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WILHELM LEXIS
Zur Theorie
der Massenerscheinungen


"So oft man sich also berechtigt glaubt, zu behaupten, daß alle Menschen oder alle Menschen einer gewissen Kategorie unter bestimmten Umständen immer auf eine bestimmte Art handeln werden, stellt man in der Tat im naturwissenschaftlichen Sinn ein Gesetz für eine menschliche Elementarerscheinung auf."

"Die Tatsache jedoch, daß die mittlere Jahrestemperatur eines Ortes z. B. ziemlich konstant 9° Celsius beträgt, pflegt man nicht als ein Naturgesetz zu bezeichnen. Diese Mitteltemperatur ist nur die Folge sehr mannigfaltiger, im Einzelnen naturgesetzliche bestimmter metereologischer Prozesse, die sich zwar von Jahr zu Jahr im Großen und Ganzen in ähnlicher Weise wiederholen, aber doch auch zuweilen bedeutend divergierende Durchschnittsresultate ergeben."


I. Allgemeinste Einteilung
der Massenerscheinungen

1. Der Zustand einer menschlichen Gemeinschaft wird einesteils bedingt durch die positiven Gestaltungen und Normen der Gesellschaft und des Staates, die historisch geworden sind und deren Änderungen historische Ereignisse bilden; andererseits aber auch durch das gewöhnliche, relativ stetige Tun und Leiden der Individuen in ihrer mannigfaltigen Gruppierung, das in seinen einzelnen Elementen nicht festgehalten werden kann, aber charakteristische, der wissenschaftlichen Beobachtung zugängliche  Massenerscheinungen  erzeugt. Die Statistik hat die selbständige Aufgabe, diese Massenerscheinungen des Menschenlebens nach einer exakten Methode aufzufassen und zu untersuchen, und es folgt schon aus dieser Definition, daß die Grundlage ihrer Methode das  Zählen  der Einzelfälle einer Erscheinung bildet, da sie ja nicht, wie die Geschichte, die Individualität der Ereignisse betrachtet, sondern dieselben nur als Glieder einer Masse, als Einheiten einer Summe registriert. Die statistische  Methode  findet auch in den Naturwissenschaften eine fruchtbare Verwendung; aber es scheint doch zweckmäßig, den Namen  Statistik  ausschließlich der Wissenschaft vorzubehalten, welche jene Methode - deren Wesen im Folgenden genauer hervortreten wird - auf die Untersuchung der Massenerscheinungen des gesellschaftlichen Menschenlebens anwendet.

Sehr verfehlt jedoch wäre es, wenn man  alle  menschlichen Massenerscheinungen lediglich von einem statistischen Gesichtspunkt betrachten wollte. Denn viel wichtiger als die Aufhebung des Einzelereignisses in einer konkreten  Summe  ist die Aufhebung desselben in einer begrifflichen  Verallgemeinerung Wenn die Einzelereignisse nur individuelle Erscheinungen derselben  Gattung  sind, und wir diese  Gattung  des Geschehens aus einer Ursache oder einem Ursachensystem begreifen können, so ist offenbar dieser abstrakte  Begriff  des Ereignisses wissenschaftlich von größerem Interesse, als die Zählung seines konkreten Vorkommens.

Eine solche begriffliche, generische Auffassung der menschlichen Massenerscheinungen aber ist namentlich dann möglich, wenn wir, gestützt auf psychologische Erwägungen, Selbstbeobachtungen oder alltägliche Erfahrungen, in jedem Einzelereignis die gleiche übewiegend wirksame Ursache, insbesondere also in jeder zur Masse beitragenden Einzelhandlung die gleich durchschlagende Triebfeder zu erkennen vermögen.

So tritt uns auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Lebens als überwiegendes Motiv des individuellen menschlichen Handelns das Selbstinteresse entgegen. Kennen wir nun erfahrungsmäßig die allgemeinen Formen der Verhältnisse, unter denen diese Triebfeder zur Wirksamkeit gelangt, so können wir auch allgemein die Gattungen oder Typen der wirtschaftlichen Ereignisse ableiten, von denen jeder in einer großen Zahl von Einzelfällen, in einer Massenerscheinung des Menschenlebens auftritt. Die statistische Feststellung der Tatsachen dient in solchen Fällen nur zur Präzisierung einer konkreten Wirklichkeit, während die Abstraktion einen Satz aufstellt oder doch aufzustellen versucht, der in sich in  allen  Fällen bewahrheiten soll, in denen bestimmte Bedingungen erfüllt sind.

Wenn an der Berliner Börse der Wechselkurs auf Paris über 81,40 hinausgeht, so darf man behaupten, daß  alle  deutschen Bankiers, die überhaupt auf Arbitrage-Operationen eingerichtet sind, Gold nach Paris senden. Diese Goldsendungen bilden eine wirtschaftlich bedeutsame Massenerscheinung, und die Ermittlung ihres Gesamtbetrags ist ohne Zweifel von praktischem Interesse. Für die theoretische Wissenschaft aber genügt es, nach allgemeinen Erwägungen die Bedingungen festzustellen, unter denen eine Goldausfuhr aus einem gegebenen Land stattfinden wird, und daneben ist durch einige zahlenmäßige Beispiele darzutun, wie weit die Wirklichkeit den theoretischen Voraussetzungen entspricht.

2. Für die Volkswirtschaftslehre hat also die statistische Untersuchung nur die Bedeutung eines Kontroll- oder Berichtigungsverfahrens. Die aus den Einzelerscheinungen abgezogenen allgemeinen Sätze stimmen nämlich mit den Massenerscheinungen der Wirklichkeit nie genau überein; denn einerseits haben die wirklichen Verhältnisse, unter denen sich das wirtschaftliche Selbstinteresse betätigt, einen mannigfaltigeren und reicheren Inhalt, als die abstrakten Typen derselben; und andererseits handeln die Menschen selbst in wirtschaftlichen Dingen keineswegs ausschließlich unter der Leitung ihres Selbstinteresses. Die Statistik gibt uns nun zahlenmäßige Anhaltspunkte sowohl zur Beurteilung des Grades, in welchem die wirklichen wirtschaftlichen Massenerscheinungen den abstrakten Typen derselben entsprechen, als auch zur richtigen Schätzung der Tragweite der beobachteten Abweichungen von den theoretischen Voraussetzungen.

Statistische Zahlenreihen können auch dazu dienen, in exakter Weise die  historische  Entwicklung einer speziellen wirtschaftlichen Erscheinung darzustellen, wie z. B. das Aufblühen der englischen Baumwollfabrikation, der Kohlen- oder Eisenindustrie in diesem Jahrhundert.

Man kann ferner durch statistische "Reaktionen" - um einen Ausdruck ENGELS' zu gebrauchen - vermutete Beziehungen zwischen verschiedenen Reihen wirtschaftlicher Erscheinungen bestätigen; aber die Volkswirtschaftslehre sieht in solchen Nachweisen nur insofern einen Gewinn, als sie den statistisch beobachteten Zusammenhang aus allgemeinen Gründen zu erklären vermag.

Aus dem volkswirtschaftlich-statistischen Material für sich allein läßt sich also keine besondere Wissenschaft aufbauen; es wird nur dadurch fruchtbar, daß wir es mit unseren sonstigen Erfahrungen über die Natur des gesellschaftlichen und wirtschaftenden Menschen verbinden.

Noch weniger natürlich kann in den eigenlich sozialen und politischen Wissenschaften die Statistik eine selbständige Rolle spielen. Überhaupt tritt sie auch als Hilfswissenschaft umso mehr zurück, je mehr sich die betrachteten Massenerscheinungen historisch individualisieren, und je vollkommener wir das Prinzip, das in der Masse jeder Einzelerscheinung zugrunde liegt, die Ideen und Zwecke, die der menschliche Geist in der Geschichte zu verwirklichen strebt, zu erkennen imstande sind.

3. Gleichwohl kann die Statistik als Wissenschaft von den menschlichen Massenerscheinungen auf einem bestimmten, wenn auch engen Gebiet  selbständig  auftreten. Denn es gibt Massenerscheinungen, deren wissenschaftliches Interesse zunächst nur in ihren numerischen Verhältnissen liegt. Eine bloße Abstraktion aus den Einzelereignissen würde in diesen Fällen einen zu geringen Inhalt haben, da das Gemeinsame der Einzelerscheinungen lediglich im gleichen Endresultat liegen würde, während z. B. die Einzelvorgänge einer  wirtschaftlichen  Massenerscheinung nicht nur in ihrem Resultat, sondern auch in ihrer Verursachung und in ihrem Verlauf eine wissenschaftlich faßbare Gemeinsamkeit zeigen. In dem oben angeführten Beispiel handeln alle Bankiers nach demselben Motiv, nach derselben Berechnung und mit demselben Resultat, und ein ähnliches Handeln wird sich unter gleichen Bedingungen immer wiederholen. Und eben deswegen kann man hier von einem typischen Geschehen, von einer Gattungserscheinung sprechen, die auch ohne numerische Präzisierung ein wissenschaftliches Interesse besitzt.

