cr-2von MalottkiFrischeisen-KöhlerP. Kannengiesser    
 
FRED BON
Die Dogmen der Erkenntnistheorie
[2/2]

"Ich bin der Meinung bin, daß zumeist von zwei sich über das durch einen Begriff bezeichnete Streitenden deswegen keine abschließende Übereinstimmung der Ansichten erzielt werden kann, weil ein jeder der Meinung ist, die Bedeutung, die  er  dem strittigen Begriff beilegt, sei die einzig mögliche oder die  eigentliche  Bedeutung des betreffenden Begriffs, neben welcher die Bedeutungen, in denen er von anderen gebraucht wird, entweder gänzlich außer Acht gelassen oder, wenn erinnert, als uneigentliche oder falsche angesehen werden. Der bei weitem häufigste Fall ist der erstgenannte, daß nämlich dem einen nicht einmal der Gedanke kommt, daß der andere denselben Begriff in einer anderen Bedeutung gebraucht und darum zunächst einmal eine eine eindeutige Auffassung des Begriffs erzielt werden muß, ehe eine Übereinstimmung der Meinungen möglich ist."

"Die Fragen, welche die Philosophen am meisten beschäftigen, treten nicht in der Form  Welche Merkmale sind mit den und den Merkmalen regelmäßig verknüpft?  auf, sondern in der Form  Was ist das und das?  Wissenschaftlichen Wert kann die Beantwortung einer solchen Frage nur dann beanspruchen und sachliche Aufklärung nur dann verschaffen, wenn diese letztere Form auf die erstere zurückgeführt wird. Und das kann nur durch die vorausgeschickte Definition  Das und das ist dasjenige, welches durch die und die Merkmale charakterisiert ist  geschehen. Und das wiederum heißt nichts anderes, als  Ich will unter dem und dem dasjenige verstehen, welches durch die und die Merkmale charakterisiert ist.  Denn da es sich bei allen philosophischen Untersuchungen um mehrdeutige Begriffe handelt, so kann in letzter Linie immer nur die durch Zweckmäßigkeitserwägungen geleitete Willkür über die Auswahl einer bestimmten Bedeutung unter mehreren entscheiden."


Erster Abend
Das  Berkeley'sche Dogma

Misodogmos: Wohl selten ist mir eine den Stempel der Unüberlegtheit, um nicht zu sagen Unsinnigkeit, offener an der Stirn tragende Forderung vorgekommen, als diejenige, durch deren Erfüllung Sie die Mehrzahl aller philosophischen Streitfragen entscheiden zu können glauben, daß nämlich ein jeder Begrff, der zum Gegenstand einer speziellen wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werde, vor dieser Untersuchung gemacht werde, vor dieser Untersuchung gemacht werde, vor dieser Untersuchung genau zu definieren sei. ist es doch ganz offenbar, daß vielmehr umgekehrt gerade diese dazu bestimmt ist, das Wesen des durch einen derartigen strittigen Begriff Bezeichneten so genau zu erforschen, daß erst hierdurch die Angabe seiner wesentlichen Merkmale ermöglicht wird. Daher kann eine richtige Definition nicht schon vor, sondern selbstverständlich erst nach der Untersuchung gegeben werden. Könnten wir Fragen wie "Was ist das sittlich Gute?", "Was ist Wahrheit?" erschöpfend beantworten, so brauchten wir eben keine Forschungen mehr, die uns über das Wesen des Guten, der Wahrheit usw. Aufklärung verschaffen sollen. Kurz, wenn wir das schon im voraus wüßten, um dessen Kenntnis willen wir gerade die Untersuchung anstellen, so wäre diese völlig zwecklos. Ich meine, Sie brauchen sich diese Tatsache nur einmal so recht vor Augen führen, um sich über das Widersinnige Ihrer Forderung klar zu werden und einzusehen, daß deren Erfüllung vollständig außerhalb des Bereichs des Möglichen liegt.

Episthemos: Ich bin so weit davon entfernt, daß ich vielmehr im Gegenteil der Meinung bin, das soeben von Ihnen Vorgebrachte sei viel geeigneter, die Notwendigkeit als die Widersinnigkeit meiner Forderung zu illustrieren. Resultiert dieselbe ja aus der Beobachtung, daß zumeist von zwei sich über das durch einen Begriff bezeichnete - das  Notat,  wie ich es der Kürze halber nennen will - Streitenden deswegen keine abschließende Übereinstimmung der Ansichten erzielt werden kann, weil ein jeder der Meinung ist, die Bedeutung, die  er  dem strittigen Begriff beilegt, sei die einzig mögliche oder die  "eigentliche Bedeutung des betreffenden Begriffs, neben welcher die Bedeutungen, in denen er von anderen gebraucht wird, entweder gänzlich außer Acht gelassen oder, wenn erinnert, als uneigentliche oder falsche angesehen werden. Der bei weitem häufigste Fall ist der erstgenannte, daß nämlich dem einen nicht einmal der Gedanke kommt, daß der andere denselben Begriff in einer anderen Bedeutung gebraucht und darum zunächst einmal eine eine eindeutige Auffassung des Begriffs erzielt werden muß, ehe eine Übereinstimmung der Meinungen möglich ist. Ein solcher schreibt dann dem Gegner eine Ansicht zu, welche widersinnig wäre, wenn dieser den in Frage kommenden Begriff in der Bedeutung gebrauchte, die man ihm selbst beilegt, was aber durchaus nicht dem Standpunkt des Gegners entspricht. Diese allgemeinen Beobachtungen werden, wie gesagt, durch den Vorwurf, den Sie mir machen, auf das treffendste illustriert. Denn wenn Sie nur unter den in Frage kommenden Begriff - und das ist in unserem Fall der Begriff der Definition - dasselbe verstehen würden wie ich, so würden Sie auch dem von mir Geforderten aus vollem Herzen beistimmen. Beweist doch Ihr Einwand, daß Sie mir eine Ansicht zuschreiben, die zu hegen mir niemals in den Sinn gekommen ist und Sie schreiben mir diese Ansicht zu, weil Sie es verschmäht haben, sich zuvor darüber zu unterrichten, was ich unter einer Definition verstehe und Sie haben es verschmäht, weil Sie von vornherein für feststehend annahmen, Sie seien im Besitz des einzig wahren Begriffs der Definitioin und man könne diesem Wort ausschließlich die Bedeutung beilegen, die Sie ihm selbst geben. Denn freilich, wenn man unter einer Definition die vollständige Angabe  aller  Merkmale eines Begriffs versteht, dann haben Sie vollständig Recht mit Ihrer Behauptung, daß eine solche Definition nicht schon vor, sondern erst nach der wissenschaftlichen Untersuchung möglich ist. Aber gerade, weil das so selbstverständlich ist, darum hätten Sie sich umso eher der Tatsache erinnern sollen, daß die Logiker aller Zeiten jenes Wort in sehr verschiedenen Bedeutungen gebraucht haben. Denn unter der Definition eines Begriffs hat man bald die Angabe aller, bald die der wesentlichen, bald der nicht auseinander ableitbaren und bald die Angabe derjenigen Merkmale verstanden, welche genügen, um das so Bezeichnete unmißverständlich von Nachbarnotaten zu unterscheiden. Für welche von diesen Begriffsbestimmungen er sich entscheidet, steht im Belieben jedes einzelnen und daß, sobald man den Begriff der Definition in der letzterwähnten Bedeutung nimmt, der mir von Ihnen gemachte Vorwurf nicht mehr zutrifft, dürften Sie ebenso bereitwillig sein einzuräumen, wie ich Ihnen zugestehe, daß er durchaus berechtigt ist, sobald man lediglich eine der erstgenannten Bedeutungen in Betracht zieht. So ist es also ein gutes Beispiel dafür, wie eine Einigung über den Begriff auch eine Einigung der Meinungen zur Folge hat.

Misodogmos: Indessen verstehe ich noch nicht, wie ein so geringfügiger Unterschied der Bedeutungen, wie der ist, ob man unter einer Definition die Angabe aller oder die Angabe bloß der unterscheidenden Merkmale versteht, bewirken kann, daß ein und derselbe Satz zwei ganz verschiedene Gedanken zum Ausdruck bringt.

Episthemos: Nun, das wird Ihnen sofort klar werden, sobald Sie sich einmal ein konkretes Beispiel vor Augen führen. Für mich wäre, um ein solches zu nennen, der Satz: "Gold ist das Element vom Atomgewicht 197" eine Definition, während für Sie noch die Angabe des spezifischen Gewichts, der Härte, des Schmelzpunktes, des Wärmeleitungsvermögens, der Festigkeitskoeffizienten, der Farbe, der chemischen Reaktionen etc. hinzukommen müßten, um eine solche zu werden. Der wissenschaftlichen Untersuchung, welche die Frage "Was ist Gold" zu beantworten hat, fällt nun die Aufgabe zu, nachzuforschen, welche anderen Eigenschaften mit den Merkmalen der Unzerlegbarkeit durch die bisher bekannten Mittel und des Atomgewichts 197 regelmäßig verknüpft auftreten und erst nach der Lösung dieser Aufgabe ist es möglich, das zu geben, was Sie eine Definitioin, ich etwa eine Beschreibung nennen würde. Allein schon vor dieser Untersuchung steht nichts im Wege, die Definitioin in meinem Sinne aufzustellen, wofern nur die eine Erfahrung gemacht ist, daß es überhaupt ein Element vom Atomgewicht 197 gibt. Immer ist es also das regelmäßige Verknüpftsein gewisser Merkmale aneinander, auf welches sich jede wissenschaftliche und sachliche Untersuchung bezieht und was ich fordere, ist nichts anderes als die vorherige genaue Angabe derjenigen Merkmale  a b c ...,  deren Verknüpftsein mit den zu suchenden Merkmalen  x y z ...  durch die nachfolgende wissenschaftliche Untersuchung zu konstatieren ist. Wenn ich diese Forderung in die Form kleide, daß die Definition des zu untersuchenden Objekts vorauszuschicken sei, so trage ich damit nur dem Umstand Rechnung, daß die Fragen, welche die Philosophen am meisten beschäftigen, nicht in der Form auftreten "Welche Merkmale sind mit den und den Merkmalen regelmäßig verknüpft?", sondern in der Form "Was ist das und das?" Wissenschaftlichen Wert kann die Beantwortung einer solchen Frage nur dann beanspruchen und sachliche Aufklärung nur dann verschaffen, wenn diese letztere Form auf die erstere zurückgeführt wird. Und das kann nur durch die vorausgeschickte Definition "Das und das ist dasjenige, welches durch die und die Merkmale charakterisiert ist" geschehen. Und das wiederum heißt nichts anderes, als "Ich will unter dem und dem dasjenige verstehen, welches durch die und die Merkmale charakterisiert ist." Denn da es sich bei allen philosophischen Untersuchungen um mehrdeutige Begriffe handelt, so kann in letzter Linie immer nur die durch Zweckmäßigkeitserwägungen geleitete Willkür über die Auswahl einer bestimmten Bedeutung unter mehreren entscheiden.

Misodogmos: Indessen handelt es sich doch bei Fragen wie "Was ist das sittlich Gute?" gar nicht darum, welche Merkmale mit gewissen anderen Merkmalen regelmäßig verknüpft sind, sondern darum, welche Handlungen und welche Gesinnungen es sind, die von allen gebilligt und ethisch wertgeschätzt werden. Darum hat die Frage nach der eigentlichen Bedeutung des sittlich Guten sehr wohl einen verständlichen Sinn, ganz unabhängig davon, wie einer das von allen sittlich Gewertete benennen will.

Episthemos: Mein Gott, ist das denn wirklich so schwer zu verstehen! Die Frage "Wie beschaffen diejenigen Handlungen sind, welche das eine Merkmal "von allen gebilligt zu werden" aufweisen ist ja gerade eine Frage von der Art, der allein  ich  sachliche Berechtigung zuschreibe und wenn diese Frage so gestellt wird, ist ja tatsächlich die von mir erhobene Forderung erfüllt, sofern man sich nur darüber klar ist, daß, sobald die Frage nach dem Wesen des sittlich Guten in diese Form umgegossen ist, darin die Willenserklärung enthalten ist, daß man unter dem sittlich Guten dasjenige verstehen  will,  welches das Merkmal "von allen gebilligt zu werden" aufweist. Versteht doch keineswegs ein jeder bei jener Frage dasselbe, sondern es hängt alles ganz davon ab, was er als das unterscheidende Merkmal des sittlich Guten ansieht. Denn wer etwa der Meinung ist, daß es ethisch sehr hochstehende Handlungen religiöser Reformatoren gibt, welche von deren Volksgenossen nicht nur nicht gebilligt, sondern auf das schärfste verurteilt wurden, dem werden jene beiden Fragen durchaus nicht identisch sein und der kann mit der Beantwortung der zweiten Frage "Welche Merkmale sind mit dem Merkmal des von allen Gebilligtwerdens regelmäßig verknüpft?" sachlich vollkommen einverstanden sein, ohne daß er damit die erste Frage "Was ist das sittlich Gute?" für beantwortet hält. Das aber zeigt, daß die erste Frage ohne Angabe des charakteristischen Merkmals überhaupt nicht beantwortbar ist und ein Streit über sie niemals entschieden werden kann. Entscheidbar sind vielmehr immer nur Fragen der zweiten Gattung; und das ist es, worauf ich hinweisen will, wenn ich verlange, daß, bevor die wissenschaftliche Untersuchung beginnen kann, vorher feststehen muß, worauf sie sich beziehen soll. Nur so kann vermieden werden, daß, wenn zwei zwar etwas Gleichbenanntes, aber verschieden Beschaffenes zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen, der eine an demselben ganz andere Eigenschaften entdecken kann als der andere und beide sich nun gegenseitig irrtümliche Resultate vorwerfen, obgleich ein jeder für sich genommen seine Untersuchung vollkommen richtig durchgeführt hat. Nicht also eine eingehende und genaue Beschreibung des zu Untersuchenden muß vorhergehen, sondern nur ein für alle deutlicher Hinweis, durch welchen das Untersuchungsobjekt von allen anderen abgegrenzt und so für alle dasselbe wird. Erst dann kann man sich mit Berechtigung darüber streiten, welche Eigenschaften jenem Objekt zukommen, ein Streit, welcher durch sachliche Untersuchungen zu entscheiden ist und sich dadurch von jenen endlosen philosophischen Disputationen unterscheidet, die ihre Fortdauer einzig und allein dem Umstand verdanken, daß beide Teile versäumen, sich zunächst darüber zu verständigen, über was sie eigentlich streiten, weil ein jeder davon überzeugt ist, eine andere Bedeutung als die, welche er selbst dem strittigen Begriff beilegt, gäbe es nicht.

