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FEITEL LIFSCHITZ
Was ist Anarchismus?

"Beim Prinzip der Majorität ist es eine kleine Minorität, die die ausschlaggebende Rolle spielt, die Masse hingegen, das Stimmvieh, bleibt passiv, gehorcht blindlings gemäß den Vorschlägen der Leitung ohne imstande zu sein ein kritisches Urteil darüber abzugeben. Auf diese Weise ist der sogenannte Volkswille eine Chimäre, das Volksrecht nichts anderes als ein Recht, sich beeinflussen zu lassen, ein Recht darauf, sich geistig abhängig zu machen, ein Recht auf intellektuelles Untertanentum unter dem Vorwand augenblicklicher Freiheit und Selbständigkeit, mit anderen Worten gesagt: ein Recht auf geistige Sklaverei, keine Freiheit der Persönlichkeit."

Die Frage: Was ist Anarchismus? - ist nicht leicht zu beantworten, denn die Richtungen innerhalb des Anarchismus weisen ebenfalls eine Anarchie auf. Ist es schon nicht leicht jede literarische, künstlerische, wissenschaftliche und politische  Richtung  einem allgemeinen Begriff unterzuordnen, so gilt dies umso mehr beim Anarchismus. Die Ansicht, die uns sagt:  "alles ist individuelle"  und "nur  im Detail  ist die Wahrheit" scheint mit Bezug auf den Anarchismus zutreffend zu sein. Allein mit der Methode der Individualisierung ist dem wissenschaftlichen Denken nicht sehr viel gedient, denn selbst die Individualisierung der Erscheinungen setzt bestimmte allgemeine Begriffe voraus.

Im Folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, das  Wesen  des Anarchismus zu erfassen. Da es sich hier um das Wesen des Anarchismus handelt, so ist die Darlegung aller geschichtlichen Entwicklung dieser Theorie im Voraus ausgeschlossen. Der Übersicht halber wollen wir die Gruppierung der Fragen und die Systematik der Behandlung des Problems hier eingangs feststellen.

Das Erste ist die Frage: wie ist der Anarchismus entstanden? Mit anderen WOrten gesprochen: auf welche Ursachen läßt sich die Entstehung des Anarchismus zurückführen? Hier haben wir es mit den  Vorbedingungen  des Anarchismus zu tun, es ist die Frage der Genesis dieser Erscheinung und ihrer Ursachen, denn jede soziale Theorie setzt bestimmte Bedingungen voraus. Sodann ist die zweite Frage die: worin besteht der  theoretische Gehalt  der allgemeinen Weltanschauung des Anarchismus? Und drittens: die Beziehung des Anarchismus zum  Rechts- und Wirtschaftsleben  der Gegenwart und Zukunft; und schließliche die Beziehungen zwischen dem Anarchismus und dem Sozialismus, denn diese zwei Richtungen werden oft in einen Topf zusammengeworfen, so daß es zweckmäßig erscheint, auf die Unterschiede aufmerksam zu machen. Nachdem die Darstellung des Wesens des Anarchismus erfolgt ist, wird es im ferneren unsere Aufgabe sein, diese Theorie einer  Kritik  zu unterziehen. Es gilt hier gegenüber dem Anarchismus Stellung zu nehmen, die Mittel und Wege zu suchen, wie man ihn am erfolgreichsten bekämpfen könnte.

Wie ist der Anarchismus entstanden, d. h. auf welche Bedingungen sind seine Entstehungsursachen zurückzuführen? Die Antwort auf diese Frage lautet kurz und deutlich: auf die  kapitalistische Gesellschaftsordnung,  jene Rechts- und Wirtschaftsordung, die vorherrschend ist und die eine plan- und zwecklose Verteilung des Reichtums aufweist, indem auf er einen Seite allzu großer Reichtum, Verschwendung und Vergeudung, Übersättigung und überflüssiger Luxus bestehen, während auf der anderen Seite Hunger und Entbehrung, Armut und Elend existieren. Denn es ist gerade charakteristisch für das Elend der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß im Moment der Ansammlung ungeheurer Reichtümer die Krisis mit ihren unheilvollen Begleiterscheinungen ausbricht. In dieser Beziehung eben unterscheidet sich wesentlich das moderne Elend vom Elend früherer Zeiten, d. h. vor der Entwicklung des Kapitalismus. Die Erscheinung des Elends in der vorkapitalistischen Periode war allgemeiner Natur, indem sie das Unglück aller Klassen bedeutete, während in der kapitalistischen Periode das Auftreten des Massenelends in der Regel durch eine exorbitante Bereicherung Einzelner bedingt wird. Ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen dem Elend in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und dem der früheren Zeiten besteh darin, daß in den früheren Zeiten das Problem des Elends zum größten Teil ein  Problem der Produktion,  der Gütererzeugung war; es handelte sich viel mehr um die Frage, wie es möglich wäre, die notwendige Quantität der Güter mit den gegebenen Arbeitsmethoden und der mangelhaften Technik zu produzieren, um den gesellschaftlichen Bedarf vollständig decken zu können, die Frage war also eine rein naturwissenschaftlich-technische. Es handelte sich um die Grenzen der Produktivität der Natur und um das von der menschlichen Macht und dem menschlichen Willen größtenteils Unabhängig, oder, mit anderen Worten gesprochen: es war eine  Naturfrage.  Und dies kommt zum Ausdruck in der damaligen wissenschaftlichen Literatur. Es ist die Frage nach der Vermehrung der Güter, nach den "Ursachen des Reichtums", die Frage wie man reich wird, die meistenteils die Schriftsteller beschäftigt. Aus diesem Grund wurde damals häufig die Wissenschaft, welche sich mit dem Wirtschaftsleben befaßt, als eine  Bereicherungskunde  betrachtet und mit den verschiedenen Disziplinen der Naturwissenschaft vermengt. Erklärlich und begreiflich ist es daher, warum man damals sehr viel vom  Reichtum  im natürlichen Sinne sprach, denn vom Naturreichtum war das Glück der ganzen Gesellschaft in der Regel auch abhängig. Und von diesem Gesichtspunkt wurde das Problem des Elends betrachtet.

Ganz anderer Natur ist das Elend in der kapitalistischen Gesellschaftsordung, im Zeitalter des Privateigentums. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Periode, der Zeit des wirtschaftlichen Individualismus und des Liberalismus, daß im Zeitpunkt des Massenelends, der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftskrisis gerade ein Güterüberfluß vorhanden ist. Nicht der Mangel an Gütern, sondern ihr Überfluß ist die Begleiterscheinung der Krisis, mit anderen Worten: wir finden das Gegenteil von dem, was in der vorkapitalistischen Periode der Fall war. Ungeheure Güterquantitäten, Güterüberfluß, d. h. großer natürlicher Reichtum, Ergiebigkeit und Produktivität und trotzdem Massenelend! Diese sonderbare und merkwürdige Erscheinung mußte den Menschen die Augen öffnen, das Problem des Elends nicht auf dem Gebiet der  Produktion,  im Bereich der Natur, sondern auf dem Gebiet der  Distribution,  der Verteilung der Güter zu suchen, nicht der Natur die Schuld des Elends zuzuschreiben, sondern der Organisation der Volkswirtschaft, der Unzweckmäßigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen. Der Gegensatz zwischen der reichen und immer wachsenden Produktivität und der unzweckmäßigen Distribution der Güter - das ist eine der Hauptvorbedingungen zur Entstehung des Anarchismus.

