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RUDOLF CARNAP
(1891 - 1970)
Gegenstandsart und Identität
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Die Frage nach dem metaphysischen Wesen will wissen, was der betreffende Gegenstand an sich sei.

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die Aufstellung eines erkenntnismäßig-logischen Systems der Gegenstände oder der Begriffe, des "Konstitutionssystems". Der Ausdruck "Gegenstand" wird hier im weitesten Sinne gebraucht, nämlich für alles das, worüber eine Aussage gemacht werden kann. Danach zählen wir zu den Gegenständen nicht nur Dinge, sondern auch Eigenschaften und Beziehungen, Klassen und Relationen, Zustände und Vorgänge, ferner Wirkliches und Unwirkliches.

Das Konstitutionssystem stellt sich nicht nur, wie andere Begriffssysteme, die Aufgabe, die Begriffe in verschiedene Arten einzuteilen und die Unterschiede und gegenseitigen Beziehungen dieser Arten zu untersuchen. Sondern die Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, "konstituiert" werden, so daß sich ein "Stammbaum der Begriffe" ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet. Daß eine solche Ableitung aller Begriffe aus einigen wenigen Grundbegriffen möglich ist, ist die Hauptthese der Konstitutionstheorie, durch die sie sich am meisten von anderen Gegenstandstheorien unterscheidet.

In diesem Abschnitt werden keine neuen Untersuchungen angestellt, sondern nur eine Übersicht über die verschiedenen Gegenstandsarten nach ihren bekannten, charakteristischen Eigenschaften, und eine Erörterung einiger Beziehungen zwischen diesen Arten gegeben, die entweder zur Entstehung metaphyischer Probleme Anlaß gegeben haben oder für das logisch-erkenntnismäßige Verhältnis zwischen den Gegenstandsarten und damit auch für die Konstitutionstheorie von Bedeutung sind.

Das Problem der Gegenstandsarten und ihrer gegenseitigen Beziehungen ist für die Konstitutionstheorie deshalb so wichtig, weil ihr Ziel ein System der Gegenstände ist. Die hier aufzuweisenden Unterschiede und Beziehungen und besonders die Verschiedenheit der "Gegenstandssphären" müssen sich schließlich in dem aufzubauenden System vorweisen lassen. Die Prüfung, die darin liegt, ist besonders bedeutungsvoll für unsere Form der Konstitutionstheorie, weil hier die These aufgestellt wird, daß die Begriffe aller Gegenstände aus einer einzigen, gemeinsamen Basis abgeleitet werden können.

Die später darzustellende Konstitutionstheorie wird nicht von den in diesem Abschnitt darzulegenden Tatbeständen und Problemen ausgehen, sondern den Aufbau ganz von vorn beginnen. Nur auf gewissen Stufen des Systemaufbaues wird sie Rücksicht auf gewisse dieser  Tatbestände  nehmen und für die Beurteilung ihres schließlichen Resultates diese Tatbestände zum wichtigsten Prüfstein nehmen. Andererseits aber wird sie zu dem Ergebnis kommen, daß die hier zu schildernde Problemsituation in dem neugebauten System der Gegenstände überhaupt nicht auftritt; denn diese Situation verdankt ihre Verwickeltheit und Schiefheit nicht so sehr der Verwickeltheit der Tatbestände selbst, als vielmehr gewissen traditionellen Begriffsverwicklungen, die eher historisch als sachlich zu verstehen sind.


Die physischen und die psychischen Gegenstände

Da die Begriffe des Physischen und des Psychischen hier im üblichen Sinne genommen werden sollen, werden wir keine ausführliche Erläuterung oder gar Definition für sie geben, um so mehr als beides nach gewisser Seite hin vage und außerdem "logisch unreine" Begriffe sind.

Als Repräsentanten der physischen Gegenstände nehmen wir zunächst ihre wichtigste Art, die physischen Dinge. Diese sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Raum einnehmen, und zwar ein ausgedehntes Raumstück. Ort, Gestalt, Größe und Lage gehören damit zu den Bestimmungsstücken eines jeden physischen Dinges. Ferner gehört zu diesen Bestimmungsstücken noch mindestens eine Sinnesqualität, z.B. Farbe, Gewicht, Temperatur usw.