Misodogmos: Wie es scheint, glauben Sie ein Allheilmittel gefunden zu haben, durch welches Sie allen philosophischen Streitigkeiten ein Ende machen wollen. Und doch können Sie sich von der Unwirksamkeit desselben leicht überzeugen, wenn Sie nur einmal die Probe aufs Exempel machen. Erinnern Sie sich beispielsweise unserer eigenen Debatte, an deren Entscheidung doch wahrlich keine vorausgeschickten Definitionen irgendetwas zu ändern vermöchten. Sie hatten die absurde Behauptung aufgestellt, daß die gesamten erkenntnistheoretischen Untersuchungen nicht nur nicht das Geringste für eine bessere Fundamentierung der Wissenschaften beigetragen haben, sondern daß sie auch dank der Voraussetzungen, von denen sie alle ausgehen, hierzu überhaupt nicht imstande sind. Nun, ich dächte, diese Behauptung wäre unmißverständlich genug, und doch oder vielmehr gerade darum habe ich sie auf das schärfste bestritten. Denn wenn einmal zugestanden wird, daß das Ziel aller Wissenschaft die Wahrheit und die Erkenntnis ist, so kann auch nicht geleugnet werden, daß eine Untersuchung, die sich mit der Tragweite, den Grenzen und dem Wert des Erkennens beschäftigt, sicher auch der Wissenschaft zugute kommen muß. Nun aber werden doch auch Sie nicht leugnen wollen, daß die Erkenntnistheorie eben jene Disziplin ist, deren Aufgabe es ist, die soeben genannten Fragen zu beantworten und so haben Sie hier ein Beispiel dafür, daß wir uns über die Bedeutung des in Frage kommenden Begriffes einig sind, während unsere Ansichten über denselben diametral auseinander gehen.

Episthemos: Allerdings kann ich mich mit der Definition einverstanden erklären, derzufolge man unter Erkenntnistheorie diejenige Disziplin versteht, welche sich mit dem Wert, den Grenzen und der Tragweite des Erkennens beschäftigt. Und doch ist unsere Übereinstimmung über diesen Begriff nur eine scheinbare; eine scheinbare deshalb, weil die Worte, durch welche wir den strittigen Begriff definieren, zwar dieselben sind, die Bedeutung aber - wenigstens was das Wort "Erkennen" betrifft - bei mir und bei Ihnen grundverschieden sind, sofern Sie nur dieses Wort in dem Sinn verstehen, in welchem es von den Erkenntnistheoretikern im allgemeinen gebraucht wird.

Misodogmos: Aber wieso können Sie denn mit einer solchen Bestimmtheit behaupten, daß die Erkenntnistheoretiker etwas anderes unter "Erkennen" verstehen, als Sie es tun?

Episthemos: Nun, das ist sehr einfach; liegt doch eine umfangreiche erkenntnistheoretische Literatur tatsächlich in Werken wie DESCARTES' Grundlagen der Philosophie, LOCKEs und HUMEs Untersuchungen über den menschlichen Verstand, BERKELEYs Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, KANTs Kritik der reinen Vernunft und unzähligen Schriften deorum minorum gentium [Götterverehrung des geringeren Geschlechts - wp] vor. Da alle diese Schriften sich eingestandenermaßen mit den Grenzen und der Tragweite des menschlichen Erkennens beschäftigen, so wird ein vergleichendes Studium derselben uns darüber belehren, nicht was das Erkennen sei, wohl aber was alle jene Männer unter Erkennen verstanden haben. Und dieses Studium, dem ich jahrelang mit großen Eifer zugetan war, hat mir eben das Ergebnis geliefert, daß das "Erkennen" im erkenntnistheoretischen Sinne von dem im wissenschaftlichen Sinn grundverschieden ist und daher die Sätze, die in bezug auf das erstere richtig sein mögen, auf das zweite durchaus keine Anwendung finden und aus diesem Grunde die ganzen erkenntnistheoretischen Untersuchungen für die Wissenschaft nutzlos sind. Ich finde nämlich, daß die Erkenntnistheorie unter Erkennen eine Tätigkeit versteht, durch welche mit den erkannten Dingen irgendetwas geschieht, irgendeine Veränderung vor sicht geht, sie in irgendeine Abhängigkeit vom Erkennenden geraten. Die erkannten Dinge sollen irgendwie ins Bewußtsein aufgenommen werden müssen, um erkannt werden zu können, ja es soll entweder nur das im Bewußtsein Gegebene überhaupt erkannt werden können oder das nicht Gegebene doch nur durch oder mittels dieses Gegebenen. Und das ist nicht etwa die Meinung bloß dieses oder jenes Erkenntnistheoretikers, sondern der Erkenntnistheorie schlechthin, der Erkenntnistheorie, wie ich sie als Gattungsbegriff der Sophistik und Scholastik oder eigentlich nur der letzteren gegenüberstell, der ersteren aber beiordne. Denn die ganze Philosophie bewegt sich in einem ewig gleichen Pendelschwung, in welchem Sophistik und Scholastik die beiden Abweichungen, der Platonismus den Durchgang durch die Ruhelage darstellen. Die Erkenntnistheorie aber ist nichts als die moderne Wiederholung der antiken Sophistik.

Misodogmos: Ich will nicht mit Ihnen darüber streiten, inwiefern diese geschichtliche Parallele zutreffend ist oder nicht; aber ich kann nicht umhin, meiner Verwunderung darüber Ausdruck zu geben, daß Sie vom erkenntnistheoretischen Begriff des Erkennens in einer Weise gesprochen haben, als gäbe es einen anderen richtigen Begriff von jener Tätigkeit, welcher nicht die von Ihnen dem Erkennen mit Recht beigelegten Merkmale aufwiese. Wollen Sie denn etwa behaupten, daß Sie imstande sind, durch irgendeine noch so willkürliche Definition des Erkennens zuwege zu bringen, daß wir etwas nicht Gegebenes zu erkennen vermöchten? Denn obgleich ich paradoxe Behauptungen von Ihrer Seite gewohnt bin, so werden Sie sich doch wohl nicht bis zu diesem Gipfel der Absurdität versteigen. Wenn aber nicht, wie sollte dann das Erkennen im wissenschaftlichen Sinne von dem im erkenntnistheoretischen Sinne so abweichen, daß die für das letztere gültigen Sätze auf das erstere keine Anwendung finden?

Episthemos: Da ich unserer Untersuchung nicht vorgreifen will so will ich es vorläufig dahingestellt sein lassen, ob vom Erkennen im wissenschaftlichen Sinne nicht tatsächlich das gilt, was Ihnen als der Gipfel der Absurdität erscheint. Für jetzt gilt es, den Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen des Erkennens noch schärfer hervorzuheben. Was für die Erkenntnistheorie das Hauptmerkmal des Erkennens ist, haben wir gesehen. Um den wissenschaftlichen Begriff des Erkennens zu gewinnen, müssen wir von einem anderen Pnkt unseren Ausgang nehmen. Denn das Erkennen im wissenschaftlichen Sinn ist nichts anderes als das Gewinnen wahrer Sätze. Wahre Sätze sind aber für die Wissenschaft diejenigen, welche von den Einzelwissenschaften als voraussichtlich nicht mehr umzustoßende Ergebnisse der Detailforschung in den betreffenden einzelwissenschaftlichen Lehrbüchern vorgetragen werden. Ob diese Sätze sich nur auf unmittelbar Gegebenes beziehen, wäre durch eine Untersuchung des in den Lehrbüchern empirisch gegebenen Materials festzustellen, während die Erkenntnistheorie diese Beschränkung auf das Immanente im Begriff des Erkennens, von dem sie ausgeht, schon dogmatisch voraussetzt. Inwiefern diese Verschiedenheit der Ausgangspunkte auch eine Verschiedenheit der Resultate nach sich zieht und inwiefern die Erkenntnistheorie durch die Eigentümlichkeit ihrer Voraussetzungen konsequenterweise gezwungen wird, die Sätze der Einzelwissenschaften, mit Ausnahme etwa der Mathematik, als Nichterkenntnisse anzusehen, werden wir wohl im Verlauf unserer Debatte kennen lernen. Und wir werden sehen, wie  jene dogmatischen Voraussetzungen, kurz die speziellen Dogmen der Erkenntnistheorie es sind, welche eine Gültigkeit der erkenntnistheoretischen Resultate für die einzelwissenschaftlichen Forschungen ausschließen.  Schuld daran trägt aberb auch hier wieder das Übersehen der Tatsache, daß dasjenige, was die Erkenntnistheorie und das, was die Wissenschaft unter "Erkennen" und dem "Wahren" versteht, voneinander abweichen und daß die Erkenntnistheorie das, was sie unter diesen Begriffen versteht, als die einzig mögliche Bedeutung derselben ansieht. Und so ist abermals meine Forderung gerechtfertigt, daß man sich bevor man an die diesbezüglichen Untersuchungen herantritt, über die Mehrdeutigkeit der in Frage kommenden Begriffe zu allererst klar zu werden hat.

Misodogmos: Indessen, wie immer man auch die Wahrheit definieren möge, stets wird ein nicht auszulassendes Kriterium derselben der Ausschluß der einander widersprechenden unter den das wissenschaftliche System ausmachenden Sätzen sein. Und insofern solche einander oder den Grundsätzen der Logik widersprechende Sätze sich in großer Anzahl innerhalb der Einzelwissenschaften finden, insofern hat freilich die Erkenntniskritik nicht alle einzelwissenschaftlichen Sätze als wahre Erkenntnisse ansehen können und sah sich genötigt, gegen die anmaßende Überhebung der Detailforschung, welcher eben der Blick über die Gesamtergebnisse fehlt, Front zu machen. Aber nicht irgendeine wissensfeindliche Absicht, sondern allein die von einem höheren Standpunkt aus gewonnene Erkenntnis, daß erst mit der Befreiung vom einfachen Bau der Wissenschaften verunzierenden metaphysischen Beiwerk, d. h. den angeblichen Erkenntnissen einer jenseits der phänomenalen liegenden intelligiblen Welt die Wissenschaft nicht mehr Gefahr läuft, in einen Irrtum zu verfallen und daß alle Versuche, Gesetze über nicht in der Sinnenwelt gegebene noumenale [objekthafte - wp] Vorkommnisse aufzufinden, in Widersprüchen enden müssen, treibt die Erkenntnistheorie zu ihrer Rolle des getreuen ECKEHART der Wissenschaft gegenüber. Nicht erschüttern, sondern befestigen will die Kritik die Fundamente des Wissenschaftsbaus. Wahre Sätze müssen widerspruchslos sein. Diesem Kriterium der Widerspruchslosigkeit genügen aber die Sätze, aus denen man Ihrer Ansicht nach den Begriff der Wahrheit abstrahieren soll, keineswegs und deswegen hat die Erkenntniskritik nicht nur ein Recht dazu, sondern tut sogar ein verdienstvolles Werk, wenn sie durch Aufzeigung dieser Widersprüche darauf hinweist, wie notwendig es ist, von einem erhabenerem als dem einzelwissenschaftlichen Standpunkt aus Normen für das Erkennen aufzustellen, deren Nichtbeachtung alle jene beklagenswerten Widersprüche zur Folge hat.

