cr-2Das Medium ist die BotschaftDie Druckerpresse    
 
JACK GOODY
Die Logik der Schrift
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Die Entwicklung geheimer Wahlen im Europa des 19. Jahrhunderts fiel mit der Schulbildung für die unteren Schichten zusammen.

Der Staat, das Büro und das Archiv

In welcher Weise hat Schriftlichkeit die politische Ordnung beeinflußt? Oder anders gesagt, wie unterscheiden sich Regierungssysteme mit Schrift von solchen ohne Schrift? Die Antwort muß hier vielschichtig ausfallen. Moderne Staaten sind offensichtlich in hohem Maße auf die Schrift angewiesen, sowohl was das Wahlsystem anbelangt als auch was die Gesetzgebung, die Verwaltung im Innern und die auswärtigen Beziehungen betrifft. Zur Verbreitung von Informationen, von denen Entscheidungen abhängen, sowie der Ideologien, die die Strukturen der Parteien durchdringen, ist nicht die Schrift allein, sondern zudem die mechanische Reproduktion des gedruckten Wortes von grundlegender Bedeutung. Offensichtlich ist die Gesamtkonstellation moderner politischer Institutionen und Verhaltensweisen Teil einer sich entwickelnden Tradition, in welcher Veränderungen der Kommunikationsformen eine wichtige Rolle spielen.

Selbst bei der Untersuchung einfacherer Staaten muß natürlich noch stark differenziert werden, je nachdem beispielsweise, ob der Verwaltungsapparat des entsprechenden Regierungssystems von einer Dynastie kontrolliert wird oder einem Diktator, vom Militär, der Kirche oder Vertretern einer anderen repräsentativen Instanz. Ferner geht es um die Verteilung von Funktionen und Macht in den verschiedenen Subsystemen politischer Organisation: die Verwaltung, die Rechtspflege, das Militär, die Regierung, die Wahlgremien und die gesetzgebenden Körperschaften.

Die Ausdifferenzierung der Verwaltungsaktivitäten in eine spezielle Organisation, die Bürokratie, ist eine Erweiterung der Unterscheidung zwischen Autorität und Macht, wie sie von R.S. SMITH getroffen wurde. Aber diese Aufspaltung hängt auf einer höheren Stufe entschieden von der Schreibfähigkeit ab, um über weite Entfernungen kommunizieren, Informationen archivarisch speichern und tendenziell die Interaktion depersonalisieren zu können.

Eine der zentralen soziologischen und sozialanthropologischen Fragestellungen in bezug auf das Verhältnis von Schriftlichkeit und politischer Ordnung hat genau mit Staatenbildung, Bürokratisierung und der damit verbundenen Rolle der frühen Schriftsystem bei der Vereinheitlichung großer Reiche wie etwa China zu tun. Behauptet wurde, die frühesten Stufen der Literalität in den meisten 'primären' Zivilisationen seien genau zeitgleich mit den ersten staatlichen Entwicklungen gewesen. Historisch betrachtet mag der Zusammenhang zufällig sein, da ja die ersten Informationen, die wir über Staatsgründungen haben, eben auf schriftliche Aufzeichnungen zurückgehen. Gewiß ist es richtig, daß in Afrika, Polynesien sowie in Nord- und Südamerika Staaten entstanden, die keinen Zugang zur Schrift im eigentlichen Sinn hatten und dennoch teilweise bestimmte Formen der "Berichterstattung" ausbildeten.

In diesem Kapitel möchte ich die Grenzen aufzeigen, die mündliche Kommunikation der Organisation eines Staatswesens setzt. Dabei gehe ich von der Feststellung aus, daß Schriftlichkeit für die Entstehung bürokratischer Staaten von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn relativ komplexe Staatsformen ohne sie möglich sind. Die Übernahme der Schrift zu den unterschiedlichen Zwecken, die mit staatlichen Aufgaben verbunden sind, hat (zumindest potentiell) auf allen Ebenen Auswirkungen auf die Führung staatlicher Angelegenheiten.

