ra-2 J. C. BluntschliJ. FröbelL. Hartmann    
 
EMIL LORENZ
Der politische Mythos

"Ein Zufall kann es nicht sein, daß der Landbau, der vor der Seßhaftwerdung Sache der Frauen gewesen war mit dem Aufhören der Wanderungen (und nach der Zähmung des Rindes) zu einer ausschließlich männlichen Tätigkeit wird. Das Ergebnis war, daß, als mit dem Zerfallen des gentilen Zusammenhalts der Staat als die an den Boden gebundene Herrschaftsorganisation an seine Stelle trat, die im Unbewußten wurzelnde einigende Kraft ihren Sitz aus der Blutsgemeinschaft der Gens in die mythische Gestalt der mütterlichen Erde verlegte. Man kämpft von jetzt an nicht nur für sein Volk, sondern auch für sein Land."

Vorwort

Kulturmythologie als die Lehre von den mythischen Spiegelungen der eigenen Schöpfungen des Menschen, beziehungsweise menschlicher Gesellschaften ist als eigenes Forschungsgebiet noch kaum betrieben worden, wenigstens nicht in bewußter Abgrenzung von der Erforschung des Natur- und des Heroenmythos (1). Entweder erschien der Kulturmythos als Bestandteil des Heroenmythos, wofür der Terminus "Kulturheros" (PROMETHEUS, THESEUS, MAUI) Zeugnis ablegt oder der Kulturmythos wuchs aus dem Naturmythos hervor (DEMETER und KORE). Zum Teil war auch das, was wir in dieser Arbeit zur Kulturmythologie rechnen wollen, Arbeitsgebiet der Ethnologie und Volkskunde gewesen und mag es aus der Erweiterung des Begriffes, die sich der Verfasser damit erlaubt hat, daß er die äußeren Lebensformen und ihre psychologische Geschichte in seine Systematik hereinbezieht, ihm einen Vorwurf machen. Diesen zu entkräften ist nicht Sache theoretischer Erörterungen zu Beginn des Werkes; der Zusammenhang des Ganzen wird diese Einbeziehung entweder rechtfertigen oder als irrtümlich erweisen. Hier sei nur soviel gesagt, daß es nur die Vorstellungsseite, und zwar in erster Linie die unbewußte Vorstellungsseite an Brauch und Sitte ist, von deren gemeinsamer Behandlung mit dem im eigentlichen und unbezweifelten Sinn so genannten Mythos wir eine gegenseitige Aufhellung und außerdem die Gewinnung neuer Einsichten für die Psychologie des Unbewußten überhaupt erwarten.

Was die Komposition des Werkes betrifft, so sei bemerkt, daß der erste Teil, betitelt "Der politische Mythos", zuerst gesondert erschienen (2) und damals aus der inneren Nötigung entstand, sich über äußeres Weltgeschehen mit den Mitteln der Tiefenpsychologie Rechenschaft zu geben, in diesem Zusammenhang aus technischen Gründen an die Spitze gestellt erscheint, indem die Unmöglichkeit einer durchgreifenden Änderung anhand der erst später gewonnenen Denkmittel ihm diesen gewissermaßen historisch bedingten Platz anwies. Die innere Genesis der Gedanken spielt diese Anordnung nicht wider. Diese hebt vielmehr mit den tiefen Eindruck von SWINBURNEs "Hertha" an, der den Verfasser seit dem Jahre 1913 von diesem Gegenstand nicht mehr loskommen ließ. Unvollständigkeiten in der Verwertung der wissenschaftlichen Literatur werden, so wenig sie nach des Verfassers Meinung die Durchführung des Grundgedankens zu beeinträchtigen vermochten, ihre Erklärung und Entschuldigung in den Arbeitsbedingungen in den österreichischen Provinzen während der Nachkriegszeit finden.



Was eine Psychologie der Politik zu leisten hätte, läßt sich am leichtesten durch den Hinweis darauf klar machen, daß es sich in der Politik im konkreten Sinn des Wortes um die Lebensäußerungen einer staatlich geordneten Gemeinschaft, also um Vorgänge zwischen Menschen, um Handlungen, Taten und ihre Motive, also um etwas Seelisches handelt. Durch die Eigenart des politischen Lebens, dessen zumindest manifester Inhalt Streben um die Macht ist, erscheint es sodann ausgeschlossen, daß es die reine Erkenntnis wäre, die dem Handeln zugrunde gelegt wird. Wir müssen uns gefaßt machen, den im sonstigen Seelenleben wirksamen emotionalen Momenten hier in eigentümlicher Ausprägung wieder zu begegnen. Festzuhalten ist ferner, daß die Motive und die in und mit ihnen wirkenden Affekte - wie auch sonst durchgehend im psychischen Leben - entweder bewußt, vernunftgemäß und darum zumindest der Intention nach der Wirklichkeit angepaßt oder unbewußt, auf dem infantilen Lustprinzip beruhend und darum in der Regel nicht angepaßt sein werden. Die letzteren wären auch als realitätsfremde Motive zu bezeichnen. Was ihre Wirksamkeit betrifft, so ist es klar, daß ihre Unzugänglichkeit ihre Stärke ist. Sie sind das Irrationale, die Gesamtheit dessen, was die praktische Politik nach einem Wort BISMARCKs als Imponderabilien bezeichnet.

Diesen seelischen Faktor in der Gestalt bewußter und unbewußter Beweggründe der handelnden Personen aus dem Getriebe des geschichtlichen Lebens herauszulösen - von dem das politische einen real nicht zu unterschätzenden, in seiner menschheitlichen Bedeutung aber vielfach überschätzten Anteil einnimmt - wäre die Aufgabe einer Psychologie der Politik.

LEOPOLD von RANKE hat in seinen Vorlesungen vor König LUDWIG von Bayern (3) die leitenden Ideen als die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert interpretiert. Wir könnten, um auch die letzte Spur einer mythologischen Auffassung aus diesem Begriff in teils angepaßter, teils unangepaßter Form als Ziele ihres Handelns dem Seelenleben einer Generation gegenwärtig sind, nicht als etwas aus einem transzendenten Ort Stammendes, sondern als im letzten Grund psychisch bedingte "Äußerungen" immanenter Bildungsgesetze der einzelnen Kulturgebiete.