Episthemos:: Es sei fern von mir zu leugnen, daß sich beim Fortgang der Wissenschaf oft neue Gesichtspunkte, Anschauungen und Sätze ergeben, welche den bisher als wahr angenommenen Sätzen widersprechen und daß das ebenso häufig vorkommt, wenn die alten und neuen Sätze verschiedenen, als wenn sie einer und derselben Einzelwissenschaft angehören. Neue Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie vermögen in der Botanik und Physiologie Umwälzungen hervorzurufen und umgekehrt; die Einzelwissenschaften sind nirgends scharf getrennt, sondern immer fließen ihre Grenzen ineinander über, ja es vermögen neue Wissenschaften zu entstehen, welche lediglich dieses Grenzgebiet kultivieren. Es genügt wohl, an die zur Zeit im Vordergrund stehende und doch noch so junge physikalische Chemie zu erinnern. So vermögen neue Gesichtspunkte auf dem einen Gebiet neue Untersuchungen und Experimente auf dem andern anzuregen, welche entweder die jungen Aussprüche als richtig aufweisen und gestatten, vielleicht unter gewissen Modifikationen die alten Sätze festzuhalten oder welche in der Tat bezeugen, daß die alten Theorien vor den neu bekannt gewordenen Tatsachen nicht standzuhalten vermögen. Wir brauchen nur an die Verdrängung der Eruptions- durch die Evolutionstheorie in der Geologie, der Emissions- durch die Undulations- und dieser durch die elektromagnetische Lichttheorie in der Optik, der geozentrischen durch die heliozentrische Weltanschauung in der Astronomie, des Materialismus durch die Energetik in den allgemeinen Naturwissenschaften und an ähnliche Beispiele zu denken. Und wie befruchtend haben nicht nur auf ihre spezielle Einzelwissenschaft, sondern auf den Umkreis der gesamten Wissenschaften die neu aufgestellten Theorien eines ROBERT MAYER oder CHARLES DARWIN gewirkt. Nun soll natürlich nicht geleugnet werden, daß auch unter den Gelehrten der gleichen Epoche eine Zeitlang die alten und die neuen Sätze gleichzeitig, den einen diese, den andern jene als wahr gegolten haben und ebenso werden auch in der gegenwärtigen Zeit sich unschwer Sätze auffinden lassen, die zwar noch keine allgemeine Anerkennung gefunden, aber doch schon den Kampf gegen früher allgemein akzeptierte Sätze mit Erfolg aufgenommen haben. Hat es doch keine einzige epochemachende Neuerung gegeben, die nicht von den kontemperalen [zeitgenössischen - wp] Autoritäten lediglich aus dem Grunde bekämpft wurde, weil sie nicht die Urheber derselben waren. Aber gerade aus solchen wissenschaftlichen Kontroversen und aus der Notwendigkeit, die neue Lehre gegen die altersstolzen Autoritäten durchzusetzen, sind die fruchtbringendsten wissenschaftlichen Untersuchungen gezeitigt worden. Nur im Kampf gegen das Alte kann sich das Neue durchsetzen und nur im Ringen mit dem Irrtum erstarkt die Wahrheit. Widersprüche in den Wissenschaften sind also die notwendigen Vorbedingungen für die Anstrengungen, derselben Herr zu werden und somit für den Fortschritt und die Entwicklung der Wissenschaften. Aber wo in aller Welt oder bei welcher Gelegenheit hat denn jemals die Erkenntnistheorie mit der Aufzeigung oder Ausgleichung dieser Widersprüche auch nur das Geringste zu tun gehabt? Wo hat es jemals eines anderen Anstoßes als eben der immanenten Entwicklung der Wissenschaft selbst bedurft, um diese Widersprüche aufzuheben und die einen der sich widersprechenden Sätze als falsch, die andern aber als wahr zu charakterisieren? Zeigen Sie mir doch aus der gesamten Geschichte der Wissenschaft einen einzigen Fall, in welchem die Wissenschaft die Erkenntnistheorie zu Hilfe gerufen hätte oder wo diese ungerufen auf dem Plan erschienen wäre, um das zu vollbringen, was die Wissenschaft nicht aus eigener Kraft hätte vollenden können. Und wenn Sie zugeben müssen, daß Sie das nicht können, was berechtigt Sie da, zu meinen, daß es sich mit den zur Zeit noch vorhandenen Widersprüchen anders verhalten wird und anstatt auch hier die fortschreitende Entwicklung der betreffenden Wissenschaften abzuwarten, der es allein gelingen kann, solcher Widersprüche Herr zu werden, eine Disziplin als bereitwillige Helferin anzuempfehlen, die ihre Untauglichkeit zu dergleichen Geschäft zur Genüge bewiesen hat und die bei ihrer Unfähigkeit, einzusehen, daß es sich bei aller wissenschaftlichen Forschung um das Auffinden regelmäßiger Zusammenhänge handelt, zur Förderin der Wissenschaft taugt, wie der Holzwurm zum Zimmermann?

Misodogmos: Wie es scheint, wollen Sie mich absichtlich nicht verstehen; denn als ich von den durch die erkenntnistheoretische Kritik auszumerzenden Widersprüchen sprach, habe ich natürlich nicht derartige spezielle einzelwissenschaftliche Sätze im Auge gehabt, sondern ich meinte jene fundamentalen Widersprüche und Irrtümer, an denen die Wissenschaft als Ganzes trotz aller Belehrung von Seiten der Erkenntnistheorie noch immer festhält, obgleich sie sich dadurch in Gegensatz zu jenen ewigen Wahrheiten stellt, die heutzutage unter den tieferen Denkern als etwas durchaus Selbstverständliches gelten.

Episthemos: Es ist möglich, daß Sie glauben, solche fundamentalen Widersprüche, die der gesamten Wissenschaft gemeinsam sind, existierten tatsächlich: aber es ist sicher, daß, wenn sich irgendwelche Widersprüche innerhalb der Wissenschaften finden, sie immer von der erst geschilderten Art sind, d. h. solche, die für den Fortgang der Wissenschaften notwendig, durch diesen selbst aber aufgehoben werden. Wenn Sie irgendwelche andere Widersprüche im System der Wissenschaft gefunden haben, so wird das wohl daran liegen, daß Sie, wie alle Erkenntnistheoretiker, der Wissenschaft Lehren unterschieben, die zu verkünden ihr niemals in den Sinn gekommen ist und daß Sie deren wirkliche Lehren mißverstehen, weil Sie auf einem so erhabenen Standpunkt stehen, daß Sie es für unter Ihrer Würde halten, sich mit den Voraussetzungen und Resultaten der einzelwissenschaftlichen Forschung bekannt zu machen.

Misodogmos: Nun wahrhaftig, Sie würden so nicht reden, wenn Sie sich nur einmal über die verschiedenen einander widersprechenden Anschauungsweisen klar geworden wären, die in der kritiklosen und dogmatischen Wissenschaft herrschen. Oder können Sie sich einen größeren Gegensatz denken als den zwischen der monistischen und der dualistischen Weltanschauung und einen einschneidenderen Widerspruch als zwischen dem Satz "Hinter und neben der phänomenalen Welt, die uns in der Wahrnehmung gegeben ist, steht noch eine unbekannte, unerkennbare, unabhängig von uns existierende Welt" und der kontradiktorisch entgegengesetzten Behauptung "Jene als unabhängig gedachte Welt sei vielmehr mit der Sinnenwelt identisch und es gäbe keine andere"? Ich kann Ihnen aber mit Leichtigkeit nachweisen, daß tatsächlich jeder von diesen beiden sich direkt widersprechenden Sätzen in der Wissenschaft als wahr angenommen wird, während es doch aus dem Satz des Widerspruchs mit Evidenz folgt, daß, wenn der eine richtig ist, der andere falsch sein muß. Beide Sätze sind aber solche, welche nicht durch irgendwelche neue Entdeckungen in irgendeiner Einzelwissenschaft bestätigt oder widerlegt werden können, sondern über deren Richtigkeit zu entscheiden allein der Erkenntnistheorie zusteht. Denn sie zählen in der Tat zu den grundlegenden Voraussetzungen aller Wissenschaft und der Widerspruch, der zwischen ihnen besteht, kann darum auch mit Recht als ein fundamentaler bezeichnet werden.

Episthemos: Ich bestreite durchaus nicht, daß, wenn wirklich beide Sätze als Voraussetzungen der wissenschaftlichen Forschung angenommen wären, Sie dann mit Recht von einem fundamentalen Widerspruch sprechen würden; aber, was ich Ihnen durchaus nicht zugeben kann, ist, daß de facto beide Sätze in der Wissenschaft Bürgerrecht genießen. Vielmehr ist es meine aus dem Studium der erkenntnistheoretischen Schriften gewonnene Überzeugung, daß jenes inkonsequente Hin- und Herschwanken zwischen der monistischen und der dualistischen Weltanschauung, das Sie als ein durch die Erkenntniskritik auszumerzendes Grundübel des wissenschaftlichen Verfahrens betrachten, gerade ein charakteristisches Kennzeichen aller erkenntnistheoretischen Systeme ist: und zwar nicht in der Weise, daß einige Erkenntnistheoretiker diese, andere jene Weltanschauung vertreten, sondern vielmehr so, daß sich im System jedes einzelnen Erkenntnistheoretikers beide Anschauungsweisen in schönster Harmonie oder vielmehr Disharmonie nebeneinander vorfinden, sodaß dem Erkenntnistheoretiker zunächst einmal eine Selbstkritik notwendig wäre, bevor er sich mit seiner Krtik an Gebiete heranwagt, die ihm nicht oder doch nur höchst unvollkommen vertraut sind.

Misodogmos: Nun, ob die Wissenschaft oder die Erkenntnistheorie eine Revision ihrer Grundanschauungen nötiger hat, das werden wir ja gleich sehen. Denn anstatt Ihrem Beispiel folgend leere Verdächtigungen gegen die gegnerische Ansicht zu schleudern, ziehe ich es vor, Ihnen an einem konkreten Fall zu zeigen, wie sehr Sie im Unrecht sind und wie leicht es mir wird, meine Behauptungen zu belegen. Betrachten Sie beispielsweise zunächst einmal den Mann einer Einzelwissenschaft, der sich nicht speziell mit Physik oder Physiologie beschäftigt, also etwa einen Mineralogen, Astronomen, Chemiker, Philologen, Botaniker oder dergleichen. Dieser wird bei der Untersuchung einer Gesteinsart, eines Sternhaufens, einer organischen Verbindung, einer Handschrift, Pflanze usw. nicht zweifeln, daß alle diese Dinge, die er da vor sich hat, sieht, fühlt, riecht usw., außer ihm und unabhängig von ihm existieren. Er ist davon überzeugt, daß dieser selbe von ihm wahrgenommene Gegenstand, der im Grunde ja gar nichts anderes ist als ein Komplex seiner einzelnen Gesichts-, Gehörs- und anderen Empfindungen, nachdem er ihn am Abend in seinem Arbeitspult verschlossen oder als Fernrohr auf eine andere Himmelsrichtung eingestellt hat, über Nacht an seiner Stelle oder in seiner Bahn verharrt, gleichgültig ob er, der Forscher, der vielleicht allein den betreffenden von ihm neu entdeckten Gegenstand kennt, während dieser Zeit an ganz andere Dinge denkt oder von ihnen träumt und daß er am anderen Morgen diesen selben Gegenstand wiederfinden wird und seine Untersuchungen daran fortsetzen kann. Er steht als vollständig auf dem Standpunkt des naiven Bewußtseins, auf welchem eben derselbe Gegenstand, der den Inhalt seiner Wahrnehmungen bildet, auch noch dann, wenn er dies nicht mehr tut, fortexistiert und für ihn ist das Vorstellungsobjekt noch nicht in das Objekt und dessen Vorstellung geschieden. Er kennt daher auch keinen Unterschied zwischen "Ding ansich" und "Erscheinung", zwischen "Noumenon" und "Phänomen", zwischen "Transzendentem" und "Immanentem" zwischen "R-Wert" und "E-Wert", zwischen "Gegenstand" und "Inhalt" der Wahrnehmung, zwischen "intelligiblem Ding" und "Sinnending", sondern er weiß nur von einem einzigen Ding, das er als "Feldspat" oder "Planet Eros" oder "Anemone" oder wie auch immer bezeichnet. Ebensowenig macht er, wenn er von einem Mineral sagt, daß es Metallglanz habe, daß es in Oktaedern kristallisiere, daß es salzig schmecke oder von einer Blume, daß sie rote Blätter, vier Staubfäden, Wohlgeruch habe, einen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Eigenschaften in der Weise, daß er die Oktaederform oder die Anzahl der Staubfäden als objektiv, den Metallglanz, den Salzgeschmack, die Farbe oder den Wohlgeruch aber nur als subjektiv existierend annimmt, sondern Gestalt wie Farbe, Größe wie Geruch, Anzahl wie Geschmack sind für ihn Eigenschaften, die alle in gleicher Weise dem einzig vorhandenen einen Ding zukommen. Für einen solchen Forscher liegt durchaus keine Veranlassung vor, den Standpunt des naiven Bewußtseins zu verlassen; und in der Tat ist ja auch dieser Standpunkt der einzig berechtigte, sobald wir uns nur darüber klar sind, daß unter den unwahrgenommenen existierenden Dingen nichts anderes verstanden werden kann und darf als mögliche Wahrnehmungen, Wahrnehmungsmöglichkeiten, "possibilities of sensation". - Ganz anders nun der Physiker und Physiologe. Dieser glaubt durch seine speziellen Untersuchungen genötigt zu sein, zwischen dem wirklichen Sein eines Dings und dessen bloßer Erscheinung unterscheiden zu müssen, wobei jenes durch seine permanente Dauer, diese durch ihr flüchtiges, vergängliches Auftreten charakterisiert sein soll. Während einer Wahrnehmung existiert also seiner Meinung nach gleichzeitig beides, sowohl das verharrende, von ihm unabhängige Ding ansich, als auch die vorübergehende, von der Gegenwart eines Beobachters abhängige Erscheinung desselben; in den Zeiten, wo nichts wahrgenommen wird, existiert aber nur das erstere. Das Licht und die Farben sind ihm nur eine Art von spezifischer Reaktion gegen einen die Gesichtsorgane und -nerven irritierenden Reiz, der wiederum seinerseits hervorgerufen wird durch irgendwelche da draußen im Raum schwingende Äthermoleküle und -atome, welche Schwingungen natürlich als solche von den Licht- und Farbempfindungen völlig verschieden sind. Dieser Theorie gemäß sollen jene Schwingungen, welche als durchaus unabhängig von irgendwelchen empfindenden und denkenden Individuen existierend angenommen werden, sich nach allen Seiten des Raumes fortpflanzen, dabei bald hier einen Gegenstand, den sie bei ihrer Wanderung treffen, aufleuchten lassend, dort Chlorsilber schwärzend und wiederum an einer anderen Stelle, beim Auftreffen auf einen sie absorbierenden Körper, sich in Wärme verwandelnd. Alle diese Wirkungen üben sie aber nach Ansicht der Physiker aus unabhängig davon, ob sich in dem von ihnen durchflogenen Raum ein lebendes Wesen befindet oder nicht. Ist aber ein solches zugegen und treffen jene Ätherschwingungen dessen Auge, so knüpfen sich hieran, so erklärt uns der Physiologe, komplizierte Prozesse, eine Zersetzung des Sehpurpurs, eine Fortpflanzung der Erregung zu den Ganglienzellen des Gehirns usw. und das Ende soll dann der psychische Vorgang eben der Licht- und Farbenempfindung bilden. Dabei ist dieses Licht, das da empfunden wird, nicht etwa identisch mit jenen Ätherschwingungen, welche als unabhängig existierend angenommen werden; zunächst schon deswegen nicht, weil diese Empfindungen nur auftreten und selbständig neu entstehen als Zustände eines empfindenden Individuums, also  nicht  unabhängig von einem solchen, zweitens aber, weil, wie jene Ätherschwingungen vorhanden sein können, ohne daß sie ein Individuum wahrnimmt oder vorstellt, so auch Lichtempfindungen möglich sein sollen, ohne durch Ätherschwingungen erregt worden zu sein, nämlich entweder im Traum oder bei Reizung oder Durchschneiden des Sehnerven, mag diese Reizung nun auf elektrischem Weg oder durch mechanischen Druck auf den Augapfel oder wie auch immer erfolgen. Kann aber das eine ohne das andere und das andere ohne das eine vorkommen, dann sind beide nicht identisch, sondern verschieden, also zweierlei und deswegen wird diese Anschauung mit Recht eine dualistische genannt. Und ebenso werden Sie wohl nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich die erstgeschilderte Anschauungsweise als monistische bezeichne, weil nach ihr dasjenige, was nach dem Aufhören der Wahrnehmung noch fortexistiert, nicht ein vom Wahrgenommenen verschiedenes Zweites, sondern dieses selbst, nur nicht mehr aktuell, sondern bloß potentiell, ist.

