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MURRAY EDELMAN
Politik als symbolische Form
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Politik als Ritual
Metaphern u. Sprachformen
"Der Staat ist eine Abstraktion, doch in seinem Namen werden Menschen ins Gefängnis geworfen und kommen im Krieg um, in seinem Namen werden sie durch Rüstungsaufträge oder Lizenzen z.B. für die Erdölgewinnung reich."

Die Politik ist wie die Kunst, die Liebe und die Religion ein Thema, das den Menschen nicht losläßt: weder in seinem Verhalten noch in seinen Gesprächen noch in seiner Geschichtsschreibung. In allen Ländern und Kulturen befassen sich die Menschen mit dem Staat: was er ist, was er sein sollte, was er leistet. Die tradierten Vorstellungen vom Staat enthalten manches Halbwahre, das aber doch seinen emotionalen Druck ausübt, vieles, was dem täglichen Augenschein glatt widerspricht und doch als Mythos nur um so hartnäckiger geglaubt und dogmatischer tradiert wird, weil die Menschen an diesen Mythos, dem sie ihren Zusammenhalt danken, glauben  wollen.  Mitunter freilich hat Politik herzlich wenig mit Mythos und Emotionen zu tun. Sie ist ebenso der nüchterne wie der erfolgreiche Versuch, von anderen Geld zu bekommen oder Macht über sie zu gewinnen. Vielleicht kann Politik sogar nur deshalb für einige Leute nüchtern und erfolgbringend sein, weil sie für andere (oder für uns alle?) etwas Zwanghaftes, Mythisches, Emotionales hat. Diese  symbolische Seite der Politik  verdient unser Interesse; denn wir können uns nur selber erkennen, wenn wir wissen, was wir tun und welche Umwelt uns umgibt und beeinflußt. Der Mensch schafft sich politische Symbole; sie aber fördern und erhalten ihn - oder locken ihn in die Irre.

Das Verhältnis des Menschen zum Staat ist kompliziert. Der Staat teilt Vergünstigungen und Gratifikationen aus, aber er bedroht auch. Einmal ist es "unser Staat", aber oft sind es auch "die da oben". Der Staat ist ein Abstraktion, doch in seinem Namen werden Menschen ins Gefängnis geworfen und kommen im Krieg um, in seinem Namen werden sie durch Rüstungsaufträge oder Lizenzen z.B. für die Erdölgewinnung reich.

Für jeden Menschen verdichten sich diese Dinge mit ihrer Ambivalenz und Vieldeutigkeit in der politischen Verfassung. Die Verfassung ist aber nur Ausdruck jener Kompliziertheit, die im Menschen selber steckt; denn der Mensch ist ein politisches Wesen. Ich untersuche hier die Politik als symbolische Form, wobei es davon ausgeht, daß sich Mensch und Politik ineinander spiegeln.

Die dauernde Beschäftigung mit dem Staat ist natürlich in Wirklichkeit die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst. Wenn die Politik eben so kompliziert und ambivalent ist wie die Menschen, die sie machen, dann steht zu erwarten, daß politische Institutionen und Gebilde ganz handfeste Bedeutungen annehmen: Bedeutungen, auf die implizite angespielt und auf die die Masse eingeschworen wird, weil sie für das ergebene Sich-Fügen der Öffentlichkeit in das Schalten und Walten der verschiedenen Eliten - und damit für den sozialen Frieden unentbehrlich sind. Politische Formen geraten somit zum Symbol dessen, was die Massen glauben müssen, um unbesorgt sein zu können. Was jene Bedeutungen determiniert, sind die Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste der Menschen. Daneben wachsen aber bestimmten Gruppen aus politischen Formen auch Güter, Dienstleistungen und Macht zu. Es besteht daher kein Grund zu der Annahme, die Bedeutung politischer Formen beschränke sich auf ihre  instrumentelle  Funktion. Ein zentrales Thema dieser Arbeit ist gerade die Eigenschaft politischer Formen,  einerseits  eine Szenerie von Ausdruckswerten für die Massenöffentlichkeit zu sein und  andererseits  bestimmten Gruppen handfeste Vorteile zu gewähren.

Die politikwissenschaftliche Forschung der letzten paar Jahrzehnte hat wiederholt die bemerkenswerte Diskrepanz aufgezeigt, die zwischen unseren scheinbar so plausiblen Meinungen über das Wirken politischer Institutionen und deren tatsächlichem Wirken besteht. Wir werden noch im einzelnen auf den Nutzen zu sprechen kommen, den das politische System aus dieser Diskrepanz zieht, wir wollen sie jedoch zunächst an einigen Beispielen illustrieren.