Es bedarf keines Beweises, daß es der ungeheuren Verwickeltheit auch der einfachsten Lebensvorgänge zufolge eine adäquate Erkenntnis dieser Notwendigkeiten des geschichtlichen Werdens nicht gibt - weder für den Historiker und den Psychologen als bloß Erkennende, noch für den Staatsmann als denjenigen, der die Erkenntnis derartiger Notwendigkeiten für einen bestimmten Zeitpunkt - temporibus inserviens [den Umständen gemäß - wp] - mit realen und ideellen Machtmitteln in die Wirklichkeit umsetzt.

Der Definition des  Staates  gibt es bekanntlich sehr viele, denn die Fäden, mit denen er, zwar in wechselnder Stärke, aber doch allzeit fühlbar seit Beginn der Geschichte das Leben der Menschen umspannt, sind zahlreich genug. Für uns mögen zunächst die Feststellungen genügen, die ADOLF MENZEL (4) bezüglich der genossenschaftlichen und der herrschaftlichen Verbindung als der beiden konstruktiven Elemente für den Aufbau des Staates gemacht hat.
    "Die genossenschaftliche Verbindung beruth auf der Vorstellung der Einheit, auf dem Gefühl der Sympathie und auf dem Bestreben, im Interesse des Ganzen Opfer zu bringen. Der herrschaftliche Grundzug im Staat beruth auf der Vorstellung der Über- und Unterordnung, auf dem Gefühl der Ehrfurcht vor den führenden Persönlichkeiten und auf dem Willen, den anerkannten Autoritäten zu gehorchen."
Daneben besteht auf Seiten der Herrschenden noch das Gefühl der Macht und der Verantwortung, auf Seiten der Beherrschten das individuelle Freiheitsgefühl als oppositionelles Moment.

Es ist gewiß, daß die angeführten kollektiven Gefühle, Willensregungen und Vorstellungen, welche die psychischen Träger der beiden konstruktiven Elemente des Staates, Gemeinschaft und Unterordnung, bilden, ihrerseits wieder nichts psychisch Letztes sind, sobald wir das Problem des Staates entwicklungspsychologisch fassen. In diesem Fall treten vielmehr Gefühle wie Vaterlandsliebe, das dynastische Gefühl und die Heimatliebe in den Vordergrund der Untersuchung. Beim dynastischen Gefühl lenkt zunächst die Durchdringung der Idee des Herrschers mit denjenigen realitätsfremden Motiven unsere Aufmerksamkeit auf sich, die unter dem Begriff des Herrschertabus zusammenzufassen wären und von FREUD in der zweiten Abhandlung von "Totem und Tabu" unter dem Gesichtspunkt der Ambivalenz erstmals psychologisch gewürdigt wurden.

Wenn aus jenen Ausführungen die ambivalente Einstellung der Untertanen zum Herrscher aus den Tabubeschränkungen erschlossen wird, denen jener unterworfen ist, so ergibt sich die weitere Aufgabe, den Herrscher versuchsweise in Beziehung zu setzen zu den übrigen Personen, die vorzugsweise von jener ambivalenten Bewertung betroffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es klar, daß er als eine Erneuerung der Vater-Imago anzusehen ist. Zugleich fällt es uns ein, daß diese Ineinssetzung im Traum und Mythos bereits vor sich gegangen ist; eine psychologische Entwicklung, die von OTTO RANK im "Mythos von der Geburt des Helden" geschildert wurde. Es wäre nur noch erforderlich, diese psychologisch erschlossene Entwicklugn anhand der Kulturgeschichte ins Einzelne zu verfolgen.

Der leitende Faden, der uns durch die Mannigfaltigkeit dieser Erscheinungen hindurchgeleitet, ist die Erwägung, daß es eine Stufenreihe von Autoritäten ist, die auf diese Weise zu einer begrifflichen Einheit verbunden wird. Dieser Gesichtspunkt gibt uns nun ein Mittel in die Hand, das von FREUD (a. a. O. Seite 47) gestellte Problem, wieso die Gefühlseinstellung gegen die Herrscher einen so mächtien unbewußten Beitrag von Feindseligkeit enthalten sollte, ein Stückchen zu fördern.

Sämtliche Autoritäten, zu denen der Mensch während seines Lebens in Beziehung tritt, kommen darin überein, daß sie entwerder unser Handeln oder unser Denken in seinem (scheinbar) naturgemäßen, d. h. dem Lustprinzip folgenden Lauf behindern. Zieht wieder aus demselben Prinzip stammenden Willen, sich führen zu lassen, gibt, so wäre damit ein labiler Gefühlszustand gegeben, von dem jedoch keiner der beiden Pole ansich unbewußt zu sein brauchte. Vielmehr ließe sich denken, daß sie sich in einem durch die jeweiligen Erlebnisse bedingten Oszillieren befänden. Dieser Zustand mag nun in vielen Fällen wirklich statthaben. Daß jedoch einer der beiden Pole (es braucht nicht immer der negative zu sein) dauernd unbewußt bleibt, dazu bedarf es eines anderen Prinzips, beziehungsweise einer affektiven Macht.

Dieses Prinzip aber ist das der Stetigkeit, demzufolge nichts, was uns jemals als erster Eindruck affektiv erregt hat, völlig verschwinden kann, sondern bestimmend auf sämtliche ähnliche Erlebnisse des späteren Lebens einwirkt, die damit samt und sonders zu mehrdimensionalen Größen werden. Dies geschieht in concreto so, daß nicht nur die Erlebnisformen, sondern auch die Inhalte samt den daran haftenden Affekten auf die späteren Glieder der Reihe übertragen werden. So bildet die Vater-Imago den Hintergrund, der alle späteren Autoritäten überschattet. Und diese haben teil an der aus dem Ödipuskomplex stammenden unbewußten Verstärkung von Liebe und Haß, die ihnen unter anderen Umständen nicht zukäme.

Daß dieser vielberufene Komplex hier kein bloßes  asylum ignorantiae  [Asyl der Unwissenheit - wp], geht noch aus anderen Zügen hervor, die ein mythisches Gattenverhältnis zwischen dem Fürsten und dem Land herstellen.