Wenn man aber z. B. sagt: "Von den Geborenen einer gewissen Zeitstrecke sterben  viele  im ersten Lebensjahr", so ist dies ein wissenschaftlich bedeutungsloser Satz. Die Einzelereignisse, die Sterbefälle, kommen, sogar wenn sie durch dieselbe Krankheit verursacht sind, auf so mannigfaltige Art zustande, daß wir durch Abstraktion nur zu der leeren Tatsache der Häufigkeit der Sterbefälle gelangen. Um eine neue Einsicht zu erlangen, müssen wir die beobachteten Massen numerisch bestimmen. Und da zeigt sich dann, daß das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen zur Zahl der Geborenen für verschiedene Generationen zielmlich konstant bleibt. So finden wir trotz unserer Unwissenheit über die Entstehung der Einzelfälle einen bedeutsamen, verhältnismäßig allgemeinen Satz über die Massenerscheinung, während in unserem volkswirtschaftlichen Beispiel der allgemeine Satz aus unserer Kenntnis des typischen Verlaufs des Einzelvorgangs entsprang.

4. Somit zerfallen alle menschlichen Massenerscheinungen zunächst in zwei Klasse: die einen, die man als "generische bezeichnen kann, bestehen aus Einzelfällen eines generisch gleichartigen Geschehens, das für sich  wissenschaftlich erheblich  und  erklärbar  ist; der Ausdruck und die Erklärung dieses generischen Geschehens ist hier das wesentliche Resultat der Wissenschaft; die Statistik aber dient als Hilfswissenschaft, um dasselbe zahlenmäßig zu kontrollieren und zu präzisieren. Die Massenerscheinungen der anderen Klasse aber, welche wir die "konkreten" nennen wollen, bestehen aus Einzelfällen, deren Gleichartigkeit wir nur in einem gleichen Endergebnis finden. Jedes Einzelereignis steht zwar in einer streng geschlossenen Kette der Kausalität, die man auch in jedem gegebenen Fall nachweisen könnte; aber die vorhandenen Ursachensysteme sind so zahlreich und mannigfaltig, daß uns das Zusammentreffen der Einzelfälle nur als Zufall erscheint. Hier werden die Einzelfälle für uns bloße Einheiten einer Gesamtzahl, das Zählen der Massen wird Hauptzweck, die Statistik tritt in ihre selbständigen Rechte ein und hat zu zeigen, wie sich die großen Zahlen zur Erweiterung unserer wissenschaftlichen Einsicht in die Erscheinungen verwerten lassen. Sie führt ihre Untersuchung mittels eine besonderen Methode, die hauptsächlich durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung gegeben wird. Diese Art der Untersuchung kann übrigens auch auf die generischen Massenerscheinungen angewandt werden, jedoch werden solche Versuche mehr ein methodologisches, als ein sachliches Interesse bieten.

Häufig lassen sich übrigens die gegebenen Massenerscheinungen in mehrere Partialmassen zerlegen, von denen jede einzelne aus Elementen von einer gewissen Gleichartigkeit besteht; aber trotzdem bleibt in jeder Partialmasse die Mannigfaltigkeit der Entstehungsbedingungen der Einzelfälle so groß, daß wir sie nicht mit Gewinn auf ein generisches Geschehen zurückführen könnten. So mögen in gewissen Schichten der Bevölkerung 40, in anderen nur 20 Prozent der Geborenen im ersten Lebensjahr sterben; aber das Zustandekommen des einen wie des anderen Prozentsatzes ist für uns eine rein empirische Tatsache, wenn wir auch im Allgemeinen wohl erkennen können, warum in der einen Gruppe die Sterblichkeit größer ist, als in der anderen. Diese letztere Erkentnis wäre übrigens schon als ein  Resultat  der statistischen Untersuchung anzusehen, da sie ohne exakte numerische Begründung nur als vage Vermutung auftreten könnte.

5. Die selbständigen Ergebnisse der Statistik bestehen vorzugsweise darin, daß sie die angenäherte Konstanz gewissesr numerischer Verhältnisse der Massenerscheinungen feststellt. Dadurch entsteht der Schein, als wenn das menschliche Tun und Leiden Zahlengesetzen von mechanisch - naturwissenschaftlichem Charakter unterworfen sei. Handelt es sich um generische Massenerscheinungen, deren Einzelprozesse wir also nach ihrem allgemeinen Typus genügend übersehen können, so fallen uns solche Regelmäßigkeiten gar nicht auf; es ist z. B. selbstverständlich, daß, wenn nicht ein ungewöhnlicher Aufschwung der Geschäfte oder andererseits eine Krise eintritt, in einem Jahr ungefähr ebensoviel von einer bestimmten Ware auf den Markt kommt, als in den nächstvorhergehenden oder nächstfolgenden, da die Zahl der Fabriken oder Arbeiter, welche diese Waren produzieren, sich in normalen Zeiten nicht plötzlich ändern wird. Erscheint uns aber die Masse als ein zufälliges Aggregat von Einzelfällen mit sehr verschiedenen Verursachungen, so werden uns alle numerischen Regelmäßigkeiten in derselben in hohem Grad auffallen.

Ist man nun wirklich berechtigt, die Regelmäßigkeit der menschlichen Massenerscheinungen als Gesetze in einem naturwissenschaftlichen Sinn aufzufassen?

Ein Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinn ist eine Abstraktioni aus einem gleichartigen Geschehen. Das  Gesetzmäßige  des Geschehens muß allen beobachteten Einzelvorgängen gemeinsam sein, und wir müssen zu dem Induktionsschluß berechtigt sein, daß es überhaupt in allen Vorgängen dieser Art in gleicher Weise hervortreten wird. Die Wissenschaft fordert aber weiter, daß wir uns diesen generisch aufgefaßten Prozeß möglichst verständlich und begreiflich machen, und das geschieht, indem wir versuchen, denselben in einfachere Vorgänge zu zerlegen, bis wir schließlich zu Elementaranschauungen gelangen, über die wir schlechthin nicht mehr hinaus können. Für die Naturwissenschaft ist dieser höchste und einfachste Typus eines Gesetzes durch die allgemeine Differentialgleichungen der Dynamik gegeben. Ein Naturgesetz in seiner höchsten Ausbildung gibt daher nur die allgemeine Formel für die Bewegung eines unendlich kleinen Elements der Materie in einer unendlich kleinen Zeit. Aber auch die integrale, der wissenschaftlichen Beobachtung zugängliche Erscheinung (die als Massenerscheinung aufgefaßt werden kann) wird vermöge der begrifflichen Einheit des Elementarprozesses durch eine Formel dargestellt, die ebenfalls als  Gesetz  betrachtet werden darf, da sie einfach die  logische  Folge aus dem Elementargesetz als dem Grund bildet und das letztere wieder aus ihr abgeleitet werden kann. Insofern kann man auch sagen, daß die Gesamterscheinung durch diese Integralformel  beherrscht  wird.

So wird beispielsweise das Gravitationsgesetz durch eine Differentialformel ausgedrückt, welche allgemein für jeden Zeitmoment die Bewegung eines Planeten bestimmt; die Integration dieser Formel aber git das KEPLERsche "Gesetz" der elliptischen Bewegung des Planeten.

6. Das Element der menschlichen Massenerscheinungen ist nun eben der Mensch. So oft man sich also berechtigt glaubt, zu behaupten, daß alle Menschen oder alle Menschen einer gewissen Kategorie unter bestimmten Umständen immer auf eine bestimmte Art handeln werden, stellt man in der Tat im naturwissenschaftlichen Sinn ein Gesetz für eine menschliche Elementarerscheinung auf. Aber sind wir erfahrungsmäßig jemals wirklich berechtigt, mit derselben Bestimmtheit in dieser Weise das menschliche Handeln vorauszusagen, wie wir z. B. behaupten dürfen, daß so oft ein elektrischer Strom ein Stück Eisen umkreist, das letztere magnetisch wird? Offenbar nicht, denn unser abstraktes Schema des menschlichen Handelns ist notwendig immer ein unvollständiges, indem nur die  in der Regel  überwiegenden Ursachen und Wirkungen ausgesondert sind. Der Induktionsschluß von den beobachteten Erscheinungen auf die nichtbeobachteten, der auf naturwissenschaftlichem Gebiet eine empirische Gewißheit erlangt, führt daher im unerschöpflichen Reichtum des Menschenlebens nur zu einem größeren oder geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit (1). Auch die äußeren Umstände werden in der Wirklichkeit eine größere Verschiedenheit darbieten, als es in der "allgemeinen Formulierung des "Gesetzes" vorgesehen ist. Und so kann die Masse der Erscheinungen doch erhebliche Abweichungen von der "gesetzlichen" Schablone aufweisen.