Damit sind noch lange nicht die Vorbedinungen der Entstehung des Anarchismus erschöpft. Aus dem angeführten Gegensatz ökonomischer Natur haben sich noch andere Erscheinungen entwickelt und entfaltet, die dem Wesen des Anarchismus besondere Kraft verleihen, es ergänzen und vervollständigen. Wir verstehen darunter: die durch den modernen Kapitalismus zu hohen Dimensionen gesteigerte Reizbarkeit und den damit verbundenen und ins Extreme gehenden  Subjektivismus,  eine Tatsache, die schwer zu verleugnen ist, denn der Subjektivismus gewinnt von Tag zu Tag mehr Boden und Anhänger.  Alles ist subjektiv In der Sprache des Philosophen heißt es: der  Mensch ist der Maßstab aller Dinge,  in der Sprache des Dichters:  Gefühl ist alles!  - dies ist zur Parole erhoben worden. Und in der Tat hat das moderne Wirtschaftsleben dazu viel Anlaß gegeben. Die Entfaltung des modernen Verkehrs, auf dem Prinzip der Ökonomisierung der Zeit beruhend, denn  time is money,  hat auch die Überwindung des Raums gefördert, fern liegende Gegenden verbunden und dadurch die entferntesten Menschenkreise in eine Beziehung gebracht. Dadurch ist das Abhängigkeitsverhältnis erweitert und der Kreis des Mitleidgefühls ausgedehnt. Speziell sorgt dafür das moderne Zeitungswesen, indem es uns mannigfache Eindrücke zuführt, die auf unsere Reizbarkeit einen bestimmten Einfluß ausüben. Es kommt noch durch den verschärften Kampf ums Dasein hinzu, daß das moderne Leben äußerst aufreibend geworden ist. Unstetigkeit, Unsicherheit, ungewisse Existenz, die Angstgefühle in uns hervorrufen, besondere Empfindlichkeit und Nervosität, Verstimmung und Launenhaftigkeit - kurz gesagt: der moderne Mensch mit seiner "Stimmung" fieberhafter Natur ist durch und durch subjektiv und urteilt stimmungsmäßig, je nach Laune. Nicht umsonst ist von "moderner Kultur und Geisteskrankheiten" gesprochen worden! Denn die Zahl der Geisteskranken ist im Wachsen begriffen.

Indem wir von der "Stimmung" des modernen Menschen in Bezug auf den  Subjektivismus  sprechen, wollen wir diesen Punkt etwas näher ausführen. Wenn behauptet wird:  alles fließt,  - so gilt dies umso mehr für die  Stimmung  des modernen Menschen, die in einem fortwährenden Wechsel begriffen ist und mehr und mehr den Boden der Objektivität verliert. Urteile wie "gut" oder "schlecht", "begabt" oder "unfähig" sind heute Stimmungssache geworden. Und dabei werden diesbezügliche Maximalanforderungen an die Andern und Minimalanforderungen an sich selbst gestellt. Der Größenwahn ist heute eine Massenerscheinung geworden. Wer klagt denn heute nicht "verkannt" oder "totgeschwiegen" zu sein, denn die Welt besteht gegenwärtig aus lauter "verkannten Genies", die Durchschnittsmenschen sind demgemäß selten geworden.

Wie bereits gesagt wurde, sind die Urteile der modernen Menschen als Produkt momentaner Stimmung schnell abwechselnd, mit anderen Worten: sie stehen im schroffen Gegensatz zum  Dogmatismus denn nur der Wechsel ist ewig. Die Dauerhaftigkeit der Gefühle, der Ansichten und der Überzeugungen wird immer seltener, richtiger gesagt: wird ganz  unmodern.  Heute ist man konservativ, morgen freisinnig, übermorgen sozialistisch und am folgenden Tag: "unparteiisch", denn um eine Variation von HEINEs Wort zu gebrauchen - sie sind alle vier anrüchig - das ist eine Erscheinung, die nicht selten anzutreffen ist. Und unsere Freundschafts-, Feindschafts-, Haß- und Liebesgefühle? Wer darf und kann denn heute von einer "ewigen Liebe" sprechen in einem Zeitalter, in welchem, um micht der Worte eines berühmten Künstlers zu bedienen, das Leben ein Moment ist! SHAKESPEAREs "Romeo und Julia", SCHILLERs "Bürgschaft" sind dem modernen Menschen unbegreiflich und unverständlich, denn was er kennt, ist vor allem, "die Pflicht gegen sich selbst" und eine  Individualität  zu sein, - ist sein heißer Wunsch, da  Individualität  und  Genialität  Hand in Hand gehen. Der moderne  Größenwahn  ist dadurch auch erklärlich. Wenn in der guten alten Zeit GOETHE ein "Homo sapiens" war, so bildet sich heute sogar mancher ein, ein GOETHE zu sein, weil er ein "Homo sapiens" ist, mit populären Worten gesprochen: aufgrund der  Laster  des Genies sucht man die Begabung nachzuweisen. Und so wimmelt es manchenorts von Halbgenies dieser Qualität.

Wir wollen nun die Vorbedingungen der Enstehung des Anarchismus kurz zusammenfassen. Diese lassen sich etwa in folgenden Worten charakterisieren: das moderne Wirtschaftsleben hat bestimmt eine Reihe von Mißständen gezeitigt, den Kampf ums Dasein wesentlich verschärft, die Unsicherheit der Existenz, das Abhängigkeitsgefühl bedeutend vergrößert, was auf die Psyche des Menschen einen bestimmten Druck ausüben muß. Das Prinzip der Ökonomie, welches ungeheure Dimensionen durch die Entwicklung der Technik erlangte, hat den Verkehr entfaltet und entwickelt. Der moderne Verkehr, welcher eine zeitlich-räumliche Überwindung bedeutet, hat vor allem dei Zeit reduziert, will sagen den Verlauf der Zeitpunkte bezüglich der Erlangung eines Erfolges bedeutend abgekürzt, indem wir durch die moderne Technik in der Lage sind, schneller und rascher zum Ziel zu gelangen. Das verursacht aber auch eine schnelle Abwechslung der Gefühle und Stimmungen, weil uns mehrere und mannigfaltigere Eindrücke zugeführt werden, so daß die Verdauungspause eine kurze ist. Aus der Ökonomie der Zeit sind wir  Stimmungsmenschen  geworden, durchtränkt von Subjektivismus und Laune, von  Individualismus  und Skeptizismus. Aufgrund dieser Bedingungen hat sich ein Gegensatz herausgebildet zwischen der  Wirklichkeit  und einem  Ideal zwischen dem  Sein  und dem  Sein-Sollen Es regt sich in mancher Menschenbrust eine Sehnsucht nach einem besseren Zustand, in dem alle Übel beseitigt sind und überall nur Glück und Frieden existiert, wo alles unabhängig, frei sich entfaltet und entwickelt, arbeitet, denkt, fühlt und wirkt, mit anderen Worten: wo  "das Ideal einer freien Gesellschaft"  existiert, wie es HENRIK IBSEN vorschwebt.

Worin besteht diese  freie Gesellschaft?  Und wie ist ihre Möglichkeit und Berechtigung zu begründen? Wir gelanden damit zu dem theoretischen Gehalt der Weltanschauung des Anarchismus, zu jener Gesellschaftstheorie, die eine besondere Auffassung von einer freien Gesellschaft entwickelt hat. Es gilt nun, die Weltanschauung des Anarchismus als  logische Einheit,  unbekümmert umd die Widersprüche, die in der Literatur zum Ausdruck kommen, zu erfassen, die Elemente derselben zu vereinigen und verbinden, um das Wesen des Anarchismus zu veranschaulichen.

