikalische Nachfolger hatten aber für die metaphysische Vorsicht der Monadenlehre kein Verständnis. Sie schleppten den schon abgetanen Stoffbegriff GALILEIs von seinem Sterbelager wieder auf und fügten LEIBNIZ' neues Kraftprinzip einfach hinzu: das allerflachste eklektische Zusammenkleben beider Gegensätze zu jener widerspruchsvollen Einheit, jenem  dualistischen  Zwittergebilde  kat exochen  [schlechthin - wp], das die Materialisten seitdem unter dem Namen der  monistischen  Substanz in hohen Ehren halten und zu ihrem Kardinaldogma gemacht haben. Eine unnatürliche, und ich füge hinzu, eine widerspruchsvolle Verbindung. Die alte aristotelische Entelechie war ein triebartiges Prinzip, das  den  Stoff bewegen sollte, an den sie selber als an ihr Substrat gebunden war: das hatte Sinn und Vernunft. Die anziehende und abstoßende Kraft der Nach-Leibnizianer galt auch als mit ihrem Stoff verbunden. Aber gerade diesen soll sie nicht bewegen, sondern geht von ihm aus, um vielmehr einen anderen von ihm entfernten Stoff in Bewegung zu setzen: in ihr sich nähernde, wenn sie eine anziehende, in von ihr sich entfernende, wenn sie eine abstoßende Kraft ist. Das ist keine logische Notwendigkeit, sondern eine Absurdität. Die Kraft soll ein bewegendes Prinzip sein; und doch, dort, wo sie ist, bewegt sie nicht, und wo sie nicht ist, bewegt sie. Eine solche Vorstellung geht gegen Sinn und Vernunft; dergleichen ist Zauberspuk.

Über diese sachliche Ungereimtheit des Kraftbegriffs täuschte nun aber die mathematische Brauchbarkeit desselben eine Zeitlang hinweg; bis auch ihn die Kritik erreichte, freilich nicht die hier vorgetragene logische, sondern eine ganz andere methodologische. Ich meine die radikalen Angriffe HUMEs gegen die wissenschaftliche Berechtigung des Ursachbegriffs überhaupt. Es waren übertriebene Angriffe. Aber sie haben den Physikern zu denken gegeben und sie gelehrt, das wesentliche mathematische und das unwesentliche kausale Element ihrer mechanischen Methode immer klarer auseinanderzuhalten. Dieses kausale Moment hatte sich im Kraftbegriff verkörpert. Derselbe sank nun nach und nach im Ansehen. Innerlich überwunden wurde er endlich durch das Energieprinzip, durch das wir thermische, elektrische, mechanische Arbeit als solche zu messen und in Rechnung zu stellen wissen, ohne auf eine Dynamik von Atomen und ihren Kräften zurückzugreifen.

Soviel über den  Kraftbegriff!  Wir haben im historischen Überblick gesehen, wie er erst spät in die mechanische Methode eingetreten und allmählich daraus eliminiert worden ist. Er ist also nicht, wie die Materialisten noch heute glauben, ein wesentliches Ingredienz [Bestandteil - wp] jener Methode, und er ist so wenig eine logische Notwendigkeit, daß dieser Begriff in seiner nach-Leibnizschen Ausgestaltung vielmehr gegen alle logische Notwendigkeit ist.

Auch der  Atombegriff,  füge ich hinzu, ist kein wesentliches Ingredienz der mechanischen Methode. Auch dieser ist der Naturwissenschaft ursprünglich gar nicht willkommen gewesen; muß doch mit ihm der Nonsens leerer Zwischenräume in Kauf genommen werden. Erst nachdem ihn die Entdeckung der chemischen Valenzen  mathematisch  fruchtbar gemacht hatte - das ist es ja immer, was über physikalische Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit entscheidet - wurde auch er  innerhalb  der mechanischen Methode geduldet: als brauchbarer Ansatzpunkt für Konstruktionen und Rechnungen. Daß auch die moderne Energetik über diese Abstraktion hinauszukommen versucht, hat die vielbemerkte Rede OSTWALDs, (2) eines Chemikers, gegen den "Materialismus in der Naturwissenschaft" offenbar gemacht. Gleichwohl haben die Materialisten auch hier wieder das Ephemere und Unwesentliche der mechanischen Methode für das Wesentliche genommen. Sie haben diese abstrakten Wesenheiten der Atome, denen man die mathematische Zugestutztheit ansieht, hypostasiert, haben sie mit dem toten, trägen Stoff GALILEIs in eins gesetzt und mit dem Besitz anziehender und abstoßender Kräfte ausgestattet. Dieses Ganze heißt bei ihnen "Substanz".

