p-4 L. PongratzR. WillyE. LaasA. RugeA. Trendelenburg    
 
MAX WALLESER
Das Problem des Ich
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"Das Ich zeigt sich auf Schritt und Tritt als der zentrale Punkt des ideellen Seins, mit welchem jedes einzelne Erfahrungselement in enger Beziehung verbunden ist. Und so ist es leicht zu verstehen, daß das Ich als das Grundproblem aller Philosophie aufgefaßt werden kann und daß es sich bei intensiverem Eindringen in seine Tiefen sogar als das Grundproblem der Metaphysik herausstellt."

Vorwort

Die Untersuchungen, die ich hiermit der Kritik unterbreite, erheben nicht den Anspruch, das Ichproblem in seinem ganzen Umfang zu erörtern; das wäre nicht gut anders als im Zusammenhang eines System möglich, da nur unter dieser Voraussetzung alle die verschiedenartigen Beziehungen, in denen sich das Ich im Bewußtsein darbietet, die ihnen gebührende Berücksichtigung erfahren könnten. Es kam mir vielmehr lediglich darauf an, diejenigen transzendentalen Elemente herauszustellen, die durch das Selbstbewußtsein ohne weiteres verbürgt erscheinen und so will die vorliegende Arbeit im Grunde genommen nichts weiter sein, als eine Beantwortung der Frage, ob und inwieweit der Cartesianische Grundsatz des Cogito ergo sum [Ich denke, also bin ich. - wp] den Anforderungen der modernen Erkenntnistheorie entspricht.

Nachdem dieser Satz nahezu drei Jahrhunderte hindurch eine unbestrittene Geltung genossen und durch die mannigfaltigen Deutungsmöglichkeiten, zu denen er Anlaß gibt, jene Vielgestaltigkeit der neueren Philosophie aus sich hervorgebracht hat, die in ihren jüngsten teils subjektivistischen, teils materialistischen Konsequenzen zu einem gewissen Abschluß gekommen zu sein scheint, fühlen wir uns heute, wo eben diese letzte Phase durch das immer deutlicher zutage tretende Fiasko des erkenntnistheoretischen Phänomenalismus ad absurdumg geführt worden ist, zu einer Nachprüfung jenes Prinzips veranlaßt, um die Mängel, die etwa schon in den Voraussetzungen enthalten sind, klarzulegen und das Fundament aller Philosophie - denn um ein solches handelt es sich bei der erkenntnistheoretischen Durcharbeitung des Ichproblems - fester und sicherer zu legen, als es durch DESCARTES geschah und geschehen konnte.

Das Verdienst, auf diese Aufgabe der Gegenwart zuerst nachdrücklich hingewiesen zu haben, gebührt ARTHUR DREWS, der in seinem Werk "Das Ichproblem der Metaphysik" (Freiburg 1897) unternommen hat, die logischen Konsequenzen, welche sich aus der DESCARTES'schen Formulierung bis jetzt ergeben haben, anhand der Geschichte zu entwickeln. DREWS gelangt zu der Schlußfolgerung, daß das negative Ergebnis der unter dem Zeichen des  Cogito ergo sum  stehenden Spekulation nur durch die Unrichtigkeit eben jenes Satzes zu erklären sei. Er hat aber meines Erachtens nicht genügend die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß zwar das Cogito ergo sum infolge unrichtiger Auffassung zu allen jenen falschen Anschauungen geführt haben könne, das aber noch eine andere Deutung dieses Satzes angängig sei, insofern nämlich unter dem "ich bin" etwas Existentes, d. h. außerhalb des Bewußtsein Seiendes zu verstehen wäre. In der Tat fallen, wenn man sich erst einmal zu einer derartigen Auffassung entschließt, alle jene Schwierigkeiten weg, die entstehen, wenn man mit DREWS das "Ich" als etwas rein Ideelles und Bewußtseinsimmanentes betrachtet. Andererseits steht nichts im Wege, die positiven Resultate, welche DREWS im Anschluß an EDUARD von HARTMANN entwickelt und die darauf abzielen, das Bewußtsein als eine dem Subjekt nicht wesentliche Begleiterscheinung zu erweisen, mit unserer Interpretation des Ich zu vereinigen. Von diesem Gesichtspunkt aus darf ich mich vielleicht der Hoffnung hingeben, wenn auch nur in bescheidenem Maße dazu beigetragen zu haben, eine Verständigung der heutigen Philosophie mit einem System herbeizuführen, das mir dem Stand der modernen Erfahrung und Wissenschaft am ehesten zu entsprechen scheint - dem System EDUARD von HARTMANNs.

