ra-3W. LexisK. KniesE. JonakA. QueteletA. Wagner    
 
GUSTAV von RÜMELIN
Zur Theorie der Statistik
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"Die Worte  status, état, state, heißen nicht  Zustand, sondern  Stand. Der Stand ist derjenige Punkt einer von einem Gegenstand durchlaufenen Bahn, auf welchem dieser sich im Augenblick der Betrachtung befindet, wie wir vom Stand der Sonne, der Papiere, eines Prozesses reden. Die Sprachen, die sich auf diesen Ausdruck der Sache beschränken, vermögen also vom richtigen Bewußtsein des heraklitischen Satzes  alles fließt keinen Augenblick zu abstrahieren. Im Wort  Zustand dagegen sehen wir von einer vorangegangenen und nachfolgenden Bewegung des Gegenstandes, sowie von allem Verhältnis zu anderen Gegenständen ab und vergleichen ihn nur mit sich selbst, d. h. mit der normierenden Vorstellung, die das betrachtende Subjekt dazu mitbringt. Der Zustand eines Dings ist die Gesamtheit seiner gleichzeitigen Merkmale, verglichen mit unserer Forderung an dasselbe. In diesem Sinne ist es, daß wir mit dem Wort  Zustand in der Regel nur Prädikate, die ein Werturteil enthalten, verbinden, von einem guten oder schlechten Zustand reden. Hierbei kommt natürlich alles auf den mitgebrachten Maßstab an."

[Fortsetzung]

So kommen wir dann auf die schon früher genannten Erfahrungswissenschaften vom Menschen zurück, zu denen sich die Statistik als ihre gemeinsame Hilfswissenschaft verhält. Sie lassen sich einteilen in die Lehren vom naturgeschichtlichen und vom geschichtlichen Menschen. Der Mensch kann entweder betrachtet werden nach seinem allgemeinen Gattungscharakter, nach der ursprünglichen und konstanten Ausstattung und Begrenzung seiner Natur. Hieraus entstehen die anthropologischen Disziplinen, die sich dem Stoff nach in die somatologische und psychologische und dann vielleicht je wieder in eine physiologische und pathologische Seite teilen. Eine zweite Betrachtungsweise ist nun aber: wie stellt sich dieser naturgeschichtliche Mensch in der Wirklichkeit dar, oder was ist aus der Menschheit infolge des menschlichen Zusammenlebens unter den geographischen Einwirkungen ihrer Wohnsitze im Verlauf der Jahrhunderte geworden? Der Anthropologe als der Lehre vom natürlichen Menschen tritt die Geschichte in einem weiteren Sinn des Wortes als die Lehre vom empirisch gewordenen Menschen gegenüber. Sie bildet jedoch, so wenig wie die Lehre von der Natur,  eine  Wissenschaft; was man Universalgeschichte zu nennen pflegt, ist selbst nur ein Teil davon. Der unabsehbare Stoff löst sich, wie der der Natur, vermöge der Schranken der menschlichen Erkenntnis in eine Reihe mehr oder weniger selbständiger Gruppen auf. Und zwar bieten sich der natürlichen Betrachtung zunächst zweierlei Arten von Gruppen dar, eine von Subjekten und eine von Objekten, oder eine der Individuen und eine der Lebenskreise. Man kann nämlich entweder natürliche Gemeinschaften von Individuen ins Auge fassen und sodann ihre Eigentümlichkeiten durch alle Lebensgebiete hindurch verfolgen und im Zusammenhang aller Erscheinungen darstellen. Oder man kann bestimmte Lebensgebiete, die einzelnen, für unsere Betrachtung sich aussondernden Seiten der menschlichen Existenz aufsuchen und sie dann durch alle Individualgruppen hindurch vergleichen und wissenschaftlich zu begreifen suchen. Die natürlichen und gegebenen Gruppen von Individuen sind die Völker, sofern sie ihr gesellschaftliches Leben in einer einheitlichen Spitze zusammenfassen und als Staaten besondere Persönlichkeiten und Glieder der Menschheit bilden. Es lassen sich dann ganze Gruppen von Völkern oder einzelne Teile in ähnlicher Weise betrachten. Die verschiedenen Lebensgebiete dagegen, die sich zum Gegenstand einer abgesonderten wissenschaftlichen Behandlung eignen, sind nicht erschöpfend aufzuzählen; es läßt sich zumindest nach dem jetzigen unvollkommenen Stand der Psychologie und der sozialen Wissenschaften nicht abgrenzen, was sich alles an einem vielgestaltigen Menschenleben zu einer besonderen Gruppe wissenschaftlich verbundener Objekte zusammfassen läßt. Stünde die Psychologie auf festeren Fundamenten, als es der Fall ist, so würden sich aus ihre die natürlichen Lebensgebiete von selbst ergeben, da jedem Grundbedürfnis der Menschennatur auch eine soziale Verwirklichung entsprechen muß. So läßt sich nur sagen, daß sich das wirtschaftliche, geschlechtliche, gesellige, das intellektuelle Leben in seinen drei Gliedern, Sprache, Wissenschaft und Kunst, das sittliche, das religiöse, schließlich alle Lebenskreise ordnende politische Leben von selbst als solche besondere Sphären wissenschaftlicher Behandlung, die in Grundrichtungen der Menschennatur wurzeln, darbieten. Es läßt sich aber auch auf den Bildungsprozeß der Menschheit selbst der Blick richten, z. B. auf die geographischen Einwirkungen, auf die Fortpflanzung des Bildungskapitals durch Tradition und Erziehung usw. und unter jedem solchen Gesichtspunkt gruppiert sich das empirische Material wieder anders. Das Universum und insbesondere die Menschenwelt hat nirgends scharfe Grenzlinien; der Linien, die die menschliche Beobachtungsweise darin ziehen kann, sind unzählige; jede wird an irgendeinem Teil fließend oder willkürlich sein.

