ra-2 Wirtschaft und RechtDie ArbeiterfrageDie Zukunft der sozialen Frage    
 
EUGEN JÄGER
Der moderne Sozialismus
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"Die Bourgeoisie,  aus deren Menschenrechten das allgemeine Stimmrecht entsprungen, hat dasselbe theoretisch richtig hingestellt, verweigert dessen Anwendung aber solange als möglich, angeblich, weil die Zeit dazu noch nicht gekommen sei und die Massen noch nicht die gehörige politische  Bildung  hätten, um den richtigen Gebrauch von jener Institution zu machen. Der wahre Grund ist der, daß die Bourgeoisie, ohne sich selbst und ihr innerstes Prinzip, die Herrschaft des beweglichen Besitzes, aufzuheben, niemals dieses allgemeine Stimmrecht ehrlich wollen kann."

"Der Ertrag der Produktion läßt sich nicht beliebig vermehren, ja er wächst nicht einmal proportionell mit der aufgewendeten Arbeit, während die Menschen den Trieb nach unbegrenzter Vermehrung haben. Infolge dieser Verhältnisse erlangt der Besitzer von Arbeits- und Produktionsmitteln den Besitzlosen gegenüber die Stellung eines Monopolisten und übt auch einen wesentlichen Einfluß aus auf die Bildung des Tauschwertes, da sich dieser vom Gebrauchswert der Dinge nicht trennen läßt. Im Tauschwert steckt dann nicht bloß der Wert der in den Gegenstand hineingelegten Arbeit, sondern auch die Rente des Eigentümers. Es ist daher irrig, den Tauschwert ganz vom Gebrauchswert loszulösen und die Arbeit als einzige Quelle und Faktor des Tauschwerts zu erklären, wie es Smith mehr oder weniger getan hat."

Zweites Kapitel
Der moderne Sozialismus
auf politischem Gebiet

1. Da der Sozialismus jede persönliche Herrschaft wenigstens in der Theorie abschaffen will, so ist er entschieden republikanisch und haßt die Monarchie. Für die meisten Sozialisten sind Monarchie und Tyrannei gleichbedeutende Begriffe, während doch in Wahrheit die Tyrannei nur im Mißbrauch der Autorität besteht, sei diese eine monarchische, eine republikanisch oder eine patriarchalische. Die konstitutionelle Monarchie, mit welcher die "Bourgeoisie" so sehr zufrieden ist, so lange sie selbst dabei herrschen und ihre Interessen befriedigen kann, verwirft der Sozialismus vollständig; seine Staatsform ist einzig die Republik und zwar die des souveränen allgemeinen Stimmrechts, wobei die Beamten und öffentlichen Diener nur die blinden Vollzugsorgane der herrschenden Mehrheit sein dürfen. Zwar wurde das Wort Republik nach auf keinem sozialdemokratischen Kongreß als für die Parteimitglieder verbindlich aufgestellt, weil es sich zu sehr von selbst versteht. Die Monarchi hat für diese Leute keine naturrechtliche Bedeutung, ihre Existenz bringt für sie daher auch keine rechtliche Verpflichtung mit sich. Auch die radikale Bourgeoisie, die "Volkspartei" ist republikanisch; sie verwirft ebenfalls das konstitutionelle System mit seinen selbständigen Konflikten und Kompromissen und verlangt das allgemeine Stimmrecht mit den weitest gehenden politischen Konsequenzen. Doch besteht zwischen diesem linken Flügel der "Bourgeoisie" und den Sozialdemokraten ein prinzipieller, unversöhnlicher Zwiespalt. Einig sind beide hinsichtlich der politischen Forderungen, als da sind: die Republik mit der Souveränität des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle staatlichen und kommunalen Angelegenheiten; direkte Gesetzgebung durch das Volk, welches auch alle Ämter besetzt; Imperativmandat der Volksvertreter, so daß diese nur noch das selbstlose Sprachrohr der Mehrheiten ihrer Wähler sind; Tagegelder für die Abgeordneten; Referendum und Initiative (nach dem Muster der Schweiz); unbegrenzte Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit; Abschaffung der indirekten Steuern und Ersetzung derselben durch eine progressive Einkommensteuer; Aufhebung aller politischen Vorrechte für Geburt, Stand, Besitz und Konfession; Herstellung einer Volkswehr anstelle der stehenden Armeen, wenn möglich sogar Wahl der niederen Offiziere durch die Mannschaft; radikale Trennung von Staat und Kirche als Vorspiel einer baldmöglichen Abschaffung jeder positiven Religion, an deren Stelle nur noch Vernunft und Wissenschaft die Herrschaft zu führen haben; Trennung der Schule von der Kirche, Aufhebung des Bestimmungsrechts der Eltern über die Wahl der Schule für ihre Kinder, Herstellung der Allmacht des Staates über die Schule, so daß diese mit dem Heer die große nationale Drillanstalt für die künftige Generation bilden soll; unentgeltlicher, obligatorischer und konfessioneller Unterricht in der Volksschule zur Erlangung eines gewissen, unbedingt notwendigen Minimums von Kenntnissen für den Genuß der staatsbürgerlichen Rechte. Viele dieser Forderungen, besonders hinsichtlich der Schule, werden auch von der Bourgeoisie par excellence, dem "Liberalismus" erhoben. Die Frage nach der Organisation des künftigen demokratischen Staates wirkt trennend, sowohl im Lager der "Volkspartei", als in dem der Sozialdemokratie, insofern es sich darum handelt, ob die künftige Republick föderativ oder einheitlich zentralisiert sein soll.

