ra-1J. VolkeltG. AdlerT. D. WeldonM. SchelerKierkegaard    
 
ERNST BERGMANN
Der Begriff der Jllusion

"Wahn, Irrtum, Täuschung erscheinen hier als Heilmittel, als Glück, als Quell des Segens und aller Tat auf Erden."

Das Problem der Philosophie des Als Ob ist das Problem des modernen Menschen überhaupt. Es wird erst möglich, wenn die Einheit unseres Menschentums, wie sie frühere Zeitalter besessen, verloren gegangen ist, wenn der Mensch sich zerlegt hat in eine theoretische und eine praktische Hälfte und wenn der theoretische Mensch in seiner Entwicklung über den praktischen hinausgewachsen ist.

Das ist in der Gegenwart der Fall. Der moderne Großstadtmensch ist alles andere als eine Totalität. Er ist ganz Gehirn, ganz Intellektualität, ganz Bewußtheit, Plan und Absicht. Er lebt ohne Religion, vielfach ohne Moralität, ja in neuester Zeit auch ohne Legalität. Es gibt keinerlei Autorität für ihn außer dem eigenen Urteil. Theoretisch ist ihm die alte gottgeleitete Welt zusammengebrochen, und er schreitet über ihre Trümmer frei von aller Sentimentalität. Er ist sich selbst höchste und letzte Instanz. Dennoch ist er nicht glücklich, so aufrecht und gerade er einherzugehen scheint.

Atavismen [Rückfälle in primitives Verhalten - wp] stören seine Ruhe. Ja mehr: der praktische Mensch, der Gefühls-, Stimmungs- und Phantasiemensch regt sich ununterbrochen mit unbefriedigten Bedürfnissen. Er hat die Leitung durch den theoretischen Menschen verloren. Dieser kann ihm nicht mehr helfen, weil er ihm infolge seiner Skepsis keine positiven Richtlinien mehr zu geben weiß, und läßt ihn deshalb seine eigenen Wege gehen.

Der praktische Mensch aber geht in der Irre, taumelt und wankt. Mit einem so unruhigen Gefährten jedoch kann der theoretische Mensch auf die Dauer nicht leben, die fortgesetzten Störungen seiner Sphäre müssen ein Ende haben, es muß ein Abkommen getroffen werden zwischen Verstand und Wille, zwischen Ratio und Irratio, und das Opfer muß der theoretische Mensch bringen. Er muß die Lautheit seiner Verneinung zum Flüstertone herabdämpfen, ja ganz verstummen lassen. Nun lebt der Mensch praktisch so,  als ob  er glaubte, Ideale hätte, Überzeugtheiten, Hoffnungen. Dies wird ihm zum Gewinn im wirklichen Leben, er lebt ruhiger, gefestigter, seine Kraft ist größer, der Ertrag seiner Arbeit wächst. Sein Leben wird überhaupt erst möglich.

Aus Zweckmäßigkeitsgründen werden also hier das theoretische und das praktische Streben des Menschen in Einklang gebracht. Praktisch ordnet sich unser Denken unter die Notwendigkeiten des wirklichen Lebens. Die praktische Vernunft hat den Primat. So zuerst KANT. Er hat damit die Formel der modernen seelischen Verfassung gefunden. So lebt der Abendländer in der Tat, in einem oft bewußten, meist aber wohl uneingestandenen Selbstbetrug. Wir glauben nicht mehr an Gott, und doch leben viele Tausende unter uns so, als ob sie glaubten. Wenigstens ästhetisch wollen viele die Gottesvorstellung nicht fahren lassen. Ein Weltwesen wollen sie glauben, das uns erschuf und in dessen Schoß wir in dunklen Stunden ruhen.

Den "Standpunkt des Ideals" wollen sie aufrechterhalten mit FRIEDRICH ALBERT LANGE, vielleicht in noch weiterer ästhetischer Verdünnung. Es würde ihnen ästhetisch eine bedrückende Verarmung und Verelendung der Welt bedeuten, wenn sie diese ganz ohne seelischen Mittelpunkt, ohne zielstrebigen Willen denken sollten.

Ein anderes Beispiel: wir sind überzeugt, daß diese Erde mitsamt der Menschheit, die auf ihr lebt und allen Kulturgütern eines Tages in die Sonne stürzen wird. Dennoch wagen wir zu leben und Kultur zu schaffen. Wir schaffen, als ob wir glaubten, daß die Entwicklung bis ins Unendliche ginge und alles Errungene erhalten bliebe. Ja dieses Verhalten ist uns eigentlich selbstverständlich. Unsere Skepsis wird uns gar nicht mehr bewußt. Wir müssen darauf hingewiesen werden, um zu gewahren, daß wir tatsächlich radikale Skeptiker geworden sind.

Der Pragmatismus hat uns die Augen geöffnet über diese Eigentümlichkeit der modernen Seelenverfassung, über das merkwürdige Verhältnis, das sich zwischen den verschiedenen Seiten unserer Menschennatur in der Gegenwart herausgebildet hat. Und doch empfinden es viele als unnatürlich. Sie können es nicht ertragen, den Menschen so zerrissen, so zerklüftet zu sehen. Sie wünschten, daß Glauben und Leben wieder eins würden, daß der Mensch wieder ganz vor der Welt stünde. Aber diese Zeiten sind vorbei.

Unganz zu sein ist unser Schicksal. Wir sind Übergangswesen, wir, die wir den Naturmenschen verlassen haben, um zum Kulturmenschen emporzusteigen. Wir müssen weitersteigen und zu Ende steigen. Ein Zurück gibt es nicht. Vielleicht, daß sich am Ende unseres Menschheitserdenweges eine neue Ganzheit wieder gebiert, eine neue Synthese von Glauben und Leben. Heute sind wir davon unendlich weit entfernt. Heute sind wir zerteilt und müssen Kompromisse schließen. Der Pragmatismus hat uns definiert. So sind wir, heilvoll unheilvoll.