Da wir das Wort "Gegenstand" hier stets im weitesten Sinne nehmen: als etwas, worüber eine Aussage gemacht werden kann, so machen wir keinen Unterschied zwischen Vorgängen und Gegenständen. Zu den psychischen Gegenständen gehören zunächst die Bewußtseinsvorgänge: Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle, Gedanken, Wollungen und dergl. Ferner rechnen wir dazu die unbewußten Vorgänge, soweit sie den Bewußtseinsvorgängen analog genommen werden, z.B. unbewußte Vorstellungen.

Die psychischen Gegenstände stimmen mit den physischen darin überein, daß ihnen eine Zeitbestimmung zukommt. Im übrigen aber sind sie scharf getrennt von diesen. Ein psychischer Gegenstand hat keine Farbe oder sonstige Sinnesqualität; ferner keine räumliche Bestimmung. Zu diesen negativen Merkmalen der psychischen Gegenstände kommt als positives Merkmal die Zugehörigkeit zu je einem bestimmten, individuellen Subjekt hinzu.

Die psychophysische Beziehung besteht zwischen je einem psychischen Vorgang und dem "entsprechenden" oder "parallelen" Vorgang des Zentralnervensystems. Nach der meist vertretenen Auffassung gehören zum Vorbereich dieser Beziehung sämtliche psychischen Gegenstände, zum Nachbereich dagegen nur ein sehr kleine Ausschnitt aus den physischen Gegenständen, nämlich nur die Vorgänge im Nervensystem des lebenden tierischen (oder auch nur des menschlichen) Leibes.

Wir vermögen aus Stimme, Mienen und anderen Bewegungen eines Menschen zu erkennen, was "in ihm vorgeht", als aus physischen Vorgängen einen Schluß auf Psychisches zu ziehen. Die hier zugrunde liegende Beziehung zwischen einer Bewegung usw. und dem psychischen Vorgang, dessen "Ausdruck" sie ist, nennen wir "Ausdrucksbeziehung". Zu ihrem Vorbereich gehören fast alle Bewegungen des Leibes und seiner Glieder, besonders auch die unwillkürlichen. Zum Nahbereich gehört ein Teil der psychischen Gegenstände, insbesondere die Gefühle.

Viele psychische Gegenstände, die wir zum Verstehen anderer Menschen verwerten und von denen wir sagen, daß sie Psychisches "ausdrücken", stehen zu dem von ihnen Ausgedrückten nicht in der erklärten, direkten Ausdrucksbeziehung, sondern in einer zusammengesetzten. Das gilt für alle physischen Gegenstände, die nicht Vorgänge am Leibe des anderen Menschen sind, z.B. für Geschriebenes, Geformtes, Gesprochenes (die Schallwellen der Luft) usw. Diese physischen Gegenstände gehen physisch-kausal zurück auf Vorderglieder der eigentlichen Ausdrucksbeziehung, d.h. auf Körperbewegungen. Und zwar ist hierbei die Kausalverknüpfung so beschaffen, daß der den Ausdruckswert tragende Gestaltcharakter dabei erhalten bleibt. Nur dadurch, daß die Schriftzüge in einem gewissen Gestaltcharakter mit den Bewegungen der Hand beim Schreiben übereinstimmen, können sie graphologisch zur Deutung von Psychischem verwendet werden. Es liegt also auch hierbei stets ein Rückgang auf die eigentliche Ausdrucksbeziehung vor, die zwischen den Handbewegungen (nicht aber den Schriftzügen) und dem Psychischen besteht.

Die Ausdrucksbeziehung muß wohl unterschieden werden von der  Zeichen beziehung. Diese besteht zwischen denjenigen physischen Gegenständen, die etwas "bedeuten", und dem, was sie bedeuten, z.B. zwischem dem Schriftzeichen "Rom" und der Stadt Rom. Da alle Gegenstände, sofern sie Gegenstände begrifflicher Erkenntnis sind, irgendwie bezeichnet sind oder doch grundsätzlich bezeichnet werden können, so gehören zum Nachbereich der Zeichenbeziehung die Gegenstände aller Gegenstandsarten.