Alle diese Wissenschaften nun, sowohl die, die den natürlichen, wie die, die den geschichtlich gewordenen Menschen und letzteren nach Gruppen von Individuen oder von Objekten betrachten, sind Erfahrungswissenschaften und beruhen, wie die Naturwissenschaften, auf Induktion; sogar noch mehr, als diese, weil die deduktive und mathematische Behandlung in der unorganischen Welt einen weit größeren Spielraum hat als in der organischen. Alle haben daher empirische Objekte zu beobachten und in ihnen die konstanten Ursachen oder Gesetze aufzusuchen; d. h. sie haben einen empirischen und einen ätiologischen [Entstehung einer Krankheit betreffenden - wp] Teil und jeder Irrtum hat stets seinen Grund darin, daß entweder mangelhaft beobachtet oder falsch geschlossen worden ist. Der empirische Teil ist nun aber selbst wieder von zweierlei Art. Der Gegenstand wird entweder so, wie er sich der gegenwärtigen Beobachtung in der Breite seiner gleichzeitigen räumlichen Ausdehnung und Erscheinung darbietet, ermittelt, oder es wird seine Entstehung und Entwicklung in der Zeit aufgesucht. Das erste nennen wir den graphischen, das zweite den historischen Teil der hier besprochenen Wissenschaften. Und hier nun eben dieser graphische, auf Beobachtung beruhende Teil jener Wissenschaften ist der Ort, an dem die Statistik ihr Heimatrecht hat. Sie fällt nicht mit demselben zusammen, aber sie ist ganz in demselben enthalten. Jene individuelle Beobachtung nämlich, der wir die Statistik, als die universelle gegenübergestellt haben, ist nicht überhaupt ausgeschlossen und unbrauchbar für wissenschaftliche Zwecke; sie wird nur immer etwas Unsicheres, für sich allein Ungenügendes haben; auch gibt es unzweifelhaft Einzelheiten, denen eine typische Bedeutung beigelegt werden kann; und der Geist und Takt, mit welchem der Forscher von seiner individuellen Erfahrung und den typischen Einzelheiten Gebrauch zu machen weiß, wird schließlich immer von entscheidender Bedeutung für das Maß seiner wissenschaftlichen Befähigung bleiben. Allein das statistische Verfahren, die universelle Beobachtung ist es, was die subjektive Erfahrung, die Hypothese zu ergänzen und zur wissenschaftlichen Erkenntnis zu erheben hat.

So erscheint dann die Statistik auch in diesem Zusammenhang wieder als die gemeinsame Hilfswissenschaft für die empiriologische und zwar graphische Seite der Wissenschaften vom Menschen. Bei dem engen Zusammenhang derselben dient sie in der Regel durch  eine  Klasse von Beobachtungen mehreren von ihnen zugleich. Denn jede gesellschaftliche Tatsache wird teils die Gruppe von Individuen, welche das Feld der Beobachtung bildete, teils die bestimmten Lebensgebiete, denen das Objekt der Beobachtung angehört, teils näher oder entfernter die menschliche Gattung charakterisieren, und jedenfalls immer dabei noch eine historische Bedeutung haben. Eine Ermittlung der irischen Auswanderung z. B. wird dem Ethnographen, dem Politiker, dem Nationalökonomen, dem Populationistiker, dem Psychologen und dem Historiker Stoff zu wissenschaftlicher Betrachtung sein können. Die Statistik hat im Allgemeinen zu all diesen Fächern die gleiche Stellung; und es ist zufällig, in wessen Diensten ihre Institute am meisten in Anspruch genommen werden. Allein es gibt allerdings  eine  Disziplin, der sie näher steht, als allen anderen, die notwendig ihr erstes und nächstes Objekt bildet. Wenn nämlich die Statistik eine bestimmte Gruppe von Individuen als das Feld ihrer Beobachtung absteckt, so ist es eine jeder andern vorausgehende Aufgabe, dieses Terrain selbst zu untersuchen und zu bestimmen; sie muß den Grundbestand ihres Beobachtungsfeldes konstatieren, d. h. die Individuen jener Gruppe zählen, nach den fundamentalsten physiologischen Momenten, Geschlecht und Alter, unterscheiden, die durch Geburten und Sterbefälle, Ab- und Zuzug bedingten Fluktuationen des Grundbestandes ermitteln, woran sich noch die Berücksichtigung der elementarsten gesellschaftlichen Unterschiede, des Familienstandes, des Berufs, des Charakters der Wohnplätze etc. leicht anschließt. Das fundamentale Objekt der Statistik ist hiernach die Bevölkerung; es ist das erste und wichtigste Merkmal der menschlichen Gemeinschaften, das sie zu ermitteln hat und sie kann ohne diese Grundlage keinen weiteren Schritt mit nur einiger Sicherheit tun; auch kann keine der anderen Wissenschaften ohne Beachtung dieser Grundlagen von den statistischen Ergebnissen über irgendeinen Punkt Gebrauch machen. Darum fällt aber gleichwohl die Bevölkerungslehre nicht mit der Statistik zusammen; sie ist nur aus ihr hervorgegangen und ihre erste Frucht. Die Statistik ist überhaupt keine eigentliche Lehre, sondern wissenschaftliche Praxis, wie etwa die Hermeneutik und Kritik; ihre Lehre kann nur aus ihrer Theorie, aus Betrachtungen, wie die vorliegende, bestehen; ähnlich wie eine Lehre der Hermeneutik nur methodologischen Inhalts sein kann. (1)

Hieraus ist zugleich klar, daß die Statistik stets nur mit der Gegenwart zu tun hat. Vergangenes läßt sich nicht beobachten, sondern nur durch Konklusion ermitteln aus Spuren, die es zurückgelassen hat, aus Zeugnissen, die davon übrig sind. Eine Statistik vergangener Zeiten ist bei unserer Definition so wenig herzustellen wie eine Hermeneutik verlorener Bücher. Was man so zu nennen versucht sein kann, ist in Wahrheit etwas anderes. Man kann allerdings z. B. eine Bevölkerungsstatistik einer Stadt, eines Bezirkes oder Landes für das Jahr 1600 nachträglich fertigen, wenn sich die Kirchenbücher oder andere Urkunden von jener Zeit noch erhalten haben. In diesem Fall liegen aber die Beobachtungen selbst noch aus jener Zeit vor, die nur nachträglich geordnet und etwa durch Schlüsse aus Sätzen der Bevölkerungslehre ergänzt werden. Hierin liegt zugleich, daß jede statistische Ermittlung mit dem Augenblick ihrer Vollendung bereits begonnen hat, der Geschichte anheimzufallen, aber nicht um hier wie in einem Abgrund zu verschwinden, sondern um als schätzbarstes Material der Geschichte selbst und anderer Wissenschaften einen dauernden Wert zu behaupten.