Am meisten wohl unheilvoll, wenn wir nicht an der Oberfläche haften. Wer ganz Mensch ist, d.h. auch Sehnsucht und Verlangen, nicht bloß Intellekt, kann sich mit diesem Kompromiß nur halb trösten. Er leidet unter dem Bruch in seinem Menschentum. Er leidet darunter, daß er nur so leben kann, als ob. Er erkennt diesen Ausweg als nötig an für die moderne Seele. Aber das Herz blutet ihm dabei. Und je klarer sein Intellekt ist, desto schwerer wird es ihm in des Lebens Breite, das Übereinkommen aufrechtzuerhalten. Das Als Ob funktioniert nur deshalb. So JEAN-MARIE GUYAU, der französische NIETZSCHE, wie sie ihn heißen, ein französischer Positivist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von größter Verstandesschärfe und reichstem Wissen, aber mit dem Herzen eines Kindes, mit dem Gemüt fast eines Mädchens, ein echt Moderner von einem fast schauerlichen Unglauben, der begattet ist mit religiöser Sehnsucht, wie wir sie sonst nur bei den Mystikern des christlichen Mittelalters finden.

Fürwahr eine höchst eigene, seltene und problematische Natur: Die beiden Seiten unseres Menschenwesens, Intellekt und Gemüt, aufs äußerste entwickelt und aufs engste aneinander gefesselt. Das gibt einen Akkord von einer Wehheit! So aber ist der moderne Mensch, wenn er wirklich Mensch ist. So war er am Ende des 19. Jahrhunderts. J.-M. GUYAU ist sein Symbol.

J.-M. GUYAU, mit neunzehn Jahren Verfasser eines von der Pariser Akademie der Wissenschaften in einem ungewöhnlich glänzenden Wettbewerb preisgekrönten Werkes über die utilitaristischen Moralsysteme von EPIKUR bis zur Gegenwart, mit 33 Jahren tot! Ein von der Schwindsucht früh Dahingeraffter, der eine Philosophie des Lebens schreibt! Ein Positivist aus der Schule COMTEs und SPENCERs, der sich an AUGUSTINUS berauscht! Ein Überzeugter vom Untergang der Welt und der Seele, der so lebt und handelt, als ob beide ewig wären.

Man kann sich keine größeren Gegensätze in einer Brust zusammengeschmiedet denken. Wenn sich auch nirgends der Begriff der Fiktion in GUYAUs Werken fände,  die Disposition zur fiktionalistischen Stellungnahme ist zweifellos in hohem Grade vorhanden,  der  Geist  der Philosophie des Als Ob schwebt über GUYAUs Haupt, am lebendigsten über den "Versen eines Philosophen" (1881), diesem schmerzlich süßen Vermächtnisbuch eines Sterbenden an eine kalt und herzlos fortwandernde Menschheit.

Man lese daraus die letzten Zeilen des Gedichtes "Wahn", das wir am Schluß vollständig abdrucken. Sie besagen, daß die Erde der einzige Ort sei, wo man  hofft.  Darin liege ihre Größe.  Intellektuelle Enttäuschung, moralische Hoffnung  - so formulierte ich 1912 das Gesetz GUYAUs. Es ist das Gesetz der ganzen modernen Menschheit. Das Wissen zerstört immer mehr der Kindheitsvorstellungen der Menschheit. Die großen theoretischen Überzeugtheiten verblassen und leben heute noch fort in der Form des Als Ob, als Hoffnungen. Als solche wirken sie noch.
    "Heutzutage genügt schon eine Hypothese, eine bloße Möglichkeit, um uns anzulocken, uns zu fesseln. Die Hoheit des zu verwirklichenden Ideals ersetzt den Glauben an seine unmittelbare Verwirklichung. Wenn man etwas ganz Erhabenes erhofft, so schöpft man aus der Schönheit des Zieles den Mut, allen Widerständen zu trotzen. ... Je weiter das Ideal von der Wirklichkeit entfernt ist, desto erstrebenswerter erscheint es uns. ... Sich auf irgendeine immer zu enge Lehre hartnäckig einschwören, ist ein Wahn, der uns unter den Händen zerrinnt; aber immer vorwärts schreiten, immer suchen, immer hoffen, das allein ist kein leerer Wahn.  Die Wahrheit liegt in der Bewegung, in der Hoffnung.  ... Wir alle, wir Sucher und Arbeiter, sind wie der Schmetterling: unsere Kraft wird nur durch die Sonne, ja oft schon durch die Hoffnung auf einen Sonnenstrahl erweckt. Wir müssen also zu hoffen wissen. Die Hoffnung ist die Kraft, die uns aufwärts und vorwärts trägt. Ihr wendet ein: Sie ist nur ein Trugbild! Was wißt ihr davon? Sollen wir etwa unseren Fluß nicht vorwärts setzen aus Furcht, daß die Erde unter unseren Füßen eines Tages zerberste?"
In einem kürzeren Abschnitt behandelt GUYAU sodann "Das metaphysische Wagnis im Handeln" unter dem Faustischen Motto: "Im Anfang war die Tat." Er führt aus, daß unser Handeln mit unserem Denken übereinstimmen müsse, d.h. daß unser Denken "genau der Ausdehnung unserer Tätigkeit entsprechen" müsse, also  unter praktische Gesichtspunkte  treten müsse.
    "Die abstraktesten metaphysischen Formeln sind im Grunde nur Formeln, die im Gefühlsleben ihren Ursprung haben, und das Gefühl entspricht dem Grade unserer inneren Tätigkeit. In der Mitte zwischen Zweifel und Glauben, zwischen Ungewißheit und kategorischer Gewißheit steht die Tat, und nur durch sie kann das Ungewisse sich verwirklichen und zu Gewißheit werden.
    Nicht fordere ich von euch, blind an ein Ideal zu glauben, aber ich fordere von euch, an seiner Verwirklichung mitzuarbeiten. Ohne daran zu glauben? - Um daran zu glauben! Ihr werdet daran glauben, wenn ihr tätig gewesen sein werdet, es wirklich zu machen."
In der Wendung: "Um daran zu glauben" liegt deutlich genug der Standpunkt der Als-Ob-Betrachtung. GUYAU führt dann weiter aus, daß selbst Wunder den modernen theoretischen Menschen nicht mehr überzeugen könnten. Wohl aber kann heute noch, wie die Religionen sehr wohl wissen, überzeugend wirken:  praktische Betätigung. 
    "Man wird um so geneigter sein, zu glauben, je tätiger man ist."
Dabei muß die Quelle der Betätigung von innen strömen, dann wird unser Glaube "zur unendlichen Mannigfaltigkeit der schöpferischen Erfindung."