Hier berühren wir nun das zweite unter den oben genannten Motiven in der Psychologie des Staates, die  Heimatliebe.  Sie ist für den Staat darum von ausschlaggebender Bedeutung, weil dieser ohne ein bestimmtes  Gebiet  nicht gedacht werden kann. Auf diesen Umstand hat besonders FRIEDRICH RATZEL (5) hingewiesen.
    "Der Mensch ist nicht ohne den Erdboden denkbar und auch nicht das größte Werk des Menschen auf der Erde, der Staat. Wenn wir von einem Staat reden, so meinen wir, gerade wie bei einer Stadt oder einem Weg, immer ein Stück Menschheit oder ein menschliches Werk und zugleich ein Stück Erdboden. Sie gehören notwendig zusammen: der Staat muß vom Boden leben. Nur die Vorteile hat er fest in der Hand, deren Boden er festhält. Die Staatswissenschaft spricht das etwas verblaßter aus, wenn sie sagt: Das Gebiet gehört zum Wesen des Staates. Sie bezeichnet die Souveränität als das  ius territoriale  und legt die Regel fest, daß Gebietsveränderungen nur durch Gesetze vorgenommen werden können. Das Leben der Staaten lehrt uns aber viel engere Beziehungen kennen. Wir sehen im Lauf der Geschichte alle politischen Kräfte sich des Bodens bemächtigen und eben dadurch staatenbildend werden." (6)
Wir werden uns wieder des Mythos bedienen, um zu dieser so überaus wichtigen Komponente des staatlichen Gefühls einen Zugang zu finden. Ebenso werden es auch die übrigen Erzeugnisse der Phantasie sein, die uns als Quellen dienen müssen: Sagen, Märchen, Legenden bis hin zu den Dichtungen der neueren Zeit. Nicht minder wird eine behutsame Ausdeutung konkreter historischer Geschehnisse Beiträge für die Erkenntnis unbewußter Zusammenhänge liefern.

Es gibt keinen politischen Mythos, der an Berühmtheit mit dem wetteifern könnte, den PLATO im 3. Buch des "Staates" erzählt (7). Er führt ihn selbs als "eine echt edle Fabelei" ein:
    "Vor allem anderen aber will ich versuchen, die Regenten und Krieger und weiterhin auch die gesamte Bürgerschaft so weit zu bringen, daß sie glauben, den ganzen Erziehungs- und Bildungsaufwand, den wir ihnen widmen, hätten sie wie einen Traum überstanden, wie einen Traum erlebt. In Wahrheit seien sie von der Erde tief unten in ihrem Inneren geformt und großgezogen worden, selbst ihre Waffen und ihre ganze Ausrüstung stammen von dort. Und als dann das Schöpfungswerk an ihnen vollendet gewesen, habe die Erde, ihre Mutter, sie ans Licht gesandt, wo sie jetzt das Land, das sie bewohnten, als ihre Mutter und Ernährerin erhalten und verteidigen müßten, wenn ihm Angriff drohe. Und nicht anders müßten sie ihren Mitbürgern gesinnt sein, ihren Brüdern, die ja auch Erdensöhne sind."
Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieser Mythos auf eine Stelle des ÄSCHYLUS zurückgeht, wo es in den "Sieben gegen Theben" (Vers 10 bis 20) heißt:
    Euch allen ist nun Pflicht, den Knaben auch,
    Die noch des Alters Blüte nicht erreicht,
    Und auch den Greisen, die darüber hin,
    Daß ihr der Körper Kräfte stählen sollt,
    Die Stadt zu schirmen und der Götter Tempel,
    Zu wahren unsrer Ehren reichen Hort,
    Für unsere Kinder kämpfend, unser Land,
    Die treuste Nährerin, die liebste Mutter,
    Die, seit ihr spielet auf dem trauten Boden,
    Euch sorgenvoll getragen und gepflegt,
    Und nun zu wackern, wohlbewehrten Rettern
    Für diese Zeit der Not sich aufgezogen.
Unter den so spärlichen Zeugnissen ursprünglichen Empfindens, mit denen die Literatur das Ereignis des letzten Krieges begleitet hat, ragt eines hervor, das uraltes und relativ junges mythisches Gut in sich vereint. Es ist ein Aufsatz von ANTON FENDRICH, "Vom Krieg, vom Tod und vom Leben" (siehe Frankfurter Zeitung 1915, Nr. 31, auszugsweise im Literarischen Echo, 17. Jahrgang, Spalte 682).
    "Vielleicht verstehen wir den welthistorischen Vorgang der Umwertung internationaler Werte besser, wenn wir statt Vaterland Mutterland sagen. Die bei diesem Wort auftretenden Empfindungen sind urhafter, einfacher und unmittelbrer. Es schließt alle Mißverständnisse aus. Die Mütter stehen uns Männern wenigstens immer näher als die Väter. Vaterland ist zweideutig, denn es gibt Menschen, denen bei diesem Wort eine ganz bestimmte Empfindungswelle der Sehnsucht durch die Seele wogt, die höher ist als irdischer Patriotismus. Sie leben in der Verbannung von diesem Vaterland und haben den Gesetzen des Exils zu gehorchen ... Das Exil ist ihr Mutterland, die Erde. Aber wieder nicht die ganze Erde, sondern nur ein Stück davon. Wie einen Bann, aber auch wie ein Heimweh haben sie aus den Quellen und Feldern, den Wiesen und Wäldern, den Winden und Wolken gerade dieses, ihres Stückes Erde etwas in ihr Blut mitbekommen ... Und diese Kräfte ihres Blutes wachen unter allem seelisch empfundenen Weltbürgertum auf, sobald das Stück Erde, das ihre Heimat ist, bedroht wird. Diese Kräfte des Blutes verschließen für die Kriegszeit auch die Brunnen, in deren Tiefen die heiligen Wasser des Ewigen rauschen."
Dieses Bild vom Mutterland als einem Ort der Verbannung, der doch wiederum eine Heimat ist, könnte seltsam erscheinen, wenn wir nicht wüßten, daß eine über die Mutter hinweg zum Vater strebende Bewegung in unserem Unbewußten tatsächlich vorhanden ist.

In diesem Zusammenhang darf auch darauf hingewiesen werden, daß der Sinn des Bestattungsverbotes (in der  Antigone  des SOPHOKLES) gegen POLYNEIKES ungleich tiefer liegt, als es den Anschein hat. Ist es schon nicht zutreffend, etwa den Konlikt zwischen KREON und ANTIGONE als den zwischen einem despotischen Zwang und den Rechten der zum Selbstbewußtsein erwachten Persönlichket aufzufassen, so entbehrt KREONs Handeln überhaupt ebensowenig des sinnvollen Hintergrundes des Mythos wie das der ANTIGONE. Die Schuld des POLYNEIKES, gegen sein eigenes Land, ob mit Recht oder mit Unrecht zu Felde gezogen zu sein, kann nicht anders gebüßt werden, als daß seiner Leiche die Rückkehr in den mütterlichen Boden seiner Heimat verwehrt wird. Es ist also ein ganz analoges Verbot zu dem, welches dem Vatermörder die Bestattung verweigerte. (8) KREON ist nichts anderes als der unerbittliche Vollstrecker dieses zugleich religiösen und politischen Gebotes. ANTIGONE verkörpert dagegen das ältere Prinzip der nicht an der Scholle haftenden, gentilistisch gebundenen Frömmigkeit.