Es fragt sich nun aber doch, wie sich die Aufgabe der Statistik in ihrem Verhältnis zu den Erfahrungswissenschaften vom Menschen näher gestaltet, bis zu welchem Punkt sie die Beobachtung fortzuführen, in welchem Zustand sie deren Ergebnisse an die anderen Wissenschaften abzuliefern hat. Wäre ihr Geschäft mit der Beobachtung und Zählung gewisser gleichartiger Einzelfälle abgeschlossen, so würde sie den Namen einer Wissenschaft nicht in Anspruch nehmen können, wiewohl auch zur Anordnung und Leitung einer statistischen Aufnahme immer noch mancherlei Kenntnisse und administrative Fähigkeiten erforderlich sind; sie verhielte sich dann zu jenen Wissenschaften im Grunde doch nicht anders, als der Kräutersammler zur Botanik. Wir haben daher oben schon gesagt: die Aufgabe der Statistik sei die Ermittlung von Merkmalen oder die Charakteristik menschlicher Kollektivbegriffe aufgrund universeller Beobachtungen und Zählungen. Der Statistiker muß die Zahlen, die er mitteilt, zugleich interpretieren, als ein Merkmal der Gruppe, welcher sie entnommen sind, nachweisen. Wir wollen das am nächstbesten vulgären, zufällig sich darbietenden Beispiel zu zeigen suchen. Nach der Aufnahme des Viehbestandes von 1861 ergaben sich für Württemberg 96 000 Pferde, so und so viel unter, so viel über drei Jahre, so viel in diesem Ort, Bezirk, Kreis, so viel in jenem. Solche Zahlen sind stumm; der Leser und Hörer vermag zunächst nicht mehr dabei zu denken, als wenn man ihm sagte: das Pferd heißt auf tamulisch so und so. Er weiß gleich von vornherein nicht: ist dies nun viel oder wenig? Der Statistiker hat nun den stummen Zahlen den Mund zu öffnen. Er wird zeigen, daß zur Würdigung jener Zahl zunächst ein doppeltes Verhältnis zu beachten ist, das zum Areal, und zwar speziell zum landwirtschaftlich benützten, sodann das zur Bevölkerung, und daß zwischen diesen beiden Gesichtspunkten eine umgekehrte Proportion Platz greifen muß, sofern, je mehr Menschen auf einer bestimmten Fläche ihre Nahrung zu erzeugen haben, umso weniger Pferde  ceteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp] noch ihre Nahrung darauf finden können. Er wird nun unter diesem doppelten Gesichtspunkt den Pferdestand anderer Länder, zunächst der benachbarten und der deutschen, vergleichen, Württemberg seinen bestimmten Platz in ihrer Reihe ermitteln und so schließlich etwa zeigen, daß es der absoluten Zahl nach im Vergleich zum Areal hinter dem Durchschnitt der deutschen Länder noch zurücksteht, daß aber relativ genommen nur noch Sachsen unter allen deutschen Ländern auf dichter bevölkerter Fläche eine größere Pferdezahl ernährt, somit jener württembergische Pferdestand schon im Allgemeinen als ein Merkmal von Fruchtbarkeit und intensivem Anbau erscheint. Im Rückblick auf frühere Zählungen wird sodann der Statistiker zeigen, daß die neueste Zahl zwar gegen den Stand der vorangegangenen Zählungen eine namhafte Vermehrung enthält, doch immer noch nicht unbedeutend gegen die Pferdezahl der 30er und 40er Jahre zurücksteht, im Großen und Ganzen jedoch beim Rückblick auf eine 40jährige Periode die Zahl ziemlich stationär erscheint im Verhältnis zur Bevölkerung somit immer mehr zurückbleibt. Aus der Zahl der Pferde unter drei Jahren läßt sich noch schließen, ob das neuerliche Anwachsen auch für die nächste Zukunft in Rechnung zu nehmen ist. Um sodann die Gründe dieser Veränderungen näher zu erkennen, wird man auf die verschiedenen Zwecke, denen die Pferde dienen, zu achten, durch einen Vergleich der Ortslisten die Militär-, Luxus-, Verkehrspferde von den für die Landwirtschaft verwendeten zu unterscheiden und nachzusehen haben, auf welche dieser Klassen und auf welche Bezirke eine Zu- oder Abnahme fällt, welche Wirkung insbesondere z. B. die Eröffnung der verschiedenen Eisenbahnlinien getätigt hat; an jede Ab- oder Zunahme einer jener Rubriken werden sich mancherlei wichtige Folgerungen und Aufschlüsse anreihen. Indem sodann auf die Unterschiede in den einzelnen Landesteilen geachtet wird, ergibt sich, daß jene Gesamtzahl von 96 000 Pferden sich aus den verschiedenartigen Einzelsummen zusammensetzt, daß fast alle Abstufungen von den pferdereichsten bis zu den pferdeärmsten Gegenden im Land vertreten sind, und daß in jeder derselben die Pferdezahl der getreue Spiegel der agrarischen Verhältnisse ist. Im Anschluß an die populäre und hergebrachte Unterscheidung des Roßbauern vom Ochsen- und Kuhbauern gibt der Vergleich der Pferdezahl mit dem landwirtschaftlichen Areal in ländlichen Bezirken die natürlichsten Anhaltspunkte für den Vergleich der Größe der bäuerlichen Besitzungen. Wo 4 - 500 Pferde auf der Quadratmeile der Landwirtschaft dienen, wie in Oberschwaben, können weder Großgüter noch Zwergwirtschaften vorherrschen, wo nur 70 - 80, muß die Zahl der ansehnlicheren Bauerngüter sehr klein sein. Zwischen diesen Extremen nimmt dann jeder Landesteil und Bezirk seine bestimmte Stelle ein. Man wird die größeren Pferdestände nicht in den Gegenden des Wein- und Gartenbaus, der Güterzerstückelung, nicht in den Wald- und Gebirgsregionen, nicht in den Umgebungen der größeren Städte und Industriebezirke suchen. Unter diesen Gesichtspunkten wird zuletzt jede einzelne Zahl bedeutsam und markiert eine ganz bestimmte Art von agrarischen Verhältnissen. Aus dem Vergleich der früheren Ziffern ergibt sich, in welchen Landesteilen und in welchem Umfang die Roßbauern sich in Ochsenbauern verwandelt haben, und wo die umgekehrte Bewegung vor sich geht. So verwandeln sich schließlich die Ziffern in deutliche Merkmale des Volkslebens und der volkswirtschaftlichen Verhältnisse; das  numeri loquuntur [Sprache der Zahlen - wp] ist zur Wahrheit geworden, aber eben damit auch die Aufgabe des Statistikers beendet. Wenn jene 96 000 Pferde durch diese, natürlich nur beispielsweise genannten und die Sache nicht erschöpfenden Betrachtungen zu einem charakteristischen Merkmal des württembergischen Volks- und Wirtschaftslebens erhoben sind, so daß den gegebenen Bedingungen weder ein Mehr noch ein Weniger entsprechen würde, so hat er die weiteren Konklusionen, die theoretischen wie die praktischen, Anderen zu überlassen. Er hat allerdings, wie unser Beispiel zeigt, nach dem Kausalzusammenhang zu fragen, und es ist dies sogar nach unserer Ansicht der wichtigste Teil seiner Arbeit, aber er hat nur die konkreten Ursachen der ihm vorliegenden Erscheinungen, nicht die konstanten Ursachen oder Gesetze derselben aufzufinden. Er hat nur die Tatsachen ins Licht zu stellen, aber weder Lob noch Tadel, weder Theoreme noch Ratschläge daran anzuschließen. Die Fragen, welchen Wert überhaupt die verschiedenen agrarischen Systeme haben, ob die größeren oder kleineren bäuerlichen Güter, sei es im Allgemeinen, oder für Württemberg vorteilhafter seien, unter welchen Bedingungen es für den Landwirt ratsam ist, zur Pferdehaltung überzugehen oder dieselbe aufzugeben und ähnliche wird er der Volkswirtschaft, bzw. den landwirtschaftlichen Disziplinen überlassen. Ebenso werden die betreffenden Staatsbehörden zu prüfen haben, ob etwa eine weitere Verminderung des Pferdebestandes im Interesse der Kriegsbereitschaft des Landes nachteilig sein würde, ob derselben aus diesem oder einem anderen Grund entgegengewirkt werden kann und will, ob die Ein- oder Ausfuhr von Pferden zu begünstigen oder zu erschweren sein mag, ob sich der Pferdebesitz zu einem Objekt der Besteuerung eignet usw. Der Statistiker hört auf, Statistiker zu sein und treibt Nationalökonomie, Politik oder Finanzwissenschaft, wenn er auf diese Gebiete hinübertritt. All das vollständig ans Licht zu stellen, was er mit seiner Zahlenreihe in der Hand unter einer vergleichenden Zuziehung anderer zuverlässiger statistischer Erhebungen oder notorischer Tatsachen hinsichtlich der von ihm beobachteten Gruppe beweisen oder vielleicht auch nur zu einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit bringen kann, das ist sein Feld. Es gibt im Ganzen nur wenige statistische Publikationen, in welchen die Summe von Folgerungen, die auf einem solchen Weg in stringenter Weise aus den Zahlen abgeleitet werden könnten, auch nur annähernd gezogen wäre. Tausende dagegen ziehen täglich aus statistischen Aufnahmen die leichtfertigsten Schlüsse. Aus seinen Zahlenreihen korrekt und erschöpfend zu schließen, darin sehen wir die wichtigste Eigenschaft des Statistikers. Nur dem Kundigen öffnet die sonst stumme Zahl den Mund, wie BILEAMs Eselin nur dem Propheten vernehmlich war. Das obige Beispiel von den Pferden gehört zu den einfachsten und greift fast nur in  ein  Fach, das der Volkswirtschaft ein; das Objekt kann aber ebenso leicht der Art sein, daß zu einer genügenden Behandlung physiologische, psychologische, juristische etc. Kenntnisse erforderlich sind. Schon in den Fragen der Bevölkerungsstatistik, z. B. in der Behandlung der Sterbelisten, greifen die mannigfaltigsten und kompliziertesten Verhältnisse ineinander. Es kann nichts unrichtiger sein, als die Meinung, das bloße Zählen und Rechnung und Zahlengruppieren mache schon den Statistiker, er muß eine universelle Bildung mit vielseitigem positivem Wissen, ein großes Kombinationsvermögen mit einer scharfen Logik verbinden; eben das, daß er einer ganzen Gruppe von Wissenschaften zu dienen hat, stellt die Forderung an ihn, zwei Eigenschaften in sich zu vereinigen, die nur durch das Bindeglied einer hohen, allgemeinen Bildung vereinbar scheinen, Präzision des Denkens und eine gewisse Polyhistorie.