Im französischen Original steht hier, was wir leider nicht nachprüfen können, vermutlich der Ausdruck  Fiction  für Erfindung. In den darauf folgenden Ausführungen kommt diese anti-intellektualistische Tendenz noch deutlicher zum Ausdruck.
    "Handeln allein gibt Selbstvertrauen, Vertrauen in unsere Mitmenschen, in die Welt.  Reines Denken, weltentrücktes Grübeln nimmt uns schließlich die Lebenskraft.  Wenn wir uns gar zu lange auf hohen Gipfeln aufhalten, so ergreift uns eine Art Fieber, eine unsägliche Müdigkeit usw."
Kurz: alles Denken muß praktisch werden. Nur um des Handelns willen darf gedacht werden.

Auf dem Boden des Pragmatismus erhebt sich das große GUYAUsche Als Ob.
    "Tätigkeit ist in ihrer Fruchtbarkeit auch ein Heilmittel für den Skeptizismus: sie schafft sich selbst, wie wir sahen,  ihre innere Gewißheit.  Weiß ich, ob ich morgen, ob ich in einer Stunde leben werde, ob meine Hand die Zeile, die ich eben beginne, wird zu Ende schreiben können? Das Leben ist von allen Seiten in Dunkelheiten eingehüllt.  Trotzdem handle ich, fange ich neue Unternehmungen an,  und bei all meinem Handeln, bei all meinem Denken  setze ich diese Zukunft voraus,  auf die zu rechnen mir nichts das Recht gibt.

    Mein Tun überschreitet in jeder Minute den gegenwärtigen Augenblick und geht in die Zukunft über. Ich gebe meine Kraft aus, ohne zu fürchten, daß diese Ausgabe ein reiner Verlust sei. Ich lege mir Entbehrungen auf  und rechne darauf,  daß die Zukunft sie mir vergüten wird. ... Diese Ungewißheit, die mich überall gleichmäßig umgibt, wiegt mir jede Gewißheit auf: sie macht die Freiheit meines Handelns mögliche, sie ist eine der Grundlagen der spekulativen Sittenlehre mit all ihren Wagnissen. ... Ich dünke mich Herr der Unendlichkeit, weil meine Macht keiner fest bestimmten Größe gleich ist.  Je mehr ich tue, desto mehr darf ich hoffen." 
Ähnliche Gedanken liegen dem Gedicht "Wahn" (Illusion) zugrunde, das wir am Schluß der Abhandlung vollständig abdrucken. Wahn, Irrtum, Täuschung erscheinen hier als Heilmittel, als Glück, als Quell des Segens und aller Tat auf Erden. Man fühlt sich beim Lesen dieses Gedichts unmittelbar erinnert an NIETZSCHEs "Willen zum Schein", sein Wort von der lebenfördernden Kraft der Lüge, seinen "umgedrehten Platonismus". Die  Verse eines Philosophen  entstanden 1881, "Sittlichkeit ohne Pflicht" 1885. GUYAU hat NIETZSCHE nicht gekannt, wohl aber NIETZSCHE GUYAU. Eine Beeinflußung ist möglich. Doch fehlt es hier an Raum, dieser Frage nachzugehen.
    Auf einem Platz sah ich ein Kind, ins Spiel vertieft.
    Ganz rot vor Eifer wiegt es in den Armen etwas
    Und liebkost zärtlich es mit mütterlicher Sorge.
    Und so vertieft, so ganz dem Spiele hingegeben
    Vernahm es nichts. Mein Ruf auch ließ es nur den Kopf
    Erheben, und voll Ernst sah es mich forschend an,
    Und in den Augen Lieb' und Glück hob es das Tuch
    Von seinem Schatz. - Was meint ihr, war es wohl?
    Ein kleines Brüderchen, ein Kätzchen, seine Puppe?
    Ach nein! die Kind war arm, und Puppen sind so teuer!
    Ein Holzstück war es, ohne Form, das es mit Liebe,
    Mit Zärtlichkeit an seinen Busen drückte, das es
    In kind'schem Glück mit Hand und Auge streichelte.
    Vor seinem Blick ward dieses Stückchen Holz zum Kinde,
    Das es dereinst auf seinen Knien wiegen sollte.
    "Es schläft!" sprach es zu sich, und in dem Mädchen regte
    Die künft'ge Frau und Mutter sich.

    O Denker ihr!