Im übrigen ist meine Untersuchung durchaus voraussetzungslos und frei von jedem Systemzwang. Sollten sich daher in die Entwicklung irgendwelche Fehler eingeschlichen haben, so dürften sie umso leichter bemerkt und richtig gestellt werden können, als sie sich nicht hinter irgendwelchen importierten Prämissen zu verbergen imstande wären. Daß aber die Prüfung erfolge, muß ich für dringen wünschenswert erachten, da die Resultate der vorliegenden Erörterungen trotz ihres geringen Umfangs und ihrer zweifellosen Geringfügigkeit für die Grundlegung der Erkenntnistheorie und in weiterem Sinne der Philosophie überhaupt entscheidend sein dürften.



Wenn das Ich, dieses namentlich auch in der jüngsten Zeit viel erörterte Problem, in der vorliegenden Arbeit von neuem zum Gegenstand der Untersuchung und Kritik gemacht werden soll, so bedarf das wohl einiger Worte der Entschuldigung oder doch Erklärung. Diese ist ja nun schon zur Genüge darin gegeben, daß die Psychologen sowohl als Philosophen auch nur hinsichtlich der wichtigeren Detailfrage noch weit von jener Einhelligkeit entfernt sein, welche als der Prüfstein für die allgemeine Richtigkeit der Problemlösung, sowie als ein Anzeichen dafür gelten kann, daß das betreffende Problem für den wissenschaftlichen Standpunkt der Zeit als erledigt zu betrachten ist und daß es ad acta gelegt werden kann, bis der nie ausbleibende Wandel der Erfahrungsgrundlage die frühere Lösung als veraltet erscheinen läßt und eine neue Inangriffnahme der Streitfrage notwendig macht. In gewisser Hinsicht läßt sich allerdings, was die Psychologie betrifft, schon jetzt eine weitgehende Übereinstimmung in der Methode wie in den Prinzipien erkennen, welche vermuten läßt, daß auch das Ichproblem in nicht allzulanger Zeit eine einheitliche Bearbeitung und Beantwortung erfahren wird. Dies hängt damit zusammen, daß die genannte Wissenschaft sich mehr und mehr auf ihre empiristische Grundlage besonnen und dementsprechend all das, was irgendwie die Grenzen der unmittelbaren Erfahrung überschreitet, also alle Hypothesen transzendentalen und metaphysischen Charakters, als "unwissenschaftlich" über Bord geworfen hat, um desto unbehinderter auf der weiten Fläche der empirischen Selbstbeobachtung sich tummeln zu können - ohne Zweifel ein wichtiger Fortschritt im Verhältnis zu dem planlos willkürlichen Operieren mit transzendentalen Hilfsbegriffen in Gestalt von "Seelenvermögen" und dgl., welche sich als Überrest aus der Scholastik bis in die Zeit HERBARTs hinübergerettet hatten und im Grunde genommen erst durch den nüchternen Positivismus der modernen Empirie endgültig aus der Welt geschafft sind. Man wird sich allerdings fragen müssen, ob dieser Grundzug der gegenwärtigen Psychologie sich auf die Dauer wird behaupten können und zwar ist dieses Bedenken dadurch gerechtfertigt, daß das Prinzip der reinen Erfahrung überhaupt kein echtes Prinzip der reinen Erfahrung überhaupt kein echtes Prinzip sein kann. Es schließt nämlich eine Erklärung der Tatsachen aus; Erklärung aber ist die Zurückführung eines Unverstandenen auf ein Verstandenes, die Einordnung und Zusammenfassung isolierter Tatsachen unter eine Regel oder ein Gesetz, die Verdeutlichung einer Erscheinung durch den Nachweis ihres kausalen Grundes. Unter Erklärung versteht man also eine solche Bearbeitung von empirischen Einzelfällen, daß man das Besondere und Eigentümliche derselben mit anderweitig Bekanntem in Beziehung bringt und vergleicht und daß man es als ein Gesetzmäßiges und Notwendiges begreift, was nur dadurch geschehen kann, daß es unter ein Allgemeines subsumiert wird. Die reine Erfahrung kennt aber nur die einzelnen Geschehnisse und Zustände, wie sie sich im Bewußtsein darstellen. Eine Zusammenfassung von mehreren nach dem Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit, Ähnlichkeit oder Verwandtschaft kann sie schon deshalb nicht vornehmen wollen, weil diese Verstandeskategorien in der reinen Erfahrung selbst nicht enthalten sind und erst durch die Denktätigkeit zu den ansich beziehungslosen Bewußtseinsinhalten hinzugefügt werden. Zieht man das alles in Betracht, so könnte man sich versucht fühlen, der Psychologie den Charakter einer Wissenschaft streitig zu machen, wenn nicht auf der anderen Seite eben diese Enthaltsamkeit von Zutaten des kategorialen Denkens bis zur endgültigen Feststellung des empirischen Tatsachenmaterials dringend am Platz wäre. Wir sehen, daß die Psychologie von ihren Ansprüchen auf Erklärung zur bescheideneren Arbeit des Konstatierens und Registrierens herabgestiegen ist. Gleichzeitig aber müssen wir anerkennen, daß durch die eifrige Betätigung auf dem begrenzteren Arbeitsgebiet, vor allem durch das planvolle Zusammenwirken von Beobachtung und Experiment, eine Kenntnis des seelischen Lebens erzielt worden ist, wie sie genauer, eindringender und erschöpfender keine frühere Periode besessen hat.