In manchen Fällen steht derselbe physische Gegenstand zugleich in einer Ausdrucksbeziehung und in einer Zeichenbeziehung zu Psychischem. Dabei können und müssen die Beziehungen aber sehr wohl auseinander gehalten werden. Gesprochene Worte sind z.B. in jedem Fall Ausdruck für etwas Psychisches, mögen sie inhaltlich betreffen, was sie wollen; denn durch Klang der Stimme, Tempo, Rhythmus usw., aber auch durch Wahl der einzelnen Worte und des Stils verraten sie etwas von dem augenblicklichen psychischen Zustand des Sprechenden. Außerdem aber haben die Worte eine Bedeutung; der Unterschied ihres Ausdrucksgehaltes ist besonders dann leicht zu erkennen, wenn die Bedeutung Anderes betrifft als psychische Vorgänge im Sprechenden.


Zuordnung und Wesen einer Beziehung

Mit jeder Beziehung sind zwei Probleme verschiedener Art verknüpft, deren Unterschied besonders bedeutungsvoll wird, wenn es sich um eine Beziehung zwischen Gegenständen verschiedener Gegenstandsarten handelt. Als "Zuordnungsproblem" bezeichnen wir die Frage: in welchen Gegenstandspaaren besteht die Beziehung? genauer: wie lautet das allgemeine Gesetz der Zuordnung der zu untersuchenden Beziehung? Die Anwort hat dann folgende Form: hat das Vorderglied die und die Beschaffenheit, so hat das Hinterglied die und die Beschaffenheit (oder umgekehrt).
BEISPIEL. Betrachten wir die Zeichenbeziehung, und zwar die zwischen Schriftwörtern und ihren Bedeutungen. Da es für die natürlichen Sprachen kein Funktionsgesetz der Bedeutung der Wörter gibt, d.h. keine allgemeine Regel, die aus der Form eines Wortes seine Bedeutung abzuleiten gestatten würde, so besteht in diesem Falle die einzige Möglichkeit für die Angabe des Umfanges der Beziehung in der Aufzählung aller Gliederpaare. Das geschieht durch ein Wörterbuch, wenn eine Grundsprache als schon bekannt vorausgesetzt wird; andernfalls muß die Antwort die Gestalt etwa eines botanischen Gartens annehmen, d.h. einer Sammlung von Gegenständen, deren jedem sein Name beigeschrieben ist.