Einer der Hauptgrundsätze des Anarchismus aus dem sich seine anderen Ansichten logisch ableiten lassen, ist der: das Individuum steht gegenüber der Gattung in einer solchen Beziehung, daß es als primär und Hauptsache, die Gattung hingegen nur als sekundär und Nebensache zu betrachten ist. Das Reelle, das Existierende, das Originäre ist nur das Individuum. Die Gattung und damit auch die Gesellschaft ist nur das Derivative, das Abgeleitete, das Sekundäre; die Gattung und die Gesellschaft sind bloß die summarische Zusammensetzung der Individuen, das Individuum ist der wirkliche Träger der Gattung, die Gattung ist ein abstrakter Begriff, kein Konkretes und Selbständiges, eine Kapsel, die mit Inhalt nur durch das Individuum gefüllt wird. Was wirklich existiert und erfahrungsmäßti wahrzunehmen ist, das ist das Individuum und nicht die Gattung, denn niemand kann nachweisen, er hätte die Gattung oder die Gesellschaft in der Erfahrungswelt irgendwo angetroffen. Was wir durch unsere Sinne wahrnehmen können - das sind nur Individuen, die Sinneswahrnehmung ist auch die Grundlage unseres Erkennens, unsere Vorstellungen sind auch auf unsere Sinneswahrnehmungen zurückzuführen. Damit sind die Metaphysik und die aus ihr folgenden Versuche, den Erkenntnisprozeß zu erklären, zurückgewiesen und den Boden der Wirklichkeit gewonnen. Auf der Erfahrungsphilosophie beruth  zum Teil  die Weltanschauung des Anarchismus. Die Erfahrungsphilosophie  erschöpft  jedenfalls nicht den ganzen theoretischen Inhalt des Anarchismus; aus dem Gesichtspunkt der Erfahrungsphilosophie wird lediglich jeder Versuch: die Gesellschaft oder die  Gattung  als eine  Substanz  bzw. als Hauptsache zu betrachten, von vornherein als ein Ding der Unmöglichkeit erklärt.

Ein zweiter Bestandteil der Weltanschauung des Anarchismus ist der  Subjektivismus  im weitesten Sinne des Wortes und zwar erkenntnistheoretisch, ethisch und soziologisch und die daraus folgenden Konsequenzen mit Bezug auf das praktische Handeln, das Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen.  Der Mensch ist der Maßstab aller Dinge denn Sein - heißt wahrnehmen und jedes Erkennen ist Produkt  des Bewußtseins.  Der Mensch ist ein wollendes, wertendes wünschendes, stellungnehmendes Wesen und das ganze Menschenleben ist eine Kette der subjektiven Werke, ein System der persönlichen Beziehungen zu den Lebenserscheinungen. Sein Wille ist frei, ungebunden, unabhängig, denn der Mensch ist ein vernünftiges Wesen. Die freie Wahl, begleitet von Aufklärung und wahrem Erkennen, führt den Menschen zu den besten Taten,  freiwillig  erfüllt der Mensch am besten seine Pflicht, bzw. handelt in moralischer Beziehung richtig und gut, wie es uns meisterhaft IBSEN in der "Frau vom Meer" darstellt. Das Erkennen und die Aufklärung spielen hier eine wichtige Rolle. Der alge Grundsatz:  Wissen ist Tugend  - gelangt demnach zu voller Geltung. Hier wird eine vollständige Identifizierung von der Erkenntnislehre mit der Ethik, die des Begreifens und des Handelns ausgedrückt. Und diese Beziehung zwischen der Aufklärung und dem richtigen Handeln des Menschen hat in der anarchistischen Literatur zwei verschiedene entgegengesetzte Deutungen gefunden und zwar: eine  egoistische  und eine  altruistische Die eine Richtung des Anarchismus behauptet: der Mensch ist von Natur aus  Egoist,  handelt er aber freiwillig und ungezwungen, so wird es doch zugunsten der Allgemeinheit ausfallen, da er, d. h. der Mensch, auf das Handeln seiner Mitmenschen angewiesen ist. Durch Aufklärung und Erkennen gelangt der Mensch zu dieser Einsicht zum Nutzen seiner Mitmenschen zu wirken.

Anders behauptet die altruistische Richtung. Nach ihr ist der Mensch ein wohlwollendes, altruistisches Wesn, er besitzt  einen Hang zum Guten,  allein die schlechte Erziehung, die Unwissenheit und vor allem der Zwang veranlassen ihn schlecht zu handeln. Ist aber dem Menschen die Wahl freigestellt, unabhängig zu wirken und zu handeln, so wird er nur zugunsten der Gesamtheit, seiner Mitmenschen wirken, weil er von der Natur aus altruistisch ist. Jedenfalls bedarf er der Aufklärung und des Erkennens. Die Aufklärung in Verbindung mit der freien Wahl und der Ungebundenheit führen zum zweckmäßigen und guten Handeln. Welche Resultate wird aber die freie Wahr des Handelns zeitigen speziell mit Bezug auf die Entwicklung des Kulturlebens nach dieser gekennzeichneten Auffassung des Anarchismus? Oder ist vielleicht das Resultat der freien Wahl des Handelns durch das "gute Handeln" nach der Auffassung des Anarchismus erschöpft?

Darauf antwortet der Anarchismus: in der freien Wahl des Handelns, in der Ungebundenheit liegt ein großes Geheimnis der Natur, das Geheimnis des Schaffens, der Initiative und Unternehmung, der Begabung und des Talents, der Schöpfung und der Fähigkeit, der Entfaltung der Persönlichkeit und der Energie, in der freien Wahl des Handelns liegt der Kern der gesamten Geisteskultur, die freie Wahl ist die Poesie des Lebens, die auf unsere Gedankenwelt bereichernd und befruchtend wirkt. Denn zu welchen Resultaten könnte tatsächlich der Zwang und die Gebundenheit in der Theorie und Praxis führen? Der Zwang und die Gebundenheit ersticken in uns die Initiative, wirken hemmend für den Schöpfungsgeist, untergraben die Energie, schwächen den Willen, entwerten die Persönlichkeit. In allen Wandlungen des Lebens flößt der Zwang dem Menschen die Ansicht ein, daß er keine Person sei, denn er ist nicht Herr seines Handelns, da er es immer vorgeschrieben findet, sehr oft sogar seinen eigentlichen Ansichten entgegengesetzt. Und dem soll sich der Mensch als vernünftiges Wesen fügen? Und diesem mechanischen Handeln soll sich ein lebendiges Wesen ausgestattet mit Bewußtsein und Vernunft unterordnen? Mit anderen Worten gesprochen: das unfreie und erzwungene Handeln kann nur dazu führen, daß der Mensch seelisch geknechtet wird, daß jede Schaffenskraft lahmgelegt und die Regsamkeit ausgemerzt wird. Das menschliche Talent muß sinken, denn der nötige Spielraum für Entfaltung fehlt, die freie Bewegung der Energie mangelt. Alles geniale Schaffen ist ohne freie Wahl ein Ding der Unmöglichkeit, und so ist das Schicksal einer höheren Geisteskultur gerade von der freien Wahl, von der Ungebundenheit abhängig.