Es findet also nur eine formale Analogie zwischen den Naturgesetzen und den generischen Prozessen in den menschlichen Massenerscheinungen statt. Die ersteren beruhen auf einem Induktionsschluß von praktisch absoluter Gültigkeit; die letzteren aber wiederholen sich, mögen wir ihre Bedingungen auch noch so speziell feststellen, immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Mit anderen Worten, wir können auf dem Gebiet eines Menschenlebens keinen Komplex von Bedingungen angeben, der notwendig und hinreichend wäre, um mit Sicherheit ein bestimmtes menschliches Handeln nach sich zu ziehen.

So scheint es auf den ersten Blick ein allgemeingültiges "Gesetz", daß das flüssige Kapital aus einem Land mit niedrigem Zinsfuß überströmen wird nach einem Land mit hohem Zinsfuß, daß also inbesondere z. B. die Bank von Frankreich, wenn sie ihren Barvorrat nicht gefährden will, niemals auf längere Zeit einen erheblich niedrigeren Diskontsatz bestehen lassen darf, als die Bank von England. Und doch finden wir im Zeitraum von Oktober 1865 bis September 1866 in Paris als Diskont-Minimum 3%, als Maximum 5 %, während in London in diesen elf Monaten das Minimum 6%, das Maximum aber 10 % betrug, und zwar mit einem so scharfen Gegensatz, daß 1866 von Mai bis August das Londoner Maximum mit einem Diskontfuß von 4 % und 3,5 % in Paris zusammenfällt. Und trotzdem trat der erwartete Barabfluß von Parin nach London nicht ein, vielmehr stand der Wechselkurs meistens so, daß Gold aus England nach Frankreich geschickt werden mußte. Die damalige Handelslage beider Länder, die Krisis in England und der Einfluß der PEELschen Bankakte machen bei genauerer Untersuchung jene merkwürdige Divergenz vollkommen begreiflich. Aber mit der Gesetzeskraft des obigen allgemeinen Satzes ist es schlecht bestellt, wenn die konkreten Umstände mächtig genug sind, gerade das Gegenteil der erwarteten Erscheinung hervorzurufen. Man kann dann nur noch von einer Regel sprechen, die in unberechenbarer Weise eklatante Ausnahmen gestattet.

7. Es gibt aber auch in der Natur  konkrete  Massenerscheinungen, nämlich solche, deren Elementarvorgänge nicht gleichartig sind oder nicht unter einem durch das Ganze herrschenden Gesetz stehen. In solchen Fällen wäre es wohl möglich, die Außenseite der Erscheinung durch eine empirische Formel darzustellen, aber diese Formel würde nicht der Ausdruck eines Naturgesetzes sein, sondern nur dem Endresultat des Zusammentreffens vieler verschiedenartiger, einzeln nicht zu verfolgender Elementarprozesse entsprechen.

So könnte man z. B. die Oberfläche eines aufgeschütteten Sandhaufens durch eine empirische Formel wenigstens näherungsweise ausdrücken, aber niemand würde dieselbe als das Gesetz betrachten, das die Gleichgewichtslage der einzelnen, verschieden geformten Sandkörner geregelt hätte. Jedes Korn ist vielmehr der Einwirkung eines besonderen Komplexes von Stößen und Reibungen ausgesetzt gewesen und, zwar streng naturgesetzlich, aber auf einem für uns unberechenbaren Weg in seine Ruhelage geführt worden. Wenn wir uns dagegen die Körner sämtlich gleichartig und zwar unendlich klein und absolut glatt denken, so sind wir imstande, die (hydrostatischen und hydrodynamischen) Gleichungen aufzustellen, die allgemein für jedes Element einer  solchen  Masse die Normen des Gleichgewichts und der Bewegung ausdrücken, und dann haben wir diese Erscheinungen unter ein einheitliches Naturgesetz gebracht.

Die konkreten Massenerscheinungen des Menschenlebens sind nun offenbar analog jenen unauflöslichen Massenerscheinungen der Natur. Die Einzelvorgänge derselben sind so verschiedenartig, daß sich keine allgemeine Regel über die Verursachung und den Verlauf derselben abstrahieren läßt. Es läßt sich also gleichsam nur die Außenseite der Massenerscheinung untersuchen und zahlenmäßig feststellen. Aber was in Betreff des eben angeführten physikalischen Beispiels niemandem einfallen würde, nehmen manche hinsichtlich der statistischen Massenerscheinungen ohne Weiteres an, daß nämlich die empirische Formel für die Außenseite einer Aufhäufung von Einzelfällen ein die Gesamterscheinung beherrschendes Gesetz darstellt.

Freilich wird man zu dieser Auffassung leicht verführt durch die numerischen Regelmäßigkeiten der Massenerscheinungen. Die Beobachtung, daß von einer Million Geborener in einem gegebenen Land 250 000 im ersten Lebensjahr sterben, gibt allerdings nur den äußeren Umriß dieser Massenerscheinung; aber wenn dieses Verhältnis für eine ganze Reihe von Generationen näherungsweise konstant bleibt, so gelangt man zur Abstraktion einer numerischen Sterblichkeitsregel, die jedenfalls eine äußere Analogie mit einem Naturgesetz besitzt.

Die Tatsache jedoch, daß die mittlere Jahrestemperatur eines Ortes z. B. ziemlich konstant 9 Grad Celsius beträgt, pflegt man nicht als ein Naturgesetz zu bezeichnen. Diese Mitteltemperatur ist nur die Folge sehr mannigfaltiger, im Einzelnen naturgesetzliche bestimmter metereologischer Prozesse, die sich zwar von Jahr zu Jahr im Großen und Ganzen in ähnlicher Weise wiederholen, aber doch auch zuweilen bedeutend divergierende Durchschnittsresultate ergeben. Der Schluß vom Beobachteten auf das nicht Beobachtete ist also weit unsicherer, als im Falle eines wirklichen, isolierten Naturgesetzes.

Noch unsicherer ist nun aber dieser Schluß bei konkreten Massenerscheinungen der menschlichen Gesellschaft. Die allgemeinen Vorbedingungen der metereologischen Prozesse bleiben jedenfalls in höherem Grad konstant, als die verwickelten Ursachensysteme der menschlichen Erscheinungen. Unter den auf kürzere Zeitstrecken ziemlich unverändert bleibenden statistischen Verhältniszahlen wüßte ich keine, von der es nicht wahrscheinlich wäre, daß sie mit der Veränderung und Entwicklung der allgemeinen Kulturverhältnisse, mit den Fortschritten der Gesundheitspflege, des Wohlstandes usw. im Laufe eines längeren Zeitraumes in einem positiven oder negativen Sinn langsam veränderlich sein wird. Die statistischen Zahlen folgen ja selbstverständlich der Entwicklung der menschlichen Zustände, die sie numerisch präzisieren sollen.

8. Die äußere Regelmäßigkeit der konkreten Massenerscheinungen könnte nur dann als Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinn anerkannt werden, wenn sie unmittelbar das  Zusammentreffen  der Einzelfälle regelte. Die Elementarvorgänge besäßen dann trotz der großen Mannigfaltigkeit ihrer Verursachung nur scheinbar die Unabhängigkeit voneinander, die sich äußerlich zeigt; in Wirklichkeit bestände eine innere Beziehung zwischen ihnen, die unmittelbar das Zustandekommen der beobachteten numerischen Regelmäßigkeit in der Massenerscheinung bedingen müßte. Dann hätten wir eine allgemeine, durch alle Einzelfälle gehende Norm des Geschehens, die wohl den Anspruch auf den Titel  Gesetz  besäße, auch wenn sie langsamen Veränderungen in der Zeit unterworfen wäre.

Sind aber Gesetze dieser Art in den menschlichen Massenerscheinungen, zumal den aus bewußtem Handeln der Individuen hervorgehenden, wirklich nachweisbar?