Am offenkundigsten ist die Rolle der Schrift eindeutig im Verwaltungsbereich, was ihre Verwendung in der bereits erwähnten staatlichen Wirtschaft einschließt. Die Schrift spielte, wie wir sehen werden, natürlich im Rechtssystem eine große Rolle. Aber es bestand nur eine unbedeutende Parallelität zu ihrer Verwendung in Versammlungen, zur weiteren Verbreitung von Information auf ideologischer Ebene oder zu Konsultationsverfahren. Diese Entwicklungen waren im wesentlichen an eine breitere Verfügbarkeit von literalen Fähigkeiten und Lesematerial gebunden und nicht so sehr an ein soziales System, das einen komplizierten logographischen Code benutzt.

Als den Völkern Westafrikas die Schrift zum ersten Mal zur Verfügung stand, verwendeten sie einige zentralistische Staaten als Mittel, um mit ihren Nachbarn zu kommunizieren, indem sie korrespondierten und Verträge abschlossen. Moslems, die als Schreiber tätig waren, versorgten die jeweils andere Seite mit Pässen sowie Plänen und Beschreibungen für lange Handels- oder Pilgerreisen. Zumindest aus der Frühzeit gibt es mehr Beispiele für einen äußeren als einen inneren Schriftgebrauch. Zum Teil ist dies eine Frage der Erhaltung der Originaldokumente. Wir kennen den Schriftwechsel zwischen dem senegalesischen Staatsgründer SAMORI TURE und den Briten vom Ende des 19. Jahrhunderts, weil seine Briefe im "Public Record Office" aufbewahrt sind. Wir besitzen die Korrespondenz zwischen den Königreichen Ashanti und Gonja aus dem frühen 19. Jahrhundert, da es sie in dänische Archive verschlug, sowie fragmentarische Kanzleikorrespondenzen anderer Art.

Einen solchen Schriftverkehr gab es nicht nur zwischen stark islamisch beeinflußten Staaten, sondern auch zwischen literalen und nichtliteralen Staaten, wobei letztere Schreiber zur Abfassung ihrer Briefe engagierten. Diese Art internationalen Schriftverkehrs führte anfangs dazu, daß die nichtliteralen Staaten schriftliche Verträge meist so verstanden, als seien diese Teil von Tauschgeschäften oder Beutezügen wie andere materielle Gegenstände auch. Als die Ashanti mit Briten und anderen Europäern an der Küste Guineas in Kontakt kamen, widmeten sie den Aufzeichnungen, "Büchern" und Verträgen, die sie dort im Gebrauch fanden, ganz besondere Aufmerksamkeit. Abmachungen zwischen diesen ausländischen Mächten und den einheimischen Herrschern wurden schriftlich aufgesetzt, wodurch sich die Vereinbarungen präzisieren ließen und im Falle einer Auseinandersetzung ein "objektiver" Beleg der Absprache vorhanden war. Die Ashanti machten sich die neue Kommunikationsform sehr bald zu eigen und verliehen ihren schriftlichen Produkten eine größere Dauer, Konkretheit und Verbindlichkeit, als ihre Urheber beabsichtigt hatten, denn die "Aufzeichnungen" wurden als Gegenstand von Tausch oder Aneignung angesehen. Wenn die Ashanti einen benachbarten Stamm überfielen, übernahmen sie dessen "Bücher" und erwarteten, daß die literalen Urheber des Vertrags weiterhin die Abmachungen überwachen würden, die für die von den Ashanti eroberte Gruppe Gültigkeit gehabt hatten. Durch die Neigung, das Papier mit seinem Inhalt bzw. das Medium mit der Botschaft gleichzusetzen, entstand eine ganze Reihe von Mißverständnissen.

