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FRIEDRICH ALBERT LANGE
Geschichte des Materialismus
[2/5]

"Wo die geistige Genußfähigkeit fehlt, da stellen sie  Bedürfnisse  ein, welche immer schneller wachsen, als die Mittel zu ihrer Befriedigung."

Der ethische Materialismus
und die Religion


I. Die Volkswirtschaft und
die Dogmatik des Egoismus

Es hätte nahe gelegen, gleich den Naturwissenschaften auch die  Volkswirtschaft  und verwandte Zweige einer eingehenen Prüfung zu unterwerfen; allein hier gleiten wir bereits unwillkürlich hinüber in das Gebiet der praktischen Frage, deren Lösung das Resultat unseres kritischen Verstandes bildet. Wir prüfen eine Wissenschaft und wir finden in ihren Lehren nur den Spiegel gesellschaftlicher Zustände; wir wollen sehen, wo in der Gegenwart der  ethische Materialismus  steckt und wir finden ihn zu einer Dogmatik ausgebildet, wie sie ARISTIPP und EPIKUR nicht kannten. An die Stelle der  Lust  hat die Neuzeit den  Egoismus  gesetzt und während die philosophischen Materialisten in ihrer Ethik schwanken, entwickelte sich mit der  Volkswirtschaft  eine besondere Theorie des Egoismus, die mehr als irgendein anderes Element der Neuzeit den Charakter des Materialismus in sich trägt.

Die Wurzeln dieser Erscheinung greifen zurück bis in die Zeit vor KANT und vor der französischen Revolution. In Italien, in den Niederlanden, in Frankreich hatte der forschende Geist der neueren Jahrhunderte schon längst den Handel, den Verkehr der Nationen, die Wirkungsweise der Steuern und Abgaben, die Quellen des Wohlstandes oder der Verarmung ganzer Völker einer theoretischen Prüfung unterworfen; allein erst in  England  entwickelte sich mit der steigenden Blüte der Industrie und des Welthandels die  Volkswirtschaftslehre  zu einer Art von Wissenschaft. ADAM SMITH, der in seiner Moraltheorie einen glücklichen Gedanken sehr schwach ausführte, gewann mit seiner Untersuchung über den Reichtum der Nationen den ausgedehntesten Ruhm.  Sympathie  und  Interesse  waren ihm die zwei großen Triebfedern menschlicher Handlungen; allein während er die Sympathie als Quelle der Moral nur oberflächlich in ihren augenfälligsten Erscheinungen auffaßte, brachte er das Spiel der Interessen, den Marktverkehr von  Angebot  und  Nachfrage  auf Regeln, die noch heute ihre Bedeutung nicht verloren haben. Ihm war immerhin dieser Markt der Interessen nicht das ganze Leben, sondern nur eine wichtige Seite desselben. Seine Nachfolger jedoch vergaßen die Kehrseite und verwechselten die Regeln des Marktes mit den Regeln des Lebens, ja mit den Grundgesetzen der menschlichen Natur. Dieser Fehler trug übrigens dazu bei, der Volkswirtschaft einen Anstrich von strenger Wissenschaftlichkeit zu geben, indem er eine bedeutende Vereinfachung aller Probleme des Verkehrs mit sich brachte. Diese Vereinfachung besteht nun aber darin, daß die Menschen als rein  egoistisch  gedacht werden, und als Wesen, welche ihre Sonderinteressen mit Vollkommenheit wahrzunehmen wissen, ohne je durch anderweitige Empfindungen gehindert zu werden.

In der Tat wäre nicht das mindeste dagegen einzuwenden, wenn man diese Annahmen offen und ausdrücklich zu dem Zweck gemacht hätte, den Betrachtungen über den gesellschaftlichen Verkehr durch Fingierung eines möglichst einfachen Falles eine exakte Form zu geben. Denn gerade durch die Abstraktion von der vollen, mannigfach zusammengesetzten Wirklichkeit sind auch andere Wissenschaften dazu gelangt, den Charakter der Exaktheit zu erhalten. Exakt ist ein für allemal für uns, die wir die Unendlichkeit der Naturwirkungen nicht zu übersehen vermögen, nur dasjenige, was wir selbst exakt machen. Alle absoluten Wahrheiten sind falsch; Relationen dagegen können genau sein. Und, was für den Fortschritt des Wissens am wichtigsten ist: ein relative Wahrheit, ein Satz, der nur aufgrund einer willkürlichen Voraussetzung wahr ist und welcher von der vollen Wirklichkeit in einem sorgfältig bestimmten Sinne abweicht - gerade ein solcher Satz ist ungleich eher fähig unsere Einsicht dauernd zu fördern, als ein Satz, welcher mit einem Schlag dem Wesen der Dinge möglichst nahe zu kommen sucht und dabei eine unvermeidliche und in ihrer Tragweite unbekannte Masse von Irrtümern mit sich schleppt.

Wie die Geometrie mit ihren einfachen Linien, Flächen und Körpern uns vorwärts hilft, obwohl ihre Linien und Flächen in der Natur nicht vorkommen, obwohl die Maße des Wirklichen fast immer inkommensurabel [unvergleichbar - wp] sind, so kann auch die abstrakte Volkswirtschaft uns vorwärts helfen, obwohl es in Wirklichkeit keine Wesen gibt, welche ausschließlich dem Antrieb eines berechnenden Egoismus folgen und welche diesem mit absoluter Beweglichkeit folgen, frei von allen etwaigen hemmenden Regungen und Einflüssen, die von anderen Eigenschaften herrühren. Freilich ist die Abstraktion bei der Volkswirtschaft des Egoismus viel stärker, als in irgendeiner anderen bisherigen Wissenschaft, da sowohl die entgegenstehenden Einflüsse der  Trägheit  und der  Gewohnheit,  als auch diejenigen der  Sympathie  und des  Gemeinsinns  höchst bedeutend sind. Dennoch darf die Abstraktion dreist gewagt werden, solange sie als solche im Bewußtsein bleibt. Denn wenn erst gefunden wird, wie jene beweglichen Atome einer dem Egoismus huldigenden Gesellschaft, die man hypothetisch annimmt, sich der Voraussetzung gemäß benehmen mußten, so wird damit eben nicht nur eine Fiktion gewonnen sein, die in sich selbst widerspruchslos ist, sondern auch eine genaue Erkenntnis  einer Seite  des menschlichen Wesens und eines Elementes, welches in der Gesellschaft und namentlich in Handel und Wandel eine höchst bedeutende Rolle spielt. Man könnte wenigstens erkennen, wie sich der Mensch verhält,  insofern  die Bedingungen seines Handelns jener Voraussetzung entsprechen, wenn dies auch niemals  vollständig  der Fall sein wird.

Der Materialismus auf volkswirtschaftlichem Gebiet besteht nun eben darin, daß diese Abstraktion mit der Wirklichkeit verwechselt wird, und diese Verwechslung erfolgte unter dem Einfluß eines ungeheuren Vorwaltens der  materiellen Interessen.  Die Pfleger der englischen Volkswirtschaft gingen zum großen Teil von durchaus  praktischen  Gesichtspunkten aus; "praktisch" nicht im Sinn der alten Griechen genommen, in welchem das rüstige  Handeln  nach sittlichen und politischen Motiven vor allen Dingen jene Ehrennamen verdiente. Der Charakter dieser Zeiten brachte es mit sich, alle wahren Zwecke des Handelns in den Interessen des Individuums zu suchen. Der "praktische" Gesichtspunkt in der Volkswirtschaft ist derjenige eines Mannes, dem seine eigenen Interessen obenan stehen und der deshalb bei allen anderen Individuen dasselbe voraussetzt. Das große Interesse dieser Periode ist aber nicht mehr, wie im Altertum der unmittelbare Genuß, sondern die  Kapitalbildung. 

Die vielgescholtene Genußsucht unserer Zeiten ist vor dem vergleichenden Blick über die Kulturgeschichte bei weitem nicht so hervorragend, als die Arbeitssucht unserer industriellen Unternehmer und die Arbeitsnot der Sklaven unserer Industrie. Ja, vielfach ist das, was als lärmende und sinnlose Freude an eitlen Vergnügungen erscheint, eben nur eine Folge der übermäßigen, aufreibenden und abstumpfenden Arbeit, indem der Geist durch das beständige Hetzen und Wühlen im Dienst des Erwerbs die Fähigkeit zu einem reineren, edleren und ruhig gestalteten Genuß einbüßt. Es wird dann eben auch die Erholung unwillkürlich mit der fieberhaften Hast des Gewerbes betrieben und das Vergnügen nach den Kosten bemessen und gleichsam pflichtmäßig in den dazu bestimmten Tagen und Stunden abgemacht. Daß ein solcher Zustand nicht gesund ist und auf die Dauer schwerlich bestehen kann, scheint einleuchtend, allein nicht minder klar ist, daß in der gegenwärtigen Arbeits-Epoche ungeheure Leistungen vollbracht werden, welche in einer späteren Zeit wohl dazu dienen können, die Früchte einer höheren Kultur den weitesten Kreisen zugänglich zu machen. Was am gebildeten und durchgeistigten Genuß eines EPIKUR und ARISTIPP die Schattenseite bildete, die selbstgenügsame Beschränkung auf einen engen Freundeskreis oder gar auf die eigene Person, das tritt heutzutage selbst unter begüterten Egoisten nicht oft hervor und eine Philosophie, die sich darauf gründete, würde schwerlich irgendeine allgemeinere Bedeutung gewinnen können. Die Mittel zum Genuß zusammenraffen und dann diese Mittel nicht auf den Genuß, sondern größtenteils wieder auf den Erwerb und nochmals auf den Erwerb verwenden: das ist der vorherrschende Charakter unserer Zeit. Würden all diejenigen, welche ein mehr als mittelmäßiges Vermögen erworben haben, sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen und fortan ihre Muße den öffentlichen Angelegenheiten, der Kunst und Literatur und endlich einem gebildeten, mit mäßigen Mitteln unterhaltenen Lebensgenuß widmen, so würden nicht nur diese Personen ein schöneres, würdigeres Dasein führen, sondern es wäre auch eine hinreichende materielle Basis vorhanden, um eine edlere Kultur mit allen ihren Anforderungen dauernd zu unterhalten und dadurch unserer gegenwärtigen Geschichtsperiode einen höheren Gehalt zu geben, als der des klassischen Altertums. Vermutlich aber würden dadurch den Geschäften größere Kapitalien entzogen als jetzt durch den unsinnigsten Luxus und vielleicht könnte diese Kultur nur einem geringen Teil der Bevölkerung wahrhaft zugute kommen. Allerdings liegt auch jetzt die Sache für die große Masse der Bevölkerung betrübend genug. Wenn all die riesige Kraft unserer Maschinen und die durch Teilung der Arbeit so unendlich vervollkommneten Leistungen der Menschenhand darauf verwandt würden, um jedem das zu geben, was erforderlich ist, um das Leben erträglich zu machen und dem Geist Muße und Mittel zu seiner höheren Entfaltung zu bieten, so wäre vielleicht schon jetzt die Möglichkeit vorhanden, ohne Beeinträchtigung der geistigen Aufgabe der Menschheit, die Segnungen der Kultur über alle Stände zu verbreiten; allein dies ist bisher nicht die Richtung der Zeit. Es ist wahr, daß Kräfte über Kräfte erzeugt, stets neue Maschinen erdacht, neue Mittel des Verkehrs ersonnen werden: es ist wahr, daß die Kapitalisten, welche über alle diese Mittel gebieten, unablässig weiter schaffen, statt die Früchte ihrer Arbeit in würdiger Muße zu genießen; allein trotzdem zielt die stets vermehrte Tätigkeit direkt auf nichts weniger ab, als auf die Förderung des Gemeinswohls. Wo die geistige Genußfähigkeit fehlt, da stellen sie  Bedürfnisse  ein, welche immer schneller wachsen, als die Mittel zu ihrer Befriedigung.