Solange es sich um die Erlangung der politischen "Freiheiten", um die Niederwerfung der Schranken gegenüber einer ungehinderten Agitation und gegenüber der politischen Nivellierung handelt, gehen bürgerlich Demokratie und Sozialdemokratie einträchtig Hand in Hand. Später aber scheiden sich die Wege und endlich müssen sich die Bundesgenossen von gestern als Todfeinde gegenüber stehen. Die bürgerliche Demokratie muß entweder die Folgerungen ihrer Prinzipien auch auf das soziale Gebiet hinüber ziehen und das der vollen und radikalen Gleichheit entgegenstehende Privateigentum bekämpfen, d. h. sie muß Sozialdemokratie werden oder sie wird von der letzteren ebenfalls als "Bourgeoisie" bezeichnet und mit nicht geringerem Haß verfolgt als jener, den der Sozialismus dem "Liberalismus", der Bourgeoisie par excellence, entgegenbringt. Zur "Bourgeoisie" gehören im sozialistischen Jargon ja alle, welche die Monopolkraft des Privateigentums, das heutige Eigentumsrecht, bestehen lassen wollen, so radikal sie auch sonst sich gebärden. Bleibt die Demokratie an jener Grenze stehen, will sie nicht zur Sozialdemokratie weiter schreiten, so wird ihr diese letztere sagen, die Gleichheit und Freiheit, welche sie erstrebe, sei nur Phrase: Und in der Tat sind alle Redensarten von Gleichheit und Freiheit in demokratischem Sinne nur leere Worte, solange das Hauptbollwerk jeder Ungleichheit, das Privateigentum, bestehen bleibt. Denn für die konsequente Demokratie kann die bloße politische Freiheit nicht genügen; diese ist nur eine hohle Form, wenn nicht auch die Gleichheit der materiellen Lebensbedingungen und damit die "Freiheit" auf sozialökonomischem Gebiet besteht, zu welchem Zweck das Kollektiveigentum hergestellt werden soll. Was hilft dem Besitzlosen die bloße politische Freiheit, wenn er nicht auch in sozialer Beziehung frei und dem Besitzenden gleich ist? Alsdann erwacht, sobald er einmal von der Autorität abgefallen, notwendnig in ihm das Bestreben, die politische Freiheit nur als Mittel zur Erlangung seiner sozialen Befreiung zu benutzen. Dies zeigen ganz klar die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dort besteht die weitestgehende politische Freiheit und sie wird im vollsten Umfang geübt; dennoch erschallt auch dor der Ruf nach "Emanzipation der Arbeit und des Proletariats". Eine ähnliche Erscheinung läßt sich in einigen Kantonen der Schweiz beobachten, wo die Bestrebungen der radikalen Bourgeoisie mehr oder weniger gesiegt haben; trotzdem sind jene Kantone die wichtigsten Herde für die sozialistische Agitation und die dort herrschende Form der Republik gilt in den Augen der Sozialdemokraten nur als eine "Bourgeoisie"-Republick, die zu vernichten sei.

Getragen von dem Bewußtsein, daß der Gegensatz zwischen Besitz und Nichtbesitz durch die bloße politische Freiheit niemals gehoben werden kann, löst sich allmählich die Sozialdemokratie von der bürgerlichen Demokratie los und erklärt die politischen Freiheiten nur als Abschlagszahlung, sowie als Übergang zur Errichtung des sozialistischen Staates. Der letzte Umstand unterscheidet die Sozialdemokratie von allen übrigen Parteien. Diese wollen sämtlich entweder die eigene Herrschaft oder doch wenigstens die Herrschaft ihrer Grundsätze im Staat, wollen also diesen Staat auf seinen gegenwärtigen natürlichen Fundamenten bestehen lassen; auch der Sozialismus will die Herrschaft im Staat haben; er will aber noch mehr, er will die Herrschaft  über  den Staat in der ausdrücklichen Absicht, die sozialen Grundlagen desselben umzuwälzen.

2. Der moderne Sozialismus legt, wie die radikale Demokratie überhaupt, das Wahlrecht sowei die übrigen politischen und sozialen Rechte nur in die menschliche Persönlichkeit als solche. Es ist dies eine Reaktion sowohl gegen den Feudalstaat, als gegen die "Bourgeoisie", welche besonders in Frankreich den Staat für sich ausgebeutet hat und auch in anderen Ländern allmählich das tonangebende, den Staat für seine Interessen bestimmende Element geworden ist. Auf der anderen Seite liegt in der erwähnten Anschauung des Sozialismus offenbar eine Übertreibung des ansich berechtigten demokratischen Prinzips von der Gleichheit aller Menschen, die auf der Gleichheit der abstrakten menschlichen Natur fußt.