Versuchen wir nun, uns das Wesentliche in der Fiktion PLATOs zu Bewußtsein zu bringen, so fällt uns vor allem auf, daß wir es mit einem rein republikanischen Mythos zu tun haben, insofern als darin gar kein Versuch gemacht wird, Gefühle gegen die Staatslenker, die ja in der Konzeption des platonischen Staates die feinste Auslese der Bürgschaft darstellen, unter die Motive des Patriotismus aufzunehmen. Das dynastische Gefühl scheidet bei PLATO gänzlich aus, ebenso wie alle Erwägungen der Nützlichkeit, mit denen die neuere Zeit den Staat zu rechtfertigen pflegt. Was den Ausfall dieser und verwandter Motive wettzumachen hat, ist eine Verstärkung des Heimatgefühls, die bestimmt ist, die Affekte aufs Tiefste zu erregen und an den Staat zu binden. Inhaltlich stellt sich dieses vertiefte Heimatgefühl dar als Supposition eines affektiven Verhältnisses zur Mutter Erde, die die Menschen als ihre Kinder geboren, genährt und aufgezogen hat, damit sie ihr diese Liebe in der Stunde der Not und Bedrängnis vergelten.

Übrigens deutet die Art und Weise, wie dieser Mythos von PLATO eingeführt wird, darauf hin, daß wir es nicht mit einer Vorstellung zu tun haben, die in allen Schichten des Volkes lebendig war. es scheint, als sollte das Publikum, an das er sich vorzugsweise wendet, nämlich die freigeborene eingewanderte Herrenschicht in der das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch mehr an die Klasse, nicht an den Boden gebunden war, in den psychischen Grundlagen seiner Haltung zum Staatsganzen der bodenständigen Urbevölkerung angeglichen werden. Auf diese Ureinwohner aber gehen, wie die neuere religionsgeschichtliche Forschung immer wahrscheinlicher macht, die meisten oder alle Erdgottheiten der späteren griechischen Religion zurück, vor allem auch die verschiedenen Muttergottheiten, die das kennzeichnendste Merkmal der vorderasiatischen Religionen darstellen.

Entscheidend bleibt für uns der Versuch, das Ethos der Heimat- und Vaterlandsliebe mit dem Ethos der kindlichen Liebe in eins zu setzen. Unsere Frage ist, ob dies vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie eine rückwärts- oder eine vorwärtsschauende Identifizierung ist. Ferner, sobald diese Frage beantwortet ist, welche Wege von der ersten Phase zur zweiten führen. Was die erste Frage anlangt, so ist leicht einzusehen, daß, da die Entwicklung ein Weg fortschreitender Rationalisierung ist - worüber man erfreut sein kann oder auch nicht - die Identifizierung der Heimatliebe mit der kindlichen Liebe zur Mutter infantilen Charakter hat, diese im Mythos versuchte Ineinssetzung rückschauender Art ist.

Diese im Mythos ausgesprochene Identifizierung verschiedener Liebesarten - in ihrer Tendenz der geschichtsphilosophischen Theorie FEUERBACHs nahekommend - wird geleugnet von MAX SCHELER, der meines Wissens darüber am tiefsten nachgedacht hat, ohne doch die überaus schwierige Materie völlig zur Klarheit gebracht zu haben. (9)

Die "Arten" der Liebe, wie Mutterliebe, Kindesliebe, Heimatliebe weisen nach SCHELER schon als  Regungen,  und zwar auf einem Punkt ihres Keimens, wo sie noch  objektlos  sind, verschiedene gesonderte Qualitäten auf. Sie würden demgemäß den psychologisch unreduzierbaren Qualitäten des Farbbandes zu vergleichen sein.

Zugegeben, daß damit der  phänomenologische  Tatbestand richtig erfaßt ist, so ist damit die entwicklungspsychologische Möglichkeit gar nicht berührt, daß die genannten Liebesarten, obgleich sie, noch objektlos, bereits qualitativ verschieden sind, doch im konkreten Seelenleben ineinander übergehen, einander ersetzen, sich eine aus der anderen entwickeln, ganz wie die diskreten Qualitäten des Farbbandes unmerklich ineinander übergehen und im weißen Licht in eins zusammenfließen.

Tatsächlich ist das gemeinsame Moment, welches Kindes-, Mutter-, Heimat- und Vaterlandsliebe kennzeichnet, daß es Gefühle einer  wesenhaften Zusammengehörigkeit  sind. Die Gebundenheit des Menschen an seine Mutter, an seine Heimat, der Mutter an ihr Kind ist mit der Menschennatur unmittelbar gegeben und darum für sie wesentlich. (10)

Die Intention der Heimat- und Vaterlandsliebe entspricht der kindlichen Liebe. Beide erfahren ein mächtiges und wertvolleres Ganzes und suchen im Liebesakt den Anschluß daran. Auch die bildhafte Gestalt der Mutter Erde, die der platonische Mythos an die Stelle des Vaterlandes setzt, ist eine lebenbergende, schaffende und schützende Macht. Daß sie auch die verteidigte Mutter ist, entspricht der den Erforschern des Unbewußten nicht unbekannten Rettungsphantasie und offenbar soll auch die Verteidigung des heimatlichen Bodens ihr Ethos schöpfen aus der Vorstellung der Erde als der lebenspendenden und schützenden Macht.

Die wichtigste Bestätigung der Auffassung der Heimatliebe als eines dem Menschen  wesentlichen  Gefühls liegt darin, daß eine Störung des Heimatgefühls eine Reaktion hervorruft, die in ihren kennzeichnenden Zügen vom Bewußtsein ganz unbeeinflußt vor sich geht - in der Form des  Heimwehs.  Das echte Heimweh wird ganz unabhängig von den äußeren Lebensumständen allein durch die Ortsveränderung verursacht. Wer daran leidet, braucht gar nicht zu wissen, woran er leidet. Es stellt sich eine Herabminderung der gesamten Fähigkeiten ein, die oft zu traumwandlerischen Zuständen ausartet, dem Zustand unerfüllter Verliebtheit nicht unähnlich, wo gleichfalls der Grund des Zustandes nicht gewußt zu werden braucht.