Von einer  vollständigen  Unabhängigkeit der im Schoße der Gesellschaft vorkommenden Einzel-Vorgänge und -Handlungen kann allerdings keine Rede sein. Insbesondere besteht ein gewisser "sozialethischer" Zusammenhang zwischen dem Ganzen der Gesellschaft und ihren Gliedern; die Gesinnungen, welche den Handlungen der Individuen zugrunde liegen, wirken auch wieder in ihrer Gesamtheit als Gemeingeist, Zeitgeist, sittliche Stimmung der Gesellschaft zurück auf den Einzelnen. Aber wenn auch der Komplex von Motiven, aus dem die Handlung eines Individuums hervorgeht, durch psychologische, sittliche oder unsittliche Einflüsse aus seiner näheren oder entfernteren Umgebung mitbestimmt wird, so folgt doch daraus keineswegs, daß diese Einflüsse nach einer in ihnen selbst liegenden Norm zusammenwirken, um ein bestimmtes numerisches Ergebnis in der Totalerscheinung zustande zu bringen. Eine Vorstellung dieser Art, und zwar in überwiegend mechanischer Auffassung, liegt offenbar dem Standpunkt QUÉTELETs zugrunde. Man denke nur an seine oft wiederholte Phrase vom Budget des Schaffots und der Gefängnisse. BUCKLE hat diese Anschauung in dilettantischer Weise bis zu den äußersten Grenzen erweitert, während in Deutschland ADOLPH WAGNER Anfangs zwar QUÉTELET sehr nahe stand, später aber von dessen Einseitigkeit zurückgekommen ist. An die Stelle der mechanischen Auffassung der moral-statistischen Erscheinungen, die namentlich von DROBISCH mit Erfolg bekämpft worden war (2), machte ALEXANDER von OETTINGEN die "sozialethische" geltend, die ohne Zweifel berechtigt ist, wenn sie in den oben angedeuteten Grenzen bleibt. Wollte man aber so weit gehen, daß man den Zahlenverhältnissen in der sittlichen Welt eine geheimnisvolle, wirksame Rolle beilegte, anstatt sie lediglich als  Resultate  der Wirklichkeit anzusehen, so nähme man statt des unbegreiflichen  mechanischen  ein ebenso unbegreifliches  mystisches  Gesetz an.

9. Vom Standpunkt des Mechanismus aber wie der Mystik müßte man zur Erklärung der statistischen Gesetzmäßigkeiten voraussetzen, daß neben den bewußten Motiven der menschlichen Individuen noch ein Unbewußtes läuft, das als durch das Ganze herrschende Macht bestimmte numerische Verhältnisse in der Totalerscheinung erstrebt und erzwingt.

Nun stehen allerdings auf dem Gebiet des  vollbewußten,  selbstbestimmten Handelns sehr häufig die Einzelvorgänge einer Massenerscheinung trotz ihrer Mannigfaltigkeit in einem Zusammenhang, der auf ein konstantes numerisches Endresultat hinwirkt und dasselbe näherungsweise auch wirklich hervorruft. Solche Erscheinungen gehören namentlich im volkswirtschaftlichen Leben zu den trivialen Dingen. Angenommen ein in einem gewissen Land in größerem Umfang betriebener Industriezweig bedarf zweier Arten von Rohstoffen, die aus verschiedenen Ländern eingeführt werden müssen, und zwar soll das fertige Produkt vom Stoff  A  immer doppelt so viel enthalten, als vom Stoff  B.  Dann ist einleuchtend, daß dieses Verhältnis  2 : 1  die relativ unabhängigen, weil von vielen Importeuren selbständig betriebenen einzelnen Einfuhren beider Rohstoffe in der Weise beherrscht, daß es bei jeder Operation im Auge behalten werden muß. Wäre in den ersten Monaten des Jahres die Zufuhr des Stoffes  B  ungewöhnlich stark gewesen, so würde die Rücksicht auf die maßgebende Proportion entweder die Importeure dieses Stoffs zur Mäßigung ihrer Unternehmungen oder, bei einem großen Aufschwung der Geschäfte, die Importeure des Stoffes  A  zu einer entsprechenden Mehreinfuhr veranlassen. Und so würde Jahr ein Jahr aus immer nahezu das richtige Verhältnis der Totaleinfuhr beider Stoffe zutage treten.

Auf dieses schematische Beispiel sind die numerischen "Gesetze" zurückzuführen, welche die Befahrung eines Weltmarktes regeln. Es gibt eben viele Warengruppen, die in quantitativ bestimmten Verhältnissen zusammengehören, und diese Verhältnisse müssen durch das Zusammenwirken zahlreicher, äuerlich voneinander unabhängiger Einzelsendungen in der Gesamtzufuhr einer gewissen Zeitstrecke zum Ausdruck gebracht werden.

Freilich gehören diese und ähnliche Massenerscheinungen, in denen die Herrschaft eines Zahlenverhältnisses unmittelbar erkennbar ist, zu den generischen, da die wesentlichen Bedingungen ihrer Elementarvorgänge in abstracto übersehen werden könenn. Auch hat der numerische Nachweis der Konstanz solcher Verhältnisse im Allgemeinen kein wissenschaftliches Interesse, es sei denn, daß man einzelne Beispiele zu methodologischen Zwecken behandelt.

Denkt man sich aber statt des bewußten "zielstrebigen" Zusammenhangs der Einzelerscheinungen einen unbewußten, so hätte man eben das kabbalistische Phänomen eines herrschenden Zahlengesetzes in einer konkreten Massenerscheinung.

10. Diese Betrachtungen führen uns zu einer zweiten Einteilung der Massenerscheinungen: die einen, die man als  unverbundene  bezeichnen kann, sind solche, deren Einzelfälle voneinander unabhängig sind oder doch nicht in einem solchen Zusammenhang stehen, der auf die Erzeugung eines bestimmten numerischen Verhältnisses in der Gesamterscheinung hinwirkt; die andern aber sind dann als  verbundene  zu bezeichnen und dadurch charakterisiert, daß ihre Einzelfälle in einem Zusammenhang miteinander stehen, der ein bestimmtes numerisches Verhältnis in der Totalerscheinung bedingt. Insbesondere müßte also, wenn durch eine Anzahl von Einzelfällen Abweichungen von diesem Verhältnis zu entstehen drohen, durch andere Fälle  Ausgleich  oder  Ersatz  eintreten.

Die unverbundenen Massenerscheinungen können sowohl zu den generischen wie zu den konkreten gehören; verbundene dagegen kommen unzweifelhaft nur unter den generischen vor; daß sie auch unter den konkreten Massenerscheinungen zu finden sind, wird man jedenfalls in Abrede stellen dürfen, bis der positive Beweis dafür geliefert ist. Jedoch ist von der Theorie zu fordern, daß sie allgemeine Kriterien aufstellt, um Massenerscheinungen dieser problematischen Art zu erkennen, wenn sie vorkommen sollten. Diesen Kriterien würde man natürliche auch schon dann einen Gewinn verdanken, wenn sich mit ihrer Hilfe zeigen ließe, daß alle genauer untersuchten Massenerscheinungen  nicht  zu jener Kategorie gehören. Weiter unten wird man, wie ich glaube, diese Aufgabe wenigstens teilweise gelöst finden.


II. Die Theorie der Massenerscheinungen
und die Wahrscheinlichkeitsrechnung

11. Die Theorie der Massenerscheinungen hat zunächst eine formale Aufgabe zu erfüllen: sie soll die richtige Abgrenzung der Massen lehren und namentlich die Methode feststellen, wie eine Masse, deren Elemente zu verschiedenen Zeiten eine Reihe von Veränderungen erfahren, in ihrem gesamten Zustandswechsel korrekt verfolgt werden kann. Diese formale, besonders für die Bevölkerungsstatistik wichtige Theorie ist in neuerer Zeit, nachdem KNAPPs Arbeiten den Anstoß gegeben haben, zur Genüge ausgebildet worden. (3)

Aber die Theorie soll auch die Möglichkeit gewähren, wenigstens in gewissem Sinne eine vermehrte Einsicht in das Materielle der Massenerscheinungen zu gewinnen. Bei dieser Untersuchung, mit der wir uns im Folgenden näher beschäftigen wollen, wird die Tatsache ausgenutzt, daß wir eben mit Massen, mit großen Zahlen zu tun haben, und sie beruth daher wesentlich auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Einige allgemeine Bemerkungen über die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die objektive Außenwelt mögen vorausgeschickt werden.