Die entscheidenden Gründe für den in diesen Fällen vorwiegend nach außen gerichteten Gebrauch der Schrift verdienen ein gewisses Interesse. Zunächst einmal war dies eine Reaktionsweise dieser Königreiche, indem sie sich dem Schriftgebrauch europäischer Mächte bzw. jener Moslem-Staaten anpaßten, in denen der Islam nicht eine untergeordnete, sondern eine beherrschende Rolle spielte: Sie schreiben, also müssen wir es auch. Aber noch wichtiger vielleicht sowohl was Pässe als auch was den Kanzleischriftverkehr angeht - war die Möglichkeit, eine Botschaft irgendwohin senden zu können, wo man selbst nicht hingelangen konnte, die Möglichkeit, persönlich über eine gewisse Entfernung hinweg kommunizieren zu können, denn Briefe haben zwar nicht die Unmittelbarkeit eines Telefongesprächs, sind aber verbindlicher als die Nachricht eines Boten. Während es für einen König herabwürdigend wäre, benachbarte Herrscher zu besuchen, es sei denn als Eroberer, kann der Monarch nun seine eigene Botschaft übermitteln, ohne sich auf einen Mittelsmann verlassen zu müssen, dessen Art zu sprechen möglicherweise zu Mißverständnissen über seine Absichten führt. Statt dessen wurden die Worte des Herren einer Tafel, einem Stück Leder oder einem Stück Papier anvertraut.

Welcher Gebrauch auch immer von der Schrift in den westafrikanischen Staaten des Savannengürtels gemacht wurde, so markiert doch erst die Gründung der Kolonialreiche einen ungeheueren Durchbruch, der für jeden augenfällig ist, der sich mit den dokumentarischen Berichten aus dem Afrika des vergangenen Jahrhunderts befaßt hat. Wie in anderen Kolonialreichen auch, durchlief das Verwaltungssystem in Nordghana plötzlich eine zunehmende Formalisierung der Verwaltungsarbeit und erlebte einen Aufstieg der Schreibtischtätigkeiten.

Diese Verschiebung vollzog sich ungeachtet der Tatsache, daß die neuen Verwalter Berufssoldaten waren, die Taten Worten vorzogen und Aktionen dem Papier und auch von ihrem Temperament her meist nur an einem Mindestmaß an bürokratischer Organisation und Aktivität interessiert waren. Dennoch hatten sie, unmittelbar nachdem sie auf der Bildfläche erschienen waren, systematische Berichte über Konflikte zu verfassen sowie über Steuereinnahmen und Geldausgaben. Ihrem vorgesetzten Kommissar in Tamale mußten sie monatliche, vierteljährliche und jährliche Berichte abliefern. Dieser seinerseits mußte dem Gouverneur der Goldküste Bericht abstatten und dieser wiederum dem Kolonialminister in London. Auf ihrem Weg durch das System wurde die Information natürlich gefiltert. Während der militärischen Eroberungen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ging praktisch jede schriftliche Mitteilung, jede Meldung, jeder Kriegsbericht, jedes Telegramm zurück nach London, um dort schließlich in den Parlamentsakten veröffentlicht zu werden. Nach der Befriedung des Gebiets nahm der Verschleiß an Papier sogar noch zu, doch wurde dann einiges Material in den örtlichen Archiven zurückbehalten. Alle Distrikte führten Berichtshefte über jedes einzelne Dorf, und sogar noch nach der Einführung von Telefon und Rundfunk hielten Briefe einen ständigen wechselseitigen Informationsaustausch zwischen dem Hauptquartier und den Außenstellen aufrecht. Später wurde das "formlose Tagebuch" zu einem Mittel, weniger aktuelle Informationen in einer eher beiläufigen Form mitzuteilen.