Wie wir sehen, bilden der  Individualismus  und der  Subjektivismus  den Kernpunkt der  Weltanschauung  des Anarchismus. Daraus folgt logisch die Aufhebung des Zwangs und der Gebundenheit und die Ersetzung derselben durch die  vollständige  Freiheit. Damit gelangen wir zur Stellung des Anarchismus in " Wirtschaft und Recht der Gegenwart und der Zukunft, wodurch sich insbesondere der Anarchismus auszeichnet und vom Sozialismus grundverschieden ist. Sozialismus und Anarchismus sind Feuer und Wasser, Himmel und Erde. Gerade die Stellung des Anarchismus zu Wirtschaft und Recht sind eigentümlich und merkwürdig, steht aber im engen Zusammenhang mit seiner ganzen Weltanschauung. Noch mehr: ohne die Weltanschauung des Anarchismus zu kennen, ist es durchaus unmöglich, seine Stellungnahme zu Wirtschaft und recht gehaltvoll zu erfassen und zu begreifen.

Der Anarchismus ist ein scharfer Gegner der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, indem er das Interesse der Besitzlosen energisch in Schutz nimmt. Nach ihm beruth der Kapitalismus auf dem Prinzip der Ausbeutung, auf dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, auf der Unterjochung und der Unterdrückung, der Entrechtung und der Entmenschlichung der Mehrheit der Menschheit durch eine zufällige kleine Minderheit. Deswegen folgert er rückhaltlos:  alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht!  Das Bestehen der gegenwärtigen Gesellschaft gilt für ihn als ein Symbol der Ungerechtigkeit, Untugend und Unsittlichkeit, als Symbol der Unzweckmäßigkeit und Planlosigkeit. Mit anderen Worten gesprochen: der Anarchismus bedeutet eine vollständige Negation und Vernichtung der bestehenden Wirtschaftsordnung. In dieser Beziehung, d. h. was die Kritik und die Negation der bestehenden Wirtschaftsordnung anbetrifft, gleicht der Anarchismus dem Sozialismus. Wie der Sozialismus so verlangt auch der Anarchismus die Aufhebung des Privateigentums, der Anarchismus verlangt also die  Vergesellschaftung  der Produktion. Noch mehr: nicht nur die  Erzeugung  der Güter, sondern auch der  Verbrauch  derselben soll nach der Auffassung des modernen Anarchismus vergesellschaftlicht werden. Der Anarchismus ist demnach, was die Wirtschaftsordnung anbelangt, nicht  kollektivistisch,  sondern  kommunistisch,  nicht jedem nach seinem Verdienst, nach seiner Arbeit und Leistung, sondern nach seinen Wünschen und Verlangen, denn in der Gesellschaftsordnung des Anarchismus darf weder Zwang noch Gebundenheit existieren, sondern  absolute Freiheit!  Der Anarchismus will das Individuum in wirtschaftlicher Beziehung vollständig befreien, indem es ihm ein Maximum an Freiheit einräumt. Dies leitet uns hinüber zur Auffassung des Anarchismus von der Rechtsordnung, d. h. seiner Stellung zur Recht und Sitte, die eigentlich das Wesen des Anarchismus ausmacht. Die Rechtsauffassung des Anarchismus ist der Eckstein der gesamten Lehre des Anarchismus, aus ihr folgen bedeutende Konsequenzen mit Bezug auf die Wirtschaftsordnung und vollends bildet auch die Rechtsauffassung des Anarchismus einen der wichtigsten Trennungs- und Scheidungsmomente zwischen ihm und dem modernen Sozialismus. Das Scheidewasser des Anarchismus und des Sozialismus ist die Rechtsauffassung, die allerdings aus dem prinzipiellen Gegensatz der beiden Weltanschauungen resultiert. Der Gegensatz der Rechtsauffassung des Anarchismus und des Sozialismus ist viel wesentlicher und bedeutender als der zwischen der Rechtsauffassung des Anarchismus und der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dies wird aber zu oft verkannt und daher muß es umso mehr betont werden. Der Anarchismus hat viel mehr theoretische Berührungspunkte mit der bestehenden Gesellschaftsordung als mit dem modernen Sozialismus.

Worin besteht nun die Rechtsauffassung des Anarchismus? Das ist nun die Frage.  Das Recht ist die äußere Regelung des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens, die auf Zwang beruth.  Auch die Sitte regelt das menschliche Zusammensein, allein ihr fehlt der Zwang, sie beruth auf der freien Wahl, es steht dem Menschen frei zu tun oder zu unterlassen, der Mensch wird nicht  zwangsweise  angehalten das zu tun, was die Sitte regelnt, denn über die Macht des Zwangs verfügt die Sitte nicht. Darin aber kommt der wesentliche Unterschied zwischen Recht und Sitte zum Ausdruck. Der Anarchismus verlangt die Aufhebung des Rechtszwangs, die Aufhebung der Gebundenheit und die Ersetzung derselben durch die  Sitte,  die freie  Konvention;  mit anderen Wort gesprochen:  nicht das Recht, sondern die Sitte soll zur Regelung aller menschlichen Beziehungen erhoben werden.  Aus dem Grundsatz folgen weitgehende Konsequenzen, die wir sehen werden. Zuerst wollen wir aber die Auffassung vom Recht, die der Anarchismus uns bietet, etwas näher betrachten, die Begründung und die Motive eingehender behandeln.

Das Recht ist in einer demokratischen Verfassung direkt oder indirekt Beschlußstimmung der Mehrheit, dem sich auch die Minderheit fügen muß. Gerade gegen die Vergewaltigung der Minderheit durch die Mehrheit, des Einzelnen durch die Gemeinschaft, sträubt sich mit aller Energie der moderne Anarchismus. Dem Menschen muß immer frei stehen sich zu fügen oder nicht, denn der Beschluß der Mehrheit ist für ihn keineswegs bindend. Das Prinzip der Mehrheit wird vom Anarchismus entschieden zurückgewiesen, denn moralisch läßt es sich nicht begründen. Vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit des Gesellschaftslebens ist dem Anarchismus nach die freie Wahl viel besser als der Rechtszwang dazu geeignet, gute Resultate zu zeitigen. Und wenn dies auch unzweckmäßig wäre mit Rücksicht auf das Interesse der Gesellschaft, so glaubt der Anarchismus trotzdem den Rechtszwang verwerfen zu sollen, weil es vor allem für den Menschen Pflichten gegen sich selbst gibt, der Mensch lebt vor allem um seiner Selbst willen, er ist für sich selbst Hauptzweck!