Wenn wir nun in der ganzen bisherigen Ausführung das Vorhandensein einer sozialen Hilfswissenschaft, die den Erfahrungswissenschaften vom Menschen durch die Handhabung des methodologischen Mittels der universellen Beobachtung in die Hände arbeitet, konstatiert und begründet und derselben den Namen  Statistik  beigelegt haben, so lassen wir damit jene andere Wissenschaft von den Zuständen der Menschheit oder Völker und Staaten ansich ganz unberührt; und diese müßte bei unserer Auffassung ihren Platz dazu eben unter jenen Wissenschaften, denen die Statistik zu dienen hat, suchen. Nur den Namen haben wir ihr entzogen und auch diesen nicht aufgrund eines etymologischen oder historischen Anspruchs; im Gegenteil würden wir unserer Hilfswissenschaft lieber den bezeichnenden Namen: soziale Empiristik oder einen ähnlichen beigelegt sehen. Nur weil sich der deutsche Sprachgeist, der  usus tyrannus [Sprachgebrauch als Tyrann - wp] nun einmal unzweifelhaft in dieser Richtung entschieden hat, blieb nichts anderes übrig, als das Kind, statt nach seinem rechten Vater, nach demjenigen, der es groß gezogen und adoptiert hat, zu taufen. Eine andere Frage ist es nun aber, ob jene zweite Wissenschaft, die sich bisher auch  Statistik  nannte und von den Männern der Wissenschaft sogar ausschließlich so genannt wurde, den Verlust jenes Namens ebenso leicht verschmerzen wird, wie unsere Hilfswissenschaft darauf verzichten könnte. Auch in der Sozietät der Wissenschaften ist ein alter Name, eine stattliche Firma ein wertvoller Besitz, zumal für denjenigen, mit dessen sonstigen Legitimationspapieren es nicht zum Besten bestellt ist. Das Namenlose ist auch hier recht- und heimatlos, und wo will jene politische Zustandswissenschaft wieder einen so vieldeutigen, proteischen Namen finden, wie  Statistik  mit der doppelten Ableitung von  status,  der Staat und  status,  der Zustand?

Wir haben keinen Zweifel darüber, daß es ein reales, einen besonderen Platz im Kreis der Wissenschaften erforderndes Bedürfnis der menschlichen Erkenntnis ist, dem jene politische Zustandswissenschaft genügen will, aber die große Zahl von vergeblichen Versuchen zeigt, daß es nicht leicht ist, dieses Bedürfnis genau zu bezeichnen und die Aufgabe der ihm entsprechenden Disziplin zu bestimmen. Die Schwierigkeit ist dadurch, daß wir unter dem Namen der Statistik eine methodologische Hilfswissenschaft ausgesondert haben, zwar vermindert, aber noch nicht beseitigt; sie scheint vorzugsweise darin zu liegen, zwischen zwei Abwegen, die nahe aneinander grenzen, die richtige Straße zu finden. Auf der einen Seite liegt die Gefahr, daß man nur ein  mixtum compositum [buntes Gemisch - wp] von Notizen aus Geographie, Geschichte, Staatsrecht, Ethnographie, Bevölkerungslehre, Volkswirtschaftslehre zustande bringt, das eigentlich nicht zu den Wissenschaften, sondern zu jenen mannigfaltigen Komplexen von Wissensstoffen zu rechnen ist, in welchen Stück verschiedener Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten praktischen Bedürfnisses zusammengefaßt werden, wie z. B. Technologie, Handelswissenschaften etc. Das praktische Bedürfnis, das bei solchen Notizensammlungen im Stillen als das einheitliche Band des Ganzen behandelt wird, ist dann etwa das Interesse des Zeitungslesers. Der andere Abweg aber ist, daß man, um aus dem Kreis der Wissenschaften nicht verdrängt zu werden und doch auch von jenem bunten und reichen Stoff nichts fahren zu lassen, eine wissenschaftliche Aufgabe aus so weiten und abstrakten Begriffen formuliert, daß in der Tat  de omnibus et quibusdam aliis [über alles und noch einiges mehr - wp] darin die Rede sein kann.