Zu Beginn der dreißiger Jahre entschloß sich die Regierung zu einer Politik der "indirekten Herrschaft", womit die Errichtung einer unteren Verwaltungsebene gemeint war, die an die lokalen Bräuche anknüpfte. Sie ist unter dem Namen der Eingeborenenbehörden (Native Authorities) bekannt geworden. Dieser Vorschlag bewirkte eine Flut literarischer Aktivitäten auf seiten der Verwalter, die gehalten waren, schriftlich über die lokalen Vorgänge zu berichten. Ferner bedeutete dies nicht nur die Anerkennung einer bestimmten Form des Häuptlingstums (selbst dort, wo dies in präkolonialen Zeiten gar nicht existiert hatte), sondern auch die Übertragung einiger rechtlicher, fiskalischer und administrativer Aufgaben. Solche Verantwortlichkeiten waren notwendig mit der Erstellung entsprechender Aufzeichnungen verbunden, denn nur auf diese Weise konnte man seinen Vorgesetzten und in letzter Instanz der britischen Regierung Bericht erstatten.

Gleichzeitig hing das Aufkommen des allgemeinen Stimmrechts und die "demokratische" Beteiligung der Massen sehr eng mit der Verbreitung von Literalität zusammen. Die Wähler mußten zunächst durch einen Zensus registriert werden. Zwar konnte dann der Wahlvorgang selbst mit Hilfe von Wahlkabinen und Wahlurnen bewerkstelligt werden, die mittels graphischer Symbole gekennzeichnet waren, doch lag die Registrierung der Wähler und die Auszählung der Stimmen in den Händen der Intelligenz. Und was noch wichtiger war: Nur die Intelligenz konnte in dem neuen politischen System mit all den Papieren, die Regierung und Partei produzierten, wirkungsvoll agieren. Um für ein hohes oder niederes Amt kandidieren zu können, mußte man des Lesens und Schreibens kundig sein.

Die Zunahme schriftlicher Aufzeichnungen unter den Kolonialregierungen in Afrika ist deshalb besonders bemerkenswert, weil es zuvor kaum autochthone [althergebrachte - wp] schriftliche Dokumente gegeben hatte. In Indien hingegen wurden schon zur Zeit der Moguln regelrechte und fundierte schriftliche Aufzeichnungen erstellt, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch von Dörfern zur Berechnung ihres Einkommens. Dennoch machte die Bürokratie unter der britischen Herrschaft einen gewaltigen Sprung nach vorn, den R.S. Smith mit den komplementären Begriffen "Herrschaft durch Aufzeichnungen" und "Herrschaft durch Berichte" beschrieben hat.

Die Herausbildung von Vorschriften und Regeln aus derartigen formalisierten Darstellungen spielt bei der Entwicklung des Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten in komplexen literalen Staaten eine entscheidende Rolle. Die ethymologische Verwandschaft von ruler und rules (Herrscher und Regeln) zeigt deutlich ihre wechselseitige Bedingtheit. Die Schrift macht solche Regeln explizit, führt auf vielfältige Weise zu ihrer Formalisierung und verändert so das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten.

Dieses Argument ist analog zu FOUCAULTs Behauptung Im 17. und 18. Jahrhundert habe in Europa die Entstehung der Statistik (angehäuftes schriftliches Wissen über eine Bevölkerung in numerischer Form) zu einem veränderten Begriff von Regierung beigetragen. Er verdeutlicht dies an dem Bedeutungswandel des Wortes "Ökonomie", das zunächst Haushaltsführung und später Regulierung der Gesamtgesellschaft meinte. Der Kenntniszuwachs auf seiten des Staates stellte eine Zunahme seiner Regierungsmacht dar, wie in Indien und Afrika Wissen Regierbarkeit bedeutete und diese Einsicht einen umfangreichen Gebrauch des geschriebenen Worts nach sich zog.