Der Götze des modernen Sozialismus ist das souveräne allgemeine Stimmrecht und der darauf rufende Staat. Was ist aber dieser Staat des absoluten allgemeinen Stimmrechts anders als die organisierte Sklaverei der Minderheit, die despotische Herrschaft der Mehrheit, ja in der Regel nicht einmal der Mehrheit, sondern irgendeiner Volksführer? Es läuft bei derartigen Abstimmungen auch meist eine große Selbsttäuschung mit unter. Denn wenn nicht alle Berechtigten zur Urne gehen, so kann die Volksstimme nicht einmal formell vollkommen zum Ausdruck kommen. Nun sind aber die Wahlenthaltugen meist sehr zahlreich und in der Regel sind es die konservativen Elemente im Volk, die sich von den Agitationen und Wahlen fern halten. Eine Minderheit stimmt ab, ersetzt, was ihr an Zahl abgeht, durch Lärm und gebärdet sich als das "Volk" und preist die eigenen Beschlüsse als die "Volksstimme".

Die Herrschaft des absoluten allgemeinen Stimmrechts bedeutet ferner die Vernichtung jeder feststehenden Rechtsnorm, jeder höher begründeten Sittlichkeit, überhaupt die Beseitigung jener ewigen Grundsätze, auf denen allein Freiheit und Zivilisation gedeihen können. "Die Bourgeoisie", aus deren Menschenrechten das allgemeine Stimmrecht entsprungen, hat dasselbe theoretisch richtig hingestellt, verweigert dessen Anwendung aber solange als möglich, angeblich, weil die Zeit dazu noch nicht gekommen sei und die Massen noch nicht die gehörige politische "Bildung" hätten, um den richtigen Gebrauch von jener Institution zu machen. Der wahre Grund ist der, daß die Bourgeoisie, ohne sich selbst und ihr innerstes Prinzip, die Herrschaft des beweglichen Besitzes, aufzuheben, niemals dieses allgemeine Stimmrecht ehrlich wollen kann. Der moderne Sozialismus aber, der jede Ungleichheit radikal abschaffen will, muß jenes Stimmrecht zu seinem politischen Prinzip machen; es ist für ihn nicht bloß, wie man bei einem flüchtigen Blick auf  >LASSALLE, vielleicht meinen könnte, das politische Mittel zum sozialen Ziel, sondern es soll auch nach Erreichung dieses sozialen Zwecks das Lebensprinzip jeder öffentlichen Tätigkeit der neu gegründeten Gesellschaft sein.

Der moderne Sozialismus glaubt im allgemeinen Stimmrecht die einzige Bürgschaft gegen alle Klassenherrschaft, gegen jede Tyrannei zu haben; das Volk, d. h. die in der Produktivgenossenschaft organisierten Bürger geben durch Mehrheitsbeschluß die Gesetze; gewählte, jederzeit verantwortliche und absetbare Exekutivbehörden haben für die Ausführung derselben zu sorgen; selbst die Richter sollen nach einem Beschluß des Kongresses zu Lausanne durch das allgemeine Stimmrecht gewählt werden. Dieser Wahlmodus - so argumentiert man - bringe die unverfälschte Volksmeinung zum Ausdruck und könne ferner auf die Dauer nicht irren er trage sein Korrektiv in sich selbst, er sei, wie LASSALLE sagt, die Lanze, welche die Wunden wieder heilt, die sie geschlagen; zuletzt werde, glaubt man, das Volk doch hinsichtlich der Personen und Sachen das Richtige wählen. Dies möchte man wohl der Fall sein bei einem materiell, intellektuell und moralisch gesunden Volk, niemals aber bei einem solchen, das von sozialistischen Ideen durchtränkt ist und dem Materialismus huldigt. Das das allgemeine Stimmrecht unaufhörlich sich selbst täuschen kann, wenn es von geschickten Agitatoren, die nicht aussterben werden, dirigiert wird, liegt auf der Hand. Niemals wird die Menge jene Ruhe und politische Bildung haben, die nötig sind, um sich vom Einfluß gewissenloser Schreier, Intriganten und Diktatoren frei zu machen. Am allerwenigsten aber würde dies in einem kommunistisch-materialistischen Staatswesen der Fall sein. Sie Sozialisten begehen - und darin liegt einer ihrer Hauptfehler - den großen Irrtum, daß sie die Menschen nicht nehmen, wie sie sind. Das allgemeine Stimmrecht in seiner unbeschränkten Anwendung wird stets die Waffe sein, womit die eine Partei die andere überstimmt, beherrscht und ausbeutet - auch im sozialistischen Staat.

Noch in anderer Beziehung ruht die sozialistische Lehre von der beglückenden Kraft des allgemeinen Stimmrechts auf einer unrichtigen Voraussetzung. Es gibt Dinge, über welche selbst der größten Mehrheit und der höchst stehenden Persönlichkeit keine Gewalt zusteht; dazu gehören die naturrechtlichen Grundlagen der Gesellschaft, also auch das Privateigentum, ferner die großen Grundsätze des Rechts und der Moral. Unrecht und Unsittlichkeit werden dadurch niemals zu Recht und Sitte, daß eine Mehrheit von Menschen und selbst alle Menschen zusammen sie dazu erklären; sie sind Prinzipien und Kategorien höherer Ordnung. Es heißt die Grundbegriffe der menschlichen Gesellschaft geradezu auf den Kopf stellen, wenn man dies vergißt, wie der Sozialismus es tut. Dieser handelt dabei freilich nur nach dem Vorbild so vieler Mitglieder der "Bourgeoisie", wenn er annimmt, daß die Volksvertretung Recht, Gesetz und sogar das öffentliche Gewissen in ihrer Brust trage und mit schrankenlosem Absolutismus darüber verfügen könne. Auch der "moderne Staat" huldigt dieser Anschauung und darf sich verwundern, wenn der Sozialismus, der ja die Mehrheit des Volkes, das Interesse der Besitzlosen zu repräsentieren glaubt, dasselbe absolutistische Prinzip nun auf Privateigentum und Monarchie anwendet. So werden dem Staat seine Fundamente unter den Füßen weggezogen und den Regierungen möchten vielleicht noch zu spät die Augen aufgehen.