Auf den letzteren Abweg scheinen uns nun diejenigen geraten zu sein, welche den Inbegriff des Zustandes zum Fundament einer besonderen Wissenschaft machen zu können glauben, die uns jene Doppelgängerin der Universalgeschichte konstruieren, jene Wissenschaft, die sich das Leben der Menschheit als ruhendes Dasein denkt, jene stillstehende Geschichte, die nicht auf das Werden, sondern nur auf das Gewordene achtet und den Bau der Geschichte durch die Zeichnung eines Querdurchschnittes deutlich macht. Wenn in Wahrheit die Geschichte eben einmal nicht stillsteht, wenn das Leben der Menschheit kein ruhendes Dasein ist, sondern ein ruheloses Schaffen am sausenden Webstuhl der Zeit, so kann es auch keine Wissenschaft geben, die berechtigt wäre, sich das so zu denken. Deduktive Wissenschaften kann es geben, die eine Fiktion oder Abstraktion zu ihrem Ausgangspunkt haben, aber eine Erfahrungswissenschaft, die auf einer Fiktion ruht, muß selbst eine Fiktion sein, und eine Lehre vom ruhenden Völkerleben kann es so wenig geben, wie von stillstehenden Strömen. So wenig die Architektonik nur die Lehre von den Aufrissen der Gebäude behandelt und die Lehre von den Querdurchschnitten einer anderen Disziplin zuweist, so wenig greift der Geschichtsschreiber in fremdes Gebiet über, wenn er uns ein Volksleben bald in einer Reihe sukzessiver Begebenheiten, bald in einer Übersicht seiner gleichzeitigen Erscheinungen schildert. Beides sind nur Darstellungsformen, die durch den diskursiven Charakter der menschlichen Erkenntnis bedingt sind.

Es mag vielleicht kleinlich erscheinen und ist doch nicht ohne Bedeutung, wenn wir daran erinnern, daß der Begriff des Zustandes zu einem der deutschen Sprache eigentümlichen, keineswegs in jeder gebildeten Sprache vorhandenen gehört. Nur die an abstrakten Gebilden gleich reiche Sprache der Hellenen hat ähnliche Ausdrücke. Den Terminus der griechischen Grammatiker, den wir im deutschen durch "zuständliche Zeitwörter" wiedergeben, vermochte das Lateinische nur durch die negativen Ausdrücke,  Verba neutra  oder  intransitiva  zu übersetzen. Die Worte  status, état, state,  heißen nicht "Zustand", sondern "Stand". Der Stand ist derjenige Punkt einer von einem Gegenstand durchlaufenen Bahn, auf welchem dieser sich im Augenblick der Betrachtung befindet, wie wir vom Stand der Sonne, der Papiere, eines Prozesses reden. Die Sprachen, die sich auf diesen Ausdruck der Sache beschränken, vermögen also vom richtigen Bewußtsein des heraklitischen Satzes  panta rhei  [alles fließt - wp] keinen Augenblick zu abstrahieren. Im Wort "Zustand" dagegen sehen wir von einer vorangegangenen und nachfolgenden Bewegung des Gegenstandes, sowie von allem Verhältnis zu anderen Gegenständen ab und vergleichen ihn nur mit sich selbst, d. h. mit der normierenden Vorstellung, die das betrachtende Subjekt dazu mitbringt. Der Zustand eines Dings ist die Gesamtheit seiner gleichzeitigen Merkmale, verglichen mit unserer Forderung an dasselbe. In diesem Sinne ist es, daß wir mit dem Wort "Zustand" in der Regel nur Prädikate, die ein Werturteil enthalten, verbinden, von einem guten oder schlechten Zustand reden. Hierbei kommt natürlich alles auf den mitgebrachten Maßstab an. Qualitative Prädikate anderer Art verbinden wir mit dem Begriff des Zustandes nur dann, wenn ein und dasselbe Objekt wesentlichen, die Gesamtheit seiner Merkmale alterierenden Veränderungen unterworfen ist, wie man z. B. von einem starren oder flüssigen Zustand des Wassers, oder von Zuständen des Wahnsinns, der Schwermut, oder weiter von einem Zustand der Fäulnis, der Trockenheit etc. spricht. Ansich sollte man meinen, daß das Wort  Zustand  von  einem  Gegenstand nicht in der Mehrzahl gebraucht werden könnte, da es stets nur  eine  Gesamtheit von gleichzeitigen Merkmalen geben kann. Die deutsche Sprache hat sich jedoch daran gewöhnt, wenn von einem Kollektivbegriff, der eine Mannigfaltigkeit individuell verschiedener Dinge unter sich begreift, die Rede ist, lieber die Mehrzahl zu gebrauchen, und somit nicht von einem Zustand, sondern von den Zuständen der Gesellschaft, eines Volkes, der Menschheit zu reden. An einer Klarheit der Begriffe ist jedenfalls mit diesem Pluralis nichts gewonnen und wenn dann die Gelehrtensprache noch weiter geht und auch noch die Wörter "zuständlich" und "Zuständlichkeit" bildet, wenn wir z. B. bei einem Schriftsteller über Statistik lesen, die Statistik behandle diejenigen Erscheinungen vom Leben der Menschheit, welche ein "Moment der Zuständlichkeit" an sich haben, so scheint sich uns damit die Sprachbildung wieder in jene Nebel- und Wolkenregionen zu verlieren, die nichts mehr deutlich erkennen läßt, und erinnert an eine beliebte Eigenheit der deutschen Gelehrsamkeit, über die der Fremde nicht mit Unrecht klagt oder spottet. Wenn nun aber an diesen Erläuterungen des Wortes etwas Wahres dran ist, so würde nun die Wissenschaft vom Zustand oder den Zuständen der Menschheit nicht weniger sein, als die Wissenschaft, welche die Gesamtheit der gleichzeitigen Merkmale der Menschheit, an ihrer Idee gemessen, darstellt. Dieser Aufgabe wollen wir die Großartigkeit ihrer Konzeption nicht bestreiten; wohl aber glauben wir, daß sie die Bedingungen unserer Erkenntnisse, sowie den jetzigen Stand aller sozialen und geschichtlichen Wissenschaften weit überfliegt, daß sie, soweit sie überhaupt als ausführbar erscheinen kann, der Universalgeschichte zuzuteilen ist, daß sie zu demjenigen, was sich uns nachher als konkreter Inhalt zur Ausfüllung jenes Rahmens darbietet, jenen bunten geographischen, staatsrechtlichen, statistischen Notizen in einem seltsam idealen Verhältnis steht. Sodann erfordert schon die Ökonomie des wissenschaftlichen Lebens, für welches das Gesetz der Teilung der Arbeit gleichmäßig gilt, keiner einzelne Disziplin ein so ausgedehntes und ungleichartiges Feld abzumessen, daß keines Menschenlebens Kraft und Dauer ausreicht, es auch nur flüchtig zu durchwandern. Zustand der Menschheit ist ein ungreifbarer, unabsehbarer Begriff.

Gleichwohl erhält sich allen diesen Einwendungen gegenüber doch das untrügliche Gefühl, daß es sich hier nur um Irrtümer in den Ausdrücken, in der Formulierung handeln kann und daß es eine Betrachtungsweise des gesellschaftlichen Lebens geben muß, die, wenn sie auch im weiteren Sinn des Wortes eine geschichtliche zu nennen sein mag, doch nach Zweck und Art von der historischen Darstellung zu unterscheiden ist. Werden doch schon psychologisch ganz andere geistige Kräfte in Bewegung gesetzt, wenn ich ein Volk in lebendiger Gegenwart, in der Fülle und Breite seiner mannigfaltigen Tätigkeiten beobachte und zu begreifen suche, als wenn ich durch Schlußfolgerungen aus Denkmälern und Berichten vergangene Begebenheiten oder Zustände mich zu erraten bemühe.