Sind die Bedeutungen der Wörter bekannt, so kann die Antwort auf das Zuordnungsproblem der Zeichenbeziehung für die Sätze durch eine allgemeine Funktion angegeben werden, die freilich meist eine sehr verwickelte Gestalt hat. Sie ist nämlich die Syntax der betreffenden Sprache, in die Form eines Bedeutungsgesetzes gebracht. Ein Bedeutungsgesetz hat z.B. (für einen elementaren Fall) folgende Form: besteht ein Satz aus drei Worten, einem Substantiv im Nominativ, einem Verbum der 3. Person Sing. Präs. Akt. und einem Substantiv im Akkusativ, so bedeutet er denSachverhalt, daß der Gegenstand, dessen Zeichen das erste Wort ist, zu dem Gegenstand, dessen Zeichen das dritte Wort ist, in der Beziehung steht, deren Zeichen das Verbum ist.
Vom Zuordnungsproblem einer Beziehung zu unterscheiden ist das Wesensproblem. Hier wird nicht einfach gefragt, zwischen was für Gegenständen die Beziehung bestehe, sondern: was denn eigentlich zwischen den jeweils zugeordneten Gliedern bestehe, wodurch sie verknüpft seien; die Frage geht nicht auf die Beschaffenheit der bezogenen Gegenstände, sondern auf das Wesen der Beziehung selbst.
BEISPIEL. Der Sinn des Wesensproblems im Unterschied zum Zuordnungsproblem und die Verteilung der durch beide gestellten Aufgaben zwischen Fachwissenschaft und Metaphysik ist deutlich zu erkennen am Beispiel der Kausalbeziehung, d.h. der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung (hier nun innerhalb der Physik gemeint). Die Frage, welche Ursache mit welcher Wirkung kausal verknüpft sei, also das Zuordnungsproblem, wird von der Physik behandelt. Und zwar besteht ihre Aufgabe darin, die Antwort auf diese Frage, welcher Art denn nun eigentlich die Kausalbeziehung zwischen den so und so beschaffenen Vorgängen sei, die sich wie Ursache und Wirkung zu einander verhalten; was das Wesen ihrer Verknüpfung, des "Bewirkens", sei.
Der Sinn des Wesensproblems hängt eng zusammen mit dem Begriff der Wesensbeziehung, womit das gemeint ist, was die Beziehungsglieder "wesentlich" oder "wirklich" oder "eigentlich" verbindet, im Unterschied zu der Beziehung als bloßer Zuordnung, die die korrelativen Glieder einander zuweist. Später wird sich zeigen, daß das Problem der Wesensbeziehung ebenso wie das Wesensproblem einer Beziehung innerhalb der (rationalen) Wissenschaft weder gelöst, noch überhaupt gestellt werden kann. Es gehört zur Metaphysik.
BEISPIEL. Der Begriff der Wesensbeziehung spielt auch gerade beim Kausalitätsproblem eine wichtige Rolle. In den Diskussionen über die Grundlagen der Physik wird gegenüber gewissen positivistischen oder "mathematisierenden" Auffassungen immer wieder (irrtümlich) betont, daß die Kausalität als Zentralbegriff der Physik nicht nur Zuordnung, also mathematische Funktion bedeute, sondern auch eine Wesensbeziehung zwischen den zugeordneten Vorgängen, nämlich die "Wirkung" im eigentlichen Sinne von dem einen Vorgang auf den anderen.
Beim Beispiel der Kausalität zeigt sich, daß die Behandlung des Zuordnungsproblems Aufgabe der Fachwissenschaft ist. Dasselbe gilt nun auch für die Zuordnungsprobleme der vorher genannten Beziehungen. Das Zuordnungsproblem der psychophysischen Beziehung wird von Gehirnphysiologie, Psychologie und Psychopathologie behandelt. Es wird versucht, festzustellen, welcher Art der einem bestimmten psychischen Vorgang entsprechende physiologische Vorgan im Zentralnervensystem ist, und umgekehrt. Hier ist fast die ganze Aufgabe noch ungelöst. Die technischen Schwierigkeiten dieser Untersuchung offenbar; grundsätzliche Hindernisse dagegen, d.h. etwa absolute Schranken unserer Erkenntnis, bestehen hier keineswegs.

Die Ausdrucksbeziehung ist verhältnismäßig wenig untersucht, obwohl sie doch für das praktische Leben sehr bedeutsam ist. Denn von ihrer Kenntnis hängt ja alles Verstehen der anderen Menschen ab. Wir besitzen und verwerten diese Kenntnis aber nicht theoretisch-explizit, sondern nur intuitiv ("Einfühlung"). Das ist die Ursache für die verhältnismäßig mangelhafte Lösung des Zuordnungsproblems dieser Beziehung. Immerhin gibt es heute aussichtsreiche Ansätze zu Theorien der Physiognomik, Mimik, Graphologie, Charakterologie. Das Zuordnungsproblem der überaus umfangreichen und mannigfaltigen Zeichenbeziehung ist wohl kaum durch ein einziges theoretisches System zu beantworten. Trotz des fast unübersehbaren Umfanges der Zeichenbeziehung (Schriftzeichen, Signale, Abzeichen usw.) sind hier am wenigsten von allen erörterten Beziehungen Schwierigkeiten zur Lösung des Zuordnungsproblems vorhanden, jedenfalls keine von grundsätzlicher Art.

Wir sehen somit, daß die Zuordnungsprobleme der genannten Beziehungen ihre Lösung von bestimmten Fachwissenschaften zu erwarten haben und dabei keinerlei grundsätzliche Schwierigkeiten bieten. Ganz anders steht es nun mit den Wesensproblemen dieser Beziehungen. Da es sich hierbei nicht um "Feststellung", sondern um "Deutung" von Tatsachen handelt, so können diese Fragen nicht empirisch beantwortet werden. Ihre Behandlung gehört daher nicht zur Aufgabe der Fachwissenschaft.