Die Anschauung, daß der Staat - sei es der des allgemeinen Stimmrechts oder nicht - Recht und Gesetz schrankenlos schaffen könne, ohne sich dabei um höhere, unverjährbare Prinzipien zu kümmern, vernichtet alles Recht, alle Ordnung und Stabilität. An die Stelle der ewigen Grundlagen der Zivilisation treten die Willkür und der Absolutismus einer wechselnden Mehrheit oder das Belieben und der Despotismus irgendeine Regierungs-Kollegiums oder eines Monarchen. Eine gedeihlich Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist ohne feste, über die willkürliche Anerkennung erhabene Grundlagen nicht möglich. Dieser staatliche Absolutismus, diese Omnipotenz der regierenden Gewalten oder des allgemeinen Stimmrechts ist eine Einrichtung von höchst revolutionärem Charakter. Der Absolutismus hat daher noch immer die Revolution erzeugt. Dadurch, daß man alle festen Schranken mit Füßen tritt und ihrer Autorität beraubt, wird das Volk schließlich regierungsunfähig und der Cäsarismus zuletzt das einzige Auskunftsmittel; dieser aber muß früher oder später durch die Revolution gestürzt werden. Wenn gar das allgemeine Stimmrecht sich absoluten Herrn aufwirft, wenn also die Massen Revolutionäre aus Prinzip werden, dann müssen die Regierungen (Fürsten oder Parteien) ebenfalls absolutistisch, ja selbst tyrannisch werden, nur damit wenigstens die Ordnung bestehe, damit die Gesellschaft dem prinzipiellen Umsturz gegenüber erhalten werde.

Ein Staat, der dem allgemeinen Stimmrecht die souveräne Gewalt einräumt, wird niemals ein Staat der Freiheit sein. Es ist eine leere Phrase, zu sagen, daß ein solches Volk sich selbst regiere. Kein Despotismus ist drückender, als jener der Majorität, besonders wenn er wie hier sich eine Herrschaft in Dingen anmaßt, die über Mehrheitsbeschlüsse erhaben sind. Der sozialistische Staat ist daher der wahre Zwangsstaat; der Einzelne ist Sklave der Mehrheit; seine Fähigkeiten, sein Leben gehören nur dem Staate und jene Zeiten des Altertums kehren wieder, in welchen der Mensch nur etwas galt, als Mitglied des Staates. Die Gesellschaft wird nichts, der Staat alles. Ein solcher omnipotenter Staat ist der Moloch, dem alles und jedes geopfert wird. Wenn man aber diesen Staat näher betrachtet, so ist er in Wahrheit nichts anderes und wird niemals etwas anderes sein können, als die herrschende Partei und deren sehr menschliche Privatinteressen. In einer Republik, besonders zu jener des allgemeinen Stimmrechts, gehören Republikaner und diese gedeihen auf dem Boden des modernen Sozialismus und Materialismus am allerwenigsten.


Drittes Kapitel
Der moderne Sozialismus
auf sozialökonomischem Gebiet

1. Hiermit betreten wir das Hauptgebiet der sozialistischen Tätigkeit, den Mittelpunkt der Bestrebungen, um welche sich alles weitere, teils als Mittel zum Zweck, teils aus Folgerung gruppiert. In der ganzen Gesellschaft ruht alles auf sozialökonomischem Boden und das politische Leben ist daher nur ein von jenem abgeleitetes. Die sozialen Ziele sind die Triebfedern für das politische Verhalten; es sind überall die sozialökonomischen, die Standesinteressen, die in der Politik zum Ausdruck kokmen und sie beherrschen. Ganz dasselbe gilt daher auch für den Sozialismus.