Den Ort und die Grenzen der hier in Frage stehenden Disziplin haben wir vom Standpunkt unserer Auffassung aus schon im Obigen bezeichnet. Indem wir sämtliche Wissenschaften, die den sozialen, geschichtlich gewordenen Menschen behandeln, in solche teilten, welche die natürlichen Gruppen von Individuen, und in solche, welche die natürlichen Gruppen von Lebenskreisen zum Gegenstand haben, indem wir die natürlichen und gegebenen Gruppen von Individuen in den Völkern, sofern sie Staaten bilden, erkannten, indem wir sodann bei jeder Wissenschaft wieder einen graphischen, historischen und ätiologischen oder systematischen Teil unterschieden, so entspricht der graphische oder beschreibende Teil der Völkerlehre genau demjenigen, was wir hier suchen.

Wie heißt nun diese Wissenschaft, da doch jedes Ding vor allem eines Namens bedarf und bei einer Wissenschaft die Namensgebung dem Ritterschlag gleicht, der sie aus dem Stand der Knappen in den Kreis der Freien und Ebenbürtigen führt? Die Auswahl ist auch nach einer Streichung der Statistik nicht klein: Völkerbeschreibung, Volkskunde, Völkerkunde, Völkerzustandskunde, Staats- oder Staatenkunde, Ethnographie, politische Geographie? Es ist nicht gleichgültig, welchen von diesen Namen man wählt, denn jeder gibt dem Grundgedanken eine gewisse Modifikation, die nicht ohne weiteren Einfluß bleiben kann. Die erste Frage ist: sind die Völker oder Staaten das Objekt jener Wissenschaft oder sind beide nebeneinander zu nennen? Diejenigen, welche den Namen der Staatenkunde für hinreichend halten, um all das zu umfassen, was man jener Wissenschaft als ihren Stoff zuzuweisen pflegt, müssen den Begriff des Staates in einem universellen Sinn fassen, den wir nicht für berechtigt halten können. Der Staat ist die das Volksleben ordnende Gewalt, aber nicht das Ordnende, sondern das Geordnete bildet die Substanz einer Sache. Allerdings faßt der Staat die Totalität der menschlichen Bestrebungen unter einem schirmenden Dach und hinter schützenden Mauern zusammen und unterwirft sie im Inneren des Baus einer für alle bindenden Hausordnung; aber in die Beschreibung eines Baus und seiner inneren Ordnung gehört darum doch nicht auch das Leben und der Charakter seiner Bewohner. Mit weit größerem Recht wird vielmehr, wer das Leben und den Charakter dieser Bewohner schildern will, auch das als ein für sie charakteristisches Merkmal in seine Darstellung mit aufnehmen, was für ein gemeinschaftliches Wohnhaus sie sich gebaut und welche Hausordnung für sich gegeben haben. Geboren werden und Sterben, Heiraten und Kindererzeugen, Kaufen und Verkaufen, das Feld bestellen oder ein Gewerbe treiben, Erben und Erwerben, arm sein oder reich, gebildet oder ungebildet, wohlwollend oder herzlos, fromm oder unfromm etc. sind Ereignisse, Handlungen, Eigenschaften des Lebens der Einzelnen, zu denen der Staat zwar mancherlei Beziehungen, von denen Notiz zu nehmen er mancherlei Interesse haben mag, die aber, unabhängig von ihm, den Inhalt des individuellen Lebens ausmachen und außerhalb und vor dem Staat gedacht werden können. Das politische Leben ist eine Seite des Volkslebens, nicht umgekehrt.  Respublica res populi  [Das Gemeinwesen ist Sache des Volkes - wp] sagt CICERO. In diesem Sinne war es, daß wir oben nicht einfach die Völker als das Objekt unserer Wissenschaft bezeichneten, sondern die Völker, sofern sie Staaten bilden, sich in der Spitze einer einheitlichen, ordnenden Gewalt zusammenfassen. Es ist jedoch nur ein Mangel der deutschen Sprache, daß wir diesen Zusatz zu machen hatten. Das deutsche Wort "Volk" hat zwei sehr verschiedene Bedeutungen, eine ethnographische und eine politische. Die Griechen und Römer hatten dafür getrennte Bezeichnungen,  ethnos  und  demos, gens  (oder  natio)  und  populus.  Die Deutschen sind ein Volk im ethnographischen Sinn, aber nicht im politischen; die Schweizer, die Österreicher sind es im politischen, aber nicht im ethnographischen. Die Ethnographie wäre daher der Geschichte, der politischen Geographie, oder der Anthropologie zuzuweisen; für unsere Wissenschaft aber würden wir am liebsten den Namen "Demographie" wählen. Für die schwächste Einwendung gegen eine solche Benennung würden wir die halten, daß womöglich ein deutsches Wort zu wählen wäre. Die Wissenschaften sind Gemeingut der Menschheit und fragen nichts nach den Grenzpfählen der Sprachen und Völker; dies hat eben seinen Ausdruck in ihrer gemeinsamen, den alten Sprachen entnommenen Terminologie. Wollte jedes gebildete Volk die wissenschaftlichen Ausdrücke in seine Sprache umprägen, so gäbe das nicht nur eine unnötige Erschwerung aller gelehrten Studien, sondern auch eine wirkliche Gefährdung der Wissenschaften selbst, sofern auf dem Gebiet des abstrakten Denkens nur selten zwei Sprachen kongruente Begriffe bilden. Eine einzelne Wissenschaft ist kein Gattungsbegriff; sie ist nur einmal vorhanden und fordert daher eine Art von  nomen proprium [Eigenname - wp] für ihre Bezeichnung. Der wissenschaftliche Terminus will benennen, nicht definieren; und das leistet uns eben der Gebrauch der Fremdsprache besser. Man denkt bei Kasus nicht an einen Fall, bei Dativ und Akkusativ nicht an ein Geben oder Anklagen; die deutschen grammatischen Bezeichnungen aber, wie "Wessenfall, Verhältniswörter, Beiwörter, Fürwörter" machen Anspruch darauf, zugleich eine Erklärung der Sache zu geben, was doch nie möglich ist und nur zu Verwirrung führt. So schlimm ist es nun zwar nicht mit jenen aus Lehre, Kunde, Beschreibung etc. gebildeten Namen von Wissenschaften, aber doch wird sich neben den alten, weltgültigen Namen der Physik, Logik, Ethik, Geographie, selbst die Naturlehre, Denklehre, Sittenlehre, Erdkunde, wiewohl diese Bezeichnungen noch zu den besten gehören, nicht behaupten können. Wenn man nur die  eine  Unbequemlichkeit nimmt, daß diese Wörter keine adjektivische Form haben! Wie unzähligemal ist man veranlaßt, von einer physikalischen, ethischen, geographischen Untersuchung, Frage, Schrift, Beziehung, Seite der Sache zu reden und wie kümmerlich muß man sich da mit den deutschen Wörtern behelfen! Ebenso ist es mit der Bildung der Substantiva: der Physiker, der Geograph, wo man dann sagen müßte: der Naturlehrer, der Erdkundige. Besonders ungeschickt ist hierin aber die Form, Kunde, da das Wort nun einmal ursprünglich ein Wissen und nicht ein zu Wissendes, nicht eine Wissenschaft bezeichnet, und dieser Sinn besonders im Adjektiv "kundig" ausschließlich zutage tritt. Zudem haben die Kompositionen aus solchen Wörtern eine so schwäche Kohäsion [Haftung - wp], daß, wenn ein Wort von stärkerer Verwandschaft in ihre Nähe kommt, sie eine Neigung zeigen, ihre Verbindung wieder aufzulösen. Statt "Volkskunde, Staatskunde von Bayern" möchte man lieber sagen: Kunde vom bayerischen Volk oder Staat, wenn das Wort  Kunde  diese Isolierung vertrüge und damit nicht in seine Grundbedeutung zurückfiele. Noch weniger aber ließe sich sagen: Völkerkund, Staatenkunde von Bayern. Dazu kommt, daß die griechischen Namen schon durch ihre Endungen  -graphie, -logie  etc. den methodologischen Charakter der einzelnen Wissenschaften andeuten, wenn auch zum Teil nur ihre erste historische Gestalt. Erdkunde könnte ebensogut Geologie wie Geographie bedeuten, und so muß man auch fragen: ist die Volkskunde eine beschreibende oder eine systematische Wissenschaft vom Volk, eine Demographie oder Demologie? Der Ausdruck "Beschreibung" schließlich läßt sich im Sinn von einer beschreibenden Wissenschaft überhaupt nicht ohne Zwang gebrauchen und teilt außerdem fast alle Mängel jener Kompositionen von "Lehre" und "Kunde". Neue Namen einer Wissenschaft vorzuschlagen, ist stets ein mißliches und in der Regel verlorenes Unternehmen, aber das dürfte sich aus den vorstehenden Bemerkungen zumindest erhellen, daß in den Namen noch viel Verwirrung und Unklarheit herrscht und daß dabei allerhand tiefer liegenden Gebrechen zutage treten.