    Wer hegt von uns nicht auch in seinem tiefsten Innern
    Ein Etwas, das die Seele trunken macht, ein Ding,
    Unförmig zwar, doch angebetet, liebevoll
    Am Busen großgezogen, einen Kindertraum?
    O Wahn, der reiche Frucht trägt, heilig bist du, Wahn!
    Des starken Hoffens Vater und der großen Taten,
    Belebend fülle uns mit süßer Täuschung an!
    Nimm Platz in uns! Wenn uns die Kräfte schwinden, sei du
    Uns Stütze und Stab. Wo jedem Schritt Enttäuschung folgt,
    Wer wollte ohne deine Hilfe sicher gehen?
    Du machst den schwersten Gang uns leicht, das Opfer süß.
    Wärst du nicht, wissen wir, ob nicht ein eis'ges Schweigen
    In unserm Herzen sich verbreiten würde, ob nicht
    Im Nu in uns erlöschen würde jedes Feuer?
    Ob unsre Seele gramvoll nicht all ihre Götter
    Müßt stürzen sehn und sterben? - Du erhebst uns wieder,
    Wenn unser Wille matt vom Kampf zu Boden sinkt.
    Du zeigst uns neue Himmel, und auf leichtem Flügel
    Trägst du uns hoch empor, wohin der Zufall führt.
    Die Hoffnung gibst du uns und jenes frohe Wünschen,
    Das immer neu ergreift und wie die flücht'ge Schwalbe
    Zwar niemals dauernd bleibt, doch immer wiederkehrt.
    Drum, o du neue Gottheit, sei gesegnet, Wahn!
    Verlaß mich niemals! Senk den Irrtum in mein Leben
    Wie einen Keim, aus dem die Hoffnung sprießen soll,
    Aufhören sich zu täuschen, hieße nicht mehr leben!
    Damit du etwas kannst, mußt du mehr wollen als
    Du kannst: Laß dich von einem hohen Ziel verlocken,
    Das nimmer du erreichst. Doch im Vorübergehen
    Ergreifst du, was das Glück dir freundlich Gutes bietet.
    Wohl hundert Schritte mußt du woll'n, um einen Schritt
    Zu tun; denn vieles schlägt dir fehl, ja, fast das meiste.
    Ob ich wohl heut in dieser stillen Abendstunde
    Mit Versen deckte dies Papier, wenn ich erkennte,
    Wie wenig in dem großen All des Lebens sie
    Bedeuten werden, oder gar, daß der Gedanke,
    Den ich mit Lieb und Müh in diese Zeilen banne,
    Niemals im stumpfen Hirn der andern wurzeln wird?
    Und dennoch schreibe ich und fülle diesen Bogen
    Auf gutes Glück mit schwarzen Zeichen an. Woher
    Die Kraft? Was macht mir Mut? Und was hab' ich zu hoffen?
    Wenn jetzt ein Weiser käm' und sähe, was ich treibe,
    Er lachte wohl, wie ich noch gestern lachte, als ich
    Das weltentrückte Kind sein Spielzeug herzen sah.
    Wie dies, beherrscht auch mich ein unbekannter Trieb.
    Vor meinem gläub'gen Aug', wie vor des Kindes, wandelt
    Ohn' Unterlass sich die Natur. Denn jeder Strahl,
    Der in mein Inn'res fällt, bricht sich in tausend Farben.
    Und was ich fasse, seh' ich plötzlich sich verwandeln:
    Mein Herz gleicht einem jener alten Kirchenbauten,
    In deren hohen Wölbungen der kleinste Laut
    Ins Ungeheure wächst. - Irrtum von allen Seiten!
    So heißt es denn ihn wollen! Liebe deinen Wahn!
    Denn nichts ist wahr! Tu' nichts, als fasse etwas scharf
    Ins Aug', schon hast du es vergrößert und verändert.
    Betrachten heißt schon nicht mehr bloß gut sehn. Zu mindest
    Bedeutet es nur Eins und nicht das Ganze sehen.
    Auf einen Punkt wirfst du das Licht, das andre bleibt
    Im Dunkeln unentdeckt. So leben wir umschlossen
    Von einer engen Welt, in kleinsten Kreis gebannt.
    Und leben glücklich, denn wir seh'n in ihm das All,
    Da uns die Welt zu enden scheint, wo unser Himmel
    Zu Ende geht. - Oft glauben Großes wir vollbracht
    Zu haben, und ein Strohhalm war's, den wir bewegten.
    Wenn einst von jenem Geist, der sich mit Freuden opfert,
    Die Menschheit ganz ergriffen ist, wenn all und jedes
    Den Helden fand, der ihm gebührt, wenn alle Menschen
    In diesem Erdental mit voller Kraft und Liebe
    Und unermüdlich schaffen für ein Ziel, das sich
    Ihr Herz erkoren, was gibt ihnen Mut? Ist's nicht,
    Weil sie das Ziel, das sie sich setzten, sich verklären?
    Der Irrtum ist der Quell, in den sie immer wieder
    Hinuntertauchen, um verjüngt emporzusteigen,
    Ist ihres Glückes Grund. Denn also will's der Wah'n:
    Je schwerer wir ein Ziel erreichen, um so teurer
    Und werter erscheint es uns. Wir lieben es am tiefsten,
    Wenn es zum Höchsten weist, wenn es der Mühen schwerste
    Auf unsre Schultern legt. So schenken wir beständig
    Ein Teilchen unsrer Seele allem, was wir lieben,
    Und lieben es, weil unser schwärmend Herz es so
    Vergoldet. Neu erschaffen fühlen wir die Welt,
    Und leihen Schmerz und Lieb' den Dingen, schmücken
    Mit unsern Zügen die Natur, die kalt und fühllos,
    Und so ertragen wir dies schwere Leben leicht.
    Wenn eines Tages sich die Welt dem eignen Aug'
    Enthüllte, würde sie nicht ob des eignen Anblicks
    Ensetzt erstarr'n? Und müßte sie nicht hilfeflehend
    Beschämt im Blick der Menschen sich zu spiegeln suchen,
    Um ihre Blöße mit der Menschen Wahn zu decken?
    Was trägt die reichste und die schönste Frucht hienieden?
    Etwa die Wirklichkeit? Nein, nur das Ideal!
    Vergebens stets müht sie sich ab, um die Idee,
    Verfolgt von einem Glauben, der sich nie erschöpft,
    Entwindet sie sich dennoch immer dem Verfolger,
    Schwebt leicht empor und schwindet hin in blaue Fernen.