Mit dem Prinzip der Mehrheit kann sich der Anarchismus aus mehreren Gründen nicht befreunden, und zwar sowohl vom Standpunkt der Gerechtigkeit als auch aus dem der Zweckmäßigkeit. Das Prinzip der Demokratie, das Prinzip der Mehrheit führt zur Erweiterung der Volksrechte, das Sozialleben wird von der Mehrheit bedingt, jeder Mann, unabhängig von seinem Bildungsgrad, übt einen bestimmten Einfluß auf die Gesetzgebung aus. Allein es entsteht ein ungeheurer Widerspruch: einerseits führt das moderne Wirtschaftsleben zu einer entwickelten  Arbeitsteilung  und damit zu einer notwendigen Berufsbildung, die Vielseitigkeit und die Vielwisserei müssen abnehmen, während andererseits die Entwicklung der Demokratie die Vielseitigkeit gerade voraussetzt, denn sonst ist doch die Orientierung über verschiedene Fragen und damit auch die richtige und vernünftige Mitbestimmung jedes Einzelnen von vornherein ausgeschlossen. Moderne Demokrati und modernes Wirtschaftsleben stehen demnach in einem unlösbaren Widerspruch, Politik und Ökonomik schließen sich gegenseitig aus. Wie soll noch von der Zweckmäßigkeit des Mehrheitsprinzips gesprochen werden? Bilden wirklich die Gescheiten, die Klugen, die Begabten, die Genialen die Mehrheit? Oder um mit den Worten in IBSENs "Volksfeind" zu sprechen: "Wer bildet denn die Mehrheit der Bewohner eines Landes, die Klugen oder die Dummen?" und BÖRNE sagt irgendwo, daß die Vernunft der Wahnsinn aller ist, während der Wahnsinn die Vernunft des Einzelnen ist, was bei WILDE ähnlich in den Worten zum Ausdruck gelangt: die Wahrheit ist die Lüge der Majorität und die Lüge die Wahrheit der Minorität! Aus dem gleichen Grund behauptet  Stockmann  ("Volksfeind"!): "Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit - das ist die kompakte Majorität, ja die verfluchte kompakte liberale Majorität - das ist unser ärgster Feind!" Denn "alle diese Majoritätsmehrheiten gleichen dem überjährigen ranzigen Speck; sie sind wie verdorbener grün angelaufender Schinken, und daher kommt all der moralische Skorbut, der rings um uns her in der Gesellschaft grassiert." Und in der Tat, das kann nicht geleugnet werden, war die Mehrheit zu oft den großen Ideen gegenüber hindernd im Weg. Nicht die Mehrheit sondern die Minderheit schafft die  Kultur  in ihren Anfängen, das  aktive Element  ist die Minderheit.

Bisher war von der Kritik des Prinzips der Majorität die Rede als von einem Prinzip, das nicht zugunsten der gesamten Kultur regiert. Allein damit ist die Kritik noch nicht erschöpft, denn noch andere Mängel hat das Prinzip der Majorität zu verzeichnen, Mängel die es auf den Kopf stellen. Selbst beim Prinzip der Majorität ist es eine kleine Minorität, die die ausschlaggebende Rolle spielt, die Masse hingegen, "das Stimmvieh", bleibt passiv, gehorcht blindlings gemäß den "Vorschlägen der Leitung" ohne imstande zu sein ein kritisches Urteil darüber abzugeben. Auf diese Weise ist der sogenannte Volkswille eine Chimäre, das Volksrecht nichts anderes als ein Recht, sich beeinflussen zu lassen, ein Recht darauf, sich geistig abhängig zu machen, ein Recht auf intellektuelles Untertanentum unter dem Vorwand augenblicklicher Freiheit und Selbständigkeit, mit anderen Worten gesagt: ein Recht auf geistige Sklaverei, keine Freiheit der Persönlichkeit. Soll das denn ein Volksrecht sein?

Und auch wenn angenommen würde, die aufgeführten Einwände ließen sich entkräften und widerlegen, so bietet das Problem der Majorität und die damit verbundene Rechtsauffassung andere Schwierigkeiten mit Bezug auf den Rechtszwang, d. h. die Rechtfertigung desselben. Die Frage ist nämlich die: wie stehen die Annahme eines Gesetzes zur Anwendung und Interpretation desselben zueinander? Ferner, ob bei der Annahme eines Gesetzes durch die Mehrheit alle Mitglieder der Mehrheit die gleiche Auffassung vom Gesetz und von den darausfolgenden Konsequenzen haben? Denn sonst ist es doch leicht möglich, daß das Gesetz nicht einmal die Majorität hinter sich hat. Und da der Anarchismus vom Standpunkt des Subjektivismus ausgeht, so ist es klar, daß nach ihm die aufgestellte Frage entschieden verneint wird.

Damit fällt die Existenzberechtigung des Rechtszwangs, denn die Beschlußbestimmung der Mehrheit kann nicht für die Minderheit bindend sein; die Mehrheit besteht in der Regel nicht aus den Besten und Klügsten, selbst beim Prinzip der Mehrheit ist eine kleine Minderheit ausschlaggebend und die Rechtsauffassung innerhalb dieser Mehrheit ist auch subjektiv verschieden. Kann und soll denn demnach das Recht seine Berechtigung noch haben? Wer wollte es behaupten?

Daher sagt auch der Anarchismus mit dem Dichter:
    Es erben sich Gesetz und Rechte
    wie eine ewige Krankheit fort!
Soweit die Begründung der Aufhebung des Rechts, die der Anarchismus entwickelt. Das Recht soll durch die Sitte ersetzt werden, die Gebundenheit aufhören. An die Stelle der Riesenstaatsorganisation tritt das gruppenmäßige Gemeinwesen, denn sonst ist es nicht möglich das Prinzip der individuellen Freiheit und Ungebundenheit zu wahren. Die Gruppen stehen zueinander in einem föderativen Verhältnis und schließen unter sich Verträge ab, die gehalten werden müssen, denn
    Was du bist,
    Bist du nur durch Vertrag!
Damit ist die Gesellschaftsordnung, wie sie sich der Anarchismus vorstellt, charakterisiert und gekennzeichnet.

Wie stellt sich der Anarchismus nun die Verwirklichung seines Ideales vor? Das heißt: die Wege und Methoden, welche sein Ideal verwirklichen sollen? Denn der Anarchismus will vor allem praktisch wirken, seine Theorie ist für ihn Mittel und nicht Selbstzweck, für ihn ist der  Anfang Alles - die Tat. 

Auf diese Fragen ist folgendes zu antworten: in seinem Anfangsstadium war er  reformatorisch,  durch allmähliche und ruhige Reformarbeit wollte er sein Ideal verwirklichen. Im Lauf der Zeit änderte er diesbezüglich seine Taktik und der moderne Anarchismus hat ein ganz anderes praktisches Programm aufgestellt, das gegenwärtig in zwei verschiedene Richtungen gespalten ist. Die eine will die Umwälzung der bestehenden Rechtsordnung ohne Gewalttätigkeit herbeiführen, nämlich auf dem Weg der Verweigerung der Erfüllung der bürgerlichen und staatlichen Pflichten, durch passiven Widerstand. Diese Richtung spielt keine wesentliche Rolle in der modernen anarchistischen Bewegung. Hingegen ist ausschlaggebend für den modernen Anarchismus diejenige Richtung, die auf dem Weg der Gewalttätigkeit, der "Propaganda der Tat", die bestehende Rechtsordnung umwälzen will. Durch die "Propaganda der Tat" soll die Gesellschaft in Schrecken versetzt werden, das Aufsehen soll erregt werden und durch die Mittel der modernen Naturwissenschaft soll die anarchistische Gesellschaftsordnung eingeführt werden. Der Weg von der heutigen zur anarchistischen Gesellschaftsordnung geht durch das chemische Laboratorium. Darin besteht auch das Wesen des praktischen Anarchismus, seine Methode ist die der  Revolution

Wir kennen nun das Wesen des Anarchismus. In welcher Beziehung stehen  Anarchismus  und Sozialismus zueinander? Denn sie werden oft in einen Topf zusammengeworfen, was durchaus irrtümlich ist.

Der Anarchismus und der Sozialismus haben in mancher Beziehung Gemeinsames: beide negieren die bestehende Rechts- und Wirtschaftsordnung, beide gehen von einer pessimistischen Betrachtungsweise der Gegenwart aus, beide stehen auf dem Boden der Interessen des Proletariats, d. h. die anarchistische wie die sozialistische sind als proletarische Bewegung zu betrachten, beide Richtungen sind revolutionär, indem sie beiden auf dem Standpunkt der vollständigen Umwälzung der gegenwärtigen Rechts- und Wirtschaftsordnung stehen. Mit dem Gesagten ist aber auch das Gemeinsame beider Richtungen vollständig erschöpft.