Als mathematische Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bezeichnet man bekanntlich das Verhältnis der diesem Ereignis günstigen,  gleich möglichen  Fälle zur Gesamtzahl der  gleich möglichen  Fälle überhaupt. Als Zweig der reinen Mathematik braucht die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit dieses Verhältnisses für die objektive Welt keine Rücksicht zu nehmen; sie stellt dasselbe als Definition auf, rechnet auf dieser Grundlage weiter und gelangt zu interessanten analytischen Entwicklungen, die mathematischen  Selbstzweck  besitzen.

Nun folgt schon aus der Voraussetzung  gleich möglicher  Fälle, daß diese Rechnung nur auf dem Gebiet der  subjektiven  Wahrscheinlichkeit eine  apriorische  Anwendbarkeit besitzt.

Wenn wir infolge unseres  ungenügenden Wissens  keinen Grund absehen, weshalb wir einen Fall für leichter möglich  halten  sollen, als einen anderen, so nehmen wir für unser  subjektives Ermessen  alle Fälle als gleich möglich an, und jedermann der nicht mehr über die objektive Entstehungsart der Ereignisse weiß, wird diese gleiche Möglichkeit ebenfalls zugeben. So dient die Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Beantwortung von Fragen über Kombinationen von Chancen, die als gleich  angenommen  werden und ihre unmittelbare praktische Verwendung würde sie daher lediglich in der Regelung von  Glücksspielen  und  Wetten  finden, die dann ja auch den ersten Anstoß zu ihrer Ausbildung gegeben haben. Denn die Gerechtigkeit und Billigkeit der Bedingungen eines Würfelspiels z. B. läßt sich auf der Grundlage einer gleichmäßigen Unwissenheit der Beteiligten über die komplizierten Bewegungen des Würfels vollkommen befriedigend herstellen.

12. Aber mit der so dargestellten subjektiven Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses darf die objektive, physische  Möglichkeit  desselben nicht verwechselt oder vermengt werden, - ein Satz, den besonders COURNOT nachdrücklich hervorgehoben hat.

Die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Beurteilung der objektiven Möglichkeit eines Ereignisses ergibt sich keineswegs aus ihr selbst oder aus ihrem Grundprinzip, sondern lediglich aus der  Erfahrung.  Denn es gibt in der Wirklichkeit keine  gleich möglichen  Fälle, jedes Ereignis ist ein absolut individueller Prozeß, das Endglied einer Kausalitätskette, die ins Unendliche zurückläuft. Auch gibt es streng genommen keine gegeneinander absolut indifferente Ereignisse, wie es doch die Grundvorstellung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ebenfalls verlangt.

Wenn die Kugel bereits im Roulette rollt, ist für die Spieler die subjektive Wahrscheinlichkeit des Herauskommens irgendeiner Nummer noch ebenso groß wie die jeder anderen, und die weiteren Einsätze regeln sich mit Recht noch nach dieser Voraussetzung. Und doch steht der Verlauf des mechanischen Prozesses und somit auch die Endlage der Kugel dann schon naturgesetzlich fest und von einer gleichen Möglichkeit aller Endergebnisse kann objektiv gar keine Rede mehr sein.

Nun aber vergleiche man die Resultate, welche die Wahrscheinlichkeitsrechnung, indem sie von der Vorstellung gleich möglicher Fälle ausgeht, für eine  Massenerscheinung  ableitet, mit der beobachteten Wirklichkeit: dann wird man finden, daß sehr viele Massenerscheinungen sich so verhalten,  als wenn  es gleich mögliche, voneinander völlig unabhängige Einzelereignisse gäbe. So gewinnt also die Wahrscheinlichkeit  aufgrund der Erfahrung  eine objektive Bedeutung und dadurch eine ausgedehnte Anwendbarkeit. Wir können namentlich die beobachteten Massenerscheinungen mit den nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwartenden Ergebnissen vergleichen: findet ein Widerspruch statt, so sind wir wahrscheinlich von falschen Voraussetzungen ausgegangen und es gelingt dann oft, durch genauere Untersuchungen unser Wissen zu berichtigen.

13. Wie aber erklärt sich die Übereinstimmung von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Wirklichkeit, wenn es in der Wirklichkeit weder gleich mögliche noch absolut voneinander unabhängige Ereignisse gibt?

Man kann sich hier weder auf den BERNOUILLI'schen Satz, noch auf POISSONs Formulierung des Gesetzes der großen Zahlen berufen.

Nach diesen Sätzen wird,  wenn ein Ereignis eine bestimmte mathematische Wahrscheinlichkeit besitzt,  bei einer großen Zahl von Beobachtungen sehr wahrscheinlich die Zahl des Vorkommens des Ereignisses dividiert durch die Beobachtungs- oder Versuchszahl nahezu jener Wahrscheinlichkeit gleichkommen. In diesem Bedingungssatz wird aber die objektive Bedeutung der auf der Vorstellung gleich möglicher Fälle beruhenden mathematischen Wahrscheinlichkeit schon  vorausgesetzt.  Es handelt sich für uns vielmehr um die Umkehrung dieses Satzes. Wenn bei einer gegebenen Zahl  z  von Beobachtungen oder Versuchen ein gewisses Ereignis  e-mal  eintritt, darf man dann den Bruch  e/z  als Näherungswert einer mathematischen Wahrscheinlichkeit behandeln, die zugleich die physische Möglichkeit des Ereignisses ausdrückt? Darf man mit diesem Wert weiter rechnen, wie mit einer mathematischen Wahrscheinlichkeit, und entsprechen die weiteren Rechnunsresultate ebenfalls der Wirklichkeit? Zur Beantwortung dieser Frage kann auch der Satz über die Wahrscheinlichkeit a posteriori nichts helfen, da dieser nur eine vorausgesetzte Wahrscheinlichkeit a priori näherungsweise bestimmt; jene Frage kann vielmehr in jedem Fall nur  erfahrungsmäßig  entschieden werden. Vor allem ist zu untersuchen, ob sich der Wert von  e/z  mit zunehmendem  z  in einer bestimmten Richtung dauernd verändert. Das Ereignis kann ja nach einer  uns unbekannten  Entwicklung nach und nach relativ häufiger oder seltener eintreten. In solchen Fällen kann jener Quotient offenbar nicht die Bedeutung einer mathematischen Wahrscheinlichkeit besitzen.

Nun zeigt aber die Erfahrung, daß bei vielen Massenerscheinungen der Natur und des Menschenlebens jener, die relative Häufigkeit des betrachteten Ereignisses darstellende Quotient  e/z  in vielen nebeneinander oder nacheinander angestellten Beobachtungs- oder Versuchsreihen nahezu konstant bleibt, besonders weinn diese Reihen sehr groß sind.

Diese Tatsache deutet zunächst nur darauf hin, daß der Quotient  e/z  ein zweckmäßiges  empirisches  Kriterium der physischen Möglichkeit des Ereignisses sei. Auch erschein ja von vornherein trotz seines vagen Charakters der Satz plausibel, daß ein Ereignis umso leichter möglich ist, je häufiger es in einer gegebenen großen Zahl von Versuchen vorkommt.

Die ungefähre Konstanz eines solchen Möglichkeitskoeffizienten, wie wir jenen Ausdruck der Kürze wegen nennen wollen, ist also nur ein Symptom, welches auf das ungefähre Gleichbleiben der allgemeinen Entstehungsbedingungen des Ereignisses hindeutet.

14. Aber selbst wenn der Möglichkeitskoeffizient in mehreren Reihen eine angenäherte Konstanz aufweist, darf man ihm doch nicht ohne weiteres den präzisen Charakter einer näherungsweise ausgedrückten mathematischen Wahrscheinlichkeit beilegen. Dazu bedarf es noch des Nachweises, daß die empirischen Werte des Möglichkeitskoeffizienten bei zunehmender Beobachtungszahl in dieser Weise gegen einen festen Grenzwert konvergieren, wie es die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie verlangt. Wie dieser Nachweis indirekt geliefert werden kann, wird unten näher erörtert. Er läßt sich in der Tat in manchen Fällen mit genügender Sicherheit führen, und wenige Beispiele dieser Art reichen schon aus, um der mathematischen Wahrscheinlichkeit eine objektive Bedeutung als Maß der realen Möglichkeit zu sichern. Man ist dann berechtigt, aufgrund der Wahrscheinlichkeitstheorie für die Massenerscheinungen ein ideales Schema aufzustellen und sie zu klassifizieren, je nachdem sie diesem Schema näherungsweise entsprechen oder im einen oder im anderen Sinn wesentlich von demselben abweichen.