Es ist ein Lieblingssatz des ethischen Materialismus unserer Tage, daß  der Mensch umso glücklicher sei, je mehr Bedürfnisse er habe,  bei gleich ausreichenden Mitteln zu ihrer Befriedigung. Das ganze Altertum war einmütig entgegengesetzter Ansicht. EPIKUR suchte nicht minder wie DIOGENES das Glück in der Freiheit von Bedürfnissen, nur daß jener das Glück, dieser die Bedürfnislosigkeit hauptsächlich ins Auge faßte. Nun ist allerdings in unserer Zeit durch die genauere Kenntnis des Volkslebens und namentlich durch die Statistik der Todesfälle, Krankheiten usw. das alte Märchen vom zufriedenen und gesunden Armen und dem stets hypochondrischen und schwächlichen Reichen glücklich widerlegt. Man mißt den Wert der irdischen Güter an der Skala der Mortabilitätstabellen und man findet, daß selbst die Sorgen gekrönter Häupter bei weitem nicht so nachteilig auf das Wohlbefinden wirken, als Hunger, Kälte und schlecht gelüftete Wohnungen. Andererseits sind aber auch die Wissenschaften hinlänglich vorgeschritten, um einen Wahrscheinlichkeitsschluß zu erlauben, der jenem materialistischen Satz schlechthin widerspricht. Die Kulturgeschichte zeigt uns, daß zu den Zeiten, wo Fürstinnen in gemauerten Wandnischen schliefen, weite Reisen zu Pferde machten und ihr Frühstück mit Speck, Brot und Bier besorgten, das Glück dieser Personen den Zeitgenossen geringer schien, als heutzutage, wo sie in prachtvollen Salonwagen Europa durchfliegen und auf jedem Punkt über die Produkte aller Zonen gebieten. Die Analogien der Psychophysik machen es uns sehr wahrscheinlich, daß die Empfindung persönlichen Glückes so relativ ist, wie die Empfindungen der Sinne: es ist der  Unterschied  der wahrgenommen wird; es ist der  Zuwachs  der empfunden und der mit der Masse des bereits Vorhandenen gemessen wird. In der Tat wird kein Vernünftiger glauben, daß die physische Beschaffenheit reicher Brüsseler Spitzen mehr zum Wohlbefinden einer damit behängten Person beitragen könne, als irgendein anderer bequem sitzender und dem Auge wohlgefälliger Schmuck von vergleichsweise verschwindendem Wert. Und doch kann der Besitz dieser Spitzen "Bedürfnis" werden; die Unmöglichkeit, sie zu beschaffen, kann den lebhaftesten Ärger hervorrufen; ihr plötzlicher Verlust kann die Ursache von Tränen werden. Es ist klar, daß hier der  Vergleich,  der Kampf um den Vorrang beim Bedürfnis die wesentlichste Rolle spielt und daraus ergibt sich sofort, daß wenigstens diese eine Art von Bedürfnis,  das Bedürfnis andere zu übertreffen,  einer Steigerung ins Unendlich fähig ist, ohne daß für das Wohlbefinden irgendeines Beteiligten etwas gewonnen würde, was nicht für den anderen verloren ginge. Hieraus ergibt sich ferner unwiderleglich, daß eine beständige Steigerung der Gütererzeugung und der Mittel zur Gütererzeugung denkbar ist, ohne daß der Genuß irgendeines Menschen wesentlich erhöht wird und ohne daß die arbeitende Masse sich dem Ziel der Erringung des Nötigsten zu einem menschenwürdigen Dasein auch nur um einen Schritt nähert. Eine solche Steigerung der Bedürfnisse all derer, welche sie befriedigen können, in Folge mangelnden Gemeinsinns und überwuchernder Pleonexie [Habsucht - wp], gehört in der Tat zu den Charakterzügen unserer Zeit. Die Statistik des Handels und der Industrie der meisten Länder zeigt unwiderleglich, daß ein ungeheurer Aufschwung von Macht und Reichtum stattfindet, während die Verhältnisse der arbeitenden Klasse keinen entschiedenen Fortschritt verraten und ohne daß die Hast und Gier des Erwerbs in den besitzenden Klassen sich auch nur im mindesten mäßigte. Man lebt in der Tat nicht dem Genuß, sondern der Arbeit und den Bedürfnissen; allein unter diesen Bedürfnissen ist dasjenige der Pleonexie so überwiegend, daß alle wahren und dauernden, alle der Masse des Volkes zuguten kommenden Fortschritte versäumt oder gleichsam nur nebenbei gewonnen werden.

Man kann nun diese an sich sehr unerfreuliche Tatsache unter einen versöhnenden Gesichtspunkt bringen, wenn man sich denkt, daß früher oder später sich auf diesem oder jenem Wege eine veränderte Geistesrichtung Bahn bricht, während die Kräfte der Gütererzeugung größtenteils erhalten bleiben. Es könnte sich wieder die Ansicht geltend machen, welche der Grundstein der klassischen Bildung war, daß es ein gewisses Maß gibt, welches in allen Dingen am heilsamsten ist und daß der Genuß nicht von der  Masse  der befriedigten Bedürfnisse und von der Schwierigkeit ihrer Befriedigung abhängt, sondern von der  Form,  in welcher sie erzeugt und befriedigt werden, gleichwie die Schönheit des Körpers nicht durch massenhafte Stoffanhäufung, sondern durch die Einhaltung bestimmter mathematischer Linien bedingt wird. Ein solcher Umschwung der Ansichten würde vom ethischen Materialismus zum Formalismus oder Idealismus hinüberleiten; er wäre ohne Beseitigung der wuchernden Pleonexie nicht denkbar und würde somit wohl aus einer großartigen Belebung des Gemeinsinns enstpringen müssen.

Die Volkswirtschaft hat es sich bisher noch nicht zur Aufgabe gemacht, die  Verteilung der Güter  auf richtige Grundsätze zurückzuführen; vielmehr nahm sie in dieser Beziehung das aus dem Verhältnis von Kapital und Arbeit hervorgehende Resultat als gegeben an und beschäftigte sich nur mit der Frage, wie überhaupt die größtmögliche  Masse  von Gütern erzeugt wird. Diese materialistische Auffassung des Gegenstandes harmoniert vollständig mit der Anerkennung des Egoismus und mit der Verteidigung oder Beschönigung der Pleonexie. Man sucht zu beweisen, daß der durch das rastlose Streben des Egoismus hervorgebrachte Fortschritt doch auch die Lage der gedrücktesten Schichten der Bevölkerung stets einigermaßen bessert und man vergißt hier jene Bedeutung der Vergleichung mit andern, weil bei den Reichen eine so große Rolle spielt. Angesichts der schreiendsten Mißstände träumt man sich eine Art prästabilisierter Harmonie, vermöge welcher das günstigste Resultat für die Gesamtheit herauskommt, wenn jeder rücksichtslos seine eigenen Interessen verfolgt. Geschieht das auch heute meist mit dem Sünderbewußtsein aller Apologeten, so geschah es doch zur Zeit der ersten Ausbildung der Volkswirtschaft mit unverkennbarer Naivität. Es war im vorigen Jahrhundert allgemein üblich, das Wohl des Ganzen aus dem Zusammenwirken aller egoistischen Bestrebungen abzuleiten. So sehr man auch gegen die Übertreibungen in MANDEVILLEs berüchtigter Bienenfabel (1723) zu protestieren bereit war, so war doch der Grundsatz, daß selbst die Laster zum Gemeinwohl beitragen, gewissermaßen ein geheimer Artikel der Aufklärung, der selten erwähnt, aber nie vergessen wurde. Und auf keinem Gebiet ist der Schein der Wahrheit so sehr für einen solchen Satz, als gerae auf dem der Volkswirtschaft. Die Sophismen eines HELVETIUS sind im schimmernen Gewand der Rhetorik doch leicht zu durchschauen und jeder Versuch, sogar die Tugenden der Vaterlandsliebe, der Aufopferung für den Nächsten und der Tapferkeit aus dem Prinzp der Selbstliebe zu erklären, mußte daran scheintern, daß in diesem Fall der natürliche Verstand mit der wissenschaftlichen Kritik übereinstimmend widerspricht. Anders in der Volkswirtschaft. Ist doch die Tendenz derselben von Haus aus auf die Förderung des  materiellen  Volkswohl gerichtet und da liegt es so nahe anzunehmen, daß der Fortschritt der Gesamtheit einfach die Summe aller Fortschritte der Individuen ist; das Individuum aber - so viel schien die kaufmännische Erfahrung aller Zeiten unbestreitbar zu ergeben - das Individuum kann zu materiellem Wohlstand nur durch rücksichtslose Verfolgung seiner eigenen Interessen gelangen; mag dann die Tugen auf anderen Gebieten geübt werden, so weit die Mittel es erlauben!