Auf eben dieses Ganze, die  materialistische Substanz,  lenke ich nun  zweitens  Ihre Aufmerksamkeit. Sie  soll,  wiederholt man auch von ihr, ein unumgängliches Postulat logischen Denkens sein. Sie  ist,  haben wir soeben erkannt, zumindest kein einheitlicher Begriff. Ein ganzer Rattenkönig wechselnder Vorstellungen, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, ist in ihren Begriff zusammengetan worden. DEMOKRITs unteilbare Atome, GALILEIs toter Stoff, LEIBNIZ' fernwirkende Kraft sollen hier eine friedliche Ehe führen. In Wahrheit ist die Ehe nicht friedlich. Es ist ein unausgeglichener Dualismus, den die Materialisten aber mit einer tönenden Vokabel zuzudecken suchen. Das alles, versichern sie uns, soll, unter jenem Namen "Substanz" dennoch eine widerspruchslose Einheit sein. Die Substanz oder das Atom trete nämlich in doppelter Seinsweise auf: nach ihrer Innenseite als LEIBNIZ' Kraft, nach ihrer Außenseite als GALILEIs Stoff; dieser sei ihr eines, jener ihr anderes  Attribut. 

Aber man hat hiermit den Eklektizismus nur vermehrt, die Verwirrung vergrößert. Man hat nochmals anderwärts hergeholte Begriffe vom historischen Boden, auf dem sie gewachsen waren, losgelöst und kritiklos zu eigenem Gebrauch übernommen.

Es ist dies der Boden des  Spinozismus.  Ich schicke voran, was man unter  "Substanz"  oder  "Ding versteht. Bekanntlich können sich die einzelnen Eigenschaften und Vorgänge, die wir beobachten, nicht gegenseitig stützen und tragen. Sie haften, glaubt jedermann, einem "Ding" an, das sie alle zusammen stützt und trägt. Man beobachtet z. B., daß die weiße Farbe eines Kreidestücks, die prismatische Gestalt desselben, die geringe Härte, durch die es sich zum Schreiben eignet, sein kalkiger Geruch usw. in einer solchen Vereinigung immer wiederkehren. Das gleichzeitige Zusammenauftreten von so vielerlei wird nur verständlich, wenn wir ein tragendes Etwas zu allen diesen Eigenschaften hinzudenken, ein Ding, das sie "hat", eine "Substanz", als deren "Eigenschaft" sich all das gibt. "Substanz" bedeutet in der Philosophie nichts anderes, als jeden Träger irgendwelcher Eigenschaften und Vorgänge, das Ding "hinter" denselben. Im obigen Beispiel hat das hypothetische "Ding"  körperhafte  Eigenschaften und heißt deswegen der Kreide "körper".  Ähnlich, wenn wir Vorgänge des Bewußtseins, des Fühlens, Wollens, Denkens koexistieren sehen. Auch deren Koexistzen läßt sich nicht aus einer Art gegenseitiger  Ad häsion begreiflich machen. Wir müssen wieder ein einheitliches Subjekt annehmen, dem sie insgesamt  in härieren. Wegen der Bewußtseinsnatur  ihrer  Akzidenzien glauben wir diese letztere Substanz von der körperlichen oder materiellen Substanz unterscheiden zu müssen. Wir bezeichnen sie als immaterielles Ding oder  "Seele".  In beiden Fällen denkt man also nicht nur, daß jede der genannten Substanzen die eine körperliche, die andere bewußtseinsartige Eigenschaften  trägt.  Jede von ihnen, glaubt man,  entfalte überdies in dem was sie trägt, ihr Wesen. 