Episthemos: In der Tat finde ich diese Bezeichnungsweise ganz zutreffend und ich selbst habe unter einer monistischen und einer dualistischen Weltanschauung nicht viel anderes verstanden als das, was Sie soeben recht anschaulich geschildert haben.

Misodogmos: Nun, was bedarf es also mehr? Ist doch damit der Nachweis geliefert, daß innerhalb der Wissenschaft zwei sich widersprechende und sich gegenseitig ausschließende, nämlic eben die monistische und dualistische Weltanschauung nebeneinander bestehen, deren zweite, wie schon DAVID HUME in seinem "Treatise" nachgewiesen hat, nur einem inneren Widerspruch der falsch aufgefaßten ersteren ihr Dasein verdankt. Zugleich hat er aber auch schon darauf aufmerksam gemacht, daß sie, die doch einen Widerspruch der ersteren beseitigen will, so weit entfernt ist, dies zu tun, daß sie vielmehr auf dieser beruth und noch einige Schwierigkeiten mehr hinzufügt. Denn sie stimmt mit jener nicht nur in der unsinnigen Annahme eines unabhängig vom wahrnehmenden und vorstellenden Individuum existierenden Etwas überein, sondern sie widerspricht auch noch der Erfahrung, daß uns doch immer nur ein einziges, eben das immanente, Ding gegeben ist und wir daher nur von diesem etwas wissen und aussagen können. Indessen brauchen wir hier nicht zu untersuchen, ob die eine oder die andere Annahme besser die Tatsachen der Erfahrung zum Ausdruck bringt, da es nur darauf ankam, Ihnen zu beweisen, daß, selbst wenn wir einmal vom Grundübel, an dem beide Anschauungsweisen kranken, absehen, doch jedenfalls meine Behauptung richtig war, daß sich in den Grundannahmen der Wissenschaften sich gegenseitig ausschließende fundamentale Widersprüche finden, zu deren Beseitigung eine kritische Untersuchung und Klarstellung dringend erforderlich ist. Und zu einer solchen eindringenden Untersuchung eignet sich einzig und allein die Erkenntnistheorie, sei es nun, daß sie den Streit zugunsten der einen von beiden sich widersprechenden Anschauungen entscheidet, sei es, daß sie beide durch eine dritte ersetzt, welche allein imstande ist, den geläuterten Geist eines über dem einzelwissenschaftlichen Standpunkt Stehenden zu befriedigen.

Episthemos: Mit einer ziemlich minutiösen Genauigkeit beweisen Sie zumeist Dinge, die kein vernünftiger Mensch je bezweifelt hat, wie zum Beispiel, daß die beiden von Ihnen soeben geschilderten Standpunkte sich widersprechen und daher nur der eine von beiden richtig sein kann, wenn auch nicht richtig sein muß; denn gewiß ist es von vornherein nicht unmöglich, daß vielleicht alle beide einen fundamentalen Fehler gemeinsam haben und daher zu verwerfen sind. Allein, was Sie eigentlich beweisen sollten, war nicht dieses Selbstverständliche, sondern jenes, daß wirklich beide von Ihnen geschilderten Standpunkte zu den wissenschaftlichen Grundanschauungen gehören. Denn ich habe mich noch nie davon überzeugen können, daß der so vielfach erwähnte und in allen erkenntnistheoretischen Erörterungen eine so große Rolle spielende Standpunkt des "naiven Bewußtseins", die sogenannte "natürliche Weltanschauung", irgendwo anders vorkommt, als in der Phantasie der Erkenntnistheoretiker. Ich wenigstens bin derselben weder in der Wissenschaft, noch im gewöhnlichen Leben, sondern einzig und allein in den erkenntnistheoretischen Schriften begegnet. Unterscheiden doch schon fünf- und sechsjährige Kinder, bei welchen man doch wohl am ehesten eine natürliche Weltanschauung zu finden erwartet, in allen Fällen, in welchen es auf diese Unterscheidung ankommt, genau so gut wie der bei seinen Untersuchungen ergraute Physiker und Physiologe zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten, dem Ding ansich und der Erscheinung, wenn sie auch freilich andere Namen dafür haben.

Misodogmos: Es scheint, daß Sie sich einen Scherz mit mir erlauben; denn Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß das Kind, wenn es von seiner Puppe oder seinem Gummiball spricht, dabei an das "Ding ansich" der Puppe und an ihre "Erscheinung" denkt und daß es irgendetwas anderes im Sinn hat als das einzige Vorstellungsobjekt. Widerspricht dem doch die alltägliche Erfahrung in so eklatanter Weise, daß es wirklich nicht der Mühe wert erscheint, sich auf eine so paradoxe Behauptung einzulassen.

Episthemos: Gewiß denkt das Kind ebensowenig, wie es der Mann der Wissenschaft tut, an seinen Wahrnehmungsinhalt und das wirkliche Ding, solange es nicht nötig hat, an beide zu denken, weil es eben nur von einem von beiden spricht. Ist ja doch nur in ganz seltenen Ausnahmefällen der Wahrnehmungsinhalt dasjenige, über das man irgendwelche Mitteilungen zu machen wünscht und daher spricht man von ihm und denkt an ihn auch nur in Ausnahmefällen. Aber daraus läßt sich doch durchaus nicht schließen, daß nicht da, wo die Umstände es erfordern, daß zwischen dem Ding ansich und seiner Erscheinung unterschieden wird, auch der allerunwissenschaftlichste Mensch beide recht wohl auseinander zu halten vermag. Ein Beispiel, das den Vorzug hat, nicht am Schreibtisch ausgeheckt worden zu sein, sondern von mir selbst erlebt worden ist, möge Ihnen das erläutern. Ein siebenjähriger Knabe, der weder allzusehr mit Wissensballast überladen noch auch durch irgendwelche philosophische Reflexionen angekränkelt war und dessen Naivität nicht einmal durch einen Erkenntnistheoretiker übertroffen werden könnte, war einst meiner Obhut anvertraut. Wir hatten im Garten Stachelbeeren gepflückt und ich legte dieselben in eine auf dem Tisch stehende Fruchtschale. Da es kurz vor dem Mittagessen war, hatte ich dem Knaben verboten, die Beeren sogleich zu verzehren, hatte ihm aber versprochen, daß er zum Nachtisch eine Portion derselben erhalten werde. Sehnsüchtig schweiften nun seine Blicke nach den Beeren, wobei er, da er nicht groß genug war, um von oben in die Schale hineinzublicken, dieselben durch den konvexen, stark vergrößernden Rand der gläsernen Schale sah. "Ach, sehen Sie doch nur, wie groß die Beeren jetzt sind", rief er plötzlich aus. "Ja" - sagte ich - "hier im Zimmer ist es so warm, da wachsen sie sehr schnell und Du sollst mal sehen, was für Riesenbeeren Du nach dem Essen bekommst". Er sah mich an, um in meinem Gesicht zu lesen, ob ich das ernsthaft meinte und da ich keine Miene verzog, kletterte er schnell auf einen Stuhl, nahm eine Handvoll Beeren heraus und froh darüber, daß er sich von mir nicht hatte hinters Licht führen lassen, hielt er sie mir hin mit den Worten: "Das ist ja gar nicht wahr, die sind noch so groß wie vorher und sehen nur so aus." Machen Sie mit einem ganz kleinen Kind die Probe, indem Sie es durch ein rotes Glas schauen lassen oder ihm den Mond am Horizont und im Zenith zeigen, es wird da, wo es darauf ankommt, jedesmal das wahre Sein des Dings von seiner Erscheinung, seinem Aussehen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist aber identisch mit derjenigen des sogenannten "kritischen Realismus" zwischen Noumenon und Phänomen. Wo bleibt da der vielgerühmte "naive Realismus"? - Derselbe ist nichts anderes als eine Mißdeutung aus einer laxen Ausdrucksweise. Es ist allerdings wahr, daß in dem Beispiel, von dem ich Ihnen soeben erzählt habe, die Stachelbeeren  sind  größer, weil ihm das das Geläufigere war und er eben nicht daran dachte, daß seine Ausdrucksweise mißverstanden werden könnte. Daß er damit aber nicht etwa die Annahme hat machen wollen, daß sie wirklich so groß waren, wie sie aussahen, daß er also nicht falsch gedacht, sondern sich nur falsch ausgedrückt hat, das zeigt das ohne alle Überlegung ausgeführte Experiment - denn das Herausnehmen der Beeren war so gut ein Experiment, wie nur irgendein mit großem Apparat in Szene gesetzter Laboratoriumsversuch - durch das er im Grunde nicht sich, sondern nur mich überzeugen wollte. Er machte also den Unterschied zwischen Sein und Erscheinung der Beeren sofort, als es darauf ankam, mich mit Hilfe der Unterscheidung zu widerlegen und in dieser Hinsicht verhält sich der naive Mensch nicht eine Spur anders wie der Mann der Wissenschaft, der eben solange nicht die beiden ausdrücklich als zwei erwähnt, solange die Umstände die Unterscheidung nicht erfordern. Aber die  Nichthervorhebung  des Unterschiedes ist nicht identisch mit dem Glauben oder gar der  Behauptung des Nichtvorhandenseins  dieses Unterschieds.

Misodogmos: Ihr Beispiel zeigt wohl, daß auch der naive Mensch einen Unterschied macht zwischen Sein und Aussehen der Dinge, wo er aus irgendeinem Grund die Verschiedenheit beider hervorheben will. Allein damit meint er doch etwas ganz anderes, als es der sogenannte kritische Realist tut. Denn möge der Knabe in Ihrem Beispiel die Stachelbeeren nun durch die vergrößerende Schale oder in der Hand betrachten, so ist ihm doch in beiden Fällen immer nur sein eigener Bewußtseinsinhalt gegeben, also dasjenige, das die, welche einen Unterschied zwischen dem Ding ansich und seiner Erscheinung machen, eben die Erscheinung nennen. Nur auf diese beziehen sich also seine Worte und es fällt ihm gar nicht ein, bei denselben an irgendetwas hinter der Erscheinung Liegendes zu denken. Der Unterschied, den der naive Mensch zwischen dem Sein eines Dings und seinem Aussehen macht, deckt sich also durchaus nicht mit dem, welche die auf Reflexion beruhende Theorie zwischen Noumenon und Phänomenon statuiert und Sie haben durchaus kein Recht zu behaupten, daß beide im Grunde derselben Anschauung huldigen.

Episthemos: Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie daraus, daß dem Knaben, auch wenn er die Stachelbeeren nicht durch das Vergrößerungsglas sieht, nur die Erscheinung derselben gegeben ist, schließen, daß, was er über das Sein derselben sagt, sich auch nur auf diese Erscheinung beziehen kann. Damit bestätigen Sie aber nur das, was ich bereits einmal bemerkt habe, daß der ganze sogenannte naive Realismus eine pure erkenntnistheoretische Erfindung ist. Denn die Erkenntnistheorie ist in ihr Dogma, daß das Denken sich nur auf das im Bewußtsein Gegebene beziehen kann, so verrannt, daß sie es ohne weiteres zur Interpretation der Aussagen des naiven Menschen benutzen zu können glaubt. Es muß aber bemerkt werden, daß diese Meinung, die sie dem naiven Menschen unterschiebt, nur durch jene Interpretation hineinkommt, und in dessen tatsächlichem Verhalten nicht gelegen ist. Denn nur das, was der naive Mensch  sagt,  nicht aber, was er  meint ist uns gegeben und das, was ihn die Erkenntnistheorie meinen läßt, ist eben die ihr allein angehörige Interpretation, ihre eigene Erfindung. Daß aber diese Interpretation falsch ist, geht aus der Aussage des Kindes hervor, nach welcher die Stachelbeeren nicht dadurch, daß sie aus der Schale herausgenommen wurden, wieder auf ihre frühere Größe zusammengeschrumpft sind - denn das müßte der, welcher in Wahrheit die Erscheinung der Dinge mit ihrem Ansichsein identifizierte, behaupten - sondern ansich stets die gleiche Größe bewahrt haben und nur verschieden groß  aussahen.  Hat ja doch die Erscheinung tatsächlich  nicht  die gleiche Größe beibehalten und das Kind weiß das aus eigener Anschauung, sodaß sein Satz, die Beeren hätten stets ihre selbe Größe bewahrt, sich  unmöglich  auf die Beeren  als Bewußtseinsinhalt  beziehen kann. Sie können also wohl bezweifeln, daß das Kind kein Recht zu dieser Behauptung hatte, woran Sie aber nicht zweifeln können, ist, daß es diese Behauptung tatsächlich getan hat und daß es damit nicht die Erscheinung, von welcher sie nicht gilt, gemeint haben kann. Der "naive Realismus" ist also niemals in irgendeiner Erfahrung gegeben, sondern ist nichts als die Art und Weise, wie sich die Erkenntnistheorie infolge ihres Dogmas, daß wir mit unseren Worten immer nur das Gegebene meinen können, die eine Erfahrung zurechtlegt oder auslegt.