Wäre die Volkswirtschaft von Anfang an nur mit der bewußten Absicht auf den Egoismus basiert worden, um durch Abstraktion von anderen Motiven einstweilen eine hypothetische und innerhalb der Schranken der Hypothese exakte Wissenschaft zu gewinnen, als Vorstufe einer volleren Erkenntnis: dann könnte von einem tadelnswerten Materialismus auf diesem Gebiet keine Rede sein. Statt dessen wurden die praktischen Maximen des kaufmännischen Erwerbs im täglichen Leben auf die Nationen im Großen übertragen. Man trennte die Frage des materiellen Fortschritt der Völker von den ethischen Fragen gerade so, wie sie im bürgerlichen Handel und Wandel längst getrennt waren. Es ging nicht um die  Form  der Besitzverhältnisse, sondern um die Masse und den Handelswert der Güter, und statt zu fragen, wie  würde  der Mensch handeln,  wenn  er nur Egoist wäre, fragte man,  wie handelt der Mensch auf dem Gebiet, auf welchem der Egoismus allein maßgebend ist.  Die erstere Frage ist die des exakten Theoretikers; die letztere die der populären Praxis, die auf keinem Gebiet so eifrig gestrebt hat, die eigentliche Wissenschaft zu ersticken, wie auf dem der Volkswirtschaft.

Die Idee, daß es ein besonderes Lebensgebiet gebe für das Handeln nach Interessen und wieder ein anderes für die Übung der Tugend, gehört noch heute zu den Lieblings-Ideen des oberflächlichen Liberalismus und in weit verbreiteten populären Schriften, wie SCHULZEs "Arbeiterkatechismus", wird sie ganz unverhohlen gepredigt. Ja, man hat sogar eine Art von Pflichtenlehre daraus gemacht, die man im täglichen Leben viel häufiger aussprechen hört, als in der Literatur. Wer es unterläß, eine ihm zustehende Schuldforderung nötigenfalls mit aller Strenge des Gesetzes einzutreiben, der muß entweder ein reicher Mann sein, der sich dergleichen erlauben kann oder er unterliegt dem schärfsten Tadel. Dieser Tadel richtet sich nicht nur gegen seinen Verstand, gegen seine Charakterschwäche oder überflüssige Gutmütigkeit, sondern geradezu gegen seine Sittlichkeit. Er ist ein leichtsinniger, nachlässiger Mensch, der seine Interessen nicht pflichtmäßig wahrnimmt und wenn er Frau und Kinder hat, so ist er, auch ohne daß diese schon Mangel empfinden müßten, ein gewissenloser Hausvater. Ebenso urteilt man aber auch über denjenigen, welcher seine Kräfte zum Nachteil des Privatvermögens dem öffentlichen Besten widmet. Wer das mit besonderem  Erfolg  tut, erhält allerdings Absolution und allgemeinen Beifall, einerlei ob er seinen Erfolg dem Zufall oder seiner Kraft verdankt; solange aber dieses Gottesurteil des Pöbels und der Fatalisten nicht gesprochen hat, behauptet das gemeine Urteil sein Recht. Es verdammt den Dichter und Künstler so gut wie den wissenschaftlichen Forscher und den Politiker und selbst der religiöse Agitator findet nur dann Anerkennung, wenn er eine Gemeinde zu bilden oder wenn er sich zu kirchlichen Würden emporschwingt; niemals aber, wenn er ohne auf Ersatz zu hoffen, eine äußere Stellung seiner Überzeugung opfert.

Es versteht sich von selbst, daß wir hier nur die Gesinnung des großen Haufens der besitzenden Klasse kennzeichnen, die aber dadurch, daß sie zur Dogmatik des täglichen Lebens ausgebildet ist, ihren Einfluß auch auf solche ausübt, die persönlich von edleren Trieben nicht frei sind. Bevor wir nun den Wert dieser Dogmatik des Egoismus genauer bestimmen können, ist es unerläßlich, die Quelle des natürlichen Egoismus und den Ursprung der entgegengesetzt wirkenden Triebe im Licht der in den früheren Abschnitten gewonnenen Grundanschauung zu betrachten.

Wenn es wahr ist, daß unser eigener Körper nur eins unserer Vorstellungsbilder ist, gleich allen übrigen, wenn sonach unsere Mitmenschen, wie wir sie vor uns sehen, gleich der ganzen Natur um uns her, in einem sehr bestimmten Sinn  Teile unseres eigenen Wesens sind;  woher kommt der Egoismus? Offenbar zunächst daher, daß die Vorstellungen von  Schmerz  und  Lust  und unsere Triebe und Begierden größtenteils mit dem Bild unseres Körpers und seiner Bewegungen verschmelzen. Dadurch wird der Körper zum Mittelpunkt der Erscheinungswelt; ein Verhältnis, das, wie wir sicher annehmen dürfen, auch in der jenseitigen Natur der Dinge begründet liegt.

Ohne diesen Faden weiter zu verfolgen, müssen wir nun darauf hinweisen, daß keineswegs  alle  Vorstellungen, welche mit Lust und Unlust verbunden sind, sich direkt auf unseren Körper beziehen. Die feineren Sinnenfreude, die Lust am Schönen namentlich, verschmiltzt nicht mit dem Vorstellungsbild des Körpers, sondern mit dem  des Objektes.  Erst wenn ich das Auge schließe, mit dem ich auf eine herrliche Landschaft hinausgeschaut habe, werde ich des Verhältnisses auch dieser Gegenstände zu meinem Körper gewahr. Was der Dichter von einem Versenken in die Anschauung sagt, von einem Aufgehen in der Betrachtung, ist physiologisch und psychologisch weit richtiger, als die gewöhnliche Projektionslehre der angeblich wissenschaftlichen Betrachtung. Sonach bildet die viel gescholtene Sinneslust an sich ein natürliches Gegengewicht gegen das Aufgehen im Ich und erst durch Vermittlung der Reflexion kann sie dem Egoismus wieder Nahrung geben.

Weit wichtiger ist nun aber die moralische Entwicklung durch die  Betrachtung der Menschenwelt  und Versenkung in ihre Erscheinungen und Aufgaben. Das Aufgehen in diesem Objekt, wie es sich uns ebenfalls durch die Sinne als Teil unseres eigenen Wesens ergibt, ist der natürliche Keim all dessen, was in der Moral unvergänglich ist und wert erhalten zu werden. Eine Ahnung davon mochte ADAM SMITH haben, als er die Moral auf die Sympathie begründete; allein er faßte die Sache viel zu eng. Er faßte im Grunde nur diejenigen Fälle ins Auge, in welchen wir die Gebärden und Bewegungen unserer Mitmenschen durch Erinnerungen oder Phantasiebilder von Schmerz und Lust  deuten  nach dem, was wir an uns selbst empfunden haben. Darin liegt aber eine versteckte Zurückführung auf egoistische Motive, die nur nebensächlich, unterstützend mitwirken, während die stille und beständige Übertragung unseres Bewußtseins auf das Objekt dieser menschlichen Erscheinungswelt die wahre Quelle sittlicher Veredlung bildet und das Übergewicht des Egoismus beseitigt.

Nach diesen Andeutungen vermag jeder Leser es sich selbst auszuführen, wie derselbe Fortschritt der Kultur, welcher in gereiften Epochen der Kunst, die Wissenschaft erzeugt, auch zur Bändigung des Egoismus, zur Ausbildung menschlicher Teilnahme und zum Vorwalten gemeinsamer Zwecke führt. Mit einem Wort:  es gibt einen natürlichen sittlichen Fortschritt. 

BUCKLE hat in seinem berühmten Werk über die Geschichte der Zivilisation in England einen unrichtigen Gesichtspunkt angewandt, um zu beweisen, daß der faktische Fortschritt der Sitten gleich dem Fortschritt der Kultur überhaupt wesentlich auf der  intellektuellen  Entwicklung beruhe. Wenn man zeigt, daß gewisse einfache Grundsätze der Moral von den Tagen der Abfassung der indischen Veden sich bis heute nicht wesentlich geändert haben, so kann man dementsprechend auf die einfachen Grundsätze der Logik hinweisen, die ebenfalls unverändert geblieben sind. Man könnte sogar behapten, daß die Grundregeln des  Erkennens  seit undenklichen Zeiten dieselben geblieben sind, und daß die vollkommenere Anwendung, welche die Neuzeit von diesen Regeln gemacht hat,  wesentlich moralischen Gründen zuzuschreiben ist.  In der Tat waren es  moralische  Eigenschaften, welche die Alten dazu führten, frei und individuell zu denken, aber mit einem gewissen Maß der Erkenntnis sich zu begnügen und mehr Wert auf die Durchbildung der Persönlichkeit zu legen, als auf den einseitigen Fortschritt im Wissen. Es war der  moralische Grundzug  des Mittelalters, Autoritäten zu bilden, Autoritäten zu gehorchen und die freie Forschung durch eine formelhafte Überlieferung zu beschränken.  Moralischer  Natur war die Selbstverleugnung und Standhaftigkeit, mit welcher beim Beginnn der Neuzeit ein KOPERNIKUS, ein GILBERT und HARVEY, ein KEPLER und VESAL ihre Ziele verfolgten. Ja, es läßt sich sogar eine Analogie nachweisen zwischen den sittlichen Prinzipien des  Christentums  und dem Verfahren der Forscher; denn nichts wird von diesen so streng verlangt, als Verleugnung ihrer Grillen und Liebhabereien, Losreissung von den Meinungen der Umgebung und gänzliche Hingabe an das Objekt. Von den größten Forschern kann man sagen, daß sie sich selbst und der Welt absterben mußten, um im Verkehr mit der offenbarenden Stimme der Natur ein neues Leben zu führen. Doch wir wollen diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen. Wir haben der Einseitigkeit BUCKLEs ihr Gegenstück zur Seite gestellt. In der Tat ist weder der intellektuelle Fortschritt wesentlich eine Folge des moralischen, noch auch umgekehrt; wohl aber entstammen beide derselben Wurzel: der Vertiefung in das Objekt, der liebevollen Umfassung der gesamten Erscheinungswelt und der natürlichen Neigung, sich diese harmonisch zu gestalten.