Was bedeutet aber der Satz, daß eine Massenerscheinung auf das Schema der Wahrscheinlichkeitsrechnung zurückgeführt ist? Die Möglichkeitskoeffizienten der einzelnen Versuchsweisen haben in diesem Fall einen festen Grenzwert  E/Z,  und das Ereignis tritt in einer solchen Frequenz auf, wie sie nach der Theorie zu erwarten wäre, wenn bei jedem Versuch  einer von Z gleich möglichen und voneinander unabhängigen  Umständen die Entscheidung gäbe, und zwar  E  von diesen Umständen das Ereignis hervorriefen, die übrigen aber dasselbe verhinderten.

Man kann natürlich die Zahl der günstigen und ungünstigen Umstände außerordentlich, selbst unendlich groß annehmen, ohne daß dadurch das Verhältnis  E/Z  verändert wird.

Nun sind in der wirklichen Welt sowohl für das Eintreten als für die Verhinderung eines Ereignisses unzählig viele Umstände entscheidend, aber diese Umstände sind selbstverständlich weder gleich möglich noch absolut unabhängig voneinander. Wären sie in einem strengen Sinn gleich möglich, so wäre ja das wirkliche Auftreten eines dieser Umstände ein absoluter  Zufall,  der in der objektiven Welt undenkbar ist.

Folglich ist das Zusammenfallen des Grenzwertes des Möglichkeitskoeffizienten mit einer mathematischen Wahrscheinlichkeit, soweit es näherungsweise durch die Erfahrung konstatiert wird, nur durch die Annahme zu erklären, daß die unberechenbare Mannigfaltigkeit der Umstände, welche das Ereignis hervorrufen oder verhindern eine genügende  Analogie  des absoluten Zufallsspiels mit  E  günstigen gegen  Z-E  ungünstige Chancen darbietet.

15. Kehren wir nun zur Betrachtung der Massenerscheinungen der menschlichen Gesellschaft zurück, und zwar insbesondere derjenigen, deren Einzelvorgänge auf bewußtem Handeln beruhen. Gehören dieselben in die Klasse der "konkreten", so ist damit schon gesagt, daß die Einzelfälle hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen und ihrer Motivierung sehr verschiedenartig wird. Gehören die betreffenden Massenerscheinungen außerdem zu den "unverbundenen" - und die Verbundenheit ist ja unter den konkreten Massenerscheinungen ganz unerwiesen - so sind die Einzelfälle wenigstens in Bezug auf das Zustandekommen des empirischen Möglichkeitskoeffizienten voneinander abhängig.

Verhalten sich die einzelnen Möglichkeitskoeffizienten in einer Anzahl von Versuchsreihen (4) nachweislich wie Näherungswerte einer konstanten mathematischen Wahrscheinlichkeit, so ist dadurch dargetan, daß die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit des Ereignisses trotz der Schwankungen der einzelnen Quotienten in den verschiedenen Beobachtungsreihen unverändert geblieben sind.

Was aber ist mit diesem Nachweis gewonnen?

"Allgemeine Bedingungen der Möglichkeit" eines Ereignisses das nach der Voraussetzung unter höchst mannigfaltigen, im Einzelnen unbekannten, subjektiven und objektiven Einflüssen zustande kommt - das ist ein von vornherein sehr unklarer und problematischer Begriff. Durch den eben erwähnten Nachweis aber wird gezeigt, daß er wirklich objektive Bedeutung besitzen und auf einen bestimmten mathematischen Ausdruck gebracht werden kann, der seinerseits auf der Vorstellung eines Zufallsspiels mit einer bestimmten Zahl günstiger und ungünstiger Chancen beruth.

Es gibt also dann doch etwas allgemeines und bleibendes in den konkreten Massenerscheinungen, deren Einzelfälle für unsere Betrachtung nur den Endausgang gemeinschaftlich haben. Aber es handelt sich in diesen Fällen nur um allgemeine und bleibende  Möglichkeiten,  die für uns nicht unmittelbar  faßbar  sind.

16. Durch dieses Gleichbleiben der Möglichkeitsbedingungen einer Massenerscheinung wird aber, auch wenn die Einzelfäle aus bewußten (aber sehr mannigfaltigen) Motiven entstehen die individuelle Willensfreiheit, die doch nicht als bestimmungslose Willkür aufzufassen ist, durchaus nicht in Frage gestellt, jeder Einzelfall bleibt in seiner besonderen Kausalitätskette; er wird nur registriert als Wirkung eines der unzähligen möglichen Ursachensysteme, die das Ereignis zustande bringen können.

Die Beziehungen der Einzelfälle unter sich können nähere und entferntere sein, aber ausdrücklich zugestanden ist ja, was im Interesse der Willensfreiheit auch zu fordern wäre, daß sie im Bezug auf das Zustandekommen des Möglichkeitskoeffizienten voneinander unabhängig seien. Dies heißt, daß eine etwaige starke Abweichung vom normalen Möglichkeitskoeffizienten, die sich in einem Teil der Versuche herausstellte, in keiner Weise eine entsprechende Ausgleichung in einem anderen Teil  bedingen  darf, ebensowenig, wie beim Roulettespiel eine Reihenfolgen von zwanzigmal "Rot" irgendeinen Einfluß auf die folgenden Spielresultate haben kann und darf. Niemand ist also z. B. genötigt sich aufzuhängen, um das Budget der Selbstmorde vollständig zu machen.

Ein sogenannter gesetzlicher Einfluß des nur als  Resultat  und nicht als herrschende Formel auftretenden Möglichkeitskoeffizienten ist ja ausdrücklich ausgeschlossen, da wir nur unverbundene konkrete Massenerscheinungen vor uns haben; ganze Versuchsreihen können sehr weit von der Wahrscheinlichkeit abweichen, wie beim Roulettespielt zwanzigmal dieselbe Farbe nacheinander folgen kann; es ist dann eben etwas geschehen, was apriori sehr unwahrscheinlich, aber doch nicht unmöglich war.

Aber trotz der mehr oder minder großen Abweichungen der Einzelreihen lehrt uns die Wahrscheinlichkeitsrechnung in den hier angenommenen Fällen, daß die objektive Möglichkeit des Ereignisses in allen Reihen dieselbe war; sie lehrt uns verstehen, wie die größte Mannigfaltigkeit des einzelnen Geschehens mit geringer Veränderlichkeit der numerischen Verhältnisse der Massenerscheinungen verbunden sein kann.

17. Daß es wirklich nur auf die den Zufall nachahmende Mannigfaltigkeit der physischen oder geistigen Verursachung unter gewissen allgemeinen Bedingungen ankommt, dürfte aus folgendem Beispiel klar werden.

Man zähle nach, wie oft in einem Band von GOETHEs Werken der Buchstabe  e  vorkommt und wieviele Buchstaben der Band überhaupt enthält. Das Verhältnis der ersteren Zahl zur letzteren stellt dann einen empirischen Ausdruck der Möglichkeit des Vorkommens von  e  in der deutschen Sprache dar. In jedem anderen Band von GOETHE wird man sehr wahrscheinlich einen nahezu gleichen Näherungswert dieses Möglichkeitskoeffizienten finden; (5) und wenn man den Satz eines Bandes aufbräche und aus dem fortwährend blindlings aufgewühlten Haufen der Lettern so oftmal eine derselben herausnähme, als der Band Buchstaben zählt (mit jedesmaligem Zurückwerfen des gezogenen Buchstabens) so würden diese Ziehungen wiederum nahezu denselben Möglichkeitskoeffizienten des  e  ergeben.

Aber hat diese, durch den phonetischen Charakter der deutschen Sprache bedingte Stabilität des Möglichkeitskoeffizienten von  e  oder irgendeinem anderen Buchstaben die Freiheit von GOETHEs Gedanken und Stil beschränkt? Gewiß nicht; er hat deutsche Worte in großer Zahl und Mannigfaltigkeit aneinandergereiht ohne sich um die relative Häufigkeit des  e  in seinen Worten zu kümmern; welche Ideen ihn bei diesen Wortverbindungen leiteten, kommt gar nicht in Betracht, die bloße Mannigfaltigkeit und große Zahl der Worte genügt um die Frequenzverhältnisse der einzelnen Buchstaben nach den allgemeinen Bedingungen ihrer Möglichkeit, wie sie durch die Besonderheit der Sprache gegeben sind, hervortreten zu lassen.