Misodogmos: Es ist aber doch schon das Zeugnis der Sprache gegen Ihr Argument. Denn da dieselbe für den Wahrnehmungsinhalt und die auch als unwahrgenommen fortexistierend angenommenen Dinge tatsächlich eine und dieselbe Bezeichnung hat, so beweist dieser Umstand, daß die vulgäre Auffassungsweise, aus der doch die Sprache hervorgegangen ist, wirklich beides miteinander identifiziert, da sie ja sonst für verschiedene Dinge auch verschiedene Ausdrucksweisen anwenden würde.

Episthemos: Selbst wenn es richtig wäre, daß die Sprache die transzendenten Dinge und die Wahrnehmungsinhalte mit einem und demselben Wort bezeichnete - was allerdings in dieser Allgemeinheit noch nicht einmal zutreffend ist - so würde auch das nur für eine Nichtunterscheidung, aber nicht für eine Identifizierung sprechen. Das ist ja gerade das  proton pseudos  [die erste Lüge - wp] der Erkenntnistheorie, daß sie glaubt, dasjenige, was nicht unterschieden wird, werde als identisch gesetzt und dabei ganz die dritte Möglichkeit außer Acht läßt, daß zwei Objekte weder unterschieden noch identifiziert werden, sondern über die Gleichheit oder Ungleichheit beider überhaupt nichts behauptet wird. Es ist eben ein Unterschied zwischen "Annehmen, daß etwas nicht der Fall ist" und "Nichtannehmen, daß etwas der Fall ist". Das eine ist das  Vorhandensein  eines subjektiven, auf die  Verneinung,  das andere das  Fehlen  eines subjekten auf die  Bejahung  eines objektiven Tatbestandes gerichteten Prozesses. Nur dann wäre aber ein Widerspruch zwischen den Vertretern der verschiedenen Einzelwissenschaften vorhanden, wenn die einen denselben Tatbestand  verneinen  würden, die die anderen bejahen, aber nicht, wenn die einen ihn bejahen, die andern ihn aber weder verneinen noch bejahen, sondern ihn einfach  unberücksichtigt lassen,  weil er nicht in den Bereich ihrer Untersuchungen fällt. Wenn der Mineraloge, der ein Salz auf seine Kristallisationsform hin untersucht, nicht weiß oder nicht daran denkt, daß ein Unterschied besteht zwischen dem fortdauernden transzendenten Ding und dem aufhörenden Wahrnehmungsinhalt, so ist das ebensowenig ein Widerspruch mit der Anschauung des Physiologen, als es ein Widerspruch mit der Lehre des Mineralogen ist, wenn der Physiologe, welcher Untersuchungen über den Geschmack eines Salzes in seinen verschiedenen Konzentrationen anstellt, nicht weiß oder nicht daran denkt, daß es in Würfeln kristallisiert. Beide Fälle sind durchaus gleichwertig und beide zeigen, daß, wenn ein Einzelwissenschaftler auch nur die Eigenschaften eines Dings in den Bereich seiner Untersuchungen zieht, die eben hineingehören, er deswegen doch weit davon entfernt ist, das Vorhandensein anderer Eigentümlichkeiten desselben Dings zu leugnen, deren Konstatierung Sache einer anderen Einzelwissenschaft ist. Hieraus Widersprüche zwischen den Grundvoraussetzungen der verschiedenen Einzelwissenschaften konstruieren zu wollen, ist nicht minder verkehrt, als die Behauptung solcher Widersprüche zwischen der allgemein wissenschaftlichen und der Anschauung des gewöhnlichen Lebens. Einen dem "kritischen" oder "reflektierenden" Realismus entgegengesetzten "naiven" oder "vulgären" Realismus gibt es daher nur in Form von erkenntnistheoretischen Systemen, die von Erkenntnistheoretikern ausgeheckt worden sind und für die sie daher auch die alleinige Verantwortung zu übernehmen haben.

Misodogmos: Ich glaube gerade nicht, daß Sie durch die Mühe, die Sie sich geben, den dualistische Realismus gewissermaßen als die einzige nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch dem naiven Bewußtsein anerkannte Weltanschauung hinzustellen, wogegen der monistische Realismus nicht eine jener widersprechende, sondern nur eine sie nicht aussprechende Anschauungsweise sein soll, der von Ihnen verteidigten Sache einen wesentlichen Dienst erweisen. Denn hätten Sie wirklich Recht, dann würde ja der wissenschaftliche Standpunkt gerade derjenige sein, dessen Nichtigkeit und Unhaltbarkeit sich am leichtesten dartun läßt. So sehr nämlich auch die Anschauungen der Erkenntnistheoretiker im einzelnen voneinander abweichen mögen, so hat sich doch jedenfalls das als unangreifbares Resultat ihrer Untersuchungen ergeben, ja kann geradezu als Gemeinbesitz der ganzen modernen Philosophie, soweit sie den Forderungen einer kritischen Selbstbesinnung Genüge leistet, angesehen werden, daß die dualistische Weltanshauung an ihren Widersprüchen zugrunde gehen muß, und daß die monistische Anschauungsweise in irgendeiner Form die einzige ist, die den tiefer eindringenden Denker befriedigen kann, weil sie allein sich beständig die unumstößliche Wahrheit "kein Objekt ohne Subjekt", "kein Umgebungsbestandteil ohne Zentralglied" vor Augen hält. Während andere Weltanschauungen Aufrisse sind, denen ansich ein wirkliches Gebäude wenigstens entsprechen  könnte,  so kann der Dualismus, welcher diese selbstverständliche Einsicht außer acht läßt, mit aller Strenge als Höhepunkt der Absurdität erwiesen und widerlegt werden. Sie leisten also der Wissenschaft einen recht schlechten Dienst und erleichtern mir zugleich meinen Nachweis, wie notwendig eine Revision ihrer Grundvoraussetzungen ist, wenn Sie ihr gerade die bestwiderlegte Anschauung als die ihr eigene zuschieben wollen.

Episthemos: Soviel ich sehe, handelt es sich hier gar nicht um meine persönliche Ansicht oder Absicht, die Anschauung, welche mir als richtig erscheint, zu gleicher Zeit auch der Wissenschaft aufoktroyiern zu wollen, sondern vielmehr um die einfache Konstatierung der Tatsache, daß der Physiker mit seinen Sätzen unabhängig von irgendeinem Bewußtsein oder Denken stattfindende Prozesse zumindest beschreiben  will,  wobei ich Ihnen vorläufig noch das Recht zugestehe, zu bezweifeln, ob er derartiges überhaupt beschreiben  kann,  und daß der Physiologe von solchen Prozessen in irgendeiner Weise die Bewußtseinserscheinungen abhängig sein läßt, wobei ich Ihnen abermals gestatte zu glauben, daß sie davon unmöglich abhängig sein  können.  Nicht die Berechtigung jener zu diesen Annahmen steht also zunächst in Frage, sondern nur das tatsächliche Vorhandensein derselben als Grundvoraussetzungen zumindest der bisherigen wissenschaftlichen Anschauungen, wobei ich Ihnen vollständig freie Hand lasse zu glauben, daß sich das in Zukunft ändern wird.

Misodogmos: Nun, mir soll es gewiß recht sein, wenn Sie mir zugeben, daß die Wissenschaft diese so direkt als unhaltbar nachzuweisenden und den einfachsten logischen Grundsätzen widersprechenden Annahmen macht, da Sie ja dann umso eher gezwungen sind, zuzugestehen, daß die aufgrund solcher Voraussetzungen gewonnenen Sätze unmöglich Anspruch auf absolute Wahrheit machen können. Ja, Sie erleichtern mir diese Aufgabe umsomehr, da es eigentlich gar keines langen Beweises, sondern nur des einfachen Hinweises auf die Tatsache bedarf, daß jenes unabhängig von irgendeinem Bewußtsein existierende Transzendente ein in sich widerspruchsvoller Begriff ist, weil er die ansich unvollziehbare Forderung enthält, etwas zu denken, das seinem Begriff nach gerade die Denkbarkeit ausschließt. Und noch krasser tritt diese Absurdität hervor in der Anmaßung der Wissenschaft, Erkenntnisse von einem Etwas erlangen zu können, das wiederum seinem Begriff nach niemals Inhalt eines Bewußtseins und daher auch nicht einer Erkenntnis werden kann.

Episthemos: Nun, es sind alte liebe Bekannte, jenes "gedachte Undenkbare" und dieses "erkannte Unerkennbare", denen Sie, um die Familie vollzählig zu machen, auch noch gleich das "wahrgenommene Unwahrnehmbare", das "vorgestellte Unvorstellbare", das "gewußte Unwißbare", und "das Bewußtseinsinhalt seiende Unbewußte" hätten anschließen können. Gehören diese doch zum eisernen Bestand der erkenntnistheoretischen Argumente, auf den in letzter Linie alle, auch die scheinbar entlegensten und verwickeltsten Beweisführungen für die notwendige Subjektivität aller Objekte und für die Absurdität der Annahme eines unabhängig vom Ich existierenden Nicht-Ichs hinauslaufen. Aber gerade wegen der zentralen Stellung dieser Begriffe, mit denen strenggenommen die ganze Erkenntnistheorie steht und fällt, ist es umsomehr zu verwundern, daß man sich nicht einmal ernstlich die Mühe nimmt, festzustellen, was denn eigentlich derjenige, der die Existenz eines Transzendenten behauptet, unter den Ausdrücken "etwas denken", "etwas erkennen", "etwas wahrnehmen", "sich einer Sache bewußt sein", "etwas wissen" etc. versteht, und sich dadurch davon zu überzeugen, daß das Transzendente weder undenkbar, noch undenkbar, noch unwahrnehmbar, noch unwißbar sei, sondern daß im Begriff des Transzendenten weiter nichts liege als die einfache Verneinung des Immanenten, des im bewußtsein Gegebenen, welches sonach das kontradiktorische Gegenteil zum Transzendenten bildet.

Misodogmos: Aber Sie widersprechen sich ja in einem und demselben Atemzug selbst; denn im gleichen Satz behaupten Sie, daß das Transzendente nicht unwahrnehmbar, und daß es das kontradiktorische Gegenteil von dem im Bewußtsein Gegebenen, also doch das nicht Gegebene, sei. Nun ist ja aber doch das Wahrnehmen gerade ein Bewußtseinsvorgang, und folglich behaupten Sie nicht mehr und nicht weniger, als daß das Transzendente nicht unwahrnehmbar, also wahrnehmbar und zugleich nicht Wahrnehmungsinhalt sei, was doch nach dem Satz vom Widerspruch unmöglich ist. Zu solchen absurden Behauptungen verführt also der Begriff des Transzendenten, und Sie sehen, wie recht ich hatte, diesen Begriff selbst einen widerspruchsvollen zu nennen.

Episthemos: Habe ich nicht gesagt, daß alle philosophischen Streitigkeiten dadurch entstehen, daß der Eine die Bedeutung, in welcher er ein Wort gebraucht, für die einzig mögliche hält und deswegen übersieht, daß der Andere das gleiche Wort in einer anderen Bedeutung anwendet, in welcher seine Behauptung durchaus nicht so absurd ist, wie sie dem nur an die erste Bedeutung Denkenden erscheint? Nun, genau dies trifft auch in unserem Fall zu. Denn nicht das hatte ich behauptet, daß das Transzendente zugleich wahrnehmbar und auch unwahrnehmbar sei, sondern das, daß es wahrnehmbar, aber nicht Bewußtseinsinhalt sei. Indem Sie es nun für ausgemacht halten, daß wir über die Bedeutung des "Wahrnehmbaren" einig seien, machen Sie aus der zweiten Behauptung ohne weiteres die erste und schreiben mir so eine Absurdität zu, die zu denken oder auszusprechen mir niemals in den Sinn gekommen ist.
Misodogmos: Ja, mein Gott, zweifeln Sie denn etwa daran, daß das Wahrnehmen ein Bewußtseinsvorgang sei und daher das Wahrgenommene ein Bewußtes?

Episthemos: Wenn Sie unter einem Bewußtseinsvorgang das Auftreten eines Bewußtseinsinhaltes verstehen und unter dem Wahrgenommenen eben diesen Bewußtseinsinhalt, dann zweifle ich allerdings weder an jenem noch an diesem, weil dann beides tautologische Sätze sind. Allein derjenige, welche vom Wahrgenommenen eben nicht den Bewußtseinsinhalt, welcher durch das Wahrnehmen gesetzt ist, sondern das Nicht-Bewußtseinsinhalt-Seiende, welches die Veranlassung des Wahrnehmens ist. Er unterscheidet also zwischen dem Wahrgenommenen oder dem Wahrnehmbaren einerseits und dem Wahrnehmungsinhalt andererseits. Für ihn besteht darum auch kein Widerspruch darin, daß das eine transzendent und das andere immanent ist, weil diese beiden kontradiktorisch entgegengesetzten Bestimmungen sich nicht auf ein und dasselbe, sondern auf zwei verschiedene Subjekt beziehen. Die Absurdität liegt also nicht in dem, was er meint, wenn er von einem wahrnehmbaren Transzendenten spricht, sondern einzig und allein in der Meinung, die ihm der Gegner fälschlicherweise zuschreibt. Wiederumg ist es also das Unterlassen einer vorhergehenden genauen Analyse der im Streit der Meinungen in Betracht kommenden Begriffe, das die Schuld am Mißverstehen trägt.