Hiermit tritt uns die  modale  Auffassung der Substanzen entgegen, d. h. diejenige Auffassung, für die der Blick auf deren Eigenschaften oder Modi maßgebend wird. Die gattungsmäßige Bestimmtheit der Akzidenzien geht, setzt man voraus, auf das tragende Ding selbst über. Das Wesen der Substanz, die wir hinter den körperlichen Akzidenzien oder Modi suchen, wird hiernach in irgendeiner Weise durch die Natur  dieser  Akzidenzien mitbestimmt. Ebenso wird für die Substanz, die wir hinter den geistigen Akzidenzien suchen, die geistige Natur  ihrer  Modi ein  Attribut,  das wir ihr selber "zuteilen". Darum unterscheidet man jene Substanzen als materielle und immaterielle Substanzen auch voneinander. Mit den differierenden Eigenschaften, die sie besitzen, läßt man ihr eigenes Wesen differieren. In einem solchen Sinn gebraucht die Naturwissenschaft insbesondere das Wort "Atom". Das Atom gilt als ein "Körper", d. h. als ein Etwas, das sich als Träger körperlicher Eigenschaften sozusagen selber durch und durch verkörperlicht erweist, das durch den Besitz dieser Eigenschaften seine eigene innerste "materielle" Natur kundgibt und bloßlegt. Im Wesen dieses durch und durch körperhaft bestimmten Etwas liegt, daß es sich von allen unkörperlichen Substanzen unterscheidet. Sein bloßer,  modal konstruierter Begriff  schließt den Besitz seelischer Eigenschaften ebenso schlechthin aus, wie er den Besitz körperlicher Eigenschaften schlechthin einschließt.

Der "modalen" Auffassung der Substanz haben schon im 17. Jahrhundert LOCKE und SPINOZA eine andere gegenübergestellt. Sie läßt sich als die  "agnostische"  bezeichnen. Diese verneint, daß die Wesenseigentümlichkeit der Eigenschaften auf die Substanzen hinter ihnen übertragen werden darf. Ihr zufolge müssen wir vielmehr die Dinge, welche Eigenschaften tragen, als den Rest denken, der nach Loslösung aller Eigenschaften übrig bleibt. So, als "Rest" gefaßt, wird die nackte Substanz ihrem innersten Wesen nach zu etwas Unbekanntem. Für ihre Erkenntnis mangeln alle Unterscheidungskriterien. Nichts bleibt ja, nach Abzug aller Eigenschaften und Vorgänge in unseren Händen, als ein geheimnisvolles, ansagbares  X.  Die Überlegungen hierüber gipfeln in einem kühnen Gedanken. Wie, wenn dieses  X  bei Seele und Körper gleichartig, ja, wenn es bei allen Seelen und Körpern der ganzen Welt vielleicht genau dasselbe wäre? Auf diese Weise dachte sich SPINOZA die Substanz. Er überwand damit die Ansicht, oder suchte sie zu überwinden, daß der Träger körperlicher Eigenschaften selbst körperlich, der Träger seelischer Eigenschaften selbst seelisch sei. Ihm galt als das letzte Wesen der Dinge  ein  Etwas, das durch den Unterschied von Geistigem und Körperlichem seinerseits nicht mehr tangiert werde. Nur, daß er fälschlich meinte, dem unsagbaren, bestimmungslosen  X  doch eine nähere Bestimmung geben zu dürfen, Göttlichkeit. Gott ist ihm der tragende Grund sowohl für alle körperlichen, wie für alle seelischen Äußerungen.

Man sieht, daß das keine Verselbigung der körperlichen und seelischen Äußerungen selbst bedeutet. Bloß die Substanz, an der sie haften, wird für sie alle als identisch eine, vom Gegensatz jener Äußerungen unberührt, erklärt. SPINOZA ging aber weiter, seinen kühnen Gedanken noch überbietend. Der Gegensatz des Physischen und Psychischen selbst soll in der Einheit der göttlichen Substanz aufgehoben und ausgeglichen sein. Nicht, daß in ihr die physischen und psychischen Modi selbständig  neben einander aufträten, daß sie in gesonderten, pluralen Verläufen teils auseinandergingen, teils mannigfach zusammengriffen: all das scheinbare Wechselspiel soll in Wahrheit ein und dasselbe Geschehen in der Weltsubstanz bilden.  Nur eine einzige Reihe von Vorgängen soll in ihr ablaufen, sich aber doppelt darstellen:  unter dem "Attribut" des "Denkens" als Ablauf psychischer Modi, unter "Attribut" der "Ausdehnung" als Ablauf physischer Modi.