Wie es aber einen sittlichen Fortschritt gibt, der darauf beruth, daß die Harmonie unseres Weltbildes allmählich über die wilden Störungen der Triebe und der heftigeren Empfindungen von Lust und Schmerz das Übergewicht erlangt, so schreiten auch die  sittlichen Ideale  fort, nach welchen der Mensch sich seine Welt gestaltet. Es kann nichts unrichtiger sein, als wenn BUCKLE den Fortschritt der Zivilisation aus der Zusammenwirkung eines veränderlichen Elementes, des intellektuellen und eines stationären, des moralischen, ableitet. Wenn KANT gesagt, in der Moralphilosophie seien wir nicht weiter gekommen, als die Alten, so hat er ungefähr dasselbe auch von der Logik gesagt und mit dem Fortschritt der sittlichen Ideale, welche ganze Zeitperioden bewegen, hat diese Bemerkung wenig zu schaffen. Wie himmelweit verschieden ist der antike Tugendbegriff vom christlichen! Unrecht abwehren und Unrecht dulden, die Schönheit verehren und die Schönheit verachten, dem Gemeinwesen dienen und das Gemeinwesen fliehen sind nicht nur zufällige Züge einer verschiedenen Gemütsrichtung bei gleichen sittlichen Grundsätzen, sondern Gegensätze, die aus einem bis in den tiefsten Grund verschiedenen Moralprinzip hervorgehen. Das ganze Christentum war vom Standpunkt der antiken Welt aus entschieden unsittlich und würde noch weit mehr in diesem Licht erschienen sein, wenn nicht das sittliche Ideal des Altertums bereits in Zersetzung gewesen wäre, als die neuen, fremdartigen Grundsätze auftraten. Eine ähnliche Zersetzung der sittlichen Ideale und Vorbereitung eines neuen, höheren Standpunktes scheint in der Gegenwart vor sich zu gehen und dadurch wird auch die Aufgabe schwieriger und zugleich bedeutender, der Dogmatik des Egoismus, wie sie uns in der Volkswirtschaft und in den Grundsätzen des bürgerlichen Verkehrs entgegentritt, ihre Stelle anzuweisen.

Es könnte einen Augenblick scheinen, als sei eben diese Dogmatik des Egoismus das  neue sittliche Prinzip,  welches bestimmt ist, die Grundsätze des Christentums zu ersetzen. Die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, die mit dem physikalischen Materialismus nur liebäugelte, hatte den ethischen adoptiert. Die Ausbildung der materiellen Interessen ist Hand in Hand gegangen mit dem Zerfall der alten Kirchenmacht. Die Ausbildung der Naturwissenschaften hat hier zerstörend, dort bauend gewirkt; mit dem Bau der materiellen Interessen ging aber die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre und mit dieser die Dogmatik des Egoismus in gleichem Schritt. Es könnte sonach scheinen, als sei ein und dasselbe Prinzip, welches den überlieferten Formen des Christentums gegenüber  destruktiv  und in Beziehung auf den materiellen Aufschwung der Gegenwart  positiv  einwirkt; und ein solches zugleich auflösendes und neu schaffendes Ferment für die Gegenwart wäre dann das Prinzip des Egoismus.

Wir haben bereits oben gesehen, wie sehr auf wirtschaftlichem Gebiet der Schein für die höhere Berechtigung des Egoismus spricht und wenn es ohne eitle Sophistik unmöglich bleibt, Tugenden wie Vaterlandsliebe, Aufopferung für den Nächsten und ähnliche auf dieses Prinzip zu begründen, so ist es vielleichtdoch sehr wohl möglich, diese Tugenden zu entbehren. Wir müssen uns einen Augenblick den Gedanken gefallen lassen, daß die Verfolgung persönlicher Interessen das einzige Motiv der menschlichen Handlungen in  Zukunft werden könnte,  wenn auch VOLTAIRE und HELVETIUS entschieden Unrecht hatte, als sie erklärten,  es sei bereits so,  es gebe keine andere Triebfeder für die menschlichen Handlungen, als die Eigenliebe. Und man darf nicht verkennen, daß es wenigstens nicht a priori  undenkbar  ist, daß ein solches Prinzip - sehr verschieden von demjenigen MANDEVILLEs! - sich, statt aus dem Verfall, vielmehr aus dem moralischen und intellektuellen Fortschritt ergäbe. Es ist dies ein Punkt, der der genauesten und unbefangensten Prüfung bedarf und durchaus nicht nach einer vorgefaßten Meinung erledigt werden kann. Und zwar wollen wir, um Mißverständnisse zu verhüten, die paradoxeste Seite der Sache gleich vorab in das richtige Licht stellen. Daß nämlich der  intellektuelle  Fortschritt dazu beitragen könnte, den Egoismus zugleich allgemeiner und unschädlicher, zweckmäßiger zu machen, wird noch leicht zugegeben werden; wie aber könnte der  moralische  Fortschritt und zwar der moralische Fortschritt in dem bestimmten Sinne, in welchem wir ihn oben BUCKLE gegenüber betonten, dazu mitwirken, den Egoismus zum allgemeinen Prinzip zu machen, während es doch das ganze Wesen dieses Fortschrittes ist, über das Ich hinaus, auf das Allgemeine hinzuführen?

Die Antwort auf diese Frage führt uns mit einem Schlag die Konsequenzen der verbreitetsten volkswirtschaftlichen Theorie vor Augen.

Ist es nämlich wahr, daß die Interessen der Gesamtheit am besten gewahrt werden, wenn am wenigsten absichtlich für die Gesamtheit gesorgt wird, wenn die Individuen am ungestörtesten ihre eigenen Interessen verfolgen: dann wird die ausschließliche Verfolgung der eigenen Interessen im praktischen Leben
    1) eine Frucht gereifter Einsicht sein,
    2) eine  Tugend  und zwar die Kardinaltugend.
Es wird die Zurückdrängung derjenigen Triebe, welche uns zur aufopfernden Tätigkeit für den Nächsten verleiten wollen, der wesentlichste Teil der Selbstüberwindung werden und die Kraft zu dieser Selbstüberwindung wird derjenig, welcher in Anfechtung fällt, aus dem Hinblick auf das Getriebe des großen Ganzen nehmen, dessen Harmonie ja eben gestört wird, wenn wir jenen Regungen unseres Herzens folgen, welche man ehemals als edle, uneigennützige, hochherzige zu loben pflegte. Jene Regungen der  Sympathie,  welche aus der Hingabe an das Objekt hervorgehen, werden wieder aufgehoben durch die Hingabe des Gemüts an  das größere Objekt,  an das vom harmonischen Egoismus beseelte Getriebe der gesamten Menschenwelt.

Nachdem so die Frage scharf gestellt ist, wird man auch einsehen, daß die Entscheidung nicht so ganz leicht ist. Wem fällt hierbei nicht ein, wie oft er mit Selbstüberwindung einen Bettler abgewiesen hat, weil er weiß, daß das Almosen das Elend nur nährt, wie das Öl die Flamme? Wer erinnert sich nicht an all die unseligen Beglückungsversuche, welche die Welt mit Blut und Brand verheert haben, während bei Völkern, wo jeder für sich sorgte, sich Reichtum und Wohlstand entfalteten. In der Tat ist so viel auf der Stelle zuzugeben, daß die Sympathie ebensowohl zu Verkehrtheiten leiten kann, wie der Egoismus, und daß stets die Rücksicht auf das größere Ganze manche Handlungen verbieten wird, welche aus Aufopferung für ein kleineres Ganzes oder für einzelne Personen hervorgehen würden. Nun kann man freilich leicht einwerfen, daß eine solche Rücksicht auf das große Ganze ja gar kein Egoismus sei, sondern das Gegenteil; allein dieser Einwurf ist eben so leicht wieder zurückzuwerfen.

Ist nämlich der Lehrsatz von der Harmonie der Sonderinteressen wahr; ist es richtig, daß das beste Resultat für die Gesamtheit sich ergibt, wenn jeder Einzelne am ungestörtesten für sich selbst sorgt: dann ist es auch ferner unvermeidlich wahr, daß es am Vorteilhaftesten ist, wenn jeder seine Interessen verfolgt, ohne mit unnützen Reflexionen Zeit zu verlieren. Der naive Egoist befindet sich im Stande der Unschuld und tut unbewußt das Rechte; die Sympathie ist der moralische Sündenfall und wer sich erst an das Getriebe des großen Ganzen erinnern muß, um zu derselben Tugend zurückzukehren, die ein roher Spekulant in Einfalt ausübt, der kommt nur auf einem mit Notwendigkeit in der menschlichen Natur begründeten Umweg wieder dahin zurück, von wo die Kindheit der Menschheit ausging. Auf diesem Wege mag sich der Egoismus geläutert, gemildert, aufgeklärt haben; er mag richtigere Mittel gelernt haben, das eigene Wohl zu befördern, aber sein Prinzip, sein Wesen ist wieder das ursprüngliche.

Die Fragen, ob die Dogmatik des Egoismus die Wahrheit lehrt und ob die Volkswirtschaft auf dem richtigen Weg ist mit der einseitigen Fortbildung der  Freihandelslehre,  entscheiden sich beide an der Frage, ob die Idee von der natürlichen Harmonie der Interessen ein Hirngespinst ist oder nicht; denn die extremen Freihandelstheoretiker haben keinen Anstand genommen, ihre Lehre auf den obersten Grundsatz des  Laissez faire  zu begründen. Diesen Grundsatz aber haben sie nicht etwa nur als eine Maxime der Notwehr gegen schlechte Regierungsweise hingestellt, sondern als notwendige Folge aus dem Dogma, daß die Summe aller Interessen am besten besorgt wird, wenn jeder Einzelne für sich selbst sorgt. Ist dieses Dogma einmal so tief eingewurzelt, daß es die entgegenstehenden Erwägungen überwiegt, so darf man sich nicht mehr wundern, wenn hier der Name "Nation" als ein leerer Begriff der Grammatik bezeichnet und der Schutz des Seehandels durch Kriegsschiffe verworfen wird (COOPER, 1826), während dort die blutigen Eroberungen eines Abenteurers nur als eine besonders schwierige und daher besonders lohnbringende Arbeit betrachtet werden (MAX WIRTH). Beides stammt aus derselben Quelle: aus der rein atomistischen Auffassung der Gesellschaft, bei welcher alle gewöhnlich sittlich genannten Motive wegfallen und nur durch eine Inkonsequenz wieder eingeführt werden können.