Wo bei den Zuordnungsproblemen noch verschiedene Hypothesen unentschieden nebeneinander stehen, kann doch wenigstens angegeben werden, welcher empirische, bisher noch nicht festzustellende Befund zugunsten der einen oder anderen Seite entscheiden würde. Bei den Wesensproblemen dagegen stehen die bis auf den Grund verschiedenen Antworten einander nicht nur unentschieden, sondern anscheinend unentscheidbar gegenüber; ein hoffnungsloser Anblick für den unparteiischen Zuschauer, da selbst bei kühnster Erwartung auf künftigen Erkenntnisfortschritt nicht abzusehen ist, welche empirische oder sonstwie zu gewinnende Erkenntnis die Entscheidung sollte bringen können.

Die Frage nach dem Wesen der Ausdrucksbeziehung hat verschiedene, voneinander abweichende und teils einander widersprechende Antworten erhalten. Die Ausdrucksbewegung ist vielfach als Wirkung des ausgedrückten Psychischen gedeutet worden (wodurch das Problem auf das Wesensproblem der Kausalbeziehung zurückgeschoben ist), andererseits aber auch als seine Ursache oder als mit ihm identisch. Zuweilen sollte das ausgedrückte Gefühl in einer besonderen, nicht analysierbaren Weise dem körperlichen Ausdruck "innewohnen". So werden hier die verschiedensten Wesensbeziehungen gesehen. Bei der Zeichenbeziehung ist das Problem dadurch vereinfacht, daß die Verknüpfung zwischen Zeichen und Bezeichnetem stets ein konventionelles Moment enthält, d.h. irgendwie willensmäßig gestiftet ist. Nur selten wird hier eine besondere Wesensbeziehung des "Symbolisierens" angenommen.


Das psychophysische Problem
als Zentralproblem der Metaphysik


Das Wesensproblem der psychophysischen Beziehung kann als "das psychophysische Problem" schlechthin bezeichnet werden. Es ist nicht nur dasjenige untern den historisch vorliegenden philosophischen Problemen, das das engste Verhältnis zur psychophysischen Beziehung hat, sondern es hat sich allmählich zum Hauptproblem der Metaphysik entwickelt.

Die Frage lautet: vorausgesetzt, daß allen oder einigen Arten psychischer Vorgänge stets gleichzeitige Vorgänge im Zentralnervensystem entsprechen, was verbinden die entsprechenden Vorgänge miteinander? Selbst wenn das Zuordnungsproblem der psychophysischen Beziehung, zu dessen Lösung ja kaum die ersten Schritte getan sind, vollständig gelöst wäre, wir also stets aus der Beschaffenheit eines psychischen Vorgangs die des entsprechenden Gehirnvorganges erschließen könnten und umgekehrt, so wäre damit zur Lösung des Wesensproblems, des "psychophysischen Problems", noch nichts getan. Denn es fragt nicht nach der Zuordnung, sondern nach der Wesensbeziehung, nach dem, was "dem Wesen nach" oder "im Grunde" von dem einen Vorgang zu dem anderen führt oder beide aus einer gemeinsamen Wurzel herleitet.
Die Lösungsversuche sind bekannt und auch ihr unversöhnlicher Widerspruch gegen einander. Die Theorie des Okkasionalismus (Lehre von den gelegentlichen Ursachen) und die der prästabilisierten (vorher feststehenden) Harmonie sind wohl nur noch historisch zu bewerten. Für die heutige Problemsituation kommen dann vor allem drei Hypothesen in Betracht: die der Wechselwirkung, die des Parallelismus und die der Identität im Sinne der Zweiseitentheorie. Die Hypothese der Wechselwirkung nimmt eine Wesensbeziehung zwischen den beiden Seiten an, und zwar als Kausalwirkung in beiden Richtungen. Die Hypothese des Parallelismus (im engeren Sinne, unter Ausschluß der Identitätsphilosophie) leugnet das Bestehen einer Wesensbeziehung und nimmt eine nur funktionale Zuordnung zwischen den beiden Gegenstandsarten überhaupt nicht an, sondern faßt Physisches und Psychisches als die beiden "Seiten" (Äußeres und Inneres) desselben Zugrundeliegenden auf.