Der "phonetische Charakter" einer Sprache ist ebensowenig etwas scharf Faßbares, wie "die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit" des Einzelereignisses einer konkreten Massenerscheinung; aber der eine wie der andere Begriff besitzt gleichwohl seine bestimmte objektive Bedeutung, welche in vielen Fällen in der mathematischen Wahrscheinlichkeit einen adäquaten Ausdruck findet.

Handelt es sich um  generische  Massenerscheinungen, so vermögen wir die wesentlichen Entstehungsbedingungen der  Einzelereignisse  als gleichartig zu erkennen, und die Regelmäßigkeiten der Gesamterscheinung werden uns im Allgemeinen ebenso begreiflich sein wie die etwaigen starken Schwankungen. Wir finden es ganz natürlich, daß auf den Kopf der Bevölkerung eines Landes, das weder durch eine Krisis gestört, noch in einem ungewöhnlichen wirtschaftlichen Aufschwung begriffen ist, von Jahr zu Jahr ein ungefähr gleicher Getreidekonsum kommt; und ebenso natürlich ist es, daß dieses Land, wenn es nur in normalen Jahren seinen Getreidebedarf selbst zu produzieren vermag, je nach den Ernteergebnissen in den verschiedenen Jahren einen sehr stark veränderlichen Bruchteil seiner Konsumtion aus dem Ausland einführt.

Der Übergang von den generischen zu den konkreten Massenerscheinungen ist übrigens ein allmählicher; wir sind häufig noch imstande, Bedingungen zu erkennen, welche von großem Einfluß auf das Zustandekommen des Ereignisses sind, aber nicht  allgemein  mit zugrunde liegen; je zahlreicher solche Bedingungen von beschränkter Tragweite auftreten, umso deutlicher erhält die Massenerscheinung den Charakter einer konkreten, bei der eben ein gar nicht zu entwirrender Bedingungskomplex der Totalerscheinung zugrunde liegt.

18. Also weder die generischen noch die unverbundenen konkreten Massenerscheinungen stellen uns durch die ungefähre Konstanz ihrer numerischen Verhältnisse vor eine Unbegreiflichkeit oder eine mechanische Gesetzmäßigkeit. Denn diese Regelmäßigkeiten entstehen in den unverbundenen Massenerscheinungen, ohne daß unter den Einzelfällen eine Beziehung bestände, welche auf die  Kompensation der Abweichungen  hinwirkt; in den konkreten entstehen sie dadurch, daß die Einzelfälle jeder Versuchsreihe einen wenig veränderlichen allgemeinen Bedingungskomplex gewissermaßen nach allen Richtungen hin ausprobieren und daher einen nahezu gleichbleibenden äußeren Umriß desselben ergeben; in den generischen unverbundenen Massenerscheinungen aber ergibt sich die äußere Regelmäßigkeit einfach dadurch, daß jeder beobachtete Einzelfall auf dasselbe Resultat abzielt und es mehr oder weniger genau verwirklicht; bei den verbundenen generischen Massenerscheinungen schließlich obwaltet in den Einzelhandlungen eine  für uns erkennbare und erklärliche  Rücksicht auf die Erzielung eines gewissen Verhältnisses in der Totalerscheinung.

Unbegreiflich bleibt uns also, wie schon früher bemerkt wurde, nur die verbundene konkrete Massenerscheinung - wenn sie wirklich vorkommen sollte. Denn in dieser bestände zwischen den Einzelfällen eine geheimnisvolle, unserer Erkenntnis nicht zugängliche Kompensationstendenz.

Es ist also wünschenswert zu zeigen, daß die uns bisher bekannten Regelmäßigkeiten konkreter Massenerscheinungen in diese problematische Kategorie  nicht gehören. 

Das Kriterium zur Unterscheidung dieser Art von Massenerscheinungen kann nur gesucht werden im Grad der Divergenz oder "Dispersion" der Ergebnisse mehrerer Versuchsreihen.

Wenn das Vorkommen eines Ereignisses in einer größeren Zahl von Versuchsreihen sich so gestaltet, als ob es von einem reinen Glücksspiel mit  E  Chancen gegen  Z-E  abhinge, so liegt uns ohne Zweifel eine unverbundene Massenerscheinung vor. Denn im reinen Zufallsspiel, das wenigstens näherungsweise durch Roulette, Würfel, usw. verwirklicht werden kann, findet ein kompensatorischer Zusammhang der Einzelfälle  nicht  statt.

Ist die Dispersion der Reihenergebnisse noch größer, als sie unter der Voraussetzung eines Zufallsspiels mit konstanter Wahrscheinlichkeit des Ereignisses zu erwarten wäre, so tritt die "Unverbundenheit" der Massenerscheinung noch entschiedener zutage. Dieser Fall ist zu vergleichen mit dem zufälligen Ziehen von schwarzen und weißen Kugeln aus verschiedenen Urnen, die von Reihe zu Reihe zufällig gewählt werden und die nicht alle schwarze und weiße Kugeln im gleichen Verhältnis enthalten, sondern ungenau und zwar mit zufälligen Fehlern gefüllt worden sind.

Zeigte sich dagegen in einer großen Zahl von Versuchsreihen eine entschieden geringere Dispersion der einzelnen Resultate, als dem Schema eines Glücksspiels entspricht, so würde es mit der steigernden Zahl der Versuchsreihen immer wahrscheinlicher, daß eine Beziehung zwischen den Einzelfällen besteht, welche auf das Zustandekommen eines festen Endverhältnisses direkt hinwirkt.

Wenn die mathematische Theorie zeigt, daß bei einem reinen Glücksspiel die  Überschreitung  einer gewissen Abweichung vom  wahrscheinlichsten  Resultat (6) die Wahrscheinlichkeit  ½  hat, so ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß bei einem wirklichen Glücksspiel, das sich dem reinen Zufallsspiel genügend annähert, in 1000 Versuchen jene Abweichungsgrenze nahezu 500 Mal nicht erreicht und auch nahezu 500 Mal überschritten wird. Sollte sich nun aber herausstellen, daß sämtliche 1000 Versuchsresultate  innerhalb  der bezeichneten Grenze bleiben, so wäre fast gewiß, daß die Versuche nicht den Bedingungen eines Glücksspiels mit festen Chancen entsprechen, daß irgendeine unbekannte Ursache tätig gewesen ist, um größere Abweichungen vom wahrscheinlichsten Endresultat zu verhindern.

Es wäre z. B. anzunehmen, daß dem Ziehenden die Kugeln der einen oder anderen Art in der Urne mit Rücksicht auf das Endresultat irgendwie in die Hände gespielt worden sind.

19. Die Wichtigkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Erkenntnis der inneren Konstitution der Massenerscheinungen erscheint hiernach in einem neuen Licht.

Wie aber erfährt man aus der Theorie, ob eine konkrete Massenerscheinung dem Schema des Zufallsspiels mit konstanten (oder auch zufällig schwankenden) Chancen entspricht, oder ob die Divergenz der Einzelresultate so gering ist, daß man eine innere Verbundenheit derselben annehmen muß?

Diese Frage läßt sich nur mathematisch beantworten, und ich kann daher hier nur eine ungefähre Vorstellung von ihrer Lösung geben. Näheres findet man in meiner Abhandlung über das Geschlechtsverhältnis der Geborenen (7).

Wir betrachten nur solche aus Massenbeobachtungen abgeleitete Zahlenverhältnisse, die von vornherein als empirische Näherungswerte einer mathematischen Wahrscheinlichkeit oder doch als Funktionen von solchen Wahrscheinlichkeiten angesehen werden  können.  Die Zahl der Gestorbenen eines Jahres dividiert durch die Zahl der Lebenden am Anfang des Jahres ist zwar ein Bruch, aber keine Wahrscheinlichkeit, daß außer jenen Lebenden auch noch die im Laufe des Jahres geborenen Kinder dem Sterben ausgesetzt werden und einen gewissen Tribut von Sterbefällen zur Gesamtzahl beitragen. Die Zahl der Knabengeburten dividiert durch die Gesamtzahl der Geburten eines Jahres dagegen kann als eine empirische Wahrscheinlichkeit aufgefaßt werden, denn jede Geburt ist eine Erprobung, ob ein Knabe oder ein Mädchen geboren wird, und aus einer großen Anzahl solcher Proben ergibt sich so ein empirischer Möglichkeitskoeffizient  v  für die Knabengeburt. Das Verhältnis der Knabengeburten zu den Mädchengeburten aber ist keine Wahrscheinlichkeit, wohl aber eine Funktion der eben angeführten Wahrscheinlichkeit  v. 

[...]