Das ist SPINOZAs berühmter, ihm eigentümlicher  Attributbegriff.  Durch letzteren glaubte er den Dualismus von Psychischem und Physischem erst wirklich überwinden zu können, bestimmter und entscheidender als durch die (pantheistische) Statuierung bloß eines einheitlichen Trägers. Man hat seiner Lehre ein bekanntes Bild geliehen. Das physische Geschehen sei Außenseite, das psychische Geschehen sei Innenseite jeweils desselben Vorgangs an der einen göttlichen Substanz. Im Sinne dieser Auffassung ist streng zu verneinen, daß Psychisches und Physisches aufeinander wirken können. Nicht Physisches auf Psychisches. Es wäre demgemäß z. B. eine falsche Annahme, daß die von einem äußeren Reiz hervorgebrachte Erregung eines Sinnesnerven die zugehörige Empfindungen  verursache.  Empfindung und sensorische Nervenerregung sind vielmehr  nach  SPINOZA ein und dasselbe, sie sind dasselbe Geschehen an der einen göttlichen Substanz. Dieses gibt sich nur zweiseitig; unter dem Attribut des Bewußtseins gibt es sich als Empfindung, und unter dem Attribut der Ausdehnung gibt es sich als Erschütterung eines Sinnesnerven. Ebensowenig darf man im Sinne der Attributenlehre sagen, daß Psychisches auf Physisches wirkt. Keine Rede z. B. davon, daß der Willensimpuls, einen Arm zu bewegen, und die entsprechende "willkürliche" Armbewegung im Kausalnexus stehen. Sie stehen im Identitätsverhältnis. Auch sie sind ein und dasselbe Geschehen in Gott. Letzteres tritt nur wieder in doppelter Seinsweise auf; von innen sieht es sich selbst als Wille, nach außen tritt es als Bewegung, nämlich als Erschütterung eines motorischen Nerven oder Nervenkomplexes, hervor. Kurz, SPINOZAs Attributenlehre verlangt durchweg, daß jede Vorstellung ursächlicher Zusammenhänge zwischen den Vorgängen des einen Attributs und den Vorgängen des anderen Attributs fallen gelassen werde. Da  gibt  es nicht nur kein Wirken hierüber und hinüber. Der  bloße Gedanke  eines solchen wird absurd und zerstörte sofort den zugehörigen Substanzbegriff.

Jene Substanz- und Attributenlehre SPINOZAs, geschaffen um den Dualismus von Leib und Seele zu überwinden, hat den Materialisten gefallen. Auch in ihrem materialistischen System klaffte ein Dualismus. Wie sich Stoff und Kraft, hier das tote und träge, dort das lebendige und aktive Prinzip zueinander verhalten, blieb unausgeglichen. Da bot sich SPINOZAs Lehre von selbst an. Seiner "Substanz" brauchte man nur das "Atom" zu substituieren, in seiner "Attributen"lehre die Beziehung des Psychischen zum Physischen durch die Beziehung von Kraft und Stoff zu ersetzen. Indem sie so SPINOZAs Begriffe einfach kopierten, glaubten die Materialisten auch ihren physikalischen Dualismus ohne weiteres in Monismus verwandeln zu können. Den Namen "Monisten" beanspruchen sie seitdem. Die Sache hat einen unheilbaren Riß.

Nicht weniger als ein dreifacher Unfall geschieht den Materialisten mit dieser kritiklosen Übertragung. Sie begehen eine Erschleichung, wiederholen einen gründlichen Fehler SPINOZAs und fügen einen neuen Fehler hinzu.