Insofern nun aber die Wissenschaft, von der wir reden, doch nach der Seele, als ihrem besonderen Gegenstand, benannt ist, hat sie auf die angegebene Weise ihr Wesen so vollständig geändert, hat sie im immanenten Gang ihrer Entwicklung so sehr sich selbst entfremdet, daß die Bezeichnung "Psychologie" oder "Seelenlehre" im strikten Sinne gar nicht ernstlich aufrecht erhalten werden kann. Die moderne Psychologie ist eine solche ohne Psyche. Anstatt nach der früheren Weise in der "Seele" das innere geistige Band des Bewußtseins zu suchen, findet man dieses entweder im Anschluß an die englischen Psychologen (PRIESTLEY) in der Assoziation der Vorstellungen oder nach der Vorgängerschaft WUNDTs in einem besonderen Vermögen, der "Apperzeption", welches den Empfindungsablauf nach Maßgabe des individuellen Interesses regelt oder man greift andere Faktoren des psychischen Lebens heraus, um ihnen eine mehr oder minder maßgebende Stellung einzuräumen und in ihnen die unentbehrliche Grundlage des bunten und mannigfachen subjektiven Seins zu konstatieren. Die "Seele" selbst ist dem gegenüber ganz in den Hintergrund getreten. Man scheut sich vor der Verwendung und Verwertung eines Begriffs, der nicht nur höchst undeutlich und unanschaulich erscheint, sondern auch durch die Verquickung mit religiösen Gefühlselementen sich dem Gebildeten von heute wenig empfiehlt. "Seele" ist eben mehr ein metaphysischer und religiöser als ein empirischer Begriff; die Abneigung der Wissenschaft besteht daher zu Recht, kommt es doch vor allem darauf an, daß sich mit dem Begriff auch eine deutliche Vorstellung verbinden läßt und diese fehlt bei dem Wort "Seele" so gut wie ganz. Es will überhaupt scheinen, als ob dieser Ausdruck das Los von so manchen verwandten Charakters, der mit dem Verfall des religiös-konfessionellen Empfindens aus der Sprache unvermerkt ausgeschieden worden ist, geteilt hat. Wer sich nicht etwa rundweg auf den kirchlichen Standpunkt stellt und die Seele als eine Art von körperlichem, wenn auch schattenhaftem Gebilde, welches nach dem leiblichen Tod fortbesteht, auffaßt, müßte schon Okkultist, Theosoph oder Spiritist sein, um sich unter jenem Wort auch wirklich etwas Wesenhaftes vorstellen zu können.