    Ein Mißerfolg ist, streng genommen jeder Fortschritt.
    Doch auch der Mißerfolg muß unserm Heile dienen.
    Vom Irrtum angestachelt treiben wir uns um
    Auf gutes Glück. Doch jeder Irrtum nützt der Menschheit.
    Aus unserm Wahn wächst letzten Endes doch die Wahrheit.
    Denn mag auch jeder einzelne ein Träumer sein,
    Es kommt ein Tag wo jeder Traum zur Wahrheit wird.
    Laß ich auch müde und erschöpft die Hände sinken,
    Ein andrer wird mein Werk vollziehn. Und falle ich,
    In jenem sel'gen Augenblick, in dem sich endlich
    Am fernen Horizont die Morgenröte zeigt,
    Die ich herbeizuführen mich vergeblich sehnte:
    Ein anderer enthüllt vielleicht zur selben Stunde
    Dem fernen Osten näher eine neue Sonne,
    Vor deren hellem Strahlenkranz mein Licht verblaßt.
    Am Horizont verlöschen eine nach der andern
    All unsre Sonnen. Ach, sie glänzten hell nur, als sie
    Im ersten Frührot siegreich durch den Nebel brachen.
    Das bringt uns Leid. Allein, was tuts? Du heil'ges Licht,
    Du gibst uns Kraft, indem du Klarheit gibst.
    Wenn du nicht müde wirst, vor uns zurückzuweichen,
    So wird auch unser Mut nicht müde, dir zu folgen.
    Mag auch das Ziel in immer weitre Ferne rücken,
    Der Menschen Herz schöpft Kraft aus ihrem Wahn,
    Was unsrer trüben Erde, der erloschnen Kugel,
    Die ziellos hinschwebt durch den kalten Weltenraum,
    Noch einen Schimmer gibt von Größe, ist's allein
    Nicht das, daß sie der einz'ge Ort ist, wo man hofft?


IV.

Den Begriff des Als Ob bei GUYAU haben wir kennen gelernt. Welches sind nun seine Inhalte? Welches sind die großen Fiktionen, an denen sich GUYAU berauscht, an die sich seine Philosophie der Hoffnung klammert? Welches sind die "metaphysischen Wagnisse", die sein Denken unternimmt? Sie sind teils religiöser, teils kulturphilosophischer Art, entsprechend dem Interessenkreis seiner Philosophie. Aber sie bewähren sich nicht durchweg. Sie funktionieren zum Teil, wenn ich so sagen darf, nur negativ, nur als mögliche Fiktionen, nicht als wirkliche. Das Verstummen des Intellekts läßt sich bei gewissen, namentlich religiösen Fiktionen, nicht voll durchführen. Nach einem Anlauf, den GUYAU unternimmt, um die Skepsis zu überwinden, sinkt er ohnmächtig wieder zurück und verharrt in einem trüben Pessimismus. Vielleicht mangelt dem kranken Denker die physische Unterstützung seines psychischen Erlebens, es mangelt diesem Vitalisten eben das, worum sich seine ganze Philosophie dreht: das Leben selbst.

1. So vor allem, was die  theistischen Fiktionen  anbelangt. Man lese das ergreifende Gedicht:  "Genetrix hominumque deumque" (1). Die Gottheit erscheint hier unter dem Bild der Weltmutter Natur. GUYAU beginnt, wie immer, mit einem Gleichnis. Er ist wieder Knabe, wieder Kind. Er schläft im Bett und träumt, die Mutter sei bei ihm. Er hört ihre Stimme im Halbschlaf. Aber was ist das? Es fehlt der "weiche, herzlich liebevolle Klang". Ist das die Stimme einer Mutter, wenn der "weiche, herzlich liebevolle Klang" fehlt?
    Was ich jetzt hörte, klang so fern mir und so weit,
    So fremd, daß es mein Ohr wohl traf, doch nicht mein Herz,
    Und mich ergriff ein bittrer, niegekannter Schmerz.
Also der Mensch! Gleicht er nicht, wenn er auf die Natur hört, einem Kind im Halbschlaf, das da träumt, die Stimme der Weltmutter neben sich zu hören? Welch ein tiefer Sinn in diesem Bild! Denn wahrlich: mitunter klingt die Stimme so, als ob sie die Stimme einer Mutter wäre, mitunter aber auch nicht. Manches glückliche Herz hört wohl den "weichen, herzlich liebevollen Klang". Aber GUYAUs Herz ist nicht glücklich. Es ist das Herz eines um sein Lebensrecht von der Natur grausam Betrogenen. Und so vernimmt denn dieses "Kind" einen fernen, fremden, wenn nicht harten und grausamen Klang.
    Ich höre deine Stimme weit und breit,
    Doch immer fehlt der mütterliche Klang.
Diese Mutter, die große, göttliche, weltdurchwaltende, fühlt nichts für uns, liebt uns nicht, fragt nicht, ob wir froh sind oder leiden.
    Selbst wenn du lachst, wird mir die Seele bang,
    Und Achtung nur gemischt mit Traurigkeit
    Flößt mir dein Anblick ein. Schlägt denn kein Herz
    In deiner Brust? Bist du nur fruchtbar ohne Liebe?
    Unfühlend deiner Kinder Schmerz und Glück?