Das soziale Ziel des Sozialismus faßt sich darin zusammen, daß die bloße politische Freiheit eine leere Form sei ohne die soziale und daß diese soziale Freiheit nur zu erreichen sei durch die "Emanzipation" der Arbeit vom Druck des Kapitals. In Wirklichkeit kommt das auf die Vernichtung des Privateigentums hinaus, denn es ist tatsächlich unmöglich, die kapitalistische Produktionsweise und das notwendig zu ihr gehörige Lohnsystem in anderer Weise zu beseitigen. Man spricht von der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit und meint das Eigentumsrecht, kraft dessen der Eigentümer durch Anwendung fremder Arbeit eine Rente ziehen kann. Infolge der Beschränktheit der Produktionsmittel und der Unbeschränktheit der Vermehrung der Menschen hat das Eigentum eine Monopolkraft über die Besitzlosen und dies zeigt sich ganz besonders bei der modernen, auf dem Großbetrieb ruhenden Produktionsweise. Das Kapital, das hierbei eine so große Rolle spielt, ist nur eine Erscheinungsform des Privateigentums. Sobald einmal die Besitzlosen von dieser Institution abzufallen beginnen, fängt die Bildung des Proletariats als des vierten Standes an und die Interessen dieses neuen Standes diktieren ihm sein soziales und politisches Programm. Dann wird das Kollektiveigentum, der Kommunismus verlangt, damit alle Klassenunterschiede sich in dem einzigen Stand der "Bürger" verschmelzen und so die Gleichheit und Freiheit in der Brüderlichkeit und Solidarität hergestellt werde. Da die Klassenunterschiede vorwiegend auf ökonomischen Unterschieden beruhen, so können sie ohne Aufhebung dieser letzteren nicht beseitigt werden. Von allen Privilegien besteht im "modernen" Staat nur das des Eigentums noch fort; daher will der Sozialismus das Werk vollenden, daß die Bourgeoisie in der berühmten Nacht vom 4. August 1789 begann, aber zu ihren Gunsten und zu Ungunsten der Besitzlosen unvollendet ließ, die Vernichtung aller  Privilegien.  Die Bourgeoisei - so sagt der moderne Sozialismus - habe sich damals vom Druck der beiden älteren Stände emanzipiert, vom monarchischen Adel und der Geistlichkeit, indem sie die politische Gleichheit und darauf fußend, das Recht der Mehrheit proklamierte, aber sie habe diese Errungenschaften wieder gefälscht durch Einführung des Zensus, der sich auf die ökonomische Ungleichheit gründet und diese sanktioniert; die neue, die letzte Revolution solle nun die wahre Freiheit und Gleichheit herstellen. Solang dies nicht der Fall ist, sieht der Sozialismus als Frucht der ersten französischen Revolution bloß einen Wechsel der herrschenden Klasse; die wahre Freiheit fehle, solange die ökonomische Ungleichheit und damit die "Ausbeutung" bestehen; daher könne erst mit der sozialistischen Revolution der wahre, der größte Kulturfortschritt kommen; denn die auf dem Regime des Privateigentums erwachsene Bildung sei Unbildung, die moderne Kultur Unkultur, weil humanitätswidrig; erst der Sozialismus erstickt seiner Ansicht nach jede Knechtschaft dadurch, daß er die Quelle der sozialen Ungleichheit, das Privateigentum, vernichten will. Der gesamte moderne Sozialismus fußt auf dem Wort, das MARX in seiner Inauguraladresse gesagt: "daß die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in all ihren Formen zugrunde liegt, dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit." Aus diesem Grund erklärt sich der Sozialismus für den wahren Kulturfaktor, weil er das Licht der Kultur auf die gesamte Menschheit ausdehnen, auch die besitzlosen Klassen in das Leben und in die Gesellschaft einführen wollen, während die "Bourgeoisie" durch das Privateigentum die Kultur zu einem Monopol weniger Bevorrechtigter mache.

Der sozialistische Arbeiter, der von falschen Anschauungen durchdrungen ist, begnügt sich daher nicht mit einer bloßen Aufbesserung seiner Lage; dadurch unterscheidet er sich ganz wesentlich vom nicht sozialistischen Arbeiter. Jener will die radikale Umwälzung, damit er selbst Herr über die Produktionsmittel werde. Zu diesem Zweck ist ihm die bloße politische Freiheit ungenügend. Er kämpft nicht gegen eine bestimmte Staatsform, gegen die Monarchie um der Republik, er befehdet auch diese, wenn die "Bourgeoisie" dort herrscht. Bisher hat sich der Arbeiter durch die "Bourgeoisie" und den "Liberalismus" für die verschiedensten Staatsformen begeistern lassen und die Kämpfe der "liberalen" Partei um die Herrschaft ausgefochten; dem zum sozialistischen Bewußtsein gekommenen Arbeiter aber sind die verschiedenen Staatsverfassungen der "Bourgeoisie" bloß noch leere Trugbilder; er hat von den Barrikadekämpfen bisher nichts mitgebracht, als "eine andere Form, elend zu sein" und wird die Waffen nur noch für die eigene Sache ergreifen.

Um den gegenwärtigen Zuständen abzuhelfen, soll der Staat der Zukunft sämtliche Produktionsmittel, Grund und Boden, Verkehrswege und Arbeitswerkzeuge "nationalisieren" und durch die Gesamtheit für die Gesamtheit verwalten. Dieser Tendenz entspringt das Feldgeschrei: "A bas l'exploitation de l'homme par l'homme!" Nieder mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen! Demselben Gedanken entspringen auch die Schlagwörter von der "Emanzipation der Arbeit", von der "Herstellung des vollen Arbeitsvertrages" usw. all das läßt sich nur verwirklichen durch Aufhebung des Lohnsystems, d. h. durch Vernichtung des Privateigentums und seiner monopolistischen, eine Rente erzeugenden Kraft. Die Produktionsmittel sollen, wie der Basler Kongress sich ausdrückte "rentrer á la communieauté" [Zurück zur Kommune! - wp] Diese Bezeichnung ist ganz im Sinne ROUSSEAUs, dem überhaupt der moderne Sozialismus vieles entliehen hat. ROUSSEAU, der mit großem Unrecht als Philosoph betrachtet wird, setzte einen ehemaligen Naturzustand des Kommunismus voraus und meinte: retournons á la nature! [Zurück zur Natur! - wp] Ist dann dieser Naturzustand, diese Herrschaft des Naturrechts wieder hergestellt, dann beginnt die Leitung der Produktion, die "Organisation der Arbeit" durch den Staat. Hinsichtlich der Verteilung des Produktionsvertrages ist man freilich noch nicht über die sozialistische Phrase hinausgekommen. An dieser Klippe müßte der Sozialismus, wenn er sich je einmal praktisch betätigen könnte, unbedingt scheitern. Man vergegenwärtig sich die SAINT-SIMONistische Phrase, daß jeder nach seiner Fähigkeit, jede Fähigkeit nach ihren Werken am Produktionsertrag Teil nehmen solle, so wird man sogleich ersehen, daß die Verwirklichung dieser abstrakten Formel zu den Unmöglichkeiten gehört.