Durch die Einführung von Wahlen als wichtigstes Mittel, in neue politische Ämter zu gelangen (zumindest in der Anfangsphase der Unabhängigkeit, denn in Zeiten, in denen es schriftliche Aufzeichnungen gibt, wird physische Gewalt leichter nachweisbar), wuchs die Bedeutung der Massenmedien außerordentlich. Die Kontrolle über diese Kommunikationskanäle - zunächst über deren schriftliche Form in Gestalt der Presse, später über deren auditive und visuelle Formen in Gestalt von Hörfunk und Fernsehen - wurde zu einem zentralen Brennpunkt im Kampf um politische und wirtschaftliche Macht. Während in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Aufstand oft die Einnahme des Regierungssitzes einschloß, war es um die Mitte des 20. Jahrhunderts in Afrika üblich, die Gebäude der Massenmedien zu besetzen - den Rundfunksender, das Fernsehstudio, die Redaktionsräume der Zeitungen. Im letzten Viertel unseres Jahrhunderts trat eine weitere Verschiebung ein: Der Kampf drehte sich nun zumeist mehr um Waffenarsenale und Kasernen, wobei die Medien nurmehr eine nachgeordnete Rolle spielten. Die Folgen für den politischen und administrativen Handlungsspielraum sind gravierend, denn Legitimität kommt nun aus den Gewehrläufen, und die Durchsetzung politischer Programme hängt zunehmend von der Mitwirkung von Polizei und Armee ab.

Die Entwicklung geheimer Wahlen im Europa des 19. Jahrhunderts fiel mit der Schulbildung für die unteren Schichten zusammen. Beides war mit dem Informationsaustausch durch massenhaft verbreitete Zeitungen, Zeitschriften und Bücher verbunden. Die Schrift dient jedoch nicht nur der Unterstützung von Regierungen und der Teilhabe an der Regierung selbst. Wo das demokratische System dies erlaubt, dient sie auch dazu, mit Hilfe der Massenkommunikationsmittel das bestehende Regime zu attackieren. Skepsis, Kritik und Unglaube gibt es zwar natürlich auch in oralen Gesellschaften, doch scheinen ihre Äußerungsformen in jeder Generation wieder ausradiert zu werden, selbst dort, wo sie explizit vorhanden waren. Eine Akkumulation nonkonformistischen Gedankenguts kommt nicht zustande. Angriffe auf die jeweilige politische Macht geschehen meist in Form eines Aufstands, der darauf abzielt, die alte Ordnung wiederherzustellen. Sie haben selten Reformen oder gar Revolutionen zum Ziel.

In literalen Kulturen hingegen erhalten die persönlichen Kommentare von Philosophen und Predigern durch die weite Verbreitung des geschriebenen Wortes dauerhafte Gestalt und können sich somit viel leichter zu opponierenden Ideologien entwickeln. Träume von Nirgendwo vergegenständlichen sich in Berichten über Utopia, und mehr praktisch ausgerichtete Alternativen können eine Gestalt annehmen, in der sie als schriftliche Botschaft große zeitliche und räumliche Distanzen überwinden. Die Artikulation dissentierender Ansichten in schriftlicher Form führt zur Bildung von Widerstandsgruppen. Das Manifest, das Parteiprogramm oder die Schriften des Propheten - sie alle können einen Brennpunkt bilden, an dem sich der Widerstand Andersdenkender kristallisiert und durch den soziale Gruppenbildungen und kollektiver Protest bewirkt werden. Wie wir gesehen haben, gibt es auch schon in einfacheren Gesellschaften Einwände gegen das Töten, aber es bedarf der schriftlichen Fixierung, damit Oppositionsgruppen sich dieses Problems annehmen. Da es sich hierbei immer um Minderheiten handelt, deren Mitglieder weit verstreut sind, sorgt erst die Druckerpresse dafür, daß regelmäßige Kommunikation und ständige Ermahnung stattfinden und daß sich der Widerstand als eigenständige Kraft formieren kann. Auch hierbei handelt es sich lediglich um einen Umwandlungsprozeß, bei dem das implizit bereits Vorhandene explizit gemacht wird.