In demselben Maße nun, wie die "Seele" aus dem Gesichtskreis der modernen Weltanschauung schwindet, tritt das "Ich" als Problem in den Vordergrund. Mag die individuelle Bildung des Einzelnen sein, wie sie wolle, das Ich wird von jedem als eine geistige Einheit empfunden, wenn sie es auch nur insofern wäre, daß unter der subjektiven Ichvorstellung die inneren Erlebnisse zusammengefaßt werden. Man zerbricht sich nicht mehr den Kopf über die Seele, sondern über das Ich. Das Ich zeigt sich hier auf Schritt und Tritt als der zentrale Punkt des ideellen Seins, mit welchem jedes einzelne Erfahrungselement in enger Beziehung verbunden ist. Und so ist es leicht zu verstehen, daß das Ich als das Grundproblem aller Philosophie aufgefaßt werden kann und daß es sich bei intensiverem Eindringen in seine Tiefen sogar als das Grundproblem der Metaphysik herausstellt. Aber auch derjenige, welcher im Einklang mit unserer heutigen metaphysikscheuen Zeit von einer metaphysischen Problemstellung hinsichtlich des Ich nichts wissen will, wird sich der wesentliche Bedeutung von Untersuchungen, die das Ich zum Gegenstand haben, nicht verschließen können und je nach seinem prinzipiellen Standpunkt sich mit dem einmal vorliegenden und nicht abzuweisenden Problem abzufinden suchen. Für ihn besteht es nicht als metaphysische, sondern als erkenntnistheoretisch-psychologische, vielleicht auch als logisches in dem Sinne, daß es im Rahmen der Logik seine Stelle findet, wie es den logischen Werken von LOTZE, ÜBERWEG, SIGWART, WUNDT u. a. teils ausführlich, teils desultorisch [halbherzig - wp]geschehen ist.

Wenn ich nun die vorliegende Untersuchung als eine "erkenntnistheoretische" aufgefaßt wissen möchte, so bedarf dies nach dem Gesagten keiner weiteren eingehenden Begründung. Höchstens, daß der Ausdruck "erkenntnistheoretisch" noch einer umschreibenden Erläuterung bedarf. Diese ergibt sich aber sehr einfach ohne weiteres aus dem Begriff der Erkenntnistheorie. Wenn wir unter Erkenntnistheorie denjenigen besonderen Teil der Philosophie verstehen, welcher die Beziehungen des bewußten Seins zum problematischen außerbewußten Sein zum Gegenstand hat, so stellt sich eine erkenntnistheoretische Behandlung des Ichproblems die Aufgabe, das Verhältnis des vorgestellten Ich zu dem ihm außerhalb des Bewußtseins korrespondierenden festzustellen, bzw. die Frage zu lösen, ob dem vorgestellten Ich überhaupt etwas Transzendentes entspricht und was dieses Transzendente sein soll. Ich wüßte nicht, was sich gegen diese Formulierung des Problems einwenden ließe. Nur derjenige, welcher sich von vornherein auf den Standpunkt des radikalen Bewußtseinsidealismus oder, was dasselbe ist, erkenntnistheoretischen Nihilismus stellt und auch schon die Möglichkeit einer transzendentalen Entsprechung des Bewußtseinsimmanenten rundweg bestreitet, könnte diese Fragestellung ablehnen, in dem er sich auf sein im übrigen unbewiesenes Prinzip beruft. Aber für einen solchen existieren überhaupt keine Probleme, da er sich ja mit der positiven Erfahrung begnügt und eine denkmäßige, gar philosophische Bearbeitung derselben für ihn überhaupt keinen Sinn haben kann. Denn die Tätigkeit des Denkens setzt voraus, daß Verhältnisse vorhanden sind, die durch das Denken aufgeklärt und festgestellt werden sollen, die also als ein zu erreichendes Ziel während des Denkens vorschweben und darin schon den Beweis mit sich führen, daß sie vom Denken unabhängig sind, indem sie in ihrem So-und-nicht-anders-Sein weiter fortbestehen, auch wenn das Denken sie sich nicht zufällig zum Vorwurf nähme. Die erkenntnistheoretische Problemstellung ist also ohne weiteres berechtigt und nur eine übersubtile, um nicht zu sagen: selbstmörderische Kritik wird der Möglichkeit einer Bewußtseinstranszendenz gegenüber die Augen verschließen und die vorgeschlagene Formulierung der Aufgabe bedenklich finden können.