Zunächst die  Erschleichung.  Die Materialisten fahren fort, als ihre Substanz die vielen Atome zu bezeichnen; dennoch wollen sie auf dieselben die Eigenart der einen spinozistischen Substanz, gleichzeitig körperliche und immaterielle Eigenschaften zu haben, anwenden. Hierdurch heben sie entweder ihrem Materialismus auf, indem sie die Atome im Widerspruch mit dem naturwissenschaftlichen, (modal konstruierten) Begrif der letzteren (3)  nicht  mehr als "Körper", d. h. nicht mehr als die  auch körperhaften Substrate  körperlicher Eigenschaften denken. Oder vielmehr, sie treiben mit dem Namen der spinozistischen (agnostisch konstruierten) Dinglichkeit ein täuschendes Spiel. Sie schmücken unter dem Deckmantel derselben ihre nach wie vor körperhaften Atome mit allerlei immateriellen Zutaten (Empfindungen, Kräften), die vom wahren Sein jedes Atoms, von seiner durch und durch materiellen Dinglichkeit, gerade verleugnet werden. Ein beständiges Quidproquo [dieses für das - wp] des modalen und des agnostischen Substanzbegriffs und - ein unmögliches. Das Atom, das spinozistische Substanz sein soll, kann gar nicht spinozistische Substanz sein; denn durch den agnostischen Begriff der letzteren wird der modale des ersteren im Gegenteil verneint. (4)

Die Flagge spinozistischer Begriffe, unter der der Materialismus segelt, ist nicht nur falsch; sie ist verderblich. SPINOZAs vereinigte Substanz- und Attributenlehre krankt selber unter einem tödlichen  Fehler.  (5) Sein Begriff des doppelseitigen Attributs hebt den monistischen (pantheistischen) Substanzbegriff, von dem er ausgegangen war, wieder auf. Die göttliche Substanz als identischer Träger physischer und psychischer Modi, die gesondert nebeneinander existieren - das läßt sich denen, und das ist die Annahme des Pantheismus. Wir haben dann eine Substanz mit dualen Bestimmungen. Lehnt man aber eine solche Pluralität wesensverschiedener Modi in der einen Substanz ausdrücklich ab, so bleibt nur übrig, daß sie auf zwei Substanzen auseinanderweichen. Das ist der Standpunkt des Dualismus: zwei Substanzen, doch innerhalb jeder eine monistische Durchführung. SPINOZAs Einfall dagegen, einen doppelten oder potenzierten Monismus aufzustellen, bleibt ohne Sinn. Soll, wie er lehrt, Physisches und Psychisches zu einer einzigen Vorgangsreihe einer einzigen Substanz verschmelzen, so verschwindet ihr Gegensatz nicht; derselbe wird verstärkt. Dann erhalten wir statt zweier wesensfremder Vorgangsreihen der einen Substanz sofort zwei wesensfremde Momente  einer  Vorgangsreihe, und eben das ist logisch unmöglich. Die angeblich eine Substanz, die  solche  Vorgänge haben soll, würde notwendig in zwei auseinandergetrieben, d. h.  Pantheismus kann niemals Spinozismus sein,  der erstere müßte dann absurd werden. Jene Einheit des Entzweiten  ist  absurd. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß sich die Materialisten in ganz ähnlichen Widersinn verstricken. Ihre Zweieinheit von Stoff und Kraft in der atomistischen Substanz ist um nichts besser als das Vorbild dieser Begriffsverwirrung, die Zweieinheit von Physischem und Psychischem in der Substanz SPINOZAs.

Wir haben gesehen: der Materialismus erschleicht sich erstens einen pantheistischen Substanzbegriff; er belastet sich zweitens mi dem  historischen  Fehler SPINOZAs, der eben diesen Substanzbegriff in die Absurdität überführt. Und er verfällt, drittens, in einen  neuen  Fehler. Ihm stößt eine logische Entgleisung mit SPINOZAs Attributbegriff zu.