Wir haben bereits gesehen, daß die rein atomistische Auffassung der Gesellschaft als Hilfsmittel einer Methode allmählicher Annäherung an die Wahrheit viel für sih hat, während sie als Dogma falsch ist; hier müssen wir nun auch noch bemerken, daß die Theorie des Egoismus und der natürlichen Harmonie aller Interessen in ihrer praktischen Anwendung große kulturgeschichtliche Fortschritte gebracht hat. Der gebildete Egoismus, das läßt sich nicht leugnen, ist ein  ordnendes Prinzip  der Gesellschaft so gut wie manches andere bereits dagewesene Prinzip und für gewisse Übergangszeiten vielleicht das heilsamste, ohne daß ihm deshalb schon eine höhere Bedeutung zuzusprechen wäre. Das  Freihandelssystem  hat einen ungeheuren Aufschwung in die Produktion der Kulturvölker gebracht. Die zunächst dem Zug der Interessen folgende Spekulation hat so viel dazu beigetragen, Europa mit Verkehrswegen zu versehen, den Handel zu regeln, die Geschäfte solider und reeller zu machen, den Zinsfuß herabzudrücken, den Kredit zu vermehren und zu versichern, den Wucher einzuschränken, den Betrug seltener zu machen, daß kein Fürst, kein Minister, kein Philosoph, kein Menschenfreund mit dem Prinzip aufopfernder Tätigkeit, wohlmeinender Belehrung, weiser Gesetzgebung einen auch nur von fern ähnlichen Einfluß üben konnte, wie ihn die allmähliches Beseitigung der Schranken geübt hat, die der freien Tätigkeit des Individuums in den feudalen Einrichtungen des Mittelalters entgegenstanden. Seit dem Bestehen der Armensteuer - deren Einführung freilich einem anderen Prinzip entwuchs - sind mehr wohltätige Anstalten und tiefgreifende Verbesserungen dem Verlangen entwachsen, diese Steuer nicht zu hoch anschwellen zu lassen, als je durch Mitleid oder werktätige Anerkennung einer höheren Pflicht hätten geschaffen werden können. Ja, man kann sogar vermuten, daß eine fünf- bis sechsmalige Wiederholung großer und blutiger Sozialrevolutionen, wenn auch mit Intervallen von Jahrhunderten, schließlich die Pleonexie der Reichen und Mächtigen wirksamer durch die Furcht eindämmen würde, als es durch die Hingabe des Gemüts an die gemeinsamen Angelegenheiten und durch das Prinzip der Liebe bewirkt werden könnte.

Vorab muß bemerkt werden, daß die großen Fortschritte der Neuzeit doch wohl eigentlich nicht durch den Egoismus als solchen bewirkt sind, sondern durch die  Freigebung  der Bestrebungen für den Privatvorteil gegenüber der Unterdrückung des Egoismus der Mehrzahl durch den stärkeren Egoismus der Minderzahl. Es ist nicht etwa die väterliche Fürsorge, die in früheren Zeiten den Rang einnahm, den jetzt die freie Konkurrenz einnimmt, sondern das Privilegium, die Ausbeutung, der Gegensatz von Herr und Knecht. Die wenigen Fälle, in welchen die frühere gesellschaftliche Ordnung das Wohlwollen edler Regenten oder die Intelligenz bedeutender Volksfreunde zur Geltung kommen ließ, haben sehr schöne Resultate ergeben. Man darf nur an COLBERT erinnern, an dessen erfolgreiche Tätigkeit nicht umsonst der schutzzöllnerische CAREY wieder anknüpft. Man muß stets bedenken, daß wir eben bisher nur den Gegensatz herrschender Dynasten-Interessen gegen das freigegebene Privat-Interesse kennen, aber nicht einen reinen Gegensatz zwischen einem egoistischen Prinzip und dem des Gemeinsinns. Gehen wir aber auf die besseren Zeiten der Republiken des Mittelalters und des Altertums zurück, so sehen wir da den Gemeinsinn zwar lebendig, aber in so engen Kreisen, daß eine Vergleichung mit der Gegenwart kaum möglich ist. Und dennoch ergibt selbst eine so mangelhafte Vergleichung, daß der tiefe Zug von Mißvergnügen, welcher die Gegenwart durchzieht, sich in keinem Gemeinwesen findet, in welchem jeder Einzelne seinen Egoismus im Hinblick auf die gemeinsamen Angelegenheiten im Zaum hält.

Versuchen wir, die Berechtigung der Lehre von der Harmonie der Interessen einer direkten Prüfung zu unterwerfen, so müssen wir zur Vereinfachung der Frage zunächst eine Republik gleich befähigter und unter gleichen Verhältnissen wirkender Invididuen annehmen, welche alle mit ihrer ganzen Kraft soviel als möglich zu erwerben streben. Es versteht sich von selbst, daß diese mit einem Teil ihrer Kraft einander hemmen werden, mit einem andern Teil dagegen Güter produzieren, welche der Gesamtheit zugute kommen. Eine Aufhebung der Hemmung ist nur auf zwei Wegen denkbar: entweder wenn alle nur für die Gesamtheit erwerben oder wenn jedes einzelne Individuum ohne jede Konkurrenz seinen getrennten Erwerbskreis hat. Sobald es vorkommen kann, daß zwei oder mehrere Individuen dasselbe Objekt zu erwerben oder für den Erwerb zu benutzen streben, wird die Hemmung da sein.

Wenden wir diese Abstraktion auf menschliche Verhältnisse an, so sehen wir zunächst den Keim zweier Ideen: der des  Kommunismus  und der des  Privateigentums. 

Die Menschen sind nun aber keine so einfachen Wesen, und es ist denkbar, daß sie zu völligen Durchführung der einen oder anderen Idee durchaus nicht befähigt sind. In einem Zustand der Gütergemeinschaft wird das rein egoistische Streben sich auf Unterschlagung eines Teils der Güter richten, bei einem reinen System des Privateigentums dagegen auf Vergrößerung des eigenen Besitzes durch Übervorteilung der andern. Wir nehmen nun ferner an, daß in unserer Republik sowohl gemeinsame, als auch in gesondertem Besitz befindliche Güter sind und daß es gegen Unterschlagung und Übervorteilung gewisse Schranken gibt, welche allgemein anerkannt werden; so jedoch, daß immerhin noch rechtmäßige Mittel übrig bleiben, durch welche sich der Einzelne sowohl beim Genuß der gemeinsamen Güter einen Vorzug verschaffen, als auch seinen Privatbesitz vergrößern kann. Das wichtigste von diesen rechtmäßigen Mitteln soll darin bestehen, daß derjenige, welcher der Gesamtheit größere Dienste leistet, auch mehr Belohnung erhält.

Jetzt haben wir die Idee der Harmonie der Interessen: es ist nämlich ohne Zweifel denkbar, daß unsere Wesen so beschaffen sind, daß sie ein  Maximum an Kraft  entwickeln, wenn sie am reinsten an sich selbst denken und ferner, daß die Gesetze unserer Republik so beschaffen sind, daß niemand für sich einen großen Vorteil erlangen kann, wenn er nicht viel Arbeit für die Gesamtheit verrichtet. Es könnte auch ganz wohl der Fall sein, daß der Kraftgewinn in Folge der Freigebung des Egoismus größer wäre als der Verlust, welcher aus der gegenseitigen Hemmung entsteht und wenn dies so wäre, so wäre auch die Harmonie der Interessen bewiesen. Es ist jedoch teils schwer zu bestimmen, inwiefern diese Voraussetzungen in der menschlichen Gesellschaft erfüllt sind, teils kann man leicht Umstände gewahren, welche sofort einen Strich durch die Rechnung machen. So sind z. B. die Mittel, welche durch nützliche Arbeit erzielt werden, zugleich eine Quelle neuer Vorteile, die dadurch gewonnen werden, daß der Besitzer andere für sich arbeiten läßt. Obwohl nun darin wieder ein Nutzen für die Gesamtheit liegt, so ist es doch zugleich der Keim einer Krankheit, die wir unten noch schildern werden. Hier wollen wir nur die eine Seite hervorheben, daß derjenige, welcher einmal den Übrigen überlegen ist, seine Mittel auch verwenden kann, um gefahrlos seiner Pleonexie zu frönen. Je mehr er fortschreitet, desto mehr gewinnt er an Kraft um noch weiter vorzuschreiten und nicht nur der Widerstand seiner Konkurrenten, sondern auch  der Widerstand der Gesetze  wird ihm gegenüber immer schwächer. Der Grund dieser Erscheinung liegt nicht nur im Gesetz der Kapitalvermehrung, sondern auch in einem bisher noch wenig beachteten Faktor der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die Geisteskraft der meisten Menschen ist nämlich hinreichend, um viel bedeutendere Aufgaben zu lösen, als diejenigen, welche ihnen im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zufallen müssen. Eine weitere Ausführung und Begründung dieser Bemerkung wird man im zweiten Kapitel meiner Schrift über die  Arbeiterfrage  finden. Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, daß die meisten Menschen vollkommen befähigt sind, sobald sie durch einen günstigen Anfang der Notwendigkeit überhoben werden, mit physischer Arbeit den nächsten Unterhalt zu schaffen, sich die Arbeit vieler anderer durch Spekulation, durch Erfindungen oder auch durch die bloße solide und stetige Leitung eines Geschäftes tributpflichtig zu machen. Die Irrlehre von der Harmonie der Interessen ist daher auch stets verbunden mit einer besonderen Hervorhebung eines Satzes, der noch fast allgemein als Vorurteil verbreitet ist: des Satzes, daß jedes Talent und jede Kraft im menschlichen Leben sich, wenn auch durch zahlreiche Widerwärtigkeiten, zu einer der Anlage entsprechenden Stellung emporzuschwingen pflege. Dieser Satz ist besonders durch die teleologisch-rationalistische Schwärmerei des vorigen Jahrhunderts verbreitet worden. Er verletzt die Erfahrung in einer so schreienden Weise, daß die Blindheit kaum erklärbar wäre, mit welcher er festgehalten wird, wenn nicht die Eigenliebe der Glücklichen, der Gebildeten, der Hochgestellten einen ebenso hohen Genuß im Gedanken dieser irdischen Prädestination fände, wie der geistliche Hochmut in dem der himmlischen. Im Leben sehen wir, wie zwar ein besonders schneller und glänzender Aufschwung aus geringen Verhältnissen in der Regel nur da eintritt, wo die begünstigenden Umstände mit vorzüglichen und seltenen Eigenschaften zusammentreffen, wie aber im großen Ganzen die Fähigkeiten zur Ausfüllung einer leitenden Stellung sich stets finden, wo die materiellen Bedingungen einer solchen Stellung gegeben sind. Wie die Keime der Pflanzen in der Luft schweben und - eine jede in ihrer Art - da aufgehen, wo sich die Bedingungen ihrer Entwicklung finden, so ist es auch mit der Befähigung der Menschen, vorteilhafte Verhältnisse zu benutzen, um sich noch ungleich höhere Vorteile zu verschaffen. Dieser Satz wirft aber in Verbindung mit dem Gesetz der Kapitalvermehrung die ganze Theorie der Harmonie der Interessen um. Man kann hundertmal zeigen, daß sich mit dem Erfolg der Spekulanten und großen Unternehmer auch die Lage aller übrigen schrittweise bessert: solange es wahr bleibt, daß doch mit jedem Schritt dieser Besserung der  Unterschied  in der Lage der Individuen und in den Mitteln zu weiterem Aufschwung ebenfalls wächst, solange wird auch jeder Schritt dieser Bewegung einem Wendepunkt entgegenführen, wo der Reichtum und die Macht Einzelner alle Schranken der Gesetze und der Sitten durchbricht, wo die Staatsform zum wesenlosen Schein herabsinkt und ein entwürdigtes Proletariat den Leidenschaften der Vornehmen als Spielball dient, bis es sich endlich im sozialen Erdbeben rührt und den künstlichen Bau der einseitigen Interessen-Wirtschaft verschlingt. Die Zeiten vor diesem Zusammenbruch sind in der Geschichte schon so oft dagewesen und stets mit demselben Charakter, daß man sich über ihre Natur nicht mehr täuschen kann. Der Staat wird käuflich. "Der hoffnungslos Arme wird das Gesetz ebenso leicht hassen, wie der Überreiche verachten" (ROSCHER). -  Sparta  ging unter als der Grundbesitz des ganzen Landes hundert Familien gehörte;  Rom,  als einem Proletariat von Millionen wenige Tausende von Besitzenden gegenüberstanden, deren Mittel so enorm waren, daß CRASSUS keinen als reich gelten ließ, der nicht auf eigene Kosten ein Heer unterhalten konnte. "Auch im  neueren Italien  ist die Volksfreiheit durch Geldoligarchie und Proletariat untergegangen." "Es ist bezeichnend, wie in  Florenz  der größte Bankier zuletzt unumschränkter Gewalthaber wurde und gleichzeitig in  Genua  die Bank von St. GEORG den Staat gewissermaßen verschlang" (ROSCHER).