Eine besondere Erwähnung erfordert noch das Verhältnis dieser Völkerkunde oder Demographie zur politischen Geographie. Früher pflegte man unter diesem weiten Namen all das unterzubringen, was man jetzt  Statistik,  Völker- und Staatenkunde nennt. Später hat man ihr nicht mehr von all dem gelassen und überhaupt die wissenschaftliche Berechtigung dieser Disziplin in Frage gestellt. Es ist jedoch seit HUMBOLDT, RITTER, ROUGEMONT ect. nicht mehr zweifelhaft, daß es auch eine Geographie des Menschen gibt; nur über ihre Abgrenzung steht noch wenig fest. Geographie und Geschichte, der Planet und die Menschheit vertreten zusammen die Totalität aller irdischen Erscheinungen. Es versteht sich, daß beide in mannigfaltiger Wechselbeziehung zueinander stehen. Die Verbindung besteht aber nicht in  einer  beide Gebiete kombinierenden Wissenschaft, sondern sie kommt dadurch zustande, daß jede jener beiden Gesamtwissenschaften einen Zweig treibt, der dem anderen Teil entgegenwächst und sich mit ihm verschlingt. Der Zweig der Geographie ist derjenige Teil derselben, welcher die Erde als Wohnsitz des Menschen und die Wirkungen betrachtet, welche sie in dieser Eigenschaft teils ausübt, teils erleidet. Sie zeigt einerseits, an anthropologische Ausgangspunkte anknüpfend, in einer der sogenannten Pflanzen- und Tiergeographie korrespondierenden Weise die Verbreitung der Menschheit unter dem Einfluß der Zonen, der großen Kontinentalcharaktere, des Klimas usw., die Verbreitung der Rassen und Völkerstämme, der Sprachen, Kulturverhältnisse usw. und heißt in dieser Eigenschaft Geographie des Menschen; sodann zeigt sie uns die einzelnen Länder als die Territorien bestimmter Völker und Staaten und heißt in dieser Beziehung politische Geographie; endlich betrachtet sie die durch die Tätigkeit der Menschen besonders markierten Punkte der Erdoberfläche, die einzelnen Wohnplätze und heißt in dieser Eigenschaft  Topographie.  Während nun in diesen Disziplinen stets vom Areal und seinen Eigenschaften ausgegangen wird, betrachtet der vom Stamm der Geschichtswissenschaften aus sich abzweigende Ast, die Völkerkunde oder Demographie, zum Teil dieselben Erscheinungen, nur nicht als Merkmal der Länder, sondern der Völker. Sie schildet ein konkretes Volksleben als die Gesamtwirkung geographischer und geschichtlicher Vorbedingungen; sie zeigt uns, was das Volk unter der Gunst und Ungunst seines heimatlichen Bodens geworden ist, wie es ihn selbst gestaltet, seine Schätze ausgebeutet, seine Mängel ergänzt, seine Berge und Ströme überwältigt, seine Pflanzendecke und Tierbelebung verwandelt, ihm mit Städten und Dörfern besät, mit Straßen und Kanälen durchzogen, und so gleichsam zu einem beseelten Raum, zum Abdruck seines Geistes und Willens ungeschaffen hat. Es zeigt sich schon hieran, wie nah jene beiden Wissenschaften verwandt sind und wie die Verschiedenheit mehr in diesem Gesichtspunkt als im Objekt der Betrachtung liegt. So z. B. wird die politische Geographie die Ergebnisse des Bergbaus, der Landwirtschaft unter dem Gesichtspunkt von Landesprodukten betrachten; die Volkskunde dagegen wird den gleichen Gegenstand als eine Seite der wirtschaftlichen Tätigkeit des Volkes und im Zusammenhang mit anderen Seiten des Volkslebens behandeln. Dasselbe Objekt ist so in einem Fall ein Merkmal des Landes gegenüber anderen Ländern, im andern ein Merkmal der wirtschaftlichen Tätigkeit des Volkes gegenüber anderen Tätigkeiten.