Wir machen hier eine Beobachtung, die grundlegend ist für die Art und Weise, wie wir eine Mythologie der Kultur aufzufassen hätten. (11) Es zeigt sich nämlich, daß der Mythos dem Kulturbegriff des Staates (der Polis, des Heimatlandes) den Begriff der mütterlichen GAIA unterschiebt, der offenbar, insofern er eingeordnet wird, in die Tätigkeit der Verteidigung einer Gemeinsachft zu einem Kulturbegriff wird. Wir verstehen, daß die Tendenz bestehen muß, Kulturbegriffe durch Naturbegriffe zu stützen oder zu ersetzen. Es entspricht dies dem Prinzip der "Stetigkeit im Kulturwandel" (VIERKANDT), da die Naturbegriffe auf jeden Fall die älteren und darum haftbareren sind.

Aus dieser Überlegung heraus formt sich uns nun die entwicklungspsychologische Aufgabe, das Gesetz der Entstehung, Aufeinanderfolge und Abstammung der mythischen Kulturbegriffe von den Naturbegriffen aufzuweisen. Diese Aufgabe nun ist umfangreicher als sich denken läßt. Da wir nämlich nicht wissen, wie weit auch unsere modernen Begriffe noch von mythischen Fäden durchwirkt sind, stünden wir vor einer mächtigen Begriffsreihe, an deren einem Ende zum Beispiel der Begriff des modernen Staates steht, am anderen Ende irgendein urzeitliches Bild, das wir noch nicht kennen.

Wenn wir in jenem Mythus, den wir als den platonischen bezeichnet haben, obwohl er weit älter und darum namenlos ist, den staatlichen Zusammenhalt allein auf die Bindung an den heimatlichen Boden gegründet sehen, so fügt sich dies sehr gut ein in die Feststellungen, welche unter all den umstrittenen Theorien die MORGANs (12) am sichersten gegründet erscheinen.

MORGANs Hauptthese ist, daß sich alle Verfassungsformen auf zwei Grundformen zurückführen lassen.
    "Dieselben sind in ihren Grundlagen durchaus verschieden. Die erste, der Zeitfolge nach, ist auf Personen und rein persönliche Beziehungen begründet und kann als  Gesellschaft  (societas) bezeichnet werden. Die  Gens  ist die Einheit dieser Organisation und aus ihr gehen als aufeinander folgende Stadien der Entfaltung in der ersten Periode des Völkerlebens hervor: die Phratrie, der Stamm und der Bund von Stämmen ... In einer späteren Periode tritt eine Verschmelzung von Stämmen auf einem gemeinsamen Gebiet zu einer Nation an die Stelle eines Bundes solcher Stämme, die selbständige Gebiete einnahmen."

    Die zweite Hauptform "gründet sich auf Landgebiet und Privateigentum und kann als  Staat  (Civitas) bezeichnet werden. Die Stadtgemeinde oder der Stadtbezirk mit seinen genau bezeichneten und abgesteckten Grenzmarken, nebst dem darin enthaltenen Eigentum ist die Grundlage oder Einheit des letzteren und die politische Gesellschaft das Resultat. Die politische Gesellschaft ist nach Landgebieten organisiert und ihr Verhältnis zum Eigentum wie zu den Personen wird durch deren örtliche Beziehungen bestimmt ... In der Urgesellschaft war diese örtliche Organisation unbekannt" (MORGAN, a. a. O., Seite 6 und 52f).
Der platonische Mythos hat durchaus die zweite der geschilderten Grundformen des menschlichen Zusammenlebens zur Voraussetzung, die wiederum begründet ist auf Seßhaftigkeit, Landbau, die Zucht von Haustieren, die Verfestigung der Besitzverhältnisse und den Übergang von der Mutterfolge zur Vaterfolge.

Das ist nun freilich kaum mehr als ein bloß äußerer Rahmen kultureller Gleichzeitigkeiten. Es stellt sich die Aufgabe, den inneren Beziehungen der genannten Elemente nachzugehen. Die dazu nötige Untersuchung würde andere Wege einschlagen, wenn sie bloß kulturgeschichtlich und soziologisch geführt würde. Unser Thema, das ein psychologisches ist und zu dessen Lösung wir uns der psycho-analytischen Methode bedienen, kann nur lauten: Woher stammt die an den Erdboden gebundene Libido, die auf dem Gebiet der Vorstellung im mythischen Bild der Erdmutter zum Ausdruck kommt, hat sie seit jeher daran gehaftet, welche Schicksale stehen ihr etwa noch bevor? Ferner: Stehen die Veränderungen dieser Mutteridee etwa in einem gesetzmäßigen Zusammenhang mit einer ihr komplementären Vateridee? Wenn wir schließlich den Lauf des realen politischen Lebens von einem derartigen unbewußten Unterstrom begleitet finden sollten, welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Möglichkeit und die Grenzen des politischen Handelns?

Bei der Beantwortung der ersten Frage nach dem Ursprung der Erde-Mutter-Bedeutung kreuzt sich unser kulturmythologisches Thema mit einem naturmythologischen. Es ist klar, daß, auch ganz abgesehen vom Vorgang des Seßhaftwerdens und der Bildung der politischen Gesellschaft, zufolge einer naturmythologischen Apperzeption die Identifizierung von Himmel und Erde mit Vater und Mutter der Lebewesen stattgefunden hat. Ferner war die Erde  schützende Mutter  (Erd- und Höhlenwohnungen) und  nährende Mutter  lange vor der Seßhaftwerdung, die das Aufkommen der politischen Gesellschaft ermöglichte. Es scheint, als ob an diesen gegebenen mythischen Ideen die politische Gesellschaft nichts mehr hätte zu ändern brauchen. Die Veränderung ist auch in der Tat nur eine solche des Grades.

Die Gentilverfassung ist die längste Zeit über eine mutterrechtliche. (13) Mag nun auch bereits eine geraume Zeit vor der Seßhaftwerdung sich bei Hirten und Nomadenstämmen, Hand in Hand mit der Festigung des Besitzes an Vieh, die patriarchalische Ordnung herausbilden, so behält die Horde, die Sippe, die Gens, als das den einzelnen schützende Ganze, dessen Glieder in Brüderlichkeit miteinander verbunden sind, andauernd mütterliche Bedeutung. Sie ist und bleibt eine erweiterte Familie, zusammengehalten durch die psychischen Bande der uterinen [gebärmuttermäßigen - wp] Gemeinschaft, durch die unsichtbaren Fäden der mann-männlichen Erotik (14) und in einer dauernden Spannung erhalten durch den Antagonismus der älteren und jüngeren Generation, der Urform aller späteren innerpolitischen Kämpfe. (15)

Diese Form der Gemeinschaft mit MORGAN und den Theoretikern des Sozialismus als demokratisch zu bezeichnen, geht nicht an. Weder Freiheit noch Gleichheit galt in ihr, nur die Bande des Blutes bewirkten eine Art Brüderlichkeit zwischen ihren Gliedern. Denn je unzugänglicher und feindseliger sie sich nach außen gebärdete, desto enger war der Zusammenhang mit ihrem Inneren. Sie ist eine biologisch-psychische Einheit mit der Zentralidee der gemeinsamen Abstammung.