Die gegen jede dieser Hypothesen von ihren Gegnern vorgebrachten Gegenargumente erscheinen triftig: der sonst in der Wissenschaft angenommene, geschlossene Kausalzusammenhang aller räumlichen Vorgänge ist bei Annahme einer psychophysischen Wechselwirkung nicht aufrecht zu erhalten; andererseits ist nicht einzusehen, wie bei bloß funktionaler Zuordnung, also einer logischen und nicht realen Beziehung, eine Wahrnehmung zustande kommen sollte, die der Beschaffenheit der Sinnesreize entspricht; und Identität zweier so verschiedener Gegenstandsarten, wie es das Physische und das Psychische sind, bleibt ein leeres Wort, solange nicht angegeben werden kann, was unter den bildlichen Ausdrücken des "Zugrundeliegens", der "inneren und äußeren Seite" eigentlich zu verstehen ist.
Drei einander widersprechende und gleicherweise unbefriedigende Antworten, und keine Möglichkeit, einen erfahrungsmäßigen Sachverhalt, der hier entscheiden könnte, zu finden, ja auch nur sich vorzustellen: eine trostlosere Problemsituation ist wohl kaum zu denken. Sie mag uns auf die Vermutung bringen, ob nicht vielleicht die Fragen der Wesensprobleme, insbesondere die des psychophysischen Problems, falsch gestellt sind. Die Konstitutionstheorie wird zu der Ansicht führen, daß dies tatsächlich der Fall ist.

Wenn die Konstitutionsformen der Gegenstände und Gegenstandsarten gefunden und damit ihre logischen Orte im Konstitutionssystem bekannt sind, und wenn ferner noch das Zuordnungsproblem einer jener Beziehungen gelöst ist, dann ist alles gegeben, was die (rationale) Wissenschaft über die Beziehung aussagen kann. Eine darüber hinausgehende Frage nach dem "Wesen" der Beziehung würde des Sinnes entbehren; sie kann in wissenschaftlichen Ausdrücken überhaupt nicht formuliert werden.


Die geistigen Gegenstände

Außer den beiden behandelten Arten von Gegenständen, den psychischen und den physischen, ist die für die Philosophie wichtigste Gegenstandsart die der "geistigen Gegenstände" im Sinne der "kulturellen", "historischen", "soziologischen" Gegenstände. Sie gehören zum Gegenstandsgebiet der Geisteswissenschaften, und gerade im Hinblick auf den Namen dieser Wissenschaften erscheint es als zweckmäßig, sie als "geistige" Gegenstände zu bezeichnen. Die Verwendung der Ausdrücke "geistig" und "Geist" für das Psychische und die Subjektseinheit des Psychischen, die "Psyche", oder für bestimmte Teilgebiete des Psychischen ist ja immer seltener geworden und wird am besten ganz vermieden. Zu den geistigen Gegenständen gehören Einzelereignisse und umfassende Vorgänge, soziologische Gruppen, Einrichtungen, Strömungen auf allen Kulturgebieten; ferner auch Eigenschaften und Beziehungen solcher Vorgänge und Gebilde.

Die Selbständigkeit der Gegenstandsarten des Geistigen ist von der Philosophie des 19. Jahrhunderts nicht genügend beachtet worden. Die Ursache hierfür liegt darin, daß besonders die erkenntnis-theoretischen und logischen Untersuchungen ihr Augenmerk überwiegend auf Physik und Psychologie als paradigmatische Sachgebiete richteten. Erst die neuere Geschichtsphilosophie (seit DILTHEY) hat die methodische und gegenstandstheoretische Eigenart des Gebietes der Geisteswissenschaften herausgearbeitet.

Die geistigen Gegenstände stimmen zwar mit den psychischen darin überein, daß auch sie subjektgebunden sind: ihre "Träger" sind jeweils die Personen eines bestimmten Kreises. Aber in scharfem Gegensatz zu den psychischen Gegenständenn können die Träger wechseln: ein Staat, eine Sitte kann bestehen bleiben, während die tragenden Subjekte vergehen und andere an ihre Stelle treten.