Misodogmos: Für Sie scheint wirklich die Berufung auf die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks das Universalmittel zu sein, mit dem Sie alle Ihre Gegner widerlegen zu können glauben. Aber damit kommen Sie im vorliegenden Fall nicht weiter. Denn es handelt sich hier gar nicht darum, ob irgendjemand Ausdrücke wie "etwas wahrnehmen", "etwas erkennen" usw. in einer anderen Bedeutung gebraucht, als die Erkenntnistheorie es tut, sondern darum, daß diese Bedeutung einzig und allein Anspruch auf Richtigkeit machen kann, alle anderen aber falsch sind.

Episthemos: Also wieder einer, der von richtigen und falschen Bedeutungen eines Wortes redet. Wie oft soll ich denn noch wiederholen, daß eine Willenserklärung als solche überhaupt weder wahr noch falsch sein kann. Allein, glücklicherweise bin ich diese verkehrte Ausdrucksweise schon so gewohnt, daß ich verstehe, was Sie sagen wollen. Was Sie meinen, ist nämlich nicht, daß die Definition von "etwas wahrnehmen" im Sinne vin "den Wahrnehmungsinhalt einem unabhängig vom Wahrnehmen Existierenden zuordnen" falsch sei - denn daß es Leute gibt, welche jenen Ausdruck in diesem Sinne anwenden, können Sie nicht bestreiten - sondern daß dem so Definierten nichts Wirkliches entspricht. Um also den Gegensatz noch schärfer hervorzuheben, so besteht der Unterschied der von Ihnen aufgestellten und der von Ihnen bekämpften Behauptung darin, daß Sie die Zeitwörter "wahrnehmen, denken, wissen, erkennen" etc. den Verben des  schaffenden,  Ihre Gegner aber den Verben des  zuordnenden  Typus zurechnen. Dabei verstehe ich unter den Verben des schaffenden Typus solche, die eine Tätigkeit ausdrücken, durch welche das beim Verbum stehende Objekt neu entsteht, wie etwa "eine Wunde beibringen", "einen Brief schreiben", "eine Maschine erfinden" und ähnliches. Zu den Verben des zuordnenden Typus dagegen rechne ich jene, welche mit zwei Akkusativen verbunden sind, deren einer das neu entstehende Zugeordnete, deren anderer das durch die Tätigkeit ungeändert Bleibende, dem zugeordnet wird, ausdrückt. Solche Verben sind "eine Person porträtieren", "einen Brief kopieren", "zwei Zahlen summieren" etc. Der Vollständigkeit wegen waren schließlich noch die allerdings für uns nicht in Betracht kommenden Verben des  bewegenden  Typus anzuführen, bei welchen das Objekt der Tätigkeit ungeändert bleibt. Beispiele hierfür sind "einen Hut aufsetzen", "eine Karte ausspielen", "eine Lanze schleudern" etc. Zu welchen von diesen drei Arten die psychischen und Denktätigkeiten gehören, das steht natürlich nicht von vornherein fest, sondern bedarf einer besonderen Untersuchung, und so lange diese noch nicht angestellt ist, so lange läßt sich auch nicht behaupten, daß etwas, das nicht durch die Wahrnehmung geschaffen wird, auch nicht wahrgenommen werden kann. Nun ist aber gerade die bisher unbewiesene Behauptung, daß die psychischen und Denktätigkeiten Verben des schaffenden und nicht des zuordnenden Typus seien, diejenige, welche von jeher als ein unbezweifelbares Dogma der Erkenntnistheorie gegolten hat. Denn ein Dogma ist jede Behauptung, die nicht bewiesen werden kann, gleichgültig, ob deren Gegenteil eines Beweises fähig oder unfähig ist. Dieses erste, fast allen erkenntnistheoretische Erörterungen zugrunde liegende Dogma des Inhalts, daß  die psychischen und Denktätigkeiten den Verben des schaffenden Typus angehören,  daß also diese Verben nicht mit zwei Objekten verbunden werden können, will ich nach seinem bekanntesten Anhänger, welcher es in den Mittelpunkt seiner versuchten Beweisführung gestellt hat, als das BERKELEYsche Dogma bezeichnen. Und da dieses Dogma einer der Eckpfeiler des gesamten erkenntnistheoretischen Gebäudes ist, wollen wir ihm zuerst unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden.

Misodogmos: Indessen bestreite ich Ihnen entschieden das Recht, die Behauptung, daß zum Wahrnehmen, Denken usw. immer nur ein einziges Objekt gehört, als ein Dogma zu bezeichnen. Der Dogmatismus befindet sich vielmehr ganz auf seiten desjenigen, welcher im vornhinein zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit unterscheidet, ohne zu untersuchen, ob die Annahme einer solchen doppelten Wirklichkeit eine gerechtfertigte ist, und mithin das vorher als bewiesen annimmt, was erst noch zu beweisen ist. Muß doch eine jede auf den Charakter der Wissenschaftlichkeit Anspruch machende Untersuchung, somit auch das Geschäft des Erkenntnistheoretikers damit beginnen, alle auf unwissenschaftlichem Weg überkommenen Meinungen, alles Traditionell-Dogmatische und Gewohnheitsmäßige in den den Gegenstand der Untersuchung betreffenden Anschauungen bis zum Abschluß dieser Untersuchung zu suspendieren und so lange als unbewiesen zu betrachten und zu behandeln, als für dieselben nicht durch völlig voraussetzungslos gewonnene Sätze der überzeugende, streng logische Beweis geführt ist. Aus diesem Grund ist es gerade die Behauptung der außermentalen Existenz "ansich" existierender Dinge, die des Beweises gar dringend bedarf und welche, so lange dieser Beweis noch aussteht, durchaus dogmatischen Charakter an sich trägt.

Episthemos: Was für eine sonderbare Meinung der Erkenntnistheoretiker ist es doch, zu glauben, daraus, daß die Behauptung "a ist b" eine unbewiesene, also dogmatische sei, folge, daß die entgegengesetzte "a ist nicht b" eine bewiesene, also nicht dogmatische sei. Denn man kann das erstere sehr wohl zugestehen, wie ich das in unserem Fall mit Seelenruhe tue,  ohne daß dadurch die kontradiktorisch entgegengesetzte Behauptung auch nur das mindeste von ihrem dogmatischen Charakter einbüßte.  Die Aussage, das Denken, Wahrnehmen usw. seien Verben des schaffenden Typus, ist sicherlich mehr, aber auch nicht weniger ein Dogma, als die gegenteilige, derzufolge jene Verben dem zuordnenden Typus angehören. Und dieser Dogmatismus bleibt ein einfacher, solange er sich eben mit der bloßen Aufstellung jener unbewiesenen Behauptung und dem Festhalten an derselben begnügt; er wird aber zum bornierten, sobald er, ohne zum Beweis jener Behauptung das geringste hinzugefügt zu haben, die Möglichkeit der Richtigkeit der entgegengesetzten Ansicht leugnet. Die Definition aber, derzufolge man unter dem Wahrgenommenen, Gedachten usw. das durch das Wahrnehmen, Denken ungeändert Bleibende, unter dem Wahrnehmungs- und Denkinhalt aber das durch dieselben neu entstehende Objekt verstehen wolle, hält sich von beiden dogmatischen Voraussetzungen durchaus frei, da sie nichts darüber aussagt, ob es durch die Begriffe "Wahrgenommenes", "Gedachtes" Bezeichnete wirklich gäbe oder nicht.

Misodogmos: Allein, nehmen Sie selbst einmal an, man enthielte sich von vornherein jeglicher Voraussetzung darüber, ob man dem Wahrnehmen, Denken usw. zwei oder nur ein Objekt zuzuerteilen berechtigt sei, so würde uns doch schon die allergeringste Überlegung zeigen, in welchem Sinne jene Frage allein entschieden werden kann. Denn setzen wir auch nur vorläufig den Fall, Denken und Wahrnehmen wären Verben des zuordnenden Typus, so müßten wir doch, um konstatieren zu können, ob das so sei, die beiden Objekte kennen, welche einem derartigen Verbum zukommen, dasjenige, welches, und dasjenige, welchem durch die Denktätigkeit zugeordnet wird. Es ist aber ganz klar, daß wir immer nur vom ersteren etwas wissen können, da uns ja nur dieses gegeben ist, und damit ist die Frage von selbst dahin entschieden, daß wir auch nur von diesem einen Objekt sprechen können.

Episthemos: Selbst wenn Sie recht hätten - was allerdings nicht der Fall ist - daß wir nur von dem etwas wissen können, das uns gegeben ist, so würde doch auch der Umstand, daß wir von dem nichts wissen, worauf sich das Denken bezieht, uns durchaus nicht berechtigen, seine Nichtexistenz zu behaupten, und wir wären mit Bezug darauf, ob das, was uns gegeben ist, Original oder Kopie sei, immer noch auf bloße Annahmen verwiesen, von denen, solange nicht irgendwelche anderen Gründe ganz besonders zugunsten der einen sprächen, beide vollständig gleichberechtigt wären. Wir würden so wenig wissen, ob die psychischen Tätigkeiten dem schaffenden oder dem zuordnenden Typus angehören, als wir etwa bei der Auffindung eines alten Gemäldes, das in einer zweiten Auflage nicht bekannt ist, ohne weiteres angeben können, ob dasselbe Original oder Kopie ist. Bekanntlich kommen die Sachverständigen nicht selten darin überein, daß sie tatsächlich nur eine Kopie vor sich haben, selbst wenn ihnen das dazu vermutete Original nicht bekannt ist. Auch hier liegt also wieder ein falscher Schluß der Erkenntnistheoretiker vor, welche das Nichtwissen, ob etwas vorhanden ist, mit dem Wissen, daß dasselbe nicht vorhanden sei, verwechseln.

Misodogmos: Aber Ihre Behauptung, daß das Immanente eine Kopie des Transzendenten sei -

Episthemos: Ich muß Sie unterbrechen, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich nichts dergleichen behauptet habe. Das einzige vielmehr, an dessen Zugeständnis Ihrerseits mir liegt, ist, daß Ihre bisherigen Argumente keine Tatsache enthalten, welche bewiese, daß das Immanente eine solche Kopie  nicht  sei.

Misodogmos: Indessen werden Sie doch wohl nicht leugnen wollen, daß das Transzendente  als Begriff  ein  Gedachtes,  seinem  Begriff nach  ein  Nichtgedachtes  sei, und daß doch das Bilden eines Begriffs sicherlich zu den schaffenden Tätigkeiten gehört.

Episthemos: Unzweifelhaft gehört das Bilden eines Begriffes zu den Tätigkeiten, durch welche ein neues - eben der Begriff - geschaffen wird, und daher ist auch ein Begriff - worunter ich immer  ein Wort mit einer Bedeutung  verstehe - unabhängig von einem Begriff bildenden Individuum ein Ding der Unmöglichkeit. Aber wenn selbstverständlich auch der  Begriff  des Transzendenten von einem solchen Individuum abhängig ist, so ist doch damit nichts darüber ausgemacht, ob das, was durch den Begriff  bezeichnet  wird, das  Notat  des Begriffes - und das ist in unserem Fall eben das Transzendente - selbst zugleich mit dem Begriff miterschaffen wird. Sie setzen eben wiederumg dogmatisch voraus, daß ein Unterschied zwischen dem Begriff eines Dings und dem Ding selbst nicht zu machen sei, während dies doch gerade die Frage ist, die durch unsere Untersuchung erst noch entschieden werden soll.

Misodogmos: Aber das werden Sie mir doch wenigstens zugestehen, daß, um die Annahme der Existenz eines Transzendenten zu machen, unbedingt ein denkendes Wesen vorausgesetzt werden muß, von dem unabhängig zu sein doch gerade das wesentliche Merkmal des Transzendenten sein soll.

Episthemos: Sie variieren Ihre Argumente, ohne sie zu verbessern, und anstatt Ihre Behauptung zu beweisen, wiederholen Sie dieselbe. Sie haben also offenbar nocht immer nicht recht begriffen, worauf es eigentlich ankommt, nämlich auf die Vermeidung der petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp], das als zugestand anzunehmen, was vom Nicht-Erkenntnistheoretiker gerade bezweifelt wird, daß es nämlich unerlaubt sei, zwischen der  Annahme  der Existenz des Transzendenten und dieser  Existenz  selber zu unterscheiden. Denn derjenige, welcher diese Existenz behauptet, unterscheidet ja gerade durch das Merkmal der  Unabhängigkeit  von einem denkenden und also annehmenden Individuum diese von ihrer Annahme, deren  Abhängigkeit  von einem annehmenden Individuum er natürlicherweise ohne weiteres zugibt. Wenn ich annehme, daß es morgen regnen wird, so ist selbstverständlich diese Annahme von mir abhängig, aber auf das wirkliche morgige Wetter hat dieselbe nicht den mindesten Einfluß, obgleich ich nicht leugnen will, daß ein solcher Einfluß für das Glück und das Wohlbefinden der Menschen nicht gering anzuschlagen wäre. Denn wahrlich, wäre die erkenntnistheoretische Anschauung richtig, daß das Denken ein Verbum des schaffenden Typus und die Wirklichkeit von unserer Annahme abhängig sei, dann würden wohl schnell Krankheit, Armut, Verbrechen aus dieser Welt verschwinden. Würde ja dann die bloße Annahme, daß es keine Krankheit gäbe, alle Menschen gesund machen, der Landmann könnte sich das für seine Saaten günstige Wetter durch das bloß von ihm abhängige Denken an dasselbe verschaffen usw. In welchem Schlaraffenland würden wir leben, wenn ein Ausmalen desselben in der bloßen Phantasie zu seiner Erschaffung genügte, kurz, wenn es, wie die Erkenntnistheoretiker sich selbst und andere glauben machen wollen, nichts von uns Unabhängiges gäbe und die böse, von unseren Annahmen, Wünschen und Gedanken leider nur allzu unabhängige Wirklichkeit uns nicht einen Strich durch die Rechnung machte. Angesichts der Tatsache aber, daß dem nicht so ist, gehört schon ein gutes Stück dogmatischer Beschränktheit dazu, an dem erkenntnistheoretischen Dogma bloß aus dem nichtigen Grund festzuhalten, weil die entgegengesetzte Anschauung ebenfalls eine dogmatische ist.