56. Nach meinen bisherigen Untersuchungen, die freilich nach zu vervollständigen sind, glaube ich nun folgende Sätze aufstellen zu dürfen:

Wirklich typische Reihen, sei es von absoluten oder von Wahrscheinlichkeitsgrößen, sind in den menschlichen Massenerscheinungen verhältnismäßig nur selten nachzuweisen. Die Lebenslänge der Normalgruppe und das Geschlechtsverhältnis der Geborenen bieten gut charakterisierte Beispiele der einen und der anderen Art dar, die freilich beide überwiegend die physische Seite des Menschenlebens betreffen.

Es scheint, daß typische Reihen nur bei solchen Massenerscheinungen auftreten, bei denen entweder in jedem Einzelfall eine annähernd gleiche Tendenz zur Erreichung eines bestimmten Ziels vorhanden ist, oder in denen in jedem Einzelfall ein gleichartiger Bedingungskomplex zugrunde liegt, der so wirkt, als wenn eine gemeinschaftliche, konstante, oder nur zufällig um ein Mittel oszillierende Wahrscheinlichkeit für das Vorkommen des Ereignisses maßgebend wäre. Von den eigentlich generischen unterscheiden sich diese letzteren Massenerscheinungen dadurch, daß wir die gleichartigen Bedingungskomplexe der Einzelfälle nicht weiter auflösen können.

Sind die Bedingungskomplexe der Einzelfälle selbst sehr verschiedenartig und mannigfaltig, so  kann  allerdings dennoch das Totalsystem  aller  Bedingungen in einem Beharrungszustand (8) bleiben, in welchem wieder die Analogie eines Glücksspiels mit gegebenen Chancen zutrifft.

Dieser Fall liegt aber unzweifelhaft  nicht  vor, wenn die Einzelwerte des Verhältnisses nachweislich durch nicht zufällige Einwirkungen beeinflußt sind, oder wenn sich auch nur tatsächlich eine weiter nicht zu erklärende Periodizität oder eine längere Zeit hindurch dauernde Zunahme oder Abnahme der Einzelwerte bemerkbar macht.

Unter diesen letzteren Voraussetzungen aber ist die untersuchte statistische Reihe keine typische, sondern eine symptomatische, und man kann schon jetzt mit Bestimmtheit behaupten, daß die menschlichen Massenerscheinungen ganz überwiegend zu Reihen dieser Art führen. Die Verkettung der menschlichen Dinge wirkt ihrer Natur nach meistens auf Veränderungen in einem bestimmten Sinn hin; der Zustand des vorhergehenden Jahres ist mitbedingend und mitbestimmend für den neuen Zustand des folgenden, und daher sind auch die Zahlenverhältnisse, welche die zeitlich aufeinanderfolgenden Zustände einer gewissen Art mehr oder weniger charakterisieren, nicht unabhängig voneinander, wie zufällige Modifikationen einer festen Wahrscheinlichkeitsgröße, sondern jedes vorhergehende bildet im Allgemeinen den Ausgang für die Veränderung des folgenden.

Formell freilich kann man jeden Einzelwert einer symptomatischen Reihe ebenfalls als Näherungswert einer abstrakten Wahrscheinlichkeitsgröße betrachten; aber da man dann weiter annehmen muß, daß sich die zugrunde liegende Wahrscheinlichkeit selbst von Jahr zu jahr oder von irgendeiner Zeitmaßstrecke zur anderen in einer uns unbekannten Weise ändert, so ist mit einer solchen Einführung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wenig gewonnen. Mögen dann auch die Einzelwerte streckenweise nur geringe Schwankungen aufweisen, sie fügen sich doch nicht in das Schema der Wahrscheinlichkeitsrechnung, es sei denn, daß auf der ganzen betrachteten Strecke die Annahme einer nur  wenig,  wenn auch in bestimmter Richtung veränderlichen abstrakten Wahrscheinlichkeit des Ereignisses gestattet wäre.

In diesem letzteren Fall wäre die Dispersion der Einzelwerte eine annähernd normale, aber sie könnte möglicherweise  größer  sein, als sie sich bei einer  stärkeren  Veränderlichkeit der abstrakten Wahrscheinlichkeit in derselben Zeitstreck vielleicht herausgestellt hätte. Denn gerade durch die Veränderlichkeit der zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeit kann in kleineren Bruchstücken der Reihen eine  unternormale  Dispersion auftreten; aber solche Erscheinungen sind dann als  Zufälle  anzusehen, und sie beweisen noch keineswegs das Vorhandensein von verbundenen konkreten Massenerscheinungen, in denen die Einzelwerte vermöge einer inneren Beziehung unter sich in abnorm engen Grenzen gehalten würden. Nach allen bisherigen Erfahrungen aber darf man die Möglichkeit eines solchen Nachweises aber kühn in Abrede stellen. Die straffste Formel, in welche sich menschliche Massenerscheinungen - und zwar nur wenige Arten derselben - erfahrungsmäßig einfügen lassen, ist die der normalen Dispersion; und in diesem Fall ist die Unabhängigkeit des Einzelereignisses gegenüber den durch eine mathematische Wahrscheinlichkeit ausgedrückten Möglichkeitsbedingungen desselben noch ebenso groß, wie die Unabhängigkeit des einzelnen Wurfes eines Würfels in einer großen Reihe von Versuchen, in der näherungsweise jede der sechs Nummern gleich häufig herauskommt. Befände sich selbst die Menschheit in einem Beharrungszustand, so würde für alle Seiten dieses Zustandes, die sich durch statistische Zahlenverhältnisse charakterisieren lassen, höchstens jene Formel gelten, und so würde sich noch in befriedigender Weise die Freiheit der Einzelhandlung mit den Existenzbedingungen des Ganzen vereinbaren. Aber Beharrung ist im Leben der Menschheit nur die Ausnahme, die Regel ist Evolution in aufsteigender oder absteigender Richtung; die menschliche Gesellschaft ist fortwährend in Tätigkeit, um aus eigener Kraft und mit eigener Verantwortlichkeit die Grundlagen ihres Zustandes zu ändern, der übrigens, auch wenn er bestehen bliebe, für das Individuum kein zwingendes Gesetz, sondern nur Bedingungen seines Handelns aufstellen würde.
LITERATUR: Wilhelm Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1877
    Anmerkungen
    1) Allgemein könnte man mit GUSTAV von RÜMELIN fragen: "Sollte das Ineinandergreifen aller psychischen Kräfte sich vielleicht immer und überall einer wissenschaftlichen Feststellung entziehen, sollten sich die psychischen Kräfte gerade darin von den physikalischen und physiologischen unterscheiden, daß diesen ein ewig unwandelbares Maß der Leistungsfähigkeit zukommt, jene aber bei aller Beharrlichkeit ihrer Grundform hinsichtlich ihres Stärkegrades einer allmählichen inneren Umbildung unterworfen sind?"
    2) Auch KNAPP und SCHMOLLER sind den statistischen Naturgesetzen entgegengetreten. Vgl. auch Windelband, "Die Lehren vom Zufall", Seite 26f und die sehr scharfe Kritik QUÉTELETs von REHNISCH in der "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Bd. 68 und 69.
    3) Über das Nähere und die Literatur siehe meine "Einleitung in die Theorie der Bevölkerungsstatistik", Straßburg 1875.
    4) Unter "Versuch" ist jeder mitgezählte Fall zu verstehen,  in dem  das besondere Ereignis eingetreten oder  nicht  eingetreten ist.
    5) Man kann dies schon aus dem interessanten Experiment schließen, welches HAGEN schon in der ersten Auflage seiner "Wahrscheinlichkeitsrechnung", Berlin 1837, in Bezug auf ein Vorkommen des  e  in der Vorrede von EYTELWEINs "Mechanik" angestellt hat.
    6) Beim Herausgreifen z. B. von je 1000 Kugeln aus einer Urne, die unbegrenzt viele schwarze und weiße Kugeln in gleicher Anzahl enthält, wäre das wahrscheinlichste Resultat 500 schwarze und 500 weiße Kugeln. Es bestände ungefähr die Wahrscheinlichkeit ½ dafür, daß eine der beiden Farben mit  wenigstens  20 Kugeln mehr aufträte, als die andere, also im Verhältnis von wenigstens 510 zu 490.
    7) HILDEBRAND und CONRAD, Jahrbücher, Bd. 27, Seite 209
    8) Beharrungszustand ist, im Gegensatz zu einem bewegungslosen Gleichgewichtszustand, der dauernd gleichbleibende innere Bewegungszustand eines Systems bei ebenfalls gleichbleibenden äußeren Beziehungen.