Mächtige seelische Energien, für die wir heute nur noch die Kindesliebe als den noch erhaltenen Rest einer ehedem viel umfassenderen Affektgruppe zum Vergleich heranziehen können (ein anderer Rest ist die Blutrache), wurden dann frei,  objektlos,  als sich der Zusammenhang der Gentilgenossenschaft lockerte oder etwa ganz gesprengt wurde. Die Gentilgenossenschaft war während der langen Dauer ihres Bestandes ja nicht unverändert geblieben. Zunächst hatte sie den Übergang von der matriarchaischen zur patriarchaischen Form zu vollziehen gehabt, der ihr Gefüge aber nicht wesentlich erschütterte, da es sich dabei, wie schon erwähnt, im wesentlichen nur um eine Änderung des Erbrechts handelte und um die Verdrängung des Mutterbruders (avunculus [Onkel - wp]) durch den  pater familias  [Familienvater - wp]. Andere Störungen wieder waren mehr äußerlicher Art, wie etwa die Zersprengung einer Gentilgenossenschaft durch kriegerische Ereignisse, Teilung und Sprossung; oder die willkürliche Vereinigung der abgesplitterten Teile verschiedener Gentes zu einem selbstgeschaffenen Ganzen. (16)

Erst das Seßhaftwerden und der Landbau, sowie die immer spürbarer werdenden Unterschiede des Besitzes bringen dieses Gefüge ins Wanken. Das ist nun keineswegs so zu verstehen, als ob damit zugleich die Bedeutung des gentilen  Rechts  ihr Ende gefunden hätte. Daß das nicht zutrifft, lehrt die Beobachtung, daß Athen und Rom erst Jahrhunderte nach der Landnahme das Gentilrecht stufenweise aus dem politischen, nicht aber aus dem religiösen Leben beseitigt und durch eine territoriale Gliederung der Bürgerschaft ersetzt haben.

An diesen Relikten mögen nun immerhin Affekte genug haften geblieben sein. Nichtsdestoweniger lockerte sich aber auf der einen Seite der Gentilverband immer mehr, ging das anfängliche Gemeineigentum an Grund und Boden, das der Gens noch ein Übergewicht gewahrt hatte, in Privateigentum über, auf der anderen Seite zog der nahrungspendende Boden, dessen mütterliche Bedeutung altererbt war, die dadurch freiwerdende Besetzungsenergie andauernd auf sich. Noch ein anderes Moment wirkte dabei mit. Der Zeit des Seßhaftwerdens waren weite Wanderungen, verbunden mit beständigen Kämpfen vorangegangen und das "Männer- und Jünglingsgewühl jener Zeit" (17) war der fruchtbarste Boden gewesen für die Erotik der männlichen Gesellschaft. Nun ist diese allerdings eine Art von Naturfaktor und darum im Wesen unabhängig von Veränderungen des kulturellen Rahmens. Das hindert jedoch nicht, daß ein Teil der libidinösen Energie mit dem Aufhören der extremen Bedingungen, die den engsten Zusammenschluß der männlichen Mitglieder der wandernden und kämpfenden Gens verursachten, entweder latent oder für andere Zwecke frei wurde. Sie konnte dann das neugeknüpfte Band zwischen Mensch und Erde verstärken helfen und den neu in den Kreis der menschlichen Tätigkeit getretenen Beschäftigungen des Ackerns, Pflügens, Säens ein Energiequantum zuführen. Ein Zufall kann es nicht sein, daß der Landbau, der vor der Seßhaftwerdung Sache der Frauen gewesen war (in der Form des Hackbaues) (18) mit dem Aufhören der Wanderungen (und nach der Zähmung des Rindes) zu einer ausschließlich männlichen Tätigkeit wird.

Das Ergebnis war, daß, als mit dem Zerfallen des gentilen Zusammenhalts der Staat als die an den Boden gebundene Herrschaftsorganisation an seine Stelle trat, die im Unbewußten wurzelnde einigende Kraft ihren Sitz aus der Blutsgemeinschaft der Gens in die mythische Gestalt der mütterlichen Erde verlegte. Man kämpft von jetzt an nicht nur für sein Volk, sondern auch für sein Land. Der Verlust des Landes zieht den Verlust des darauf lebenden Volkes mit sich. Das Volk bildet einen Bestandteil der übergreifenden Einheit des Landes. Der unterbrochene oder von der Gefahr der Unterbrechung bedrohte seelische Zusammenhalt der Gemeinschaft wird wieder hergestellt durch die Einschaltung eines neuen Kraftzentrums, das die Bürger des Staates zu neuer Brüderlichkeit verbindet.
    "Und nicht anders sollten sie ihren Mitbürgern gesinnt sein,
    ihren Brüdern, die ja auch Erdensöhne sind."
Dieser republikanische Mythos, der, wie wir gesehen haben, durch das Entfallen der Relation zu einem Staatsoberhaupt gekennzeichnet ist, läßt in ungezwungener Weise die Erwartung lebendig werden, diese hier fehlende Beziehung in einem anderen Zusammenhang ergänzt zu finden. Die mythische Beziehung nun des Herrschers zum Land wird ihrem unbewußten Kern nach weniger am  status quietae rei publicae  [Zustand vom Rest des Staates - wp] erkannt werden, als in Zeiten staatlicher Umwälzung, durch die der Herrscher selbst in den Strom der Ereignisse hineingezogen wird. Da wird, freilich wieder weniger deutlich erkennbar in der Wirklichkeit des Geschehens selbst als in dem die Ereignisse mit typischen Motiven ausgestaltenden Spiel der Phantasie, dem Herrscher jener Ort zugewiesen werden, den er im Unbewußten überhaupt einnimmt. Jeder Kenner unserer Methode wird natürlich weit davon entfernt sein, hier Offenbarungen zu erwarten, doch darf es nicht als überflüssig angesehen werden, die in der Traum- und Märchendeutung gebräuchliche Gleichsetzung des Köngis mit dem Vater auf dem eigentlichen Gebiet dieses Begriffs, dem politischen Leben, nachzuprüfen.