Misodogmos: Ach, Sie dürfen gegen meine tiefgründigen erhabenen Gedanken nicht die seichten Gemeinplätze des gesunden Menschenverstandes und des vulgären Köhlerglaubens ins Feld führen. Denn es ist doch nun einmal Tatsache, daß jene naiven populären Annahmen einer unabhängigen Wirklichkeit vor dem geklärten Auge des kritischen Philosophen nicht standzuhalten vermögen, und nichts als die Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik kann von diesem dogmatischen Blendwerk, an dem sich so viele genügen lassen, ohne von Skrupel und Zweifel geplagt zu werden, befreien, und alle unsere spekulativen Ansprüche bloß auf das Feld möglicher Erfahrung, das ist das Gebiet innerhalb unseres Bewußtseins, einschränken. Ist es doch ganz offenbar, daß mit einer Annahme auch deren Inhalt von mir abhängig ist, da es mir nicht nur freisteht, ob ich in diesem Augenblick überhaupt irgendwelche Annahmen machen will oder nicht, sondern auch  was  ich annehmen will. Kann ich doch jetzt ebensowohl annehmen, daß es morgen regnen, als daß es schönes Wetter sein wird, daß man in einer anderen Stadt lebender Freund augenblicklich gerade einen Brief schreibt oder daß er spazieren geht usw. Kurz, nicht nur  daß,  sondern auch  was  ich annehme, nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt der Annahme ist von mir abhängig. Ich möchte aber wissen, was Sie gegen die auf diese Einsicht gegründete, streng logische Schlußfolgerung einzuwenden haben: "Was ich annehme, ist von mir abhängig. Nun nehme ich die Existenz des Transzendenten an. Also ist die Existenz des Transzendenten von mir abhängig." Hier ist der den Fundamentalirrtum des vulgären und wissenschaftlichen Dogmatismus aufdeckende Syllogismus auf eine so klare und bündige Form gebracht, daß nirgendwo Raum für ein sich etwa einschleichendes Sophisma bleibt, und bewahrt die Logik dieser Schlußfolgerung ihre Validität gegen alle Inkonsequenzen des vulgären Körperglaubens.

Episthemos: Ihre Beweisführung ist so wunderschön, daß es umso mehr zu bedauern ist, daß sie mich gar nicht trifft. Sie würde das nur dann tun, wenn ich behauptet hätte, daß dieses Denken, Wahrnehmen etc. den Verben des bewegenden Typus angehöre, d. h. den Verben, deren einziges Objekt durch die im Verbum ausgedrückte Tätigkeit ungeändert bleibt. Denn für diese Behauptung wäre in der Tat der Hinweis auf die Tatsache, daß der Inhalt einer Annahme vom Annehmenden abhängig ist, vernichtend. Nun habe ich aber gar nicht jenes behauptet, sondern vielmehr dies, daß die in Frage kommenden Tätigkeiten solche des zuordnenden Typus seien, d. h. solche, welchen zwei Objekte zugehören, eins, das von der betreffenden Tätigkeit geschaffen wird und ohne diese nicht wäre, und eins, das durch jene Tätigkeit ungeändert bleibt und dessen Existenz völlig unabhängig von jener ist. In Bezug auf jenes erste Objekt erkenne ich also gerade das, was Sie vorgeblich gegen mich anführen, vollständig an, und meine Behauptung geht nur dahin, daß  außer  jenem Objekt, für das alles das gilt, was Sie soeben vorbrachten, noch ein anderes existiert, auf welches Ihre Betrachtungen keine Anwendung finden. Und dieses letztere ist es, das Sie widerlegen sollten, wenn Sie können. Der Syllogismus aber, auf den Sie so stolz sind, ist abermals nur eine andere Form des von Ihnen schon mehrfach vorgebrachten und von mir schon mehrfach zurückgewiesenen Arguments, in welchem das als erwiesen angenommen wird, was den Gegenstand des Streites bildet. Denn derjenige, welcher bei jeder Annahme unterscheidet zwischen der Besonderheit des Denkvorgangs, durch welche er gerade zu dieser bestimmten Annahme wird, also dem, was ich unter dem Ausdruck "Das Angenommene" verstehen will, wird Ihrer Propositio major [Obersatz - wp] und folglich auch der Schlußfolgerung zustimmen, wenn dieselbe gemäß unserer Definition soviel bedeutet wie: "Die Eigentümlichkeit der Annahme, wodurch sich dieselbe auf die Existenz des Transzendenten bezieht, ist von mir abhängig." Dagegen wird er die Richtigkeit nicht nur der Schlußfolgerung, sondern schon der Propositio major bestreiten, wenn unter dem Subjekt derselben das verstanden wird, worauf sich die Annahme bezieht. Und einem Schluß, dessen Obersatz ich verwerfe, bin ich natürlich nicht gezwungen, zuzustimmen. Das Täuschende der Schlußfolgerung beruth also darauf, daß, wenn der Ausdruck der Conclusio in gleicher Weise zweideutig wäre wie der der propositio major, dann auch die Conclusio in der einen Bedeutung richtig und in der anderen falsch wäre. Nun hat aber der Ausdruck der Conclusio tatsächlich nur eine Bedeutung - und diese ist zufälligerweise gerade die, in welcher die Propositio major falsch ist. Folglich ist es auch die Conclusio.

Misodogmos: Indessen läßt sich diese Zweideutigkeit doch sehr leicht vermeiden, wenn man den ganzen Syllogismus nur um ein geringes variiert und dem Obersatz die vollständig eindeutige Form gibt "Der Inhalt meiner Annahme ist - gemäß ihrer Definition - von mir abhängig" - und dann fortfährt: "Nun bildet die Existenz des Transzendenten den Inhalt meiner Annahme. Also ist die Existenz des Transzendenten von mir abhängig." Denn hier ist ausdrücklich das, was Sie als das "Angenommene" dem "Inhalt der Annahme" gegenüberstellen, zu erwähnen vermieden, und der Mittelbegriff ist durchaus eindeutig, sodaß Sie nicht wieder den Vorwurf einer Quaternio terminorum [Fehlschluß durch zwei versch. Mittelbegriffe - wp] erheben können.

Episthemos: Und doch ist auch hier eine solche enthalten, wenn auch nicht im Major, so doch im Minor [Untersatz - wp]. Abermals verführt Sie die populäre laxe Ausdrucksweise dazu, einen Satz in einem Sinn zu nehmen, den ich ihm gemäß meiner vorausgeschickten Definition nicht geben kann. Denn wenn wir daran festhalten, unter dem Inhalt der Annahme nur das vom Annehmen selbst abhängige Objekt des Annehmens zu verstehen, so ist damit von selbst ausgeschlossen, daß die Existenz des Transzendenten selbst und nicht vielmehr bloß die Eigentümlichkeit, durch welche sich jene Annahme gerade auf die Existenz des Transzendenten bezieht, Inhalt der Annahme ist. Die Propositio minor ist daher zwar richtig in der laxen Ausdrucksweise des gemeinen Lebens, aber nicht in der genauen des sich stets seiner einmal festgesetzten Definition eingedenk bleibenden wissenschaftlichen Denkens. Und aus diesem Grunde ist auch hier wieder die Konklusion nur dann richtig, wenn vorausgesetzt wird, was bewiesen werden soll, daß nämlich das, worauf sich die Annahme bezieht, mit der speziellen Eigentümlichkeit, durch welche die Annahme gerade zu dieser Annahme wird, identisch ist.

Misodogmos: Aber mit genau demselben Recht kann ich meinerseits sagen, daß meine Konklusion nur dann falsch ist, wenn das vorausgesetzt wird, was bewiesen werden soll, daß nämlich das, worauf sich die Annahme bezieht, vom Inhalt dieser Annahme zu unterscheiden ist. Indem Sie sich also dieser Unterscheidung zur Widerlegung meines Argumentes bedienen, verfallen gerade Sie in den mir vorgeworfenen Fehler der petitio principii.

Episthemos: Ich würde mich desselben schuldig machen, wenn ich tatsächlich für mich in Anspruch nähme, Ihr Argument widerlegt und Ihre Behauptung als falsch nachgewiesen zu haben. Allein ich behaupte vorläufig gar nicht, daß Ihre Behauptung absolut genommen, sondern nur dann, wenn jene Unterscheidung berechtigt wäre, falsch ist. Und ebenso wäre sie nur dann richtig, wenn jene Unterscheidung nicht berechtigt wäre. Ob sie aber das eine oder das andere ist, der Entscheidung dieser Frage hat unsere bisherige Diskussion uns noch keinen Schritt näher gebracht. Und das ist es, was zu konstatieren ich für nötig erachte. Denn die petitio principii besteht nicht in der bloßen  Behauptung,  daß das Wahrnehmen, Denken usw. Verben des schaffenden oder zuordnenden Typus seien - die Behauptungen als solche sind weiter nichts als Dogmen - sondern im  Versuch, durch das Vorbringen derselben Behauptung in einer anderen Form diese selbst beweisen zu wollen.  Ich wende mich also nicht dagegen, daß Sie die Existenz des Transzendenten leugnen, sondern dagegen, daß Sie hierfür, wie das schon BERKELEY selbst getan hat, das BERKELEYsche Dogma als angeblich beweisendes Argument anführen. Alles, was mir vorläufig am Herzen liegt, ist die Erlangung Ihres Eingeständnisses, daß wir zur Entscheidung unserer Streitfrage bisher noch um keinen Schritt weiter gekommen sind, und daß die Gründe, welche entweder für oder gegen die Existenz des Transzendenten sprechen, erst noch erbracht werden müssen. Ich bin vollständig zufrieden mit dem Resultat, daß das "Widersinnige der wissenschaftlichen Voraussetzungen" keineswegs so auf der Hand liegt, wie die Erkenntnistheoretiker mit Vorliebe behaupten, und daß es doch wohl nötig ist, etwas tiefer in diese Frage einzudringen, bevor man sie von vornherein durch ein paar Worte abfertigen zu können glaubt. Ich leugne durchaus nicht, daß die Erkenntnistheoretiker mit ihren Vorwürfen gegen die Wissenschaft schließlich Recht behalten können, aber ich weise die Anmaßung zurück, dieses Recht auf eine so seichte, oberflächliche und leichtfertige Art und Weise begründen zu wollen, wie es beispielsweise von BERKELEY versucht worden ist und wie es heutzutage noch vielfach von seiten der Erkenntnistheoretiker aller Schattierungen geschieht. Etwas tiefer liegt das Problem denn doch, als daß es durch eine einfache petitio principii entschieden werden könnte, und wenn die Erkenntnistheoretiker beabsichtigen, einen wissenschaftlich gebildeten Menschen von der Richtigkeit ihres Dogmas zu überzeugen, müssen sie schon etwas wuchtigere Geschütze auffahren.

Misodogmos: Wie es scheint, wollen Sie mich durchaus in die Rolle des Angreifers hineindrängen, nur um mir die Beweislast aufbürden zu können. Und doch sind Sie es, dem hier das Onus probandi [Beweislast - wp] obliegt. Denn  erstens  würden die Erkenntnistheoretiker nicht bezweifeln, daß es ein Transzendentes gibt, wenn nicht die Wissenschaft zuvörderst diese Existenz behauptet hätte. Da die Welt der Dinge ansich aber nicht  nachgewiesen  werden kann, muß sie doch wenigstens früher  bewiesen  werden, ehe man das unmittelbar Gegebene als ein Mittel zur Erkenntnis jener bezeichnet. Denn derjenige, welcher etwas Positives behauptet, muß dasselbe auch beweisen.  Zweitens  aber ist die Existenz des Immanenten als das unmittelbar Gegebene über allen Zweifel erhaben. Derjenige also, der sich an dieses allein hält, braucht sich deswegen nicht zu rechtfertigen, wohl aber derjenige, der über dieses Gegebene hinausgeht. Auch aus diesem Grund sind also Sie es, der den Beweis für seine Behauptung zu erbringen hat.