Solange daher die Interessen des Menschen bloß individuelle sind, solange man die Forderung der allgemeinen Interessen nur als eine Folge vom Bestreben der Individuen betrachtet, sich selbst zu fördern, wird stets befürchtet werden müssen, daß die Interessen derjenigen Individuen, welche den ersten Vorsprung erlangen, allmählich maßlos überwiegen und alles andere erdrücken. Das soziale Gleichgewicht eines solchen Staates ist gleichsam ein  labiles;  einmal gestört muß es immer tiefer zerrüttet werden. Umgekehrt läßt sich annehmen, daß in einer Republik, in welcher jeder Einzelne vorwiegend die Interessen der Gesamtheit im Auge hätte, ein  stabiles  Gleichgewicht bestehen könnte. Ist diese Forderung zur Zeit nirgendwo erfüllt, so gilt dasselbe von der Forderung des allgemeinen Egoismus. Beides sind Abstraktionen; in der Wirklichkeit ist wohl der Egoismus weitaus mächtiger als der Gemeinsinn, wenn man die Masse der einzelnen Handlungen betrachtet, welche vorwiegend aus dem einen oder aus dem anderen Prinzip hervorgehen:  welches von beiden aber für eine gegebene Zeit geschichtlich bedeutsamer und folgenreicher ist, ist eine ganz andere Frage.  So sehr die ungeheure Entwicklung der materiellen Interessen den vorherrschenden Charakter unserer Zeit zu bilden scheint; so entschieden die Theorie dieser Entwicklung das Prinzip des Egoismus in den Vordergrund des allgemeinen Bewußtseins gerückt hat, so ist doch gleichzeitig auch das Bedürfnis nach nationaler Gemeinschaft, nach genossenschaftlichem Zusammenwirken, nach Verbrüderung bisher getrennter Elemente gestiegen und welcher Faktor der gährenden Gegenwart vorzugsweise bestimmt ist, der Zukunft ihren Charakter zu verleihen, darüber stehen uns nur Vermutungen zu. Für jetzt halten wir so viel fest, daß, wenn der Egoismus einstweilen die Oberhand behalten sollte, darin nicht ein neues weltgestaltendes Prinzip gegeben wäre, sondern nur eine weiter fortschreitende Zersetzung. Da die Lehre von der Harmonie der Interessen falsch ist, da das Prinzip des Egoismus das soziale Gleichgewicht und damit die Basis aller Sittlichkeit vernichtet, so kann es auch für die Volkswirtschaft nur eine vorübergehende Bedeutung haben, deren Zeit vielleicht schon jetzt vorüber ist. Die Oberflächlichkeit, mit welcher die Lehre von der Harmonie der Interessen in der Regel gepredigt wird, kann eine zeitlang durch die Disharmonie der Interessen selbst, durch die heimliche Pleonexie der besser gestellten Stände verdeckt werden, wie die Lücken der kirchlichen Dogmatik durch die Dotationen der Pfarrstellen und der Klöster verdeckt werden; allein auf die Dauer ist das nicht möglich. Wie blind die Volkswirtschaft meist die Argumente für die Interessen-Wirtschaft zusammenrafft, mag ein einziges Beispiel zeigen.

Man betrachte eine europäische Weltstadt, deren Millionen jeden Morgen mit den mannigfachsten Bedürfnissen erwachen. Während die Mehrzahl noch im tiefsten Schlummer liegt, wird schon eifrig für alle gesorgt. Hier rollt ein schwerer Wagen mit Gemüse beladen durch die Vorstadt, dort wird fettes Vieh zum Schlachthaus geführt; der Bäcker steht vor dem glühenden Ofen und der Milchhändler lenkt seinen Wagen von Haus zu Haus. Hier wird ein Pferd an die Droschke gespannt, um unbekannte Personen von Ort zu Ort befördern, dort öffnet ein Kaufmann seinen Laden, indem er schon den Umschlag des Tages berechnet, ohne irgendeinen Kunden mit Bestimmtheit erwarten zu können. Allmählich beleben sich die Straßen und das Gewühl des Tages beginnt. Was regelt dieses ungeheure Getriebe? "Das Interesse!" - Wer sorgt dafür, daß jedes Bedürfnis befriedigt wird, daß alle die Hungrigen und Dürstenden ihr Brot, ihr Fleisch, ihre Milch, ihre Gemüse, Gewürze, Wein, Bier und was ein jeder bedarf und bezahlen kann, zur rechten Zeit erhalten? "Nur das Geschäft, das Interesse!" Welcher Intendant, welcher oberste Magazinverwalter vermöchte mit dieser Regelmäßigkeit die millionenfachen Bedürfnisse nach einem berechneten Plan zu befriedigen? "Ein unmöglicher Gedanken!" -

Durch solche und ähnliche Betrachtungen sucht man häufig zu beweisen, wie nötig es sei, der Interessen-Wirtschaft die Sorge für das Wohl der Menschen zu überlassen. Es werden dabei mindestens folgende Punkte übersehen:
    1. Die ganze Betrachtung ist eine Abstraktion, welche nur die eine Seite der Wirklichkeit hervorhebt. Es werden keineswegs alle gerechtfertigten Bedürfnisse befriedigt und sofern sie befriedigt werden, wird dies in unzähligen Fällen nicht durch die bloße Maxime des Eigennutzes bewerkstelligt, sondern unter Beihilfe von Mitleiden, Freundschaft, Dankbarkeit, Gefälligkeit und anderen Motiven, die dem Egoismus entgegenwirken.

    2. Der ganze Mechanismus der Bedürfnis-Versorgung ist das Resultat endloser Sorgen und Opfer, die bei einer äußerlichen Betrachtung verschwinden, in denen aber die Geschichte von Generationen verborgen ist. Sehr viele Einrichtungen, welche jetzt das Interesse ausbeutet, sind ursprünglich der Menschenliebe, dem Wissensdrang, dem Gemeinsinn entsprossen, wären ohne diese menschlichen Eigenschaften niemals ins Leben getreten und würden mit der Zeit verfallen, wenn nicht dieselben Eigenschaften eine zeitgemäße Umgestaltung oder Ersatz durch andere Mittel zu schaffen wüßten.