SPINOZAs Attribute, hatte ich oben ausgeführt,  wirken nicht  aufeinander und können es nicht. Täten sie es, sie verlören dadurch ihren Sinn, die Zweiseitigkeit der - identisch einen - göttlichen Substanz zu sein. Aber der Materialist braucht zwar ruhig das Wort "Attribute", um den Dualismus zwischen Krafttätigkeit und Stofflichkeit angeblich aufzuheben -  und doch, im selben Atemzug, bezeichnet er Energie oder Kraft als bewegendes Prinzip des Stoffs.  Die Kraft oder Energie einer Atomsubstanz soll ja nachwievor anziehend oder abstoßend auf den Stoff einer andern herüberwirken, und dessen Kräfte oder Energien wirken ebenso auf den ersten Stoff zurück! Die logische Absurdität dieser  Kausalvorstellung  hatte ich bereits [siehe oben] betont. Jetzt rächt sich deren Einführung noch in besonderer Weise. Sie zerstört, wie wir nun erkennen, außerdem gleichsam von innen heraus und nochmals den ihr zugesellten erschlichenen  Substanzbegriff Sie vernichtet nach dem eben Gesagten dieselbe Attributenlehre, die die Einheit dieses Substanzbegriffs retten sollte, durch die vermieden werden sollte, daß Materie und Kraft auseinander fallen. Und auch solche leeren Vokabeln hin rühmt sich der Materialist seines denknotwendigen Monismus! Das sind keine logischen Notwendigkeiten; das sind lauter historische Eklektizismen und mit ihnen lauter logische Entgleisungen.

Zuerst hatte dich uns der materialistische  Kausal begriff als  dunkel und mystisch  erwiesen, jetzt ist die Hinfälligkeit auch des materialistischen  Substanzbegriffs  zutage getreten. Jetzt bleibt nur noch, den materialistischen  Empfindungsbegriff  unter die Sonde zu nehmen. Auch mit Empfindungen hat man jene geduldige monistische Substanz ausgestattet. Stoff, Kraft  und  Empfindung sollen sich in ihr unlöslich miteinander durchdringen. Da deckt der weite Mantel des Begriffs schon nicht mehr einen Dualismus, sondern einen  Trialismus  [Dreiteilung - wp]. Drei heterogene Prinzipien fließen hier zu einer unfaßbaren materialistischen Dreieinigkeit zusammen.  Wie  unfaßbar insbesondere auch die materialistischen Annahmen über das Verhältnis von Stoff und Empfindung sind, will ich jetzt kurz beleuchten.

Die Atome, die materialistische Substanz, sollen Empfindungen haben. Wie hat man sich aber das näher vorzustellen? Etwa so, daß die Empfindungen  Eigenschaften  der Atome in demselben Sinn wären, wie z. B. Größe und Gestalt? Das meinen die Materialisten nicht. Größe und Gestalt gehören nach ihnen ja zur Außenseite der Atome; die Empfindungen sollen auf ihrer Innenseite stehen. In der Tat gehört zu jeder Empfindung ein Bewußtsein, ein Ich, das sie empfindet. Empfindungen ohne eine Bewußtsein, das sie weiß und sich in ihnen weiß, sind ein Unding. Solches Bewußtsein, das zu den Empfindungen gehört, ohne das sie nicht sein könnten, was sie sind, wird mittels des Wortes "Innenseite" gleichzeitig anerkannt und versteckt. Anerkannt: um die Tatsache des Bewußtseins kommen die Materialisten nicht herum. Versteckt: es soll das ja nach materialistischer Ansicht kein eigenes Ich sein, das mit dem betreffenden Atom verbunden wäre. Das Atom selbst soll das Ich sein. Eben nach seiner Innenseite genommen soll es das Ich sein, wie es nach seiner Außenseite genommen Körper sei.