Die geistigen Gegenstände sind auch nicht aus psychischen (und etwa physischen) zusammengesetzt. Es handelt sich um völlig disparate (ungleichartige) Gegenstandsarten; die geistigen Gegenstände gehören anderen "Gegenstandssphären" an als die physischen und die psychischen Gegenstände. Das besagt, daß kein geistiger Gegenstand in eine Aussage über einen physischen oder einen psychischen Gegenstand mit Sinn eingesetzt werden kann.

Von den Beziehungen zwischen geistigen und anderen Gegenständen seien hier nur die beiden wichtigsten erörtert, weil die Erkennung der geistigen Gegenstände und damit auch ihre Konstitution ganz auf diesen Beziehungen beruht. Wir bezeichnen diese beiden Beziehungen als "Manifestation" und "Dokumentation".

Ein geistiger Gegenstand, der während einer gewissen Zeit existiert, braucht nicht zu allen Zeitpunkten dieser Zeitstrecke aktuell zu sein, d.h. in Erscheinung zu treten. Die psychischen Vorgänge, in denen er jeweils in Erscheinung tritt oder "manifest" wird, nennen wir seine "(psychischen) Manifestationen". Die Beziehung der (psychischen) Manifestationen eines geistigen Gegenstandes zu diesem Gegenstande bezeichnen wir als "Manifestationsbeziehung" (genauer: psychisch-geistige oder kurz psychische Manifestationsbeziehung).
BEISPIEL. Diese Beziehung besteht z.B. zwischen dem augenblicklichen Entschluß eines Mannes, seinen Hut vor einem anderen abzunehmen, und der Sitte des Hutabnehmens. Diese Sitte besteht nicht nur in den Augenblicken, in denen gerade irgendwo irgend jemand sie manifestiert, sondern auch während der Zwischenzeiten, solange überhaupt Personen leben, die die psychische Disposition haben, auf bestimmte Wahrnehmungen durch Abnehmen des Hutes im Sinne eines Grußes zu reagieren; nur ist in den Zwischenzeiten die Sitte "latent".
Auch ein physischer Gegenstand kann Manifestation eines geistigen sein. So manifestiert sich z.B. die Sitte des Hutabnehmens in der augenblicklichen, entsprechenden Körperbewegung eines bestimmten Mannes. Eine nähere Untersuchung zeigt aber, daß auch hierbei die psychische Manifestationsbeziehung grundlegend bleibt; sie soll deshalb gemeint sein, wenn von "Manifestationsbeziehung" schlechtweg gesprochen wird.

Als Dokumentationen eines geistigen Gegenstandes bezeichnen wir dauernde physische Gebilde, in denen das geistige Leben gewissermaßen erstarrt ist, Produkte, dingliche Zeugen und Dokumente des Geistigen.
BEISPIELE. Die Dokumentationen oder Verkörperungen eines Kunststiles bestehen in den Gebäuden, Gemälden, Plastiken usw., die zu diesem Stil gehören; die Dokumentationen des gegenwärtigen Eisenbahnsystems in allem festen und rollenden Bahnmaterial und den Schriftstücken des Bahnbetriebes.
Die Behandlung der Zuordnungsprobleme der Manifestations- und der Dokumentationsbeziehung gehört zu den Aufgaben der Geisteswissenschaften. Denn diese haben festzustellen, in welchen Handlungen (im psychischen und physischen Sinne) sich die einzelnen geistigen Gegenstände äußern, manifestieren. Darin besteht gewissermaßen die Definition einer jeden Bezeichnung für irgendeinen geistigen Gegenstand. Andererseits ist die Dokumentaionsbeziehung dadurch von ganz besonderer Bedeutung für die Geisteswissenschaften, daß die Erforschung nicht mehr bestehender geistiger Gegenstände (und diese machen ja den größeren Teil des Gebietes aus) fast ausschließlich auf Rückschlüssen aus Dokumentationen beruht, nämlich aus schriftlichen Aufzeichnungen, Abbildungen, gebauten oder geformten Dingen oder dergl. Für die Schlüsse muß aber die Dokumentationszuordnung, also die Antwort auf das Zuordnungsproblem der Dokumentationsbeziehung, als bekannt vorausgesetzt werden. In den beiden Zuordnungsproblemen liegen also für die Geisteswissenschaften die Aufgaben der Begriffsbestimmung und der Erkennungskriterien ihrer Forschungsobjekte.