    3. Der Boden des geschichtlich Gewordenen kommt ebensowohl jedem anderen Prinzip zugute, wie dem des Egoismus. Jedes System, einerlei ob kommunistisch oder individualistisch, wird zur Utopie, wenn es nicht an das Bestehende anknüpft und die Geltendmachung des einen oder des anderen Prinzips bedeutet in der Praxis nur  die Richtung, in welcher die fernere Entwicklung erfolgen soll.  Es handelt sich nicht darum, ob der Einfluß der Interessen bei der bestehenden Bedürfnisversorgung groß oder klein ist, sondern ob es heilsam und zeitgemäß ist,  ihn relativ größer oder geringer zu machen. 
Im letzteren Punkt namentlich kulminiert die ganze Bedeutung der Frage, ob der Egoismus das Moralprinzip der Zukunft sein kann. Daß er faktisch nach wie vor eine große Rolle spielen wird, ist sicher. Nach unseren Erörterungen dürfte es aber ebenfalls sicher sein, daß eine fernere Steigerung des Individualismus nicht einen neuen Aufschwung, sondern nur den Verfall unserer Kultur bedeuten könnte. Sofern sich in der Geschichte ein positiver Fortschritt zeigt, sehen wir bisher immer das entegengesetzte Prinzip in erhöhter Wirksamkeit, während der überhandnehmende Individualismus nur an der Zersetzung unbrauchbar gewordener Formen arbeitet. Deshalb wird auch für die Gegenwart wohl der eigentliche Strom des Fortschritts in der Richtung des Gemeinsinns liegen. Es gibt eben einen naturgemäßen, wir möchten sagen physischen Grund für die allmähliche Verdrängung des Egoismus durch das Wohlgefallen an der harmonischen Ordnung der Erscheinungswelt und zunächst durch die gemeinsamen Interessen der Mitmenschen. Was ADAM SMITH mit seiner  Sympathie  wollte, FEUERBACH mit seiner Lehre von der  Liebe,  COMTE mit dem Prinzip der  Arbeit für den Nächsten,  das sind alles nur vereinzelte Erscheinungsformen des mit der fortschreitenden Kultur sich bildenden Übergewichts der mit zu unserem Wesen gehörenden Objektvorstellungen über das Bild eines mit Schmerz und Lust begabten Ich. Sowie mit der Ordnung der Lebensverhältnisse der Wechsel von Schmerz und Lust an Heftigkeit verliert und die Begierden sich mildern; wie andererseits die Erkenntnis der Außenwelt, das Verständnis anderer sich mehrt, so muß dieses Übergewicht eintreten und seine naturgemäßen Wirkungen äußern. Selbst ein so stark zum Skeptizismus neigender Schriftsteller wie JOHN STUART MILL legt diese Grundanschauung in nahem Anschluß an COMTE seinen ethischen System zugrunde und verkennt nur in seinem "Utilitarismus" das ideale, formenbildende Element, welches diesem Streben nach Harmonie in der sittlichen Welt so gut zugrunde liegt, wie den Bestrebungen der Kunst. In der Tat haben wir auch diesen Fortschritt von der Wildheit zur menschlichen Sitte schon so oft und unter den verschiedensten Verhältnissen so wesentlich gleichmäßig vor sich gehen sehen, daß schon der bloße Induktionsschluß auf die Naturnotwendigkeit der ganzen Erscheinung nicht ohne Wert ist; nachdem wir aber vollends in unserer Sinnlichkeit selbst den Grund dieses Vorgangs entdeckt haben, können wir nicht mehr am Bestehen des treibenden Prinzips zweifeln, wohl aber freilich daran, ob es zu irgendeiner gegebenen Zeit und bei einem gegebenen Volk oder einer Gruppe von Nationen  stärker sei, als andere, ebenfalls einflußreiche Kräfte,  die entweder ansich oder durch ihre eigentümliche Zusammenwirkung den Ausschlag im entgegengesetzten Sinn geben könnten.

Daß der Fortschritt der Menschheit kein stetiger ist, lehrt jedes Blatt der Geschichte; ja, man kann immer noch Zweifel darüber hegen, ob überhaupt im großen Ganzen ein solcher Fortschritt besteht, wie wir ihn im Einzelnen sich bald entfalten, bald wieder verschwinden sehen. Obwohl es mir selbst jetzt unverkennbar scheint, daß neben dem Auf- und Niederschwanken der Kultur, welches wir in der Geschichte so deutlich sehen, zugleich ein stetiger Fortschritt bemerkbar ist, dessen Wirkungen nur durch jenes Wellenspiel verdeckt werden, so ist doch diese Erkenntnis nicht so sicher, wie die des Fortschritts im Einzelnen, und man findet tüchtige, in Natur und Geschichte bewanderte Denker, wie VOLGER, welche diesen Fortschritt leugnen. Gesetzt aber auch, er wäre in dem Abschnitt der Geschichte, den wir überblicken, unverkennbar, so könnte das immer nur eine größere Welle sein, wie die Flutwelle, die stetig steigt, während Berg und Tal der Brandungswelle abrollen, die aber endlich auch ihren Höhepunkt erreicht und unter demselben Spiel der unruhigen Brandung stetig zurückgeht. Es ist also hier auf keinen Fall mit einem Glaubensartikel oder einer allgemein anerkannten Wahrheit etwas auszurichten und wir müssen die Ursachen, welche den  Rückgang der Kultur  vom Gemeinsinn zum Egoismus herbeiführen könnten, noch genauer betrachten.

Wir finden in der Tat, daß die wichtigsten Gründe für den Verfall alter Kulturstätten längst von den Geschichtsforschern erkannt sind. Der am einfachsten wirkende Grund ist der, daß sich die Kultur meist auf  engere  Kreise beschränkt, die nach einer gewissen Zeit in ihrem abgesonderten Bestand gestört und von weiteren Kreisen wieder verschlungen werden, deren Massen auf einem niederen Standpunkt stehen. Hier findet man auch immer, daß der gehobene Teil der menschlichen Gesellschaft, sei dies nun ein einzelner Staat oder eine bevorzugte Volksklasse, den Egoismus nur innerhalb des engeren Kreises teilweise überwindet, während nach Außen, wie sich zwischen Hellenen und Barbaren, Herren und Sklaven, der Gegensatz schärft. Die Gemeinschaft, in deren Interesse der Einzelne aufgeht, schließt sich nach Außen mit allen Kennzeichen des Egoismus ab und befördert so ihren Sturz durch die unvollkommene Durchführung desselben Prinzips, welchem sie in ihrem Innern die höhere sittliche Kultur verdankt. Ein zweiter Grund ist der bereits berührte, daß sich nämlich innerhalb der gemeinsam fortschreitenden Gesellschaft  Unterschiede  herausbilden, die allmählich immer größer werden, wodurch die Berührungspunkte schwinden, das Verständnis des anderen abnimmt und damit der wichtigste Quell der bindenden Sympathie verloren geht. Es bilden sich dann aus der ursprünglich gleichförmigen Masse bevorzugte Klassen heraus, aber auch unter sich gewinnen diese keinen rechten Zusammenhang und indem die Anhäufung von Reichtümern bisher unbekannte Genüsse schafft, entsteht ein neuer, raffinierterer Egoismus, der schlimmer ist, als der ursprüngliche. So im alten Rom zur Zeit der Latifundien, da der Ackerbau von den Parkanlagen der Reichen verdrängt wurde und halbe Provinzen einzelnen Personen gehörten.

Solche Zustände sind ursprünglich von Niemandem beabsichtigt, auch nicht von den Stärkeren und Reicheren, solange die Unterschiede mäßig sind. Sie entstehen unter dem Einfluß des  Rechtsschutzes,  der ursprünglich den entgegengesetzten Zweck hat, nämlich der Gleichheit und Gerechtigkeit zu dienen und nach dem Prinzip des Privateigentums jedem das Seine zu wahren. Sie entstehen ferner unter dem ungestörten Fortgang des  bürgerlichen Verkehrs,  welcher mit der Bändigung des roheren Egoismus sich erst recht entfalten kann. Auch ohne den Egoismus zum Prinzip zu erheben, hat man doch zu allen Zeiten durch die Einrichtung des  Eigentums  und die geregelte Übertragung desselben die erste Ordnung in die Gesellschaft gebracht, sofern diese nicht noch auf den Überlieferungen der Gewalt beruhte, auf dem Gegensatz von Herren und Knechten, was wir hier außer Acht lassen. Gerade diese Einrichtungen aber:  Eigentum, Rechtsschutz, Vererbung  usw., welche aus der Milderung der Sitten hervorgehen und den Blütezustand der Völker herbeiführen, schützen zugleich das wuchernde Übel der  Besitz-Ungleichheit,  welches, bei einer gewissen Höhe angelangt, stärker wird als alle Gegengewichte und die Nation unfehlbar zugrunde richtet. Dieses Spiel wiederholt sich unter den verschiedensten Formen. Eine moralisch schwächere Nation erliegt schon geringeren Graden; eine stärkere, wir möchten sagen vorteilhafter gebaute Nation vermag, wie das heutige  England,  einen ungemeinen Grad des Übels zu ertragen, ohne zugrunde zu gehen.

In einem ganz rohen Zustand vermag eine solche Besitz-Ungleichheit, wie sie die ihrem Untergang sich nähernden Völker zeigen, durchaus nicht aufzukommen. Wo Beute zu teilen ist, nimmt sich der Stärkere den größeren Anteil; der Schwächere muß vielleicht das herbste Unrecht leiden, allein sein gesamter Zustand, selbst wenn er in Sklaverei verfällt, kann nicht leicht so verschieden von dem der Gewaltigen werden, wie der Zustand des Armen von dem des Reichen ist bei fortschreitender Entwicklung der Erwerbsverhältnisse.

Diese Ungleichheit, wir wiederholen es, ist ursprünglich nicht beabsichtigt; sonst müßten die Völker schon in ihrer frischesten Jugend mit Bewußtsein der Dogmatik des Egoismus gehuldigt haben. Ihr Sinn aber ist in jenen Perioden ein anderer.
    "Privatus illis census erat brevis,
    Commune magnum"
    [Der persönliche Vorteil war gering,
    der öffentliche groß.]
sagt HORAZ mit Bezug auf die alten Römer und selten ist der Gegensatz zwischen den Perioden lebendigen Gemeinsinns und überwuchernder Eigensucht so scharf und wahr gezeichnet worden, wie von diesem Dichter. Und doch waren es jene alten Römer, welche die Grundlage zu den Rechtsordnungen schufen, die Europa noch bewundert und benutzt. Wenn daher der Rechtsschutz und die Heiligung des Eigentums mit dem Weizen zugleich das Unkraut hegen und aufwachsen lassen, so muß es Umstände geben, welche das  wider den Willen der Gesetzgeber  hervorbringen, Umstände, welche entweder ursprünglich nicht beachtet wurden oder welche vielleicht überhaupt gar nicht zu beseitigen sind. Bedenkt man, daß der geordnete gesetzmäßige Zustand zwar nur durch das Erwachen des sympathischen Gemeinsinns und durch Abnahme der roheren egoistischen Triebe entstehen kann, daß aber der Egoismus in einem solchen Gemeinwesen, wie z. B. das der alten Römer, immer noch eine sehr bedeutende Rolle spielt und nur gleichsam in Schranken gebracht ist, innerhalb deren er als berechtigt anerkannt wird: dann wird man auf die Frage geführt, warum nicht in ähnlicher Weise  Schranken gegen die überwuchernde Besitz-Ungleichheit  aufgestellt wurden, um das heilsame Gleichgewicht zwischen Egoismus und Gemeinsinn aufrecht zu erhalten. Wir finden dann, daß gerade im alten Rom die edelsten und besten Männer sich an der Lösung dieses Problems vergeblich versucht haben. Es ist auch ganz natürlich, daß diejenigen Besitzenden, welche sich nicht gerade durch Gedankenschärfe und Opferfreudigkeit auszeichnen - ohne übrigens schon Dogmatiker des Egoismus zu sein - zunächst in allen Versuchen einer solchen Erwerbsbeschränkung nur den Angriff auf das Eigentum sehen und daß ihnen die Erschütterung der Grundlagen der Gesellschaft in einem übertriebenem Licht erscheint, weil ihr Interesse mit dem Bestehenden gar zu eng verknüpft ist. Hätte man den römischen Optimaten zur Zeit der agrarischen Kämpfe die Geschichte der folgenden Jahrhunderte im Spiegel zeigen und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verfall und der Akkumulation der Reichtümer nachweisen können; vielleicht würden nicht TIBERIUS und GAJUS GRACCHUS ihrer höhere Einsicht mit ihrem Blut und ihrem guten Ruf bezahlt haben.