Als besonders aussagekräftiges Beispiel bieten sich Wahlen an, da die Stimmabgabe die einzige Form ist, in der sich die meisten Staatsbürger überhaupt je am politischen Leben beteiligen, und außerdem das am umfassendsten und eingehendsten erforschte politische Verhalten überhaupt darstellt. Unermüdlich wiederholen es die Lehrer, die Wählerinitiativen und die Kandidaten selber: mit dem Stimmzettel kann der Wähler seinen Abgeordneten und die Politik kontrollieren; ein Bürger, der nicht zur Wahl geht, braucht sich hinterher nicht über eine schlechte Regierung zu beschweren; und überhaupt sind Wahlen das Fundament der Demokratie. Paradoxerweise haben die Untersuchungen des Wählerverhaltens aber gezeigt, daß  konkrete  Streitfragen für die Entscheidung des Wählers kaum ausschlaggebend sind, da die meisten Wähler ohnehin nicht wissen, welches die strittigen Fragen im jeweiligen Wahlkampf sind und welche Partei welchen Standpunkt vertritt. Aus Studien über das Verhalten des Gesetzgebers und der Verwaltung wissen wir ferner, daß dieses von Wahlergebnissen nicht primär berührt wird.Was das Volk bekommt, hängt also  nicht  in erster Linie davon ab, wie es wählt. Daraus folgt nun nicht, daß Wahlkämpfe unwichtig seien oder keinen Zweck hätten. Vielmehr ist es so, daß sie Funktionen haben, die sich von unseren herkömmlichen Anschauungen unterscheiden. Sie geben den Leuten Gelegenheit, ihre Unzufriedenheit oder ihre Begeisterung zu artikulieren und das Gefühl des "Dabeiseins" zu haben. Dies ist jedoch im wesentlichen Teilnahme an einem  rituellen  Akt, nur in geringerem Maße an der Formulierung der Politik. Wie jedes Ritual (sei es in primitiven oder in modernen Gesellschaften) lenken Wahlen die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen sozialen Grundwerte und darauf, daß es wichtig und offenbar auch vernünftig ist, die eingeschlagene Politik zu unterstützen. Ohne derartige Mittel vermag sich kein Gemeinwesen zu halten und sich den Rückhalt oder das stillschweigende Einverständnis seiner Mitglieder zu sichern. Der Witz dabei ist jedoch, daß Wahlen diese unentbehrlich gesellschaftliche Funktion nicht erfüllen könnten, wenn der allgemeine Aberglaube an die Kontrollfunktion von Wahlen in größerem Umfang in Frage gestellt würde. Das hartnäckige Bestehen der Interessierten darauf, daß niemand sich von dem Ritual ausschließt, ist so gesehen durchaus verständlich und sinnvoll. Das gleiche gilt von der Überzeugung des einzelnen Wählers, seine Stimmabgabe habe eine rationale Basis. Ein Psychiater hat einmal über die Stimmabgabe geschrieben: "Wohl auf keinem Gebiet, ausgenommen vielleicht die Religion, ist der Durchschnittsmensch von der logischen, vertretbaren und insgesamt rationalen Natur seiner Entscheidungen dermaßen durchdrungen wie beim Wählen."

Dieser Schluß führt nun andererseitz zu der Frage, wie denn nun  wirklich  die Wertmaßstäbe des Volkes in die Entscheidungen der öffentlichen Organe eingehen und in welchem Umfang durch bestimmte Verfahren die Werte der einen Gruppe die der anderen ausstechen. Diese Frage wird im folgenden untersucht, wobei wir besonders darauf achten wollen, welcher Gebrauch in der Politik von Mythen, Riten und sonstigen symbolischen Formen gemacht wird.

Wissenschaftliche Untersuchungen legen nicht nur den Verdacht nahe, daß gerade die gepriesensten Formen einer Partizipation des Volkes am politischen Leben überwiegend symbolischer Art sind, sondern auch, daß ein gut Teil jener öffentlichen Programme, die nach einhelliger Auskunft und Überzeugung aller den Massen zugute kommen, in Wirklichkeit nur relativ kleinen Gruppen zum Vorteil gereichen. Man kann zeigen, daß viele wirtschaftspolitische Maßnahmen und Gesetze den "kontrollierten" Industrien handfeste Vorteile eintragen, während sie für den angeblichen Nutznießer, nämlich den Verbraucher, nicht mehr als eine symbolische Beschwichtigung darstellen.