2. Die prinzipielle Grundlage des modernen Sozialismus, die naturrechtliche Leugnung des Privateigentums, haben die gegenwärtigen Sozialisten bereits in der Wiege der modernen Nationalökonomie gefunden. ADAM SMITH, der Vater der wissenschaftlichen Volkswirtschaft, ignoriert in seiner Werttheorie ebenfals die monopolistische Kraft des Eigentums; er hebt ganz wie MARX, wenn auch stillschweigend, die substantielle Verbindung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auf, indem er erklärt, daß die Arbeit der wahre Maßstab des Tauschwertes aller Güter sei. (1) Bei SMITH ist dieser Satz noch mit Unklarheit behaftet und es finden sich auch Widersprüche daselbst. Es ist ferner schwierig zu sagen, ob SMITH in Wahrheit die Ansicht habe aufstellen wollen, daß die Arbeit überhaupt die Quelle und der einzige Faktor der Werte sei oder ob er bloß habe sagen wollen, daß der Besitzlose dem Besitzenden die Güter durch seine Arbeit abkaufen müsse und daß nur in einer solchen Beziehung die Arbeit der Maßstab für den Tauschwert der Güter bilde. Immerhin werden SMITHs Äußerungen ganz allgemein so aufgefaßt, als habe er damit sagen wollen, die Arbeit sei nicht bloß der Maßstab, sondern auch die Quelle aller Tauschwerte. In dieser Weise aber ist die Theorie irrig, denn es wird dadurch der Einfluß des Privateigentums auf den Tauschwert gänzlich eliminiert und so der Zusammenhang zwischen Gebrauchs- und Tauschwert aufgehoben. Nun ist aber doch der Gebrauchswert eines Gegenstandes ein konstituierendes Element bei der Bildung des Tauschwertes. Die meisten Lebens- und Genußmittel, alle welche der Erde entstammen, sind nur in beschränkter Anzahl vorhanden, da der Umfang der Produktionsmittel selbst, aus denen sie durch die Arbeit erzeugt werden, sehr begrenzt ist. Der Ertrag der Produktion läßt sich nicht beliebig vermehren, ja er wächst nicht einmal proportionell mit der aufgewendeten Arbeit, während die Menschen den Trieb nach unbegrenzter Vermehrung haben. Infolge dieser Verhältnisse erlangt der Besitzer von Arbeits- und Produktionsmitteln den Besitzlosen gegenüber die Stellung eines Monopolisten und übt auch einen wesentlichen Einfluß aus auf die Bildung des Tauschwertes, da sich dieser vom Gebrauchswert der Dinge nicht trennen läßt. Im Tauschwert steckt dann nicht bloß der Wert der in den Gegenstand hineingelegten Arbeit, sondern auch die Rente des Eigentümers. Es ist daher irrig, den Tauschwert ganz vom Gebrauchswert loszulösen und die Arbeit als einzige Quelle und Faktor des Tauschwerts zu erklären, wie es SMITH mehr oder weniger getan hat. Da SMITHs Werk lange Zeit als ein Evangelium galt und die Grundlage der wissenschaftlichen Nationalökonomie bildet, so halten wir uns für berechtigt, ihn für den Vater und die auf ihm fußende Volkswirtschaft für die Wiege des modernen, wissenschaftlichen Sozialismus zu erklären.

RICARDO hat auf den SMITHschen Ausführungen weiter gebaut und dieselben systematisch entwickelt; jetzt liegt der Wert einer Sache ausschließlich in der vom Produzenten geleisteten Arbeit. LASSALLE sagt hierüber (BASTIAN-SCHULZE, Seite 122): "Der alte ADAM SMITHsche Satz, daß die Arbeit die Quelle und der Faktor aller Werte sei, der bei SMITH noch oft mit Schwankung und Widerspruch behaftet auftritt, von RICARDO dann aber zu einem konsequenten und streng durchgeführten System entwickelt war ..." Auch die meisten übrigen Nationalökonomen haben jenen SMITHschen Satz blind hingenommen und derselbe wird sogar vielfach als die bedeutendste wissenschaftliche Leistung SMITHs gepriesen. So kam es, daß der Nationalökonomie die hohe soziale Bedeutung des Privateigentums fast ganz verloren ging und man die zentrale Stellung desselben für die Produktion und besonders für die Verteilung der Güter nur wenig gewürdigt hat. Ja das Bewußtsein davon kam derart abhanden, daß CAREY sein dreibändiges Werk "Die Grundlagen der Sozialwissenschaft" schreiben konnte, ohne des Eigentums mehr als nur vorübergehend zu erwähnen! Es ist dies eine Folge der bürgerlichen Ökonomie, welche die Bedeutung der Arbeit, so hoch dieselbe auch zu stellen ist, doch übertrieben und dadurch dem Sozialismus eine wissenschaftliche Grundlage geschaffen hat. Die Arbeit ist ohne Zweifel einer der wichtigsten Pfeiler der Kultur, der Zivilisation und der Moral; auch liegt in dem Satz, daß die Arbeit allein die Werte schaffe, etwas Humanitäres. Dagegen wirkt dieses Prinzip, isoliert hingestellt, auflösend, weil eine dauernde Sozialordnung doch nur mit dem Regime des Privateigentums möglich ist. Während die Arbeit in der Gesellschaft das Element der fortschreitenden Kultur und der sittlichen Kraft repräsentiert, bildet das Eigentum das eben so notwendige Element der Stabilität.