Unser Unternehmen stellt sich also in konkreter Gestalt als eine Psychologie der Revolution dar. So gewiß es nun unmöglich ist, diese Erscheinung auf eine einheitliche Formel zu bringen, sobald man die politischen, wirtschaftlichen, religiösen und philosophischen Faktoren in Betracht zieht, die dabei mitwirken, voll in Anschlag bringt, so einheitlich ist, damit verglichen, das Bild, das eine Erforschung der unbewußten Vorgänge darbietet, deren Dynamik und Ideologie hier wie überall den bewußten Vorgängen zugrundeliegt.

Die Ereignisse, welche in Rom den Übergang von der Königsherrschaft zur Adelsrepublik herbeigeführt haben, sind durchaus ungewiß. Wir wissen nur, daß die Liste der Konsuln mit dem Jahre 510 oder 509 beginnt, mit demselben Jahr, in dem der kapitolinische Tempel eingeweiht wurde. Danach hat man die Zeit der Abschaffung des Königtums bestimmt. Die näheren Umstände sind nicht bekannt. Desto lebhafter war die Tätigkeit der Sage. Man kennt die Geschichte von BRUTUS und dem Orakelspruch von Delphi. König TARQUINIUS schickt zwecks Deutung eines Prodigiums [Wunders - wp] das sich in seinem Hause ereignet hat, - eine Schlange war aus einer hölzernen Säule gekrochen und hatte Angst und Schrecken im Haus verursacht - seine beiden Söhne TITUS und ARRUNS nach Delphi.
    "Als Begleiter wurde ihnen JUNIUS BRUTUS mitgegeben, der Sohn der TARQUINIA, einer Schwester des Königs, ein junger Mann von ganz anderen geistigen Fähigkeiten, als es die waren, deren Maske er angenommen hatte. Sobald er nämlich gehört hatte, daß sein Oheim die ersten Männer des Staates, darunter seinen Bruder getötet hatte, nahm er sich vor, weder durch seine geistigen Fähigkeiten die Furcht noch durch seine Glücksgüter die Begehrlichkeit des Königs zu reizen, vielmehr in der Verachtung den Schutz zu suchen, den ihm das Recht nicht bot. Daher stellte er sich mit Absicht dumm, überließ sich und seinen Besitz dem König zur Beute und ließ sich auch den Beinamen BRUTUS ( = Tölpel) gefallen, um utner der Hülle dieses Beinamens als jener Geist, der das römische Volk zur Freiheit führen sollte, im geheimen auf seine Stunde zu warten. Dieser BRUTUS wurde damals von den Tarquiniern nach Delphi mitgenommen, eher ein Gegenstand mutwilligen Spotts als ein Reisegefährte. Er soll einen goldenen Stab, der in einen zu diesem Zweck ausgehöhlten Stab aus Kornelkirschenholz eingeschlossen war, als Geschenk für APOLLO mitgebracht haben - ein Symbol seines eigenen Geistes. Sobald man dorthin gekommen war und sich der Aufträge entledigt hatte, erfaßte die jungen Männer das Verlangen, sich zu erkundigen, auf wen von ihnen die Herrschaft über Rom übergehen würde. Da soll ihnen aus dem Innern der Höhle eine Stimme geantwortet haben: Die höchste Gewalt in Rom wird der besitzen, der zuerst unter euch, o Jünglinge, der Mutter einen Kuß gibt. Die Tarquinier verabreden sich, die Sache streng geheim zu halten, damit SEXTUS, der in Rom zurückgeblieben war, von der Antwort nichts erführe und so der Herrschaft verlustig gehe. Sie selbst stellen es untereinander dem Los anheim, wer von beiden nach der Rückkehr nach Rom der Mutter zuerst einen Kuß gebe. BRUTUS, der überzeugt war, daß der Ausspruch der PYTHIA etwas anderes bedeute, tat so, als ob er strauchelte und zu Boden fiele, und berührte dabei die Erde mit einem Kuß, weil offenbar sie die gemeinsame Mutter aller Sterblichen wäre. Dann kehrte man nach Rom zurück." (LIVIUS I, 56)
An diese Geschichte schließt sich bei LIVIUS (I, 57) der Streit um die Vorzüge der Frauen, das  stuprum  [Ehebruch, Schändung - wp] und der Selbstmord der LUKRETIA und die Verschwörung gegen das königliche Haus an. Deren Haupt ist JUNIUS BRUTUS, der jetzt die Maske des Blödsinns fallen läßt und alle zur Tat mitreißt.

Es sind ziemlich viele Züge, um die hier das Mutter-Erde-Motiv erweitert erscheint, und es sind gerade solche, die auf Zusammenhänge hindeuten, die uns schon bekannt sind. Daß dabei zugleich Verschiebungen eingetreten sind, die ihre Ursache im Walten der psychischen Macht der Verdrängung haben, ist nicht weiter auffallend. Die revolutionäre Tendenz scheint nicht gegen den Vater des Helden gerichtet, von dem in der ganzen Geschichte nicht die Rede ist, sondern gegen die Mutterbruder (avunculus). Das deutet auf mutterrechtliche Zustände. Da diese jedoch zu der Zeit, in welche die Revolution versetzt wird, in Rom nicht mehr in Geltung waren, scheint es sicher, daß es ein vorher namenloses Sagen- und Märchenmotiv ist, das von der römischen Annalistik in Verfolgung einer vagen Volkstradition mit überlieferten Namen verknüpft wurde. Eine zweite Verschiebeung liegt darin, daß das  stuprum  nicht vom Tyrannen selbst ausgeübt erscheint, sondern von einem seiner Söhne, von SEXTUS TARQUINIUS, aber trotzdem ohne weiteres dem Herrscher zur Last gelegt wird und seine Absetzung zur Folge hat. Aber auch derartige Verschiebungen sind in Sage und Mythos etwas ungemein Häufiges.