                    -   -   -   - Tönt von dir denn nie
    Ein Laut zu mir, den ich empfinde und verstehe?
    Ja siehst du mich auch nur? Weißt du, daß hier
    Ein Wesen lebt, das niemals gleich dem Tier
    Zufrieden ist, wenn es genießt und lebt?
    Das wissen will, und dessen Herz erbebt
    In Liebessehnsucht, das die Arme breitet
    Dich zu umfassen, und erschüttert steht,
    Wenn ihm dein Körper wesenlos entgleitet.
Das Gedicht endet in tiefstem Pessimismus. Diese theistische Fiktion hat versagt, so modern naturalistisch sie auch gefaßt war. GUYAU weiß weohl, daß sie für manchen, für viele gilt und fruchtbar ist, für den Träumer, den Poeten, der wähnend und schwärmend sich ihr naht und dann ohne Klagen seinen Jammer trägt, an jedem Abend ruhig einschlafend, der Mutter Wort noch im Ohr tragend.
    Doch wenn der Mensch aus seinem Traum erwacht,
    Abschüttelnd seines  Wahnes  lange Nacht,
    Wer wird dem Schwankenden die Hände reichen?
    Und welche Stimme tönt ihm dann entgegen?
    Wird sie der mütterlichen lieben gleichen?
    Wirst du, Natur, im Frühlingsblütensegen,
    Im Glanz der hellen Tage uns erscheinen,
    Ganz so, wie wir dich hoffen, wähnen, meinen,
    Der Mutter gleichend? Oder wirst du dich
    Endgültig als die kalte offenbaren,
    Gleichgültig gegen die, die sind und waren,
    Wie eine feile Amme fühllos mich
    Und alle wiegend, Lebende und Tote?
Die "Verse eines Philosophen" entstanden verhältnismäßig früh, 1881, unter dem seelischen Tiefdruck der ersten schweren Erkrankung. Sie gehören in ihrer ungeheuren Trauer doch wohl zum Tiefsten, Ergreifendsten, was philosophische Poesie in der Neuzeit hervorgebracht hat. Sieben Jahr hat GUYAU nachdem noch gelebt und geschrieben. Ein "nescio quid amari" [Ich weiß nicht was Liebe ist - wp] schwebt über allen seinen Schriften. Aber die "Irreligion" (1887), GUYAUs letztes Werk, tritt doch etwas hoffnungsvoller an die religiösen Fiktionen heran. Theismus und Pantheismus werden im Schlußteil der "Irreligion" als wichtigste metaphysische Hypothesen behandelt. GUYAU bedauert, daß die meisten Menschen keine Wahl zu haben scheinen zwischen einer bestimmten Religion und dem Atheismus. Das religiöse Denken offenbar sich in hundert Weisen. Warum das Freidenkertum nicht? Viele Freidenker glauben aufrichtiger an das Dasein Gottes und an die Unsterblichkeit der Seele, als manche angeblich Gläubige.
    "Muß VOLTAIRE nicht geradezu naiv genannt werden, als er sich nach einem Sonnenaufgang getrieben fühlte, das Dasein Gottes zu bestätigen, sich also hinreißen ließ,  eine  Gewißheit aus einer Gemütsbewegung zu folgern?!"'
Priester und Offenbarungsglaube mögen dahinsinken, doch schließt dies "eine innerliche und persöniche intuitive Anschauung" nicht aus. Dogmen lösen sich auf, "der theistische Geist aber kann sie in seinen reinsten Äußerungen überdauern".

GUYAU zerlegt diesen theistischen Geist in Ideen, nämlich in die Schöpfungsidee, Vorsehungsidee und Allmachtsidee. Alle drei werden als "Dogmen" theoretisch widerlegt. Ein "erst göttlicher Anstoßgeber" ist eine Jllusion, genauso wie die Ruhe des Luftatoms illusorisch ist (Seite 401). Auch der Tod ist eine "illusion", d. h. Täuschung.
    "Tod ist nur, wo Leben ist, und auch dieser Tod ist nur ein vorübergehender Zustand, ein Intervall zwischen zwei Metamorphosen. - - Einen wirklich toten Punkt gibt es nicht im All. Nur mittels eines  Denkkunstgriffs  haben die Religionen die Vernichtung, den Tod, jene schließliche Folge des Lebens, an den Anfang der Dinge stellen können, um darauf eine schöpferische Kraft eingreifen zu lassen. Ihre Schöpfung ist ein Auferstehen nach einem  fiktiven  Tod. Das Sein ist nicht aus dem Nichts hervorgegangen. Vielmehr ist das Nichts nur eine Art,  das Sein zu sehen  oder noch richtiger eine  einfache Jllusion des Denkens." 
Der Tod und das Nichts werden hier also ausdrücklich als Fiktionen bezeichnet (2). GUYAU setzt anstelle der Schöpfungsidee die SPENCERsche Evolutionsidee.

Was nun die Zukunft des Theismus anlangt, so meint GUYAU, daß die "theistische Hypothese" nur aufrecht erhalten werden kann, wenn sie von allen kindischen und rohen Vorstellungen befreit wird und wenn das theistische Prinzip als von der Welt nicht abgetrennt dargestellt wird.
    "Der Theismus wird sich, um nicht ganz unterzugehen, auf  die denkbar vagste Bestätigung  eines dem Geist analogen Prinzips als der geheimnisvollen Wurzel der Welt und ihrer Entwicklung zurückziehen müssen. - - Die Ideen über Schöpfung und Vorsehung werden sich mehr und mehr zu der  Vorstellung  einer  allen - - Wesen eigenen spontanen Aktivität  gestalten. - - GOtt ist der menschliche  Ausdruck, mit welchem bezeichnet wird,  was die Bewegung der Welt in der Richtung auf den Frieden, die Eintracht und Harmonie möglich macht. - - Ist auch eine Einigung hinsichtlich des aktuellen Daseins Gottes nicht zu erzielen, so winkt doch stets  die  Zuflucht in seine progressive Existenz, in das Werden Gottes, die Verwirklichung des Ideals, das allmähliche, unablässige Niedersteigen des Heilands zur Erde' und zu den Welten. Das Vorgefühl dessen, was werden wird, und das Gefühl der bereits aktuell gewordenen göttlichen Gegenwart vermischen sich zu der Empfindung, das  Ideal lebendig werden zu sehen  und seinen Odem zu fühlen."
GUYAU verweist dann (Seite 416) ausdrücklich auf KANTs "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" und meint (Seite 417), eine Moralphilosophie im Sinne der Kantianer erweise sich jedenfalls als "die annehmbarste Form theistischer Doktrin". Nur störe bei KANT der Absolutheitscharakter der Pflicht.
    "Die Zukunft wird zweifellos anstelle des Gesetzes ein Ideal über die Dinge stellen,  ein Ideal mit so starker Anziehungskraft auf unser Wollen und Denken wie eine sogenannte  Kraftidee  nur ausüben kann (3). - - Dann wird der Glaube an das Göttliche keine passive Anbetung mehr sein, sondern sich in Taten aussprechen, wie auch der Vorsehungsglaube - - ein Bemühen sein wird, durch menschliches Eingreifen ein höheres Maß an Gerechtigkeit und Güte in die Welt zu bringen."
GOtt werde "des Menschen teures  Ideal,  die Verwirklichung seines ahnend erschauten Werkes, sein  Traum  von Fortschritt und Vollkommenheit" geworden sein (Seite 419). Der Standpunkt GUYAUs liegt also, wie aus diesen Stellen hervorgeht, ungefähr in der Richtung SCHILLERs oder F. A. LANGEs.