In etwas anderer Weise, wohl auch etwas deutlicher, können wir diese dahin präzisieren, daß es darauf ankommt, uns darüber klar zu werden, was wir unter "Ich" verstehen oder, mit anderen Worten, den Begriff des "Ich" festzustellen, um alsdann, soweit dies erforderlich ist, zu untersuchen, ob außerhalb des Begriffs ein bewußtseinstranszendentes Korrelat des gedachten Ich existiert.

Auf welchem Weg werden wir nun dieser Aufgabe nähertreten? Wir müssen uns, wie ich glaube, vor allem in Acht nehmen, uns von vornherein auf einen fixierten philosophischen Standpunkt oder auf den Boden irgendeiner metaphysischen Weltanschauung zu stellen und von hier aus Urteile zu fällen oder Ansichten zu äußern, deren Prämissen doch im wesentlichen in der subjektiven philosophischen Stellungnahme, die doch immer auch in gewissem Sinne Parteinahme ist, enthalten sind. Ein Anhänger SCHOPENHAUERs wird sich, von seinem zugeständlichen Standpunkt aus ja auch mit Recht, auf die Willensmetaphysik jenes Denkens berufen und im Einklang mit dieser das Ichproblem behandeln können, ohne die schon geleistete Arbeit der Begründung seiner Anschauungen nochmals im besonderen vorzunehmen. Und so wird sich jede Schule, welcher ein gewisser Fond von Grundsätzen gemeinsam ist, die sie als Voraussetzungen der weiteren Nachforschung unterlegt - ich nenne nur die System von HERBART, LOTZE, WUNDT als solche "Grundlagen" - soweit über die wissenschaftlichen Prinzipien innerhalb ihres Kreises einig sein, daß sie diese selbst nicht bei jeder Detailuntersuchung wieder besonders festlegen zu müssen glaubt. Demgegenüber möchte ich ausdrücklich betonen, daß eine erkenntnistheoretische Untersuchung, wie sie im folgenden beabsichtigt ist, sich überhaupt nicht auf Voraussetzungen der angegebenen Art stützen darf, denn das Charakteristische der Erkenntnistheorie besteht ja eben darin, möglichst voraussetzungslos zu Werke zu gehen und, anders als andere Disziplinen, sich eins ganz eigentümlichen Forschungsprinzips zu bedienen, nämlich des radikalen Zweifels, das bekanntlich das Vehikel des DESCARTES'schen Denkens gewesen ist und hiermitm im weiteren Sinne den Anstoß zu dieser gewaltigen Umwälzung gegeben hat, infolge deren der spekulative Geist, aus seinem ontologischen Schlaf aufgerüttelt, die Pfade der Erkenntnistheorie betreten hat. Wenn es überhaupt angeht, von einer voraussetzungslosen Wissenschaft zu reden, so kann diese nur die erkenntnistheoretische sein und zwar vermöge des cartesianischen Zweifels, der nur vor dem ganz unzweifelhaft Gewissen und Unumstößlichen halt macht. Dementsprechend kann auch der Ausgangspunkt einer selbständigen Erörterung erkenntnistheoretischer Fragen nur der prinzipielle Zweifel sein, wie das namentlich RICKERT (Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892, Seite 1f) und VOLKELT (Erfahrung und Denken, 1886, Seite 3f) auseinandergesetzt haben.