Episthemos: Nun, glücklicherweise brauche ich auf die Frage, wem eigentlich das Onus probandi zusteht, nicht einzugehen, weil es mir leicht fällt, den von Ihnen gewünschten Beweis zu liefern. Ich will daher nicht fragen, auf wessen Seite die Beweispflicht größer ist, auf derjenigen der Wissenschaft, welche niemals darauf Anspruch gemacht hat, die Voraussetzungen, auf welchen sie beruth, beweisen zu wollen und irgendeine andere Gewähr für dieselbe zu liefern, als die Erfolge, die sie mit Hilfe eben dieser Voraussetzungen errungen hat, oder der Erkenntnistheorie, welche keinerlei Erfolge aufzuweisen hat und ihre Existenzberechtigung doch nur dadurch nachweisen könnte, daß sie ihren Sätzen irgendeine größere Sicherheit und Gewißheit zuzuschreiben berechtigt wäre. Nimmt doch die Erkenntnistheorie gerade das für sich in Anspruch, wozu die Einzelwissenschaften in sich keinerlei Beruf spüren, nämlich eine kritische Sichtung der Voraussetzung allen Erkennens. Die Wissenschaft war zuerst auf dem Plan, und die Erkenntnistheorie humpelt hintennach. Wenn also sie, die immer so stolz auf ihre Voraussetzungslosigkeit ist, dem wissenschaftlichen Dogma, daß es ein Transzendentes gäbe, nichts anderes entgegenzustellen hat als das gegenteilige Dogma, daß es kein solches gäbe, und dabei zugesteht, daß sie dafür ebensowenig irgendeinen Beweis beizubringen imstande ist, als die Wissenschaft für das ihrige, woher nimmt sie dann das Recht, sich eine Kritik der wissenschaftlichen Sätze anzumaßen, da die ihrigen doch um nichts besser gegründet sind, als die der Wissenschaft? Höchstens könnte sie doch einen dem wissenschaftlichen gleichberechtigten, aber nicht einen jenem übergeordneten Standpunkt, von dem aus sie ihre Berechtigung zur Kritik herleitete, beanspruchen. Das unmittelbar Gegebene erkennt ja doch die Wissenschaft gerade so gut an wie die Erkenntnistheorie, und ob es neben diesem noch ein Nicht-Gegebenes gibt oder nicht, das sind beides Annahmen, von denen nach unserer bisherigen Untersuchung noch keine einzige besser begründet ist als die andere. Allein ich kann, wie gesagt, auf eine weitere Erörterung dieser Frage mit Vergnügen verzichten, weil ich erstens imstande bin, den von Ihnen gewünschten Beweis in der Tat zu liefern, und weil zweitens, selbst wenn ich nicht dazu imstande wäre, ich mich mit dem erreichten Resultat begnügen würde. Und dieses Resultat ist die Zurückweisung Ihres gegen die Wissenschaft erhobenen Vorwurfes, daß dieselbe Widersprüche in ihren Grundvoraussetzungen aufweise. Denn Sie haben jetzt selbst diesen Vorwurf dahin einschränken müssen, daß die Voraussetzungen der Wissenschaft nicht widerspruchsvoll, sondern nur unbewiesen sind. Das ist aber ein großer Unterschied. Denn  unbewiesene Sätze können, auch wenn sie niemals bewiesen werden, richtig sein;  widerspruchsvolle Sätze aber nicht. Widerspruchsvoll aber wäre die Voraussetzung der Wissenschaft, daß Wahrnehmen und Denken Verben des zuordnenden Typus seien, nur dann, wenn sie falsch wäre, aber sie wäre dann eben widerspruchsvoll,  weil  sie falsch ist, und das letztere muß  vorher  feststehen, ehe man behaupten kann, sie sei falsch,  weil  sie widerspruchsvoll ist. Das aber hatten Sie ursprünglich behauptet, und zur Stützung dieser Behauptung waren Sie schließlich gezwungen, darauf Rekurs zu nehmen, daß jene Voraussetzungen unbewiesen seien. Selbst wenn ich Ihnen daher zugestehen würde,  erstens,  daß mir das Onus probandi obliegt, und  zweitens,  daß es mir nicht möglich ist, dieser Pflicht nachzukommen, so würde daraus immer nur folgen, daß Sie nicht gezwungen sind, jene unbewiesenen Sätze als wahr anzunehmen, aber keineswegs, daß Sie dadurch berechtigt sind, die Falschheit jener Sätze zu behaupten. Vielmehr bliebe die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit derselben solange in der Schwebe, bis es einem von uns beiden gelänge, die eine oder die andere nachzuweisen.

Misodogmos: Aber gerade das letztere zu tun, bin ich sehr wohl imstande. Denn ich kann mit Leichtigkeit nachweisen, daß der Begriff des Transzendenten ein widerspruchsvoller ist, selbst wenn ich mich auf den Boden Ihrer eigenen Voraussetzungen stelle und Ihnen einmal vorläufig das Recht zugestehe, das Denken den Verben des zuordnenden Typus zuzurechnen.

Episthemos: Nun, wenn Ihnen das gelingt, so werde ich der erste sein, Ihnen in der Verwerfung dieses Begriffs beizustimmen. Aber vorher will ich Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, worauf es bei Ihrer Argumentation ankommt. Was Sie nämlich beweisen müßten, wenn Sie die Wissenschaft zum Aufgeben des Begriff des Transzendenten veranlassen wollten, ist nicht, daß man von der Annahme ausgehend, es gäbe kein Transzendentes und das, worauf sich das Denken bezieht, wäre vom Denken abhängig, in Widerspruch mit  der kontradiktorisch entgegengesetzten Annahme  gerät - denn das folgt aus dem Begriff des Widerspruchs - sondern daß die Annahme, es gäbe ein Transzendentes, zum Widerspruch mit  sich selbst  führt. Denn eben dadurch, daß Sie die absolute Richtigkeit Ihrer Annahme oder - was auf dasselbe hinauskommt - die Widersprüchlichkit der entgegengesetzten Annahme aufgrund derselben Voraussetzung nachweisen wollen, deren Richtigkeit in Zweifel steht, machen Sie sich der petitio principii schuldig und bewegen sich in einem circulus vitiosus [Teufelskreis - wp].

Misodogmos: Nun, gerade diese petitio principii soll aber mein jetziger Beweis vermeiden, welcher zeigt, wie überhaupt nur die Annahme, jene Verben gehörten dem von Ihnen als bewegenden bezeichneten Typus an, den im Begriff des Transzendenten liegenden Widerspruch vermeiden könnte. Denn sobald wir annehmen, daß mit dem Denken an das Transzendente, so kehren in Bezug auf das erstere genau dieselben Bedenken wieder, die ich, ausgehend von der Annahme, daß es nur ein solches Objekt gäbe, geltend zu machen hatte. Der Umstand nämlich, daß neben jenem Objekt, welches nach Ihrer Ausdrucksweise den Inhalt des Denkens ausmacht, noch ein zweites vorhanden ist, auf welches sich das Denken bezieht, vermag den Widerspruch, der im Begriff des ersteren liegt, durchaus nicht aufzuheben. Denn selbst wenn ich Ihnen Ihre Verdoppelung der Welten konzidiere und Ihnen gestatte, ein unabhängig von Ihrem Denken existierendes Transzendentes anzunehmen, auf welches sich Ihr Denken bezieht, so müßte doch eben neben diesem "transzendenten" Transzendenten ein "immanentes" Transzendentes angenommen werden, welches durch und mit der Annahme gesetzt ist und welches macht, daß die Annahme sich auf jenes transzendente Transzendentes bezieht. So würde sich derselbe Widerspruch, den Sie in Bezug auf den Begriff des Transzendenten überhaupt zurückweisen zu können geglaubt haben, sich in Bezug auf  eine  Bedeutung desselben wiederfinden und würde sonach nur verschoben, nicht gehoben worden sein. Die Verdoppelung der Objekt, durch die Sie ja im Grunde nur dasselbe noch einmal setzen, nützt Ihnen also zur Vermeidung jenes Widerspruchs gar nichts, und Sie können daher wohl glauben, daß Sie imstande wären, die Existenz des Transzendenten anzunehmen; in Wirklichkeit können Sie aber diese Annahme gar nicht vollziehen, weil das so viel bedeuten würde, als daß neben dem nicht Ihrem Bewußtseinsinhalt angehörenden Transzendenten, das ich Ihnen vorläufig zur Vermeidung jener petitio principii einmal zugestehe, noch ein zweites im Bewußtsein befindliches und daher also immanentes Transzendentes vorhanden wäre, was, da es sich selbst widerspricht, unmöglich ist.

Episthemos: Allerdings hätten Sie Recht, die Forderung, an das Transzendente zu denken, eine unvollziehbare zu nennen, wenn es wirklich wahr wäre, daß diejenige Beschaffenheit des Denkens, durch welche es sich auf das Transzendente bezieht, zwar nicht mit dem, worauf es sich bezieht, identisch, aber doch nur von diesem numerisch verschieden, im übrigen aber eine bloße Verdoppelung desselben sei. Indessen gilt doch dieses qualitative Gleichheit des Denkinhalts mit dem, worauf sich das Denken bezieht, nur für den einen Fall, daß wir gerade an die Beschaffenheit des Denkens denken. In allen anderen Fällen ist der Denkinhalt von dem, auf das sich unser Denken bezieht, wesentlich verschieden. Aber in jenem Ausnahmefall denken wir ja gerade an etwas von uns Abhängiges, und es liegt kein Widerspruch darin, daß dieses etwas anderem von uns Abhängigen gleich oder ähnlich sei. In den übrigen Fällen dagegen, in welchen wir an etwas von uns Unabhängiges denken, wird nicht dieses von uns Unabhängige selbst oder etwas nur numerisch von ihm Verschiedenes, sondern etwas ganz Anderes unser Denkinhalt, das nur die Eigentümlichkeit hat, durch seine besondere Beschaffenheit sich auf das bestimmte Unabhängige zu beziehen. Aber diese Beziehung ist keine solche der Gleichheit, sondern eine solche der konstanten Zuordnung, wie etwa das Schriftzeichen  a  dem bestimmten Laut zugeordnet ist, ohne doch die geringste Ähnlichkeit mit ihm zu haben. Die Meinung also, das, wodurch wir an etwas denken, sei eine bloße Verdoppelung dessen, an das wir denken, ist falsch und somit auch alle Schlußfolgerungen, die sich daran knüpfen. Denn, um es noch einmal zu wiederholen, die Beziehung, welche die beiden Objekte aneinander geknüpft, ist keine solche der Gleichheit oder Ähnlichkeit, sondern nur eine solche der konstanten Zuordnung.

Misodogmos: Indessen werden Sie doch wohl nicht leugnen wollen, daß es die Bedeutung eines Wortes ist, durch welche es sich auf das durch es Bezeichnete bezieht. Denn die Bedeutung allein ist es, durch welche ein Wort, das an und für sich ja ein bloßer Lautkomplex ist, ein bestimmtes Objekt unserer Umgebung bezeichnet. Nun erhält aber ein Begriff doch nur seine Bedeutung durch die Anschauung, mit welcher er verknüpft ist. Denn ein Begriff ohne Anschauung ist völlig leer. Anschauungen sind aber etwas Immanentes, Bestandteile unseres Bewußtseins, und so könnte auch das Wort "transzendent" nur dadurch eine Bedeutung erlangen, daß wir uns eine Anschauung von dem durch es Bezeichneten machen können, ebenso wie das Wort "Baum" oder "Haus" seine Bedeutung erlangt durch das Phantasma, das mit diesen Worten unveränderlich verknüpft ist. Nur dadurch also, daß das Transzendete irgendwie Bestandteil unseres Bewußtseins würde, wären wir imstande, an dasselbe zu denken; gerade das ist aber durch den Begriff des Transzendenten ausgeschlossen, und eben deshalb ist das Transzendente ein bloßes Wort, bei dem sich schlechterdings nichts denken läßt. Und das ist schließlich alles, was zu erweisen war.

Episthemos: Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie das BERKELEYsche Dogma jetzt dadurch stützen, daß Sie behaupten, die Forderung, beim Wort "Transzendent" irgendetwas denken zu wollen, sei unvollziehbar, und zwar deshalb, weil dieses Wort seine Bedeutung nur durch die Vorstellung von dem, was es bezeichnet, erhält. Und daß es nicht möglich ist, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was das Wort "Transzendent" bezeichnet, bin ich gern bereit, zuzugestehen. Für umso notwendiger aber halte ich es, die Berechtigung des Satzes, daß die Bedeutung eines Wortes auf der begleitenden Vorstellung beruth, einmal etwas genauer, als das bisher geschehen ist, zu untersuchen. Denn von der Richtigkeit dieses Dogmas, welches ich nach dem bekannten Ausspruch des ARISTOTELES, ein Denken sei nur mit Hilfe von Phantasmata möglich, als das  aristotelische  Dogma bezeichnen will, hängt wie es scheint, nunmehr die Beweisbarkeit auch des BERKELEYschen Dogmas ab. - - Indessen ist diese Untersuchung einesteils so wichtig, andernteils jenes Dogma so uralt und für so selbstverständlich und unbezweifelbar gehalten, ja meines Wissens noch von niemandem jemals in Zweifel gezogen worden, daß ich Ihnen Zeit lassen will, sich von Ihrem Erstaunen zu erholen, wenn ich erkläre, daß jenes Dogma nicht nur einer Revision dringend bedürftig, sondern auch durch direkte Beobachtung ohne weiteres als grundfalsch nachzuweisen ist. Wir wollen daher, wenn es Ihnen recht ist, die Erörterungen über die Wahrheit des Satzes, daß die Bedeutung eines Begriffs auf der mit ihm verknüpften Vorstellung beruth, auf morgen verschieben, und bitte ich Sie, in der Zwischenzeit sich die Gründe zurechtzulegen, durch welche Sie seine Wahrheit zu verteidigen gedenken.

Misodogmos: Obgleich ich nicht verstehen kann, wie Sie an einem so selbstverständlichen und von allen bedeutenden Geistern anerkannten Satz irgendeinen Zweifel hegen können, so bin ich doch neugierig, durch welche Sophismata Sie denselben anzugreifen gedenken, und stehe Ihnen daher morgen umso lieber zur Verfügung, als es mir ein Leichtes sein wird, das Trügerische Ihrer Schlüsse aufzudecken und sie damit zur Anerkennung des Satzes zu zwingen, daß der Versuch, mit dem Wort "Transzendent" irgendeine angebbare Bedeutung zu verknüpfen, notwendigerweise fehlschlagen muß.
LITERATUR: Fred Bon, Die Dogmen der Erkenntnistheorie, Leipzig 1902