Es bleibt nur noch LUKRETIA übrig, die Gattin des TARQUINIUS COLLATINUS, eines Angehörigen der Königsfamilie, der mit JUNIUS BRUTUS die Konsulnliste eröffnet. An LUKRETIA, an ihrem  stuprum  und dessen Rächung hängt die Freiheit Roms. Derselbe BRUTUS, der in Delphi die Erde als Mutter geküßt hatte, zieht den blutenden Dolch aus der Wunde LUKRETIAs und schwört, den König zu vertreiben und die Freiheit herzustellen. Die Herrschaft über ein Land offenbart sich hier dem mythenbildenden Geist unter dem Symbol der Besitznahme der Mutter Erde, ihr Mißbrauch als  stuprum.  In derselben Weise findet die Herrschaft der Dezemvirn [Rat der zehn Männer - wp] ein Ende (LIVIUS III, 44f). Das gleiche Motiv enthält der Traum des vertriebenen HIPPIAS vor der Schlacht bei Marathon, deren Ausgang, wenn er für die Perser günstig gewesen wäre, ihn wieder in seine Herrschaft eingesetzt hätte. Er schloß aus diesem Traum, daß er nach Athen zurückkehren, die Herrschaft wieder erringen und in hohem Alter in seinem Vaterland sterben würde. (HERODOT VI, 107) - Ähnlich ist CÄSARs Traum bei SUETON,  Divus Julius,  Kap. 7: "Ihm, der verwirrt war von einem Traum der vergangenen Nacht, erregten die Traumdeuter die glänzendsten Hoffnungen, durch die Auslegung, daß ihm die Herrschaft über die Länder der Erde verheißen sei, da die Mutter keine andere sei als die Erde, die als die Mutter von allen angesehen werde."

Wir ersehen daraus, daß der Herrscher als Sohn und Gatte der beherrschten Erde gilt. (19) Diese Hineinbildung des Ödipusmotivs in die beiden anschaulichsten Bestandteile der Idee des Staates läßt es klar werden, daß die affektive Einstellung zu diesem all den aus dem Unbewußten stammenden Einwirkungen unterworfen sein muß, die diesem Komplex eigen sind, sie lassen auch vermuten, wie unzugänglich gegenüber bewußter Einwirkung die treibenden Kräfte des staatlichen Lebens im letzten Grund sein werden. Wenn LEOPOLD von RANKE von den historischen Ideen sagt, die Menschen seien besessen von ihnen (20), so gilt das vorzüglich von dieser zentralen Idee des staatlichen Lebens.
LITERATUR: Emil Lorenz, Der politische Mythos [Beiträge zur Mythologie der Kultur] Leipzig / Wien / Zürich 1923
    Anmerkungen
    1) Vgl. FRITZ LANGER, Intellektualmythologie, Leipzig 1916, Seite 25f.
    2) In "Imago", VI. Band, Seite 41f
    3) LEOPOLD von RANKE, Weltgeschichte, Band IX.
    4) ADOLF MENZEL, Zur Psychologie des Staates, Rektoratsrede, Wien 1915
    5) FRIEDRICH RATZEL,Politische Geographie, Leipzig 1897
    6) RATZEL, a. a. O. Seite 4 und später. - Vgl. HERMANN REHM, Allgemeine Staatslehre, Seite 37: Zu allen Zeiten hat das Völkerrecht die Unterwerfung fremder Staatsvölker als Erwerb, bzw. Verlust von Gebietshoheit aufgefaßt ... Aus alledem folgt aber: Gebietshoheit gehört zum Wesen des Staates.
    7) PLATON, Staat, III, 21 (414 DE).
    8) Vgl. ADOLF STORFER, Zur Sonderstellung des Vatermordes, 1911, Seite 27
    9) Vgl. MAX SCHELER, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, Halle 1913, Seite 73f
    10) Irgendwo auf der Erde wird das erste Blut des Neugeborenen vergossen (beim Abschneiden der Nabelschnur) und irgendwo liegt seine Nachgeburt begraben. Auf diese beiden Orte, wo auch die Geister der Ahnen aus der Erde her in das Neugeborene eindringen, hatte bei den alten Bewohnern Neuseelands jeder ein lebenslängliches Anrecht, vielleicht der Anfang des ersten rein persönlichen Grundbesitzes. Vgl. H. SCHURTZ, Die Anränge [Anläufe - wp] des Landbesitzes, Zeitschrift für Sozialwissenschaften III, 1900, Seite 245 - 255, 352 - 361.
    11) Vgl. FRITZ LANGER, Intellektualmythologie, Leipzig und Berlin 1916, Seite 25f.
    12) LEWIS HENRY MORGAN, Die Urgesellschaft (deutsch von EICHHOFF und KAUTSKY, Stuttgart 1891).
    13) Wie JOSEF KOHLER immer wieder betont, ist darunter durchaus keine Weiberherrschaft zu verstehen. Der Terminus Gynäkokratie, dem man gelegentlich noch begegnet, ist durchaus irreführend. Das Mutterrecht bedeutet nichts weiter, als was das Wort andeutet: eine familienrechtliche Ordnung, der zufolge das Kind der Familie der Mutter angehört, und eine Erbordnung, nach der die Familie der Mutter, nicht der Sohn den Vater beerbt, vgl. KOHLER, Das Mutterrecht, Internationale Wochenschrift, 3. Jahrgang, 1909, Nr. 1.
    14) Zu diesem Punkt ist durchaus zu vergleichen HANS BLÜHER, Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft I, Jena 1917, II Jena 1919.
    15) Wenn man die weniger zivilisierten Völker beobachtet, so bemerkt man daß die Feindseligkeit zwischen dem Vater und seinen Kindern der gewöhnliche Zustand ist. Bei den Negern sogar meist Haß, so schreibt BURTON von ihnen: Nach der ersten Kindheit werden Vater und Kinder gewöhnlich Feinde nach Art der wilden Tiere. ... Die Liebe zwischen Vater und Kindern scheint daher eher eine Errungenschaft der Kultur als eine unveränderliche Erscheinung in der Geschichte der Menschheit zu sein. GIRON-TEULON, Les origines de la famille, Seite 144, zitiert nach THOMAS ACHELIS, Entwicklung der Ehe (= Beiträge zur Volks- und Völkerkunde II), Berlin 1893
    16) Ich fasse so den Ausdruck  quique una coierunt  bei CAESAR, Bell. Gall. VI, 22, auf.
    17) BLÜHER, a. a. O. I, Seite 245
    18) Vgl. EDUARD HAHN, Die Entstehung der Pflugkultur, Heidelberg 1909
    19) Wie LUDWIG JEKELS in seiner Arbeit "Der Wendepunkt im Leben Napoleons I." (Imago III, Seite 313 - 381) zeigt, ist dieses Motiv nicht nur ein solches der nachschöpfenden Phantasie, sondern auch ein unbewußtes Motiv des Handelns in den historischen Personen selbst.
    20) Vgl. OTTOKAR LORENZ, Die Geschichtswissenschaft I, Seite 268