Weit wichtiger, wesentlicher und einschneidender sind die Merkmale, welche sie voneinander trennen, denn sie bringen den Gegensatz schroff zum Ausdruck und zwar sowohl theoretisch als auch praktisch.

Der Anarchismus ist aufgebaut auf einem  Subjektivismus,  das Bewußtsein bedingt das Sein, denn alles Sein heißt wahrnehmen. Umkehrt der Sozialismus: "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Deswegen bildet auch die Grundlage des Sozialismus die Welt der Wirklichkeit, der Bedingungen und Verhältnisse, während beim Anarchismus das subjektive Wollen, das Gefühl die Hauptrolle spielt. Gemäß dieser Verschiedenartigkeit dieser zwei Weltanschauungen ist der Ausgangspunkt des Anarchismus - das Individuum, der des Sozialismus die Gesellschaft.

Auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ist beim Anarchismus und im Sozialismus grundverschieden. Nach der Auffassung des Anarchismus von der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft erscheint der Mensch als ein von der Gemeinschaft unabhängiges, selbständiges und freies Wesen, das alles aus sich selbst schöpft und ohne die Gesellschaft isoliert leben kann. Der Mensch wird aus seinem Zusammenhang künstlich herausgerissen und abstrakt betrachtet. Dem Menschen als soziales Wesen trägt der Anarchismus wenig oder keine Rechnung. Anders der Sozialismus: nach ihm ist der Mensch Produkt bestimmter sozialer Bedingungen, ein soziales Wesen, das durch und von der Gesellschaft abhängig ist, denn nur vom geschischtlich-gesellschaftlichen Standpunkt kann der Mensch richtig erfaßt und verstanden werden. Nach dem Anarchismus macht das Individuum Geschichte, dem Sozialismus nach ist das Individuum das, was die historisch-soziale Wirklichkeit aus ihm gemacht hat. Aus diesem Grund sucht auch der Anarchismus aus Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitsmotiven sein gesellschaftliches Ideal abzuleiten, während der Sozialismus seine soziale Theorie auf der historischen Notwendigkeit aufbaut. Es ist keine Konsequenz der Vernunft, Einsicht, der Zweckmäßigkeit, der Gerechtigkeit und der Moral, des freien Willens und des Bessermachens, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung eingeführt wird, sondern es ist eine historische Notwendigkeit. Denn vermöge der Gesetze der historischen Entwicklung der Gesellschaft muß der Sozialismus kommen und zwar unabhängig von unserem Willen. Dabei ist auch die Verschiedenheit der Taktik mit Bezug auf die Verwirklichung des Planes bei diesen zwei Richtungen erklärlich und begreiflich. Der Anarchismus erwartet die Verwirklichung der von ihm begründeten Theorie der neuen Gesellschaftsordnung durch eine Gewalttat, auf dem Weg des  Individualkampfes,  durch Sprengstoffe soll die soziale Frage gelöst werden, während nach der Auffassung des Sozialismus die notwendigen Bedingungen zuerst reif werden müssen, damit die Revolution entstehen kann und daraufhin die neue Gesellschaftsordnung. Es ist die Aufgabe langer Vorbereitungen, des Hereinwachsens und Hereinreifens in die neue Ordnung und daher agitiert er für den  Klassenkampf denn er ist nicht die Aufgabe des Individuums, sondern der Masse, des Proletariats, das zur Revolution gezwungen wird durch die schlechten Verhältnisse. Die Revolution ist demgemäß nicht ein Gewaltakt des Einzelnen, sondern der der Masse, nicht ein indivdueller, sondern ein kollektiver Akt, nicht ein subjektiver Wunsch, sondern ein objektives und unentbehrliches Bedürfnis, es muß nicht  teleologisch  sondern  kausal  erfaßt und begriffen werden.

Ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen dem Anarchismus und dem Sozialismus besteht darin: der Anarchismus ist  kommunistisch,  d. h. sowohl die  Erzeugung  als auch der  Verbrauch  der Güter sind sozialisiert, Gemeingut aller Menschen, das jedem frei zur Verfügung steht. Anders der Sozialismus: der Verbrauch der Güter bleibt  individualistisch,  denn jeder erhält nach der Leistung und der Arbeit. Mit anderen Worten gesprochen: der Sozialismus ist  kollektivistisch  nicht aber kommunistisch.

Der Anarchismus unterscheidet sich wesentlich vom Sozialismus noch dadurch: während der Anarchismus die Aufhebung des Rechts als solches, bzw. des Rechtszwangs verlangt, so ist der Ausgangspunkt des Sozialismus lediglich die  Umgestaltung,  nicht aber die Abschaffung des Rechts überhaupt. Der Sozialismus ist für einen anderen Staat, bekämpft nur den bürgerlichen Staat, der Anarchismus ist gegen den Staat überhaupt, gegen alle Formen des Staates, weil er in jedem Staatswesen nur die Unterdrückung der Persönlichkeit sieht, in jeder Organisation nur Gebundenheit erblickt. Daher führt auch das Ideal des Anarchismus zum  Kleinbetrieb,  weil jede Organisation ihm verwerflich erscheint, während der Sozialismus den Großbetriebt zur Grundlage seiner Wirtschaftsordnung macht, um den größtmöglichen ökonomischen Erfolg zu erzielen.

Und vollends ist vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen dem Anarchismus und dem Sozialismus der folgende: der erste will die persönliche Freiheit ausdehnen, während sie der letztere im Namen der Gesamtinteressen einschränken will. Die letzten Worte bedürfen einer Begründung und Auseinandersetzung. Bekanntlich wird der Satz, daß im sozialistischen Staat die persönliche Freiheit wesentlich eingeschränkt sein wird, von den Sozialisten heftig bekämpft und bestritten. Sie behaupten nämlich, nicht die persönliche Freiheit, sondern die Freiheit den Mitmenschen auszubeuten wird der Sozialismus einschränken, bzw. abschaffen. Denn die gegenwärtig in der kapitalistischen Ordnung herrschende Freiheit ist die Freiheit der oberen Zehntausend, das Volk auszubeuten; was mit der Verwirklichung des Sozialismus verschwinden muß. Dem zufolge ist es ein Irrtum von einer Einschränkung der persönlichen Freiheit im sozialistischen Staat zu sprechen.

Dem gegenüber ist doch zu betonen, daß der Sozialismus notwendigerweise eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freiheit mit sich bringen muß. Gewiß wird er die Masse des Volkes in mehrfacher Hinsicht von der Ausbeutung befreien, aber andererseits wird er nichtsdestoweniger die persönliche Freiheit jedes Individuums wesentlich einschränken. Aufgrund der sozialistischen Organisation der Volkswirtschaft wird jedem eine Beschäftigung  zugewiesen  werden, wodurch die "Freiheit der Berufswahl" wesentlich eingeschränkt sein wird. Die sozialistische Gesellschaftsordnung wird aussehen, wie eine gut eingerichtete, in hygienischer Beziehung tadellose, von Hunger und Not durchaus geschützte  Kaserne,  in welcher die Menschen wie die Statisten auf der Bühne auf Kommando zu gehorchen haben.  In seiner solchen Gesellschaft kann von einer Futterfreiheit, von einer sanitären Magenordnung, nicht aber von persönlicher Freiheit die Rede sein. 