Wie bei den früher betrachteten Beziehungen, so gehört auch hier wieder die Behandlung der Zuordnungsprobleme zur Aufgabe der Fachwissenschaft, die Behandlung der Wesensprobleme dagegen zur Aufgabe der Metaphysik. Die Lösungsversuche (z.B. Emanationstheorie, Inkarnationstheorie, psychologistische, materialistische Deutung) sollen hier nicht näher erörtert werden. Ihre Betrachtung zeigt eine ähnliche Problemsituation wie bei den früheren Wesensproblemen: ein Widerstreit verschiedener Auffassungen, ohne daß eine Möglichkeit abzusehen wäre, wie die Entscheidung durch irgendwelche empirisch zu gewinnenden Erkenntnisse herbeigeführt werden könnte.


Die Vielheit der Gegenstandsarten

Nach den Gegenstandsarten des Physischen, des Psychischen und des Geistigen sollen noch Beispiele einiger weiterer, selbständiger Gegenstandsarten angeführt werden.
BEISPIELE.

Logische Gegenstände: die Negation, die Implikation, der indirekte Beweis. Dies sind logische Gegenstände im engeren Sinne, d.h. unter Ausschließung der mathematischen, die eng mit ihnen zusammenhängen, aber doch gemäß der üblichen Trennung der Wissenschaften für sich aufgeführt werden mögen; die Festlegung der Grenze ist dabei freilich einigermaßen willkürlich.

Mathematische Gegenstände: die Zahl 3, die Klasse der algebraischen Zahlen, das gleichseitige Dreieck. Das Dreieck ist hierbei nicht im anschaulich-räumlichen, sondern im mathematisch-abstrakten Sinne zu verstehen.

Die Gegenstandsart der Raumgestalten: die Kugel, das gleichseitige Dreieck. Bier sind die Ausdrücke nicht als Ausdrücke der abstrakten, unräumlichen Geometrie zu verstehen, sondern in ihrem eigentlichen, anschaulich-räumlichen Sinne. Von den physischen Gegenständen sind die Raumgestalten dadurch scharf unterschieden, daß ihnen die Bestimmungen der Zeit, des Ortes, der Farbe, des Gewichts usw. fehlen.

Die Gegenstandsart der Farben: Grau, Rot, Grün. Den Farben kommt keine Bestimmung der Zeit, des Ortes (sie sind in rein phänomenalem Sinne gemeint), genau genommen auch: der Farbe, des Gewichts oder sonstiger Sinnesqualitäten zu; dadurch unterscheiden sie sich von den physischen Gegenständen. Die Unterscheidung der Farben von den psychischen Gegenständen beruht auf dem Unterschied zwischen Vorstellungsinhalt und Vorstellung.

Die Gegenstandsart der Töne: c, e, der Akkord c-e-g. Die Gegenstandsart der Gerüche und die der Geschmäcke sind ebenso als selbständige Gegenstandsarten aufzuführen wie die der Farben und die der Töne.

Biologische Gegenstände: die Eiche, das Pferd (beide als Spezies, nicht als Individuen verstanden). Ein solcher biologischer Gegenstand ist nicht eine Summe physischer Gegenstände, sondern ein Komplex von solchen, und zwar eine Klasse.


Ethische Gegenstände: die Pflicht, der Gehorsam, der ethische Wert (einer Handlung).

Es ist leicht zu erkennen, daß diese Reihe von Gegenstandsarten noch weitergeführt werden kann. Sie dürfte jedoch für die angegebenen Zwecke genügen: sie läßt erkennen, daß es eine Vielheit selbständiger Gegenstandsarten gibt.

LITERATUR - Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Frankfurt/Berlin/Wien 1979