Aus der Weiterentwicklung der SMITH-RICARDOschen Werttheorie folgt die Unterscheidung zwischen Arbeitsquantum und Arbeitslohn. Der Arbeiter liefert eine bestimmte Quantität Arbeit, erhält aber nicht die volle, dadurch vollbrachte Wertvermehrung bezahlt, sondern wird vom Eigentümer des verarbeiteten Materials abgelohnt. LASSALLE hat in diesen Unterschied zwischen Arbeitsquantum und Arbeitslohn die ganz soziale Frage konzentriert. MARX hat das Verhältnis mehr wissenschaftlich, wenn auch in der abstoßenden HEGELschen Weise dargelegt. In ihm fand die antisoziale Werttheorie von SMITH, RICARDO und deren Nachfolgern schließlich ihren schärfsten Ausdruck und ihre sozialistische Nutzanwendung. Während die bürgerliche Volkswirtschaft die hohe Bedeutung des Privateigentums für die Wertbildung theoretisch beiseite setzte, praktisch aber doch beibehielt, hat der Sozialismus den Mut, offen die Konsequenzen zu ziehen; er ist über das Wollen und Nichtkönnen hinaus und darin liegt immerhin ein ungeheurer Fortschritt, denn jetzt erst kann die so notwendige Umkehr der Wissenschaft erfolgen. LASSALLE sah scharf, daß die bürgerliche Ökonomie mit ihrer Entwicklung der SMITHschen Theorie von der Bedeutung der Arbeit am Ende angekommen sei, wo sie umschlagen und Sozialökonomie werden müsse. In richtiger Konsequenz der SMITH-RICARDOschen Theorie verstand er darunter, daß die Arbeit nun in ihr volles Recht eingesetz und der "volle Arbeitsertrag für den Arbeiter" gewährt würde. In solchem Sinne meinte er (BASTIAN-SCHULZE, Seite 147), die Sozialökonomie sei sowohl ein Kampf gegen RICARDO, als ebensosehr eine immanente Fortbildung seiner Lehre.

Wie schon bemerkt, ist diese Umwandlung und Weiterbildung der bürgerlichen Ökonomie in die Sozialökonomie durch MARX erfolgt. Er hat mit logischer Schärfe das weiter entwickelt, was SMITH aussprach, aber nicht ausdachte; er hat vor allem die von SMITH nur tatsächlich festgehaltene prinzipielle Scheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auch theoretisch und apodiktisch [bewiesenermaßen - wp] ausgesprochen. Ferner hat MARX die SMITHsche Werttheorie mit Recht dahin näher präzisiert, daß er nicht von der Arbeit schlechthin spricht, sondern die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit zur Substanz des Tauschwerts, das gesellschaftliche (durchschnittliche) Arbeitsquantum zum Maßstab des Tauschwerts machte.