Was die in einer Untersuchung, wie der unsrigen, anzuwendende Methode anbelangt, so wird man hierüber umso weniger eine besondere Darlegung erwarten, als dieselb in zahlreichen Schriften, von denen nur VOLKELTs "Erfahrung und Denken" als die ausführlichste kritische Grundlegung unserer heutigen Erkenntnistheorie erwähnt sein mag, in so erschöpfender Weise geleistet worden ist, daß kaum etwas Neues über diesen Gegenstand vorgebracht werden kann. Die Methode einer jeden logischen Erörterung besteht ohne Rücksicht auf ihren besonderen Charakter in der dialektischen Entwicklung der Begriffe und höchstens darüber kann gestritten werden, ob bei den einzelnen Gegenständen diese logische Entwicklung induktive oder deduktiv zu erfolgen hat. Während die Induktion [Schluß vom Einzelnen auf das Allgemeine - wp] sich das weite Feld der Naturwissenschaften erobert hat, wird auch heute noch das deduktive Verfahren [Schluß vom Allgemeinen auf das Einzelne - wp] mit Vorliebe in der Philosophie angewandt und es verdient daher die Frage eine nähere Besprechung, wie sich im besonderen die Erkenntnistheorie zu diesem methodologischen Prinzipien verhält.

Induktion und Deduktion unterscheiden sich dadurch, daß die erstere vom Besonderen, Einzelnen und Tatsächlichen zum Allgemeinen, Einheitlichen und Normativen fortschreitet, während bei der Deduktion das Umgekehrte der Fall ist. Induktion basiert also auf der Erfahrung im weitesten Sinn des Wortes, Deduktion auf der Kenntnis der Gesetze, welche aus der logischen Bearbeitung der Erfahrung gewonnen worden sind. Was nun die Philosophie anbelangt, so kann man sich ja - wie z. B. der Positivismus will - auf den Standpunkt stellen, daß außer dem Tatsächlichen und Besonderen der reinen Erfahrung nichts existiert und daß es daher auch keinen Sinn hat, das Konkrete unter abstrakte Normen zu bringen. Ob dieser Standpunkt aber überhaupt noch den Anspruch erheben kann, "philosophisch" genannt zu werden, diese Frage kann umso eher negativ entschieden werden, als die Vertreter solcher Ansichten schwerlich jenen Anspruch selber vertreten werden. Indem wir also von dieser positivistischen Selbstbescheidung vollständig absehen, bleibt aber die Frage nach der erkenntnistheoretischen Methode bestehen; den soviel ist klar, daß sich die Erkenntnistheorie nicht auf ein Konstatieren von Einzelheiten beschränkt, sondern daß es ihr vielmehr darauf ankommt, die Bedeutung und die Tragweite der verschiedenartigen Bewußtseins-Phänomene festzustellen. Diese einfache Betrachtung genügt aber meines Erachtens schon, uns abzuhalten, der deduktiven Methode eine maßgebende Bedeutung für den vorliegenden Zweig der Geisteswissenschaften beizumessen. Das Allgemeine ist ja das, was wir durch unsere Überlegung zu erreichen streben; und wenn dieses Allgemeine in unserer Erfahrung auch implizit enthalten ist, so ist es doch gerade die Loslösung und Isolierung von der uns gleichgültigen Masse des empirischen Materials, auf die es uns ankommt. Im Grunde genommen besteht also in dieser Hinsicht gar kein Unterschied zwischen Erkenntnistheorie und naturwissenschaftlicher Forschung, da sie in der Gleichartigkeit eines Zieles von generellem Charakter übereinstimmen.