Es ist nicht ganz überflüssig darauf hinzuweisen, daß es nur eine petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp] sein würde, wenn man auf das  Unrechtmäßige  einer Erwerbsbeschränkung hinweisen wollte. Es handelt sich eben darum,  was  Recht sein soll. Das erste Recht - ein Recht, welches die ganze Natur anerkennt - ist das Recht des Stärkeren, das Faustrecht. Erst nachdem ein höheres Recht anerkannt ist, wird jenes zum Unrecht; allein nur solange das höhere Recht auch wirklich der Gesellschaft höhere Dienste leistet. Ist das rechtsbildende Prinzip verloren, so tritt doch stets das Recht des Stärkeren wieder ein und in rein sittlicher Beziehung ist die eine Form desselben nicht besser als die andere. Ob ich meinem Mitmenschen den Hals umdrehe, weil ich der Stärkere bin oder ob ich ihm durch überlegene Geschäfts- und Rechtskenntnis eine Falle lege und bewirke, daß er im Elend verschmachtet, während mit der Vorteil seiner Arbeit "rechtmäßig" zufällt, ist ziemlich gleichgültig. Selbst der Mißbrauch der bloßen Macht des Kapitals auf der einen Seite gegenüber dem Hunger auf der andern ist ein neues Faustrecht, wenn es sich auch nur darum handelt, den Nichtbesitzenden immer abhänger zu machen. Was in der Gesetzgebung ursprünglich nicht vorgesehen ist, das ist eben die  Möglichkeit,  von Kapital-Besitz und Rechtskenntnis einen Gebrauch zu machen, der das alte Faustrecht in seinen verderblichen Wirkungen noch übertrifft. Diese Möglichkeit liegt teils in der bereits besprochenen Befähigung aller Besitzenden zur Ergreifung lohnenderer Arbeit, teils aber in gewissen Beziehungen zwischen dem Bevölkerungsgesetz und der Kapitalbildung, welche die Volkswirtschaft des vorigen Jahrhunderts entdeckt hat, welche aber noch heute, trotz der großen Verdienste, die sich namentlich JOHN STUART MILL umd die Aufklärung dieses Punktes erworben hat, nicht völlig in ihrer Natur und Wirkungsweise ergründet sind. Ich habe in meiner Schrift: "Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey" versucht, einiges zur kritischen Erledigung der betreffenden Fragen beizutragen und will mich hier auf die Benutzung der Resultate, so weit sie unserem Zweck dienen können, beschränken.

Im vorigen Jahrhundert griffen mehrere bedeutende Männer, unter ihnen namentlich BENJAMIN FRANKLIN, die Bemerkung auf, daß die natürliche Vermehrung der Menschen, wie der Tiere und Pflanzen, wenn sie ungehemmt wäre, sehr bald den Erdboden überfüllen müßte. Diese unbestreitbare und auf der Hand liegende aber bis dahin nicht beachtete Wahrheit mußte sich einem beobachtenden Geist damals aufdrängen, wenn er die rapide Volksmehrung in Nordamerika mit den Zuständen europäischer Staaten verglich. Man fand, daß die Volksvermehrung nicht von der Fruchtbarkeit der Ehen, sondern von der Masse der erzeugten Nahrungsmittel abhängt. Diese einfache Anschauung, durch MALTHUS berühmt geworden, aber auch mit irrigen Zutaten versehen, die wir hier außer Spiel lassen, ist seitdem durch die Vervollkommnung der  Statistik  als unzweifelhaft erwiesen worden.

Nahezu gleichzeitig kam eine andere, in ihrer ursprünglichen Form freilich irrtümliche Lehre auf, die Lehre von der  Bodenrente.  Man nahm an, daß die Grundbesitzer aus den unerschöpflichen Kräften des Bodens außer der Verzinsung ihres Kapitals und der Verwertung ihrer Arbeit noch einen besonderen Gewinn ziehen, welcher durch das Monopol der Benutzung jener Naturkräfte hervorgebracht wird. Später wurde gezeigt, daß dies nur insofern richtig ist, als die Menge des Bodens begrenzt ist oder in Folge gewisser Umstände (Auswanderungsscheu, Mangel an Kapital zur Rodung fruchtbarer Niederungen, Mangel an Freiheit usw.) als begrenzt betrachtet werden muß. Es tritt dann in relativer Geltung dasselbe Verhältnis auf, welches absolut gelten müßte, wenn einmal der ganze anbaufähige Boden der Erde in Privatbesitz gelangt wäre. Obwohl sonach die Lehre von den Bodenrent nur eine relative Gültigkeit hat, so tritt doch für jedes Land ein Zustand ein, in welchem sie bei zu einem gewissen Grad anwendbar ist.

Endlich hat man gefunden, daß die Höhe des  Arbeitslohns,  der von einem mit Kapital versehenen Unternehmer denen bezahlt wird, die ohne Grundbesitz oder andere Mittel sich nur aus ihrer Arbeit erhalten müssen, gleich jedem andern Warenpreis durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Sofern also das Angebot die Nachfrage überwiegt, muß der Arbeitslohn auf ein Minimum sinken. Es ist ganz natürlich, daß gerade hier die Theorie des Egoismus sich der Wirklichkeit in sehr hohem Grad annähert, da es sich sukzessiv nur um kleine Beträge handelt und der Arbeitgeber, der auf dem bestehenden Rechtsboden seine Interessen wahrnimmt, anfangs selbst von den Folgen dieses Verhältnisses nur einen unklaren Begriff hat.

In Zeiten größerer Rohheit wird die Bevölkerung teils durch die Ungunst des Klimas, bei Mangel an Vorräten, teils durch Fehden und Kriege mit barbarischer Behandlung der Überwundenen beständig dezimiert, die Kapitalsammlung kann nicht ungestört vor sich gehen, und auf den Überfluß von Arbeitskräften folgt wieder Mangel, auf Mangel an Boden wieder die Möglichkeit, durch geringe Anstrengung ausgedehnte Territorien zu erwerben. Sobald aber die schlimmsten Leidenschaften beruhigt sind, Gemeinsinn und Rechtsordnung ihr Werk begonnen haben, beginnt auch, wie das Unkraut, das unter dem Weizen aufwächst, die Wirkung jener eben bezeichneten Verhältnisse.

Die Bevölkerung mehr sich, der Boden zur Bearbeitung beginnt zu fehlen; die Bodenrente steigt, der Arbeitslohn sinkt: der Unterschied zwischen der Lage der Besitzer und der Pächter, der Pächter und der gemieteten Arbeiter wird immer größer. Nun bietet die aufblühende  Industrie  dem Arbeiter höheren Lohn; aber bald strömen ihr so viel Arme zu, daß sich hier dasselbe Spiel wiederholt. Der einzige Faktor, welcher jetzt den Zuwachs der Bevölkerung hemmt, ist das Elend, und die einzige Rettung vor dem äußersten Elend ist die Annahme von  Arbeit  um  jede Preis.  Dem glücklichen Unternehmer strömen unermessliche Reichtümer zu; der Arbeiter erhält nichts als sein kümmerliches Dasein. So weit macht sich die Sache ganz ohne die Dogmatik des Egoismus.

Jetzt erschreckt das Elend des Proletariats teilnehmende Herzen; allein der Weg aus diesen Zuständen zurück zu der alten Einfachheit der Sitten ist unmöglich. Ganz allmählich haben sich die Besitzenden an einen reichen und mannigfachen Genuß verfeinerter Lebensfreuden gewöhnt. Kunst und Wissenschaft haben sich entfaltet. Die Sklavenarbeit der Proletarier schafft vielen fähigen Köpfen Muße und Mittel zu Forschungen, Erfindungen und Schöpfungen. Es scheint Pflicht, diese höheren Güter der Menschheit zu wahren, und gern tröstet man sich mit dem Gedanken, daß sie einst ein Gemeingut Aller sein werden. Inzwischen macht das schnelle Wachsen der Reichtümer viele dieser Genüsse teilhaftig, deren Gemüt innerlich roh ist. Andere verwildern in sittlicher Beziehung, indem sie keine Aufmerksamkeit, keine Teilnahme mehr übrig behalten für etwas, das außerhalb des Kreises ihrer Vergnügungen liegt. Die lebhafteren Formen der Sympathie mit dem Leiden schwinden schon durch das gleichförmig Wohlleben der Bevorzugten. Diese fangen an, sich als besondere Wesen zu befassen. Ihre Diener sind ihnen wie Maschinen; die Unglücklichen sind ihnen eine unvermeidliche Staffage; sie haben für das Schicksal derselben kein Verständnis mehr. Mit dem Abreissen der sittlichen Bande erlischt die Scham, welche früher von allzuüppigen Genüssen zurückhielt. Die geistige Kraft erstickt im Wohlleben; das Proletariat allein bleibt roh, gedrückt, aber geistesfrisch.

In einem solchen Zustand war die alte Welt als das Christentum und die Völkerwanderung ihrer Herrlichkeit ein Ende machten. Sie war zum Untergang reif geworden.
LITERATUR Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866