Den Begriff  Geschichte  im weiteren Sinn des Wortes genommen ist die Volkskunde oder Demographie selbst eine Geschichtswissenschaft, im engeren Sinne steht sie der eigentlichen Geschichtsschreibung als eine Hilfswissenschaft zur Seite. Das Bedürfnis der wissenschaftlichen Arbeitsteilung bringt es mit sich, daß der Geschichtsschreiber, der uns das Völker- und Staatenleben in seiner zeitlichen Entwicklung schildert, seinen umfassenden Gegenstand nicht zugleich in der ganzen Breite seiner Erscheinung stetig fortführen kann, daß er, auf die typischen und hervorragenden Ereignisse und Persönlichkeiten angewiesen, nicht zugleich auch dasjenige uns vergegenwärtigt, was sich unmerklich aus einer unendlichen Menge einzelner, für sich bedeutungsloser Tätigkeiten der Individuen zu einer Massenwirkung zusammensetzt. Der Historiker gleicht darin dem dramatischen Dichter, der uns eine bedeutungsvolle Handlung an Personen, die unser Interesse erregen, in einem charakteristischen Detail vor Augen führt, dabei aber dem Leser oder Zuhörer überläßt, sich den Schauplatz und Boden der Begebenheit mit allerlei begleitenden Nebenumständen hinzuzudenken oder mit Hilfe einer theatralischen Szenerie zu ergänzen. So bildet die Demographie gleichsam den Hintergrund, in welchen der Historiker sein Gemälde einzeichnet. Eine Geschichtsschreibung, die den unabsehbaren demographischen Stoff stets in seiner ganzen Breite mit sich fortwälzen wollte, müßte verwirrend und unverständig werden. Sie kennt kein wertvolleres Material, wird aber doch nur mit Auswahl und bei einem besonderen Anlaß davon unmittelbaren Gebrauch machen dürfen. Es wird immer wieder die Kunst des Geschichtsschreibers bleiben, das von der Demographie auf dem Weg der universellen Beobachtung gewonnene Bild des Volkslebens in typischen Tatsachen abzuspiegeln.

Wenn wir nun endlich auf den Ausgangspunkt unserer Untersuchung, den Begriff der  Statistik  zurücksehen, so bedarf es nach dem Obigen keiner näheren Ausführung mehr, in welchem Verhältnis jene Demographie zur Statistik in unserem Sinn steht. Sie ist ein selbständiger Wissenszweig, der an der Statistik seine vornehmste und unentbehrlichste Hilfswissenschaft hat und ohne sie nicht zu einer selbständigen Entwicklung hätte gelangen können. Gleichwohl fallen beide Disziplinen keineswegs zusammen, sofern einerseits die Demographie ihren Stoff auch noch aus mancherlei anderen Quellen schöpft, und andererseits die Statistik auch noch mancherlei anderen Wissenszweigen in gleicher Weise Dienste leistet. Nur der Umstand, daß die Statistik bis jetzt vorherrschend in den Händen der Staatsbehörden lag, und darum vorzugsweise für Zwecke der Staatskunde in Anspruch genommen worden ist, erklärt es, wie der politische Inhalt und das methodologische Verfahren, durch das derselbe großenteils ermittelt wird, anfänglich als  eine  Wissenschaft erscheinen konnte und mußte.

Hiermit sind wir zugleich am Ziel unserer Untersuchung angelangt. Das, was bisher  Statistik  hieß, hat sich uns demnach in zwei getrennte Disziplinen aufgelöst, eine allgemeine methodologische Hilfswissenschaft der Erfahrungswissenschaften vom Menschen, welcher wir, dem gemeinen Sprachgebrauch folgend, den Namen  Statistik  beilegten, und eine selbständige, auf dem Grenzgebiet von Geographie und Geschichte gelegene, Wissenschaft, für die wir den Namen  Demographie  gewählt haben, die aber auch bei entsprechender Erläuterung der Begriffe  Völker- oder  Staaten-, Volks- oder  Staatskunde  genannt werden mag. Unsere Auffassung trifft demnach in einem Grundgedanken mit der KNIES'schen Ansicht zusammen, nur daß wir die beiden Glieder wesentlich anders charakterisieren und anders benannt haben. Der Gang unserer Untersuchung hat uns wiederholt genötigt, einen höheren Standort und eine weitere Rundschau zu gewinnen, als die beschränkte Aufgabe Manchem zu erfordern scheinen mag. Wenn es sich aber darum handelt, einer noch jungen Wissenschaft ihren festen Sitz im akademischen Saael anzuweisen, so ist das ohne einige Orientierung über die ganze Anordnung dieses Staates nicht wohl möglich. Nun ist aber auch nicht zu leugnen, daß auf demjenigen Flügel, wo die sozialpolitischen Wissenschaften ihre Sitze haben, noch eine ziemliche Unordnung zuhause ist, indem fast jeder neue Forscher die Plätze wieder anders verteilt und mit anderen Namen belegt. Und da unter den uns bekannten Gruppierungen des wissenschaftlichen Stoffes keine sich unter diejenigen Gesichtspunkte einfügen ließ, die wir nun einmal in dieser Sache als die maßgebenden betrachten mußten, so blieb nichts übrig, als teilweise selbst wieder eine neue Gruppierung zu versuchen. Damit ist nun aber freilich die Schwierigkeit, wie die Anfechtbarkeit unseres Versuches, die Aufgabe zu lösen, wesentlich verstärkt worden, zumal da die Kritik so selten geneigt ist, dem Gedankengang eines Schriftstellers genau zu folgen und sich so gern an das zur Seite Liegende und weniger Wesentliche anheftet.

Um aber eine Untersuchung über Statistik mit einer statistischen Notiz zu schließen, so gibt es, wenn wir nichts übergangen und recht gezählt haben, bis jetzt 62 verschiedene Erklärungen über den Begriff der Statistik und die unsrige wäre dann die 63te. Da wir nun keinen Anspruch darauf erheben, das seltsame Rätsel ganz gelöst, sondern nur, das Ungenügende der bisherigen Lösung neu beleuchtet und auf einige noch unbeachtete Seiten der Sache hingewiesen zu haben, und da der Drang nach klarer Erkenntnis, der "alte Maulwurf" nach HEGELs Ausdruck, keine Ruhe kennt uns sich auch vor dem Prädikat der "Wunderlichkeit" und "psychologischen Merkwürdigkeit" nicht scheut, so begrüßen wir unseren Nachfolger, Nr. 64, mit dem alten akademischen Wort, das auf dem Feld der wissenschaftlichen Forschung seine schönste Bedeutung hat:  vivat sequens! [Es lebe der Nachfolger! - wp]
LITERATUR: Gustav von Rümelin, Zur Theorie der Statistik, Reden und Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1875
    Anmerkungen
    1) Auch die sprachliche Form des Wortes ist hierfür nicht ohne Bedeutung. Die Namen der Wissenschaften enden auf  -ie oder  -ik. Die ersteren mit den Formen  -logie, -gnosie, -nomie, -graphie, -metrie ect. enthalten eine selbständige Lehre ein zusammenhängendes Ganzes von Forschungsergebnissen; die auf  -ik sind sprachlich nur  feminina eines Adjektivs nach der griechischen Form; sie bezeichnen somit ursprünglich keine eigentliche und selbständige Wissenschaft, sondern nur eine wissenschaftliche Beschäftigung, Kunst, Fertigkeit für praktische und theoretische Zwecke. Deshalb enden auch alle Hilfswissenschaften, alle mehr in einer wissenschaftlichen Praxis bestehenden Disziplinen auf  -ik; so Kritik, Hermeneutik, Heraldik, Diplomatik, Numismatik, Mechanik, Optik, Didaktik, Pädagogik, Dialektik etc. Mehrere andere Disziplinen traten wenigstens zuerst allein in dieser Gestalt auf und behielten dann diese Form auch bei, nachdem sie zu systematischen Wissenschaften ausgebildet worden waren; so Mathematik, Arithmetik, Logik, Grammatik.