Noch einmütiger kommen Politikwissenschaftler zu der Erkenntnis, daß die verbreiteten und plausiblen Vorstellungen von der grundsätzlich nur ausführenden Funktion von Behörden und Gerichten bei der "Durchführung" ihres Gesetzgebungs- und Verfassungsauftrages eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit darstellen. Es ist nützlich, nach gläubig hingenommenen und unermüdlich kolportierten Vorstellungen über das Funktionieren des Staates Ausschau zu halten; denn es ist das entscheidende Kennzeichen des Mythos, daß er gläubig hingenommen und unermüdlich kolportiert (als Gerücht verbreitet) wird - und daß er als solcher Konsequenzen hat - wenn auch nicht die, die er selbst formuliert.

Wenn wir nun daran gehen, die symbolischen Funktionen auf das Verhalten von Eliten wie von Massen zu untersuchen, dann ist es zunächst notwendig, sich gewisse Wesenszüge von Symbolen zu vergegenwärtigen und nach den Bedingungen zu fragen, die für ihr Auftreten und ihre Bedeutung ausschlagggebend sind. Glücklicherweise haben Psychologen, Anthropologen und Philosophen zu diesem Thema viel zu sagen, so daß die Anwendung dieses Wissens auf das politische System einige interessante Einblicke und fruchtbare Spekulationen, ja sogar ein paar stichhaltige Schlußfolgerungen ermöglicht.

Grundlegend für das Erkennen symbolischer Formen im politischen Prozess ist die Unterscheidung zwischen Politik als "Zuschauersport" und politischer Tätigkeit von organisierten Gruppen zur Durchsetzung ganz spezifischer, greifbarer Vorteile. Politik spielt sich für die Mehrheit die meiste Zeit im Kopf ab, als eine Flut von Bildern, mit der Zeitungen, Illustrierte, Fernsehen und politische Diskussionen sie überschütten. Diese Bilder schaffen ein bewegtes Panoptikum aus einer Welt, zu der die Massen praktisch niemals Zutritt haben, die sie aber schmähen oder bejubeln dürfen - oft leidenschaftlich und manchmal auch tatkräftig. Sie hören von Gesetzen, die verabschiedet werden, von fernen Machthabern, die eine Bedrohung darstellen oder Handelsabkommen anbieten, von Kriegen, die ausbrechen und wieder aufhören, von Bewerbern um Ämter, die es schaffen oder nicht schaffen, von Entscheidungen, durch die unvorstellbare Summen für die Fahrt zum Mond verpulvert werden.

Auf der anderen Seite gibt es die unmittelbar gegebene Welt, in der man Dinge macht oder tut, die direkt beobachtbare Folgen zeitigen. Bei diesen Aktivitäten kann man seine Taten und Überlegungen mit deren Folgen vergleichen und Irrtümer korrigieren; es findet eine Rückkoppelung statt. Doch nur sehr wenige Menschen haben mit der Politik auf diese direkte Weise zu tun.

Für die meisten von uns ist Politik eine Parade abstrakter Symbole, die wir aufgrund unserer Erfahrung als günstig oder ungünstig und praktisch allmächtig einstufen. Politische Entscheidungen können - für jedermann sichtbar - Wohlstand bringen, den Tod bedeuten oder auch den Verlust bzw. die Wiedererlangung der Freiheit. Die Politik verkörpert eine Welt mit starken ideologischen und gefühlsmäßigen Assoziationen, und deshalb sind politische Ereignisse willkommene Objekte, an denen man seine privaten Gefühle ausläßt, insbesondere starke Ängste und große Hoffnungen.

Die Politik taugte aber nicht zum Träger dieser Sorgen und Sehnsüchte, wenn sie lediglich ein Werkzeug oder Instrument wäre, das zu unserem Vorteil zu handhaben wir alle die Macht und das Wissen hätten. Für ihre Wirksamkeit als Symbol ist entscheidend, daß sie  fern, distanziert, unnahbar  ist, allgegenwärtig als Damoklesschwert wie als Rettungsanker und doch einer wirksamen Beeinflußung durch den Einzelnen mit seinen geringen Möglichkeiten entzogen.
LITERATUR - Murray Edelman, Politik als Ritual, Frankfurt/NY 1990