2. Das zweite große "Als Ob" GUYAUs ist  kulturphilosophischer  Natur. Theoretisch ist er mit SPENCER überzeugt, daß alle Evolution notwendig mit einer Dissolution verknüpft ist, daß die Erde mitsamt der Menschheit und allen von ihr errungenen Kulturgütern eines Tages untergehen wird. Dennoch lebt, handelt und schreibt er so,  als ob  sein und der Menschheit Werk unvergänglich wäre.

Bei einem Denker, dessen gesamte Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Lebens und der Entwicklung steht und von hier aus ihre persönliche Note empfängt, muß begreiflicherweise diese kulturphilosophische Fiktion von der Unvergänglichkeit des Menschenwerks rein persönlich genommen eine große Rolle spielen. So erklärt sich das schöne GUYAUsche Wort, das wir als Motto über unsere Arbeit setzten: "Ich bin gewiß, daß mein Werk nicht im Unendlichen zergehen wird, wie ein Dampfwölkchen im dunklen Blau des Äthers." Alles was GUYAU geschrieben hat, ist von dieser persönlichen "Gewißheit" getragen. Aus ihr quillt ihm die Kraft, seine moralische Position als schaffender Mensch aufrecht zu erhalten. Wissenschaftlich freilich beschreitet er auch hier andere Wege. Wie er den Unterschied von Hypothese und Fiktion logisch nicht begriffen hat, so sehen wir ihn in der "Irreligion", wo er diese Fragen behandelt (4),  theoretisch  gegen den kulturphilosophischen Pessimismus vorgehen,  theoretisch  die Möglichkeiten einer Überwindung der Dissolution [Auflösung - wp] erwägen,  Tatsachen  beibringen, aus denen wir Hoffnung schöpfen können, statt wie im Gedicht "Der Wahn" bewußt zur "illusion féconde" [fruchtbare Jllusion - wp] seine Zuflucht nehmen. Nur  zwischen  den Zeilen,  im Hintergrund  dieser wissenschaftlichen "Induktionen", erhebt sich richtunggebend das, was wir das persönliche "Als Ob" GUYAUs nannten. Zuletzt ist GUYAU immer Intellektualist. Er leidet an einer "Hypertrophie [Übermaß - wp] des Gehirns", der Krankheit seines Jahrhunderts, wie er sie in der "Irreligion" (Seite 432) in einem gewaltigen Gleichnis geschildert hat. Intellektualismus in der Verzweiflung, nach letzten Auswegen suchend, das ist die Form des Denkers GUYAU, der mit dem Menschen vergebens versucht hat, eins zu werden.
    "Wenn die Entwicklung  als durch  eine Vorsehung geleitet aufgefaßt werden kann,  als habe sie  von Anfang an ein Ziel verfolgt -  eine metaphysische Hypothese, (!) die sich leider auf keine wissenschaftliche Induktion stützt -, so darf auch der Vorstellung Raum gegeben werden, sie ziele auf Wesen hin, die fähig sind, sich selber ein Ziel zu stecken, ihm zuzustreben und die Natur nach sich zu ziehen." (Seite 462)
Ist es möglich, die Aufwärtsentwicklung zu einer dauernden zu machen, die Evolution durch die zu einer höheren Stufe gelangten Wesen zu lenken? (Seite 463) Das ist nach GUYAU "die höchste Idee, die Moral und Metaphysik fassen können".
    "Um das Meer zu überfliegen, bedarf der Vogel einer gewissen Flügelweite. Von ein paar Federchen hängt sein Schicksal ab. Ehe ihre Flügel Kraft genug erlangt hatten, sind die Vögel, die sich zu weit von der Küste entfernt hatten, elend zugrunde gegangen. Eines Tages aber waren ihre Flügel genügend erstarkt und trugen sie über das Meer. Wüchsen auch der Welt die Flügel und erhöhte sich das Bewußtsein in ihr, dann entstünden vielleicht Wesen mit der Fähigkeit, die Ewigkeit zu durchmessen, ohne zugrunde zu gehen, und die Evolution könnte vor Rückschritten sichergestellt werden, womit zum erstenmal im Entwicklungsgang des Universums ein definitives Resultat erzielt worden wäre. Die vielfach tiefe Symbolik der Griechen bezeichnet den GOtt der Zeit als den Vater der Welt. Die Kraft der Evolution, die wir Kinder einer neuen Zeit an die Spitze aller Dinge setzen, ist gleichwohl der alte  Saturnus  noch immer, der da zeugt und verschlingt. Welches seiner Kinder wird ihn überlisten und besiegen? Wo ist der  Jupiter,  der eines Tages seine junge Kraft genug gestählt fühlen wird, um die göttliche und furchtbare Macht, die ihn erzeugte, zu übermannen? Die Aufgabe, die dieser Neugeborene des Alls, dieser GOtt des Lichts und der geistigen Kraft zu lösen hätte, bestände darin, die ewige blinde Zerstörung zu begrenzen, ohne die ewige Fruchtbarkeit zu hemmen." (Seite 465)
GUYAU meint, daß solche Spekulationen zwar  ultrawissenschaftlich,  nicht aber  antiwissenschaftlich  sind. Sie laufen aus in der Hypothese eines "interkosmischen Bewußtseins", einer "universellen Soziabilität" (Seite 472), in der die "Planetenbrüder" durch eine freie interstellare Gedankenübermittlung das errungene Weltwissen unabhängig machen vom Untergang des einzelnen Weltkörpers. Könnte man sich einen gewaltigeren Kulturimpuls für die verschiedenen planetarischen Menschheiten denken, als eine solche zur lebendigen Fiktion gewordene Hypothese einer einheitlichen Weltkultur? GUYAU endet aber wie immer beim Gegenbeweis, hier dem Argument von der "Ewigkeit a parte post" [ohne Grenzen in der Zukunft - wp]. Bis zum heutigen Tag ist eine Ewigkeit abgelaufen und diese Ewigkeit hat nichts besseres zu erzielen vermocht als diese Welt (Seite 466). Dazu die ungeheuer trennende Kraft des Raums! Unsere fernen Brüder, die vielleicht längst weiter gekommen sind als wir, haben uns noch keine sichtbaren Zeichen ihrer Existenz gegeben. Wieder bleibt nur die Hoffnung, das Ende des "Wahns".