Das ist freilich schwer begreiflich. Nicht darauf will ich im jetzigen Zusammenhang Gewicht legen, daß die Absurdität wiederkehrt, die schon das Verhältnis von Stoff und Kraft gedrückt hatte. Der dort gerügte Nonsens, die Atome  gleichzeitig  körperlich und unkörperlich zu denken, wird uns hier in neuer Auflage zugemutet. Früher hieß es, die materialistische Substanz sei in einer Wesenheit Stoff und Kraft. Jetzt hören wir, sie soll  in einer Wesenheit Atom und Monade sein.  Das Atom soll nach seiner Innenseite Bewußtsein entfalten, die Monade nach ihrer Außenseite Körperlichkeit. Das sind nichts als Worte und räumliche Bilder. Hinter denselben stehen unvereinbare Gegensätze. LEIBNIZ, der Erfinder der Lehre von den Monaden, wußte wohl, warum er die Körperlichkeit der  seinen  zu bloßem Schein herabsetzte. Doch genug! Lassen wir mit den Materialisten gelten, daß den Monade eine reale Außenseite, das Atomsein, zuwächst, oder vielmehr in eigentlich materialistischer Sprache, daß den Atomen eine ideelle Innenseite zukommt, daß sie also Empfindungen haben.  Was für Empfindungen  aber? Das Atom soll doch wohl  sich  empfinden, es ist seine eigene Innenseite. Wovon sollte seine Empfindung auch anders die Innenseite sein? Freilich, damit empfindet es wenig genug. Denn das Atom ist von unveränderlichem Stoff. Ohne jeden Wechsel von Eigenschaften ist es in alle Ewigkeit dieselbe ungegliederte kompakte Masse, und so müßte auch seine Innerlichkeit sein: eine öde, leere  Selbstempfindung,  in aller Ewigkeit unverändert gleich.

Da diese Annahme nicht genügt, um die Mannigfaltigkeit des inneren Erfahrens zu decken, so  bereichern  die Materialisten das Empfindungsleben des Atoms. Nicht nur der Selbstempfindung, sondern auch anderer Empfindungen, der Empfindungen von Druck, Berührung, Widerstand, von Wärme, Kälte usw. soll die Innenseite von Atomen fähig sein. Indessen, wie kommt es zu diesem Plus? Die materialistische Antwort lautet: dadurch, daß sich in ihnen die  Bewegungen  der Atome widerspiegeln. Ein solcher Wechsel in der Bewegung der Atome ist ja das einzig äußere Geschehen, das ihre ewig starre Trägheit unterbrickt, mit dem sie als Körper auf Einflüsse von anderen Körpern antworten.

Seinen  Bewegungswechsel soll das Atom empfinden? Doch halt!  Sein  Bewegungswechsel ist das gerade nicht. In oder am Atom, das seinen Weg durch die Räume gleitet, geschieht nichts. Eine solche bloße Ortsverschiebung, durch die es von Punkt zu Punkt rückt, ist eine rein äußerliche Änderung seiner Lagebeziehung zu anderen Körpern. Sie bedeutet keinen Wechsel  in  ihm. Der Umstand vielmehr, daß es in gleicher Richtung und mit gleicher Geschwindigkeit forteilt, zeigt gerade die Abwesenheit eines solchen Wechsels an. Hierdurch gibt sich nämlich kund, daß seine kinetische Energie konstant bleibt. Diese ist das reale und intensive Moment in aller Bewegung. Auf  ihre  Zu- oder Abnahme kommt alles an. Auf diese Zu- oder Abnahme kinetischer Energie, dem einzigen, was man, mechanisch gesprochen, unter Bewegungswechsel eines Atoms verstehen kann, muß dann also auch, materialistisch gesprochen, der Wechsel von Empfindungen bezogen werden. Kurz, zur eigenen Innenseite des Atoms träte auf einmal eine Innenseite auch - seiner kinetischen Energie hinzu. Die Innenseite des Atoms träte auf einmal eine Innenseite auch - seiner kinetischen Energie hinzu. Die Innenseite der kinetischen Energie oder die zweite Innenseite der Atome bestände in den oben genannten Außenempfindungen, wie die engere oder eigentliche Innenseite der Atome ihre Selbstempfindung sein soll. Atome, Energie, Empfindung, diese Dreiheit zusammengehalten durch eine zweifache Außen- und Innenseite! Ich brauche die Schwierigkeiten nicht näher auszuführen; jedermann fühlt sie. Diese Logik wird immer verzweifelter, je ernster man die Worte nimmt, durch die weltentiefe Rätsel glatt und leicht zugedeckt werden sollen, die Worte "Außen- und Innenseite".