Durch die Bezeichnung der Untersuchung als einer erkenntnistheoretischen soll des weiteren die Vermutung ferngehalten werden, daß eine Auseinandersetzung über die psychischen Vorgänge des Gefühls, des Wollens, Empfindens usw. in diesem Zusammenhang füglich erwartet werden dürfte. Die Erkenntnistheorie kann das ruhig der Psychologie als einer mehr beschreibenden und referierenden Wissenschaft überlassen und sich dafür umso ungestörter auf ihre logische Arbeit der Zergliederung subjektiver Vorstellungen in ihre Elemente konzentrieren. Es genügt, jene psychologischen Zuständlichkeiten von dem Gesichtspunkt aus ins Auge zu fassen, ob das "Ich", als das Subjekt derselben, durchaus als identisch vorgestellt wird oder ob der Begriff des Ich je nach der Beziehung auf verschiedene psychische Tätigkeiten inhaltlich modifiziert wird. So verwenden wir das persönliche Pronomen in gleicher Weise als Subjekt in den Sätzen "ich denke", "ich fühle", "ich will", also zum Ausdruck der reinen Denktätigkeit ebenso wie zu dem des Empfindens und des Affekts. Man könnte nun annehmen, daß das Ich, welches wir hier wesentlich nach der sprachlichen Seite ins Auge fassen, für die Vorstellung je nach der Beziehung innerhalb des Satzes ähnlich variiert, wie unser Begriff des Gegenstandes, den wir durch die Prädikate "groß", "schwer", "gelb", "teuer", "prächtig" der Reihe nach in die verschiedenartigsten kategorialen Beziehungen bringen, bzw. den wir in soviel Einzelmerkmale zerlegen, als er inhaltlich umfaßt, sodaß schließlich die Summe der Einzelvorstellungen an die Stelle der einheitlichen Gesamtvorstellung tritt. Die Beantwortung dieser Frage setzt aber eine kritische Stellungnahme zum "Ich" schon voraus und kann daher erst aufgrund anderweitiger Feststellungen erfolgen. Jedenfalls kann die Verbindung mit dem "Wollen", "Denken" usw., in welcher das Ich uns sprachlich entgegentritt, kein Anlaß sein, diese Tätigkeiten, Zustände, oder wie man sie sonst nennen will, nach Art und Weise der Psychologie zu erörtern.

Wenn wir also diese Wissenschaft in ihrem Arbeitsgebiet belassen, ohne sie durch erkenntnistheoretische Eingriffe zu stören, so ist doch das Wesentliche ihrer Aufgabe und Bestimmung insofern für das Ichproblem von Belang, als es dem Erkenntnistheoretiker darauf ankommen muß, das Psychische durch eine Art von intellektueller Anschauung oder mittels eines Gesamtbegriffs zu verstehen, wozu eben nur die Psychologie verhelfen kann. Dieser von uns geforderte Gesamtbegriff des Psychischen muß dasjenige, was den einzelnen psychischen Momenten gemeinsam ist, also das Generelle dieser Vorstellung bezeichnen. Die Geschichte der Psychologie weist uns nun zunächst auf den Begriff des Denkens hin, als auf den allgemeinsten Ausdruck des psychischen Seins; oder vielmehr auf den Begriff des  cogitare,  welcher sich doch nicht ganz genau mit unserem deutschen "Denken" zu decken scheint. Wir empfinden es wenigstens als dem gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht mehr angemessen, wenn DESCARTES unter "Denken" so heterogene Tätigkeiten wie das Zweifeln, Bejahen, Verneinen, Erkennen, Wollen, Vorstellen und Empfinden befaßt (Princ. III) (1). Andererseits werden wir gerade bei DESCARTES einen Widerspruch mit der hergebrachten Terminologie schwerlich voraussetzen dürfen. In der Tat findet sich der Begriff des Denkens in der gesamten mittelalterlichen Philosophie seit AUGUSTINUS ebenso bestimmt, wie bei DESCARTES, und schon in der griechischen Philosophie war seit PLATO und ARISTOTELES die Identifizierung von Denken und psychischem Sein gang und gäbe. Dies ist auch gar nicht weiter auffällig, wenn man bedenkt, daß den alten Sprachen ein besonderer Ausdruck, der unserem heutigen "bewußt sein" entspräche, mangelte, daß das lateinische  cogito  diesem Begriff verhältnismäßig noch am nächsten kam und sich dadurch zur generellen Bezeichnung allen Vorstellungsseins ohne Berücksichtigung der spezifischen Differenzen empfahl, und daß auf der anderen Seite unser "Denken" eher dem lateinischem  considerari  entspricht, das ja auch unter den Begriff des  cogitare  subsumiert wurde. Wir stellen also, soweit das Psychische für uns in Betracht kommt. den Begriff des Bewußtseins in den Vordergrund, indem wir prinzipiell annehmen, daß das psychische Sein an und für sich auch bewußtes oder ideelles Sein ist.
LITERATUR: Max Walleser, Das Problem des Ich, Karlsruhe 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. EDUARD von HARTMANN, Geschichte der Metaphysik I, Seite 359. EUCKEN; Geschichte der philosophischen Terminologie", Seite 200