Im weitesten Sinn ist Politik ein Kampf um Macht und den Gebrauch der Macht. Dies ist ein durchgängiger Aspekt sozialen Verhaltens, von der Kirchturmpolitik bis hinauf auf die Ebene der Nation. Ich behaupte, daß selbst bei diesem sehr generellen Verständnis politischen Verhaltens Schriftlichkeit ein bedeutsamer Faktor bleibt, da sie eine wichtige Dimension der Macht auf allen Ebenen darstellt. Die Aufstellung einer Tagesordnung und schriftliche Berichte strukturieren die Entscheidungen, die ein Komitee trifft. Diejenigen, die diese Papiere lesen und studieren, sind in der Lage, Macht auszuüben. Der Protokollant führt nicht lediglich eine schlichte Dienstleitung aus, er kann vielmehr die getroffenen Entscheidungen mitbeeinflussen.

Selbst auf gesellschaftlicher Ebene hat Schriftlichkeit mit der Verteilung von Macht an andere halbautonome "Großverbände" zu tun, vor allem an die Kirche. Denn sie fixiert Glaubensvorstellungen und Praktiken, Ideologien und Programme und beansprucht zudem die Aufmerksamkeit von Spezialisten. Die Autonomie der Kirche, und das heißt: ihre Macht innerhalb der Gesellschaft, gründet sich auf das geschriebene Wort.

Ein Aspekt der Einführung von Schrift ist die größere Genauigkeit, die sie Anordnungen von oben und Gesuchen von unten verleiht. Es wird ganz einfach schwieriger, einen schriftlichen Befehl mit einer behördlichen Unterschrift zu umgehen. Diese personallsierte schriftliche Verpflichtung bedeutet auch, daß die Verantwortung beim Erteilen und Entgegennehmen von Befehlen stärker individualisiert wird. In einer Kette oraler Botschaften (wie bei Mythen oder Volksmärchen) geht die Identität des Urhebers eines bestimmten Befehls leicht verloren. Eine solche Ambiguität kann auch den obersten Herrscher ("der nicht irren kann") vor den Folgen unglücklicher Entscheidungen schützen.

Auch im Bereich der auswärtigen Beziehungen suchte man nach präzisen Aufzeichnungsverfahren. Der Wert eines schriftlichen Berichts über eine Übereinkunft (das Äquivalent zum schriftlichen Vertrag zwischen zwei Einzelpersonen) wurde bald erkannt. Die schriftliche Form ermöglicht, wie das auch bei Verträgen der Fall ist, komplexere, variablere und individuellere Abmachungen. Verträge stehen ihrer Natur nach eindeutig im Zentrum von Rechtssystemen, die ihrerseits die Grundlage für die Kontrolle von Regierungen bilden. H.S. MAINE sah in der Entwicklung des "Vertrags" aus "Status und Rechtsstellung" die große Revolution in der menschlichen Sozialgeschichte. Wie wir im folgenden Kapitel über das Recht sehen werden, bedarf diese Auffassung einer Modifizierung. Dennoch beinhaltet ein schriftlicher Vertrag generell ein größeres Maß an persönlicher Verantwortung als eine mündliche Abmachung.

Bei den Auswirkungen der Schrift auf die Politik habe ich in erster Linie die Frühphasen dieses Prozesses berücksichtigt. Ich tat dies vor allem deshalb, um potentielle Differenzen herauszustellen, die sich beim Aufkommen der Schrift in einem Gemeinwesen gegenüber solchen politischen Ordnungen ergeben, in denen sich die Kommunikation auf die gesprochene Sprache beschränkt. Es versteht sich von selbst, daß die Auswirkungen der Schrift in mehrfacher Hinsicht kumulativ sind. Erstens nimmt der Umfang der schriftlichen Überlieferung, also der Umfang dessen, was schriftlich gespeichert wird, ständig zu. Nicht nur verwandeln sich Büroablagen in eine Art Archiv, sondern Ideen, Pläne und Ideologien erhalten durch ihre schriftliche Fixierung eine dauerhafte Existenz, wodurch sie eine gewisse Unsterblichkeit erlangen und die Grundlage für spätere, möglicherweise bessere Formulierungen jener Ideen bilden.
LITERATUR - Jack Goody, Die Logik der Schrift, Ffm 1990