Die Unterschiede zwischen Anarchismus und Sozialismus sind festgestellt worden. Es gilt nun, den Anarchismus einer Kritik zu unterziehen, den theoretischen Gehalt bezüglich der Haltbarkeit zu prüfen.

Vor allem ist es auffallend, daß der theoretische Gehalt der Weltanschauung des Anarchismus mit der Sozialtheorie desselben in einem Widerspruch steht. Erkenntnistheoretisch behauptet der Anarchismus, alles sei individuell und subjektiv. Wie gelangt er aber trotzdem zu allgemeinen Wahrheiten, zu dogmatischen Lehrsätzen, die insbesondere für die Zukunft Geltung haben sollen? Mit anderen Worten gesprochen: was der Anarchismus erkenntnistheoretische verneint und widerlegt - das behauptet und bejaht er in sozialtheoretischer Beziehung. Wie man sieht, ist der Anarchismus Gegner nicht nur des Rechtszwangs sondern er ist auch Gegner des logischen Zwangs.

Ein anderer Widerspruch innerhalb der anarchistischen Theorie besteht namentlich darin: der Anarchismus, wie wir bereits wissen, verwirft den Rechtszwang und zwar mit allem Nachdruck und doch ist er dafür, daß Verträge gehalten werden müssen! Was soll es eigentlich heißen Verträge halten? Doch nichts anderes, daß ein Rechtszwang hier vorhanden ist; auf einer Seite wird der Rechtszwang verworfen, auf der anderen Seite wieder gutgeheißen. Anders gesprochen: eine wirkliche Anarchie der Auffassung gelangt hier klar und deutlich zum Ausdruck.

Geradezu irreführend ist die Vorstellung von einer Wirtschaftsordnung nach Auffassung des Anarchismus. Der Anarchismus ist  kommunistisch,  jeder erhält nach seinem Verlangen ohne Rücksicht auf seine Leistungen. Genieale Schöpfer, große Denker, vorzügliche Künstler, begabte Schriftsteller, bahnbrechende Gelehrte sollen ökonomisch gleichgestellt sein mit Handlangern und Schornsteinfegern! Und das behauptet der Anarchismus, d. h. diejenige Weltanschauung, die uns sagt, daß alles subjektiv und individuell sein soll, mit anderen Worten: die Weltanschauung, die die Individualisierung befürwortet (und damit muß sie doch auch zugeben, daß die Fähigkeit und die Begabung, das Talent und die Schöpfungskraft bei verschiedenen Menschen ganz verschieden ist). - Sie will eine künstliche Gleichmacherei einführen, die durchaus naturwidrig ist. Der Anarchismus, der es versucht, die Gesellschaft zu meistern, sie besser zu machen, (denn nicht eine historische Notwendigkeit, sondern eine Zweckmäßigkeitsauffassung bildet die Grundlage des Anarchismus!) glücklicher und vernünftiger zu gestalten - dieser Anarchismus hebt sein Bessermachenwollen zum größten Teil durch die kommunistische Wirtschaftsordnung auf. Denn weder die Gerechtigkeit, noch die Zweckmäßigkeit und die gesunde Moral kann uns jemals zu denken veranlassen, Handlangerarbeit und geniale Schöpfungsarbeit gleich zu belohnen. Sollen wir denn die genialen Weltschöpfungen auf den Gebieten der Kunst, Literatur und Wissenschaft wie "Hamlet", "Faust", "Die Pest", "Tannhäuser", "Carmen", "Kritik der reinen Vernunft", "Das Kapital" wie einfache Handarbeit ökonomisch werten und schätzen? Und vollends werden auch dann diese Werke, entsprechend der subjektivistischen Weltauffassung, gleichgewertet? Werden sie aber verschieden gewertet und geschätzt, so ist die Forderung von gleicher Belohnung unbegreiflich und unverständlich. Liegt denn nicht hier beim Anarchismus ein verkappter Widerspruch vor? Er bekämpft die Majorität im Namen des Individuums, denn so behauptet von sich der Anarchismus; allein durch die Einführung der kommunistischen Wirtschaftsordnung, in der jeder nach seinem Verlangen die Gebrauchsgüter erhält, stellt sich der Anarchismus selbst auf den Boden der Majorität, denn nur eine kleine Minorität leistet geniale und schöpferische Arbeit, deren Qualität in der anarchistischen Wirtschaftsordnung mit Bezug auf Belohnung nicht berücksichtigt wird. Aus einer Türe wird das Interesse der Majorität durch den Anarchismus hinausgeworfen, aber durch die zweite wieder hereingeschmuggelt!

Die Wirtschaftsordnung des Anarchismus muß zu Mißerfolgen führen. Der Kleinbetrieb wird vorherrschend sein, denn der Großbetrieb setzt eine gute Organisation voraus, was bei der Aufhebung des Rechtszwangs nicht gut möglich ist. Es ist klar, daß im Zeitalter des Großbetriebs, der Riesenunternehmung, die Rückkehr zum Kleinbetrieb mit Mißerfolgen verbunden und Verknüpft ist. Ein Ausfall des ökonomischen Erfolgs liegt auf der Hand. Dabei werden aber die Bedürfnisse steigen, denn jeder erhält alles nach seinem Verlangen, die Produktion hingegen wird sinken. Das wird das Resultat der anarchistischen Wirtschaftsordnung sein.

Und die Mißerfolge in der anarchistischen Gesellschaftsordnung werden sicherlich nicht ausbleiben. Das kann mit Bestimmtheit gesagt werden, wenn man sich eine richtige Vorstellung von dieser Gesellschaftsordnung macht. Der Rechtszwang ist verschwunden, jeder macht, was er will. Ist jemand "verstimmt" oder hat "schlechte Laune" und zeigt keine Neigung zur Arbeit, so kann er lebenslänglich ungehindert faulenzen. (Und da die Menschen subjektiv und individuell sind, wie uns der Anarchismus belehrt, hat daher auch jeder Mensch das Recht auf seine Art verrückt zu sein.) Man kann sich lebhaft denken, wie groß die Arbeitslust unter diesen Umständen sein wird. Und trotzdem, daß die Arbeit nicht geleistet wird, hat der Betreffende noch Anspruch auf Nahrungsmittel. Anders gesprochen: der Zwang ist nun angeblich verschwunden, denn er bleibt noch zum Teil bestehen und zwar in sehr ungerechter Weise: der Zwang bleibt für den fleissigen und arbeitsamen Menschen bestehen, während er nur für die faulen Leute abgeschafft ist. Die  Faulheit wird Trumpf! 

Der Anarchismus irrt ferner in seiner Auffassung von der menschlichen Freiheit und ihren Grenzen. Er geht vom Begriff einer absoluten Freiheit aus und deswegen gelangt er zu Fehlschlüssen. Unter Menschen kann es keine absolute Freiheit geben, insbesondere wenn man vom Standpunkt des Subjektivismus ausgeht: wir sind verschieden und besitzen auch verschiedene Wünsche und Verlangen. Im gesellschaftlichen Zusammenleben und Zusammenwirken werden früher oder später die verschiedenen Wollensäußerungen der verschiedenen Menschen in Kollision treten. Im Moment der Kollision muß eine Partei Verzicht leisten, was einer Aufhebung der absoluten Freiheit gleichkommt. Nur ein absoluter Herrscher oder der isolierte  Robinson  können absolute Freiheit genießen, nicht aber der gewöhnliche Gesellschaftsmensch. Absolute Freiheit in der Gesellschaft erlangen heißt: auf die Kosten der Freiheit anderer Personen leben. Absolute Freiheit im Gesellschaftsleben ist eine Chimäre und hier liegt eben der Grundirrtum des Anarchismus.