Zu all dem Unsinn gesellt sich ein letzter. Wir hörten eben, die wechselnden Empfindungen eines Atoms seien dasselbe wie seine wechselnden Bewegungen, diese nach ihrer "Innenseite" genommen. Was folgt daraus? Da alles Reale des Bewegungswechsels nichts als Zu- oder Abnahme von Energie ist, so kann derselbe nach seiner Innenseite gleichfalls nur als Intensitätswechsel erscheinen.  Es gäbe also keine "qualitative" Mehrheit von Empfindungen in aufeinanderfolgender Augenblicken.  Immer nur ein und dieselbe egwig gleichartige Empfindung, z. B. die kontinuierliche Empfindung einer bestimmten Farbe, würde jetzt stärker, nachher schwächer sein. Ausgelöscht wäre die bunte Mannigfaltigkeit wechselnder Farbenqualitäten, ganz und gar ausgeschlossen das Vertauschen einer Lichtempfindung mit Empfindungen anderer Art; hier etwa mit einer Druckempfindung, dort mit einer Temperaturempfindung und dgl. mehr. Sodann:  es gäbe "überhaupt" keine Mehrheit von Empfindungen in demselben Augenblick.  Jedes Atom, wie es in jedem Augenblick nur  eine  Bewegung annehmen kann, könnte in jedem Augenblick auch nur  eine  Empfindung haben. Das mag man nennen wie man will. Bewußtsein wäre solche Innenseite nicht mehr. Die Eigentümlichkeit des Bewußtseins ist gerade, eine Vielheit von Inhalten in seiner  Einheit  zusammen zu haben und in seinem  Wissen  auseinander zu halten.

Tief in die Wurzeln der materialistischen Weltanschauung sind wir nun eingedrungen. Nach logischer Notwendigkeit ihrer Grundlagen haben wir geforscht. Wir fanden keine. Wir fanden im Kausal- und Substanzbegriff der Materialisten nichts als zeitlich bedingte Eklektizismen, Unklarheit und Dunkelheit. Ein unnötig eingeführter und unausgeglichener Dualismus drückt den Teil der materialistischen Weltanschauung, der von Kraft, Stoff und ihrem Verhältnis handelt. Und niemals ist sie, obwohl sie sich dessen rühmt, über jenen anderen Dualismus hinausgekommen, den anzunehmen Beobachtung und Erfahrung nötigen: über den Dualismus von Physischen und Psychischem. Vielmehr mangeln auch hier schon in den Grundlagen die strengen Begriffe. Man bietet uns statt fester, klarer Bedeutungen vage Ausdrücke, die immer, wenn man zufaßt, in Händen zerfließen; Worte, die nur eine sprachliche Außenseite, keine logische Innenseite haben. Auf dieser unsoliden Grundlage ist aber die ganze materialistische Psychologie aufgebaut. Es war das eigene Prinzip der Materialisten, daß sich die Wirklichkeit nach logischen Notwendigkeiten richte. Werden wir erwarten dürfen, daß sie jenen schiefen Begriffsbildungen, jenen widerspruchsvollen Denkkonglomeraten gehorche? Wie  sehr diese  Psychologie von aller Wirklichkeit des Geistes- und Seelenlebens entfernt bleibt, wird sich aus den nächsten Vorlesungen ergeben.
LITERATUR: Hermann Schwarz - Der moderne Materialismus als Weltanschauung und Geschichtsprinzip, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Näheres in meinem Werk "Die Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen durch die mechanische Methode nebst einem Beitrag über die Grenzen der physiologischen Psychologie", Leipzig 1895. Farben, Töne selbst sind nichts Subjektives, sondern  Nichtseiendes. 
    2) WILHELM OSTWALD, Vortrag gehalten auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1896
    3) siehe oben
    4) siehe oben
    5) Man vgl. gegen SPINOZAs sogenannten "Parallelismus" vor allem die Ausführungen REHMKEs in dessen Schriften "Psychologie", Hamburg und Leipzig 1894, "Innenwelt und Außenwelt", "Leib und Seele", Greifswald 1898, "Wechselwirkung und Parallismus?" Gedenkschrift für RUDOLF HAYM, Halle 1902 und BUSSE, Geist und Körper, Seele und Leib", Leipzig 1903