3. Das dritte persönliche "Als Ob" GUYAUs ist die  Unsterblichkeit  (5), die dritte der kantischen "Ideen". Und hier nun kommt GUYAU dem Fiktionismus, wie er in Deutschland begründet worden ist, am nächsten. Der Gegenstand drängt unweigerlich dazu. Zunächst freilich sehen wir ihn wieder  "mutmaßen" (Seite 473f) und "träumen". Läßt sich auf dem Boden der evolutionistischen Philosophie "ein höheres Leben oder auch nur die wissenschaftliche Wahrscheinlichkeit eines solchen nachweisen"? Wieviel Hoffnung auf Unsterblichkeit läßt der Evolutionismus zu? Die Antwort lautet ziemlich klar und deutlich: gar keine. Das schöne Gleichnis von den Getreidekörnern des Pharao, die fünftausend Jahre im Grab einer ägyptischen Mumie geschlummert hatten, ohne daß der Keim des Lebens in ihnen vertrocknet war, - es bleibt ein Traum (Seite 482)
    "Es ist klar, daß die Individualität von der Wissenschaft  keine  Beweise für ihre Fortdauer verlangen oder erwarten kann. - - Die modernen Gelehrten gehören zu denen, die alle Hoffnung hinter sich gelassen haben, wie  Paulus  gesagt hat."
Dabei kann aber der Mensch GUYAU nicht stehen bleiben.
    "Sollen wir nun fröhlichen Herzens in das Opfer des Ich willigen, ohne innerliche Empörung für das universelle Leben sterben? - Solange es sich um das eigene Ich handelt, mag der Mensch noch leichten Herzens zum Opfer schreiten. Aber der Tod anderer, die Vernichtung derer, die er liebt, ist unannehmbar für die Menschen  als denkendes und seiner Natur nach liebendes Wesen. - Es bleibt die Frage offen,  ob meine Vernunft und mein Gefühl sich,  wie die Stoiker behaupten,  zufrieden geben müssen mit dem, was natürlich und wissenschaftlich ist.  Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, so will ich in ihm nicht nur das Vergängliche lieben, sondern ich löse seinen geistigen Teil aus der physischen Umschließung - - und klammere mich daran,  wie wenn er unvergänglich wäre.  Ich verbessere, ich schaffe die Natur um,  ich gehe mit meinem Denken über die Brutalität ihrer Gesetze hinaus. - - Wenn dann die Naturgesetze - - doch gewalttätig vernichtend eingreifen, wen kann es Wunder nehmen, daß meine Liebe sich auch noch gegen sie zu behaupten sucht und meine Seele Schmerzen leidet? - -  Im moralischen Schmerz steht der Wille gegen die Natur auf,  arbeitet und müht sich ab, um wieder gut zu machen, was die Natur schlecht gemacht hat. - - Seine Aufgabe hienieden ist, unserer physischen Natur  unser moralisches und soziales Ideal unaufhörlich entgegenzuhalten  und durch den Kontrast zwischen beiden unsere Natur zu zwingen, an ihrer eigenen Vervollkommnung zu arbeiten." (Seite 485f)
GUYAUs Betrachtung endet mit einer Fragestellung (Seite 487), wie seine ganze Philosophie.
    "Die Wissenschaft ist bereit, im Namen der natürlichen Evolution das Individuum zu opfern. Die Liebe möchte es im Namen einer höheren, moralischen und sozialen Evolution bewahren. Hierin liegt eine der  beruhigendsten Antinomien, vor die sich der philosophische Geist gestellt sieht.  Gehört der Wisenschaft der volle Sieg, oder dürfen wir glauben,  daß auch im sozialen Instinkt,  dieser Grundlage aller Liebe,  etwas Wahres liegt,  wie sich in allen anderen großen Naturinstinkten eine Vorahnung der Wahrheit findet?"
Die "Philosophie des Als Ob" hätte GUYAU einen Weg weisen können, diese beunruhigende Antinomie aufzulösen.
LITERATUR, Ernst Bergmann, Der Begriff der Illusion und des "metaphysischen Wagnisses" in der Philosophie J.-M. Guyaus, in "Annalen der Philosophie" hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920
    Anmerkungen
    1) JEAN-MARIE GUYAU, Verse eines Philosophen, Seite 74-78
    2) Die von GUYAU gebrauchten französischen Ausdrücke können wir leider in Ermangelung des Originaltextes nicht beifügen.
    3) Inwieweit sich hinter ALFRED FOUILLÉEs "Kraftidee" (idée force) der Begriff der Fiktion verbirgt, kann hier nicht untersucht werden. Vgl. A. FOUILLÉE, Der Evolutionismus der Kraftideen, deutsch von RUDOLF EISLER, Leipzig 1908.
    4) Über das Schicksal der Welten, Seite 459-472
    5) Über das Schicksal der Welten, Seite 473-502: "Die Bestimmung des Menschen und die Hypothese der Unsterblichkeit im monistischen Naturalismus."