Der Anarchismus irrt ferner, indem er von der Voraussetzung ausgeht, daß durch die Freiheit und Ungebundenheit, die die Grundlagen der anarchistischen Ordnung bilden werden, jeder Mensch seine Arbeit tun wird. Er irrt, wenn er sagt, gerade die Ungebundenheit und die freie Wahl seien die mächtigsten Hebel im menschlichen Leben. Hier liegt aber eine wichtige und wesentliche Verwechslung vor, nämlich: die Verwechslung von geistiger und schöpferischer Arbeit mit einfacher physischer Arbeit. Die Freiheit und die Ungebundenheit mögen ihre blauben Wunder schaffen auf dem Gebiet der Kunst, der Literatur und der Wissenschaft, keineswegs aber im Reich der physischen Arbeit. Das sind zwei verschiedene Arbeitswelten und man darf niemals die Maßstäbe, Motive und Beweggründe einer Arbeitswelt auf die zweite übertragen. Daher ist es auch begreiflich, warum mehrere Künstler zum Anarchismus neigen. Die Menschheit besteht aber nicht aus lauter Künstlern, bahnbrechenden Gelehrten und genialen Denkern. Daher ist auch die Auffassung des Anarchismus von der Arbeit grundfalsch und irrtümlich. Man dichtet, denkt, malt, komponiert lieber frei und zwar mit wesentlich größerem Erfolg, aber nicht leicht wird sich ein Mensch freiwillig mit dem Abrollen von Steinen, der Bewegung des Hammers, dem Ausputzen einer Maschine, Hobeln etc. befassen. Die vergleichende Völkerkunde wie auch mehrere bedeutende Vertreter der Wirtschaftswissenschaft behaupten: der Mensch ist von Natur aus faul, er wird zur Arbeit gezwungen, genötigt. Diesen Satz wird auch jeder Anarchist bestätigen dürfen, wenn er in sich selbst vorurteilslos hineinschauen wird. Über die Lust zur physischen Arbeit, mag sie auch freiwillig geleistet sein, kann man wohl Gedichte und Märchen schreiben, (denn worüber werden nicht Gedichte und Märchen geschrieben), aber im Leben, in der Erfahrung ist sie größtenteils nicht vorhanden. Es ist überhaupt eine ganz gefährliche Sache, auf einer solchen Hypothese eine neue Gesellschaftsordnung aufbauen zu wollen. Der Anarchismus bedeutet für die Lebenspraxis ein Messer ohne Klinge und Stiel; er darf kaum hoffen, jemals einen Sieg zu erlangen.

Auf noch eine wichtige Frage muß eine Antwort gegeben werden, nämlich: wie ließe sich der Anarchimsus am erfolgreichsten bekämpfen? Denn die anarchistische Theorie birgt eine große Gefahr für das moderne Kulturleben, indem sie die Autorität des Staates erschüttert, das Rechtsgefühl zu vernichten sucht und vollends praktisch eine Tätigkeit entfaltet, die für unsere Sicherheit ganz gefährlich wird. Es haben sich zwar Leute gefunden, die dieses Übel auf die Weise aus der Welt zu schaffen gedenken, daß sie das Strafrecht als Schutzmittel empfehlen, es wäre also die Aufgabe von speziellen Strafgesetzen die anarchistische Tätigkeit zu unterdrücken. Demgegenüber ist zu betonen, daß diese Methode durchaus unzweckmäßig ist, denn Anarchisten mit Strafgesetzen zu bedrohen erscheint verfehlt zu sein. Leute, die ihr Leben aufs Spiel setzen, sind mit Strafgesetzen nicht abszuschrecken. Und vollends töricht ist es, soziale Übel durch Strafgesetze beseitigen zu wollen. Nur ein einziges Mittel gibt es, das imstande ist, den Anarchismus erfolgreich zu bekämpfen und das ist:  die Sozialreform.  Nicht die Arbeit einzelner Anarchisten und deren Propaganda und Tätigkeit soll bekämpft werden, sondern es muß vielmehr dem Anarchismus der Boden entzogen werden, auf welchem seine Samen fruchten könnten. Das Werk der Sozialreform muß darin bestehen, die unteren Schichten des Volkes ökonomisch und geistig zu heben, damit der Massenunzufriedenheit möglichst vorgebeugt wird, damit die Volksmasse ein großes Interesse an das Bestehen des Kulturstaates bekommt. Nicht mit Worten über eine Sozialreform soll die Masse des Volkes abgespeist werden, nicht mit Versprechungen, die unter dem Eindreuck einer momentanen Extase und vermöge bestimmter politischer Ereignisse entstehen, sondern mit sozialreformatorischen Taten,  denn am Anfang war die Tat  gilt umso mehr für die Sozialreform. Dadurch muß der Anarchismus bekämpft werden. Ruhige systematische Reformarbeit, Arbeit und nicht bloß Worte, denn
    Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
    Mit Worten ein System bereiten.
Der Staat muß im Wirtschaftsleben intervenieren, es überwachen, die Übergriffe des wirtschaftlichen Individualismus korrigieren, den ökonomisch Schwachen schützen, die Klassengegensätze mildern und schlichten, denn der Staat ist nicht ein  Rechtsstaat,  sondern ein  Kulturstaat,  der für das Wohl der gesamten Bürger zu sorgen hat. Der Staat als unparteiischer Richter hat die Aufgabe solche Maßregeln zu ergreifen, die dazu geeignet sind, den Wohlstand der untersten Schichten zu heben und zu fördern. Arbeiterschutzgesetzgebung, Arbeiterversicherung, Koalitionsfreihei, Ausbau des Arbeitsvertrags, Beseitigung oder Herabsetzung der drückenden Verbrauchsabgaben auf notwendige Lebensmittel, eine Reform der Besteuerung, stärkere Betonung der sozialen Aufgaben der Gemeinden, Wohnungsreform, Arbeitsnachweis etc. - darin bestehen die Mittel der Sozialreform. Sie allein ist das Mittel, um den Anarchismus erfolgreich zu bekämpfen.

Die Sozialreform nimmt eine bestimmte Stellung gegenüber dem Sozialismus und dem wirtschaftlichen Individualismus ein. Ihr Gesichtspunkt ist etwa folgender: weder der wirtschaftliche Individualismus noch der Sozialismus haben die ganze Wahrheit, sondern jede von ihnen hat nur einen  Teil  der Wahrheit richtig erkannt. Mit anderen Worten: beide haben bis zu einer  gewissen  Grenze Recht, ein Teil in jeder dieser zwei Auffassungen ist richtig, und bei einer richtigen Auffassung und Auswahl der Prinzipien, welche in diesen Gesellschaftsauffassungen vorhanden ist, sind die beiden, der Individualismus und der Sozialismus, ebenso notwendig, wie das rechte und das linke Bein zum Gehen. Die Sozialreform ist eine Richtung der Versöhnung und des Ausgleichs. Nicht der soziale Kampf, sondern der  soziale Friede Ihr Programm und Wahlspruch lautet:
     Nicht soziale Revolution,
    sondern soziale Evolution. 


LITERATUR: Feitel Lifschitz, Was ist Anarchismus?, Bern 1911