Unsere bisherigen Ausführungen über die sozialistische Natur der Werttheorie SMITHs und der ihm nachfolgenden bürgerlichen Ökonomie finden ihre Bestätigung durch den "Neuen Sozialdemokrat", welche im Sommer 1871 schrieb:
    "Wenn alle Wertgegenstände das Erzeugnis, der Ertrag der Arbeit sind, sind sie da nicht  naturrechtlich  auch das Eigentum derer, welche sie erzeugt haben? Ist aller Reichtum daher nicht das naturrechtliche Eigentum der Arbeiter, welche ihn mit Hand und Kopf geschaffen haben? Und ist daher, der Teil, welcher als Kapitalgewinn vom Arbeitsertrag durch die Kapitalmacht vorgenommen wird, nicht vom Standpunkt des natürlichen Rehts aus eine Beraubung der Arbeiterklasse?  Das heutige Recht steht also mit dem Naturrecht im schärsten Widerspruch ...  Es ergibt sich hieraus, daß es die hohe, sittliche Aufgabe der Arbeiterklasse ist, diese mit dem natürlichen Recht in Widerspruch stehende Gesellschaft zu bekämpfen und eine Gesellschaftsform herbeizuführen, in welcher der Ertrag der Arbeit ihr selbst zufällt und kein ehernes Lohngesetz Massenelend erzeugt."
In Nr. 3 des Jahrgangs 1872 sagt dasselbe Blatt, von ADAM SMITH und RICARDO an hätten alle bedeutenderen Sozialökonomen anerkannt, daß der Tauschwert der produzierten Wertgegenstände sich lediglich durch die auf ihre Herstellung verwendete gesellschaftliche Arbeitsmenge bemesse; dann heißt es weiter:
    Also ist der Tauschwert der gesamten hervorgebrachten Waren der  Ertrag der Arbeit  der gesamten geistig und körperlich tätigen Volksmenge und das vorhandene Kapital hat selbst keinen Wert geschaffen. Es ist daher auch  naturrechtlich  lediglich das  werktätige Volk,  welches Anspruch auf diesen Gewinn der nationalen Produktion hat, nicht das tote Kapital. Gleichwohl bekommt in der heutigen Gesellschaft das arbeitende Volk durch die Wirkung des von der Wissenschaft anerkannten ehernen Lohngesetzes, weil die Arbeitskraft eine Ware ist, deren Tauschwert sich nach ihren Herstellungskosten bemißt, als Lohn nur einen Teil der erzeugten Güter, während die Kapitalmacht das übrige als Kapitalgewinn für sich behält. Es sind also nur zwei Möglichkeiten da, entweder die heutigen Zustände bleiben und die Arbeit wird nach ihren Herstellungskosten bezahlt oder die sozialistische Gesellschaft sichert der Arbeit den vollen Ertrag."
So haben also SMITH und die meisten Volkswirte, sowie auf ihnen fußend die sozialistischen Nationalökonomen das Privateigentum jedes Einflusses auf die Bildung der Tauschwert entkleidet. Ist aber einmal die Arbeit allein Quelle und Maßstab des Tauschwertes, hat das Eigentum an demselben kein Recht mehr, so sind konsequenterweise die Kräfte der Natur jedermann unentgeltlich zur Verfügung gestellt; das Eigentum hört auf, ein wertbildender Faktor zu sein. Die Anschauung, daß die Stoffe und Kräfte der Natur allen Menschen unentgeltlich gehören, liegt schon den Entwicklungen von MARX zugrunde; auch LASSALLE huldigt derselben (BASTIAN-SCHULZE, Seite 206). Von dieser Anschauung ist aber nur noch ein Schritt zum Satz von PROUDHON, das Eigentum sei Diebstahl. (2) Gemäß der vorhergegangenen Entwicklung muß dieser Satz für die Sozialisten mit Notwendigkeit hinsichtlich des in der modernen Produktion werbend angelegten Eigentums, noch mehr aber hinsichtlich der Früchte dieses Eigentums gelten. Der Sozialsmus handelt nur konsequent nach der von der bürgerlichen Ökonomie überkommenen Theorie, wenn er die Verwerflichkeit des Kapitalgewinnes beweist, denn in letzter Instanz kommt dieser Gewinn immer auf eine Rent aus dem Besitz von Produktioinsmitteln hinaus, auf ein Einkommen, welches der Eigentümer kraft des Eigentumsrechtes, aber ohne eigene Arbeit hat und auf welches daher der Arbeiter ein natürliches Recht zu besitzen glaubt. So erklärt sich die Übersetzung, welche LASSALLE vom oben erwähnten PROUDHONschen gab, indem er sprach: "Das Eigentum ist Fremdtum geworden!"

Welch herrlicher Stoff ist es auch für den sozialistischen Agitator, wenn er sich auf die Wissenschaft von SMITH und RICARDO bis herab zu MARX und LASSALLE berufen und seinen Zuhörern sagen kann: "Die Arbeit allein schafft Werte; diese stolzen Paläste, ihr habt sie gebaut; diese Fülle von Genüssen, ihr habt sie erarbeitet mit dem Schweiße eures Angesichts, mit den Schwielen eurer Hände; euch gehören sie daher von rechtswegen kraft des unveräußerlichen Naturrechts; aber unter der Herrschaft der gegenwärtigen sozialen Organisation versagen euch die besitzenden Klassen den vollen Ertrag eurer Arbeit, sie eignen sich euer eigenstes Eigentum an und ihr bleibt immer was ihr wart, elende, darbende Proletarier! Stürzt daher diese Organisation, die Ursache eurer Ausbeutung, vernichtet die jetzige Produktionsweise, denn wenn sie auch formell noch so sehr zu Recht besteht, so ist sie doch ein täglich sich erneuerndes, schweres materielle Unrecht gegen euch, gegen die Männer der Arbeit!"

3. Aus der Anschauung, daß bloß die Arbeit Werte schaffe, daß die Stoffe und Kräfte der Natur allen gehören, folgt auch die Theorie vom  Normalarbeitstag,  der eine bestimmte Grenze angeben soll für die Dauer der Arbeitszeit. Die Forderung nach einem Normalarbeitstag ist gegenwärtig noch nicht klar und scharf im sozialistischen Sinn gestellt; sie ist noch verquickt mit den Ansprüchen der Humanität gegenüber der oft vom herzlosesten Egoismus und schmachvoller Brutalität eingegebenen übermäßigen Ausdehnung der Arbeitszeit. Allmählich aber tritt in dieser Forderung auch die sozialistische Anschauungsweise hervor. Diese entspringt der von MARX aufgestellten Unterscheidung zwischen notwendiger und tatsächlicher Arbeitszeit. Der Sozialismus verwirft prinzipiell die moderne, auf dem Privateigentum ruhende Produktionsweise; er setzt die Gemeinsamkeit der Produktionsmittel und die gemeinsame Bearbeitung derselben als naturrechtlich zu erstreben voraus; er hat daher von seinem Standpunkt aus ganz Recht, wenn er eine "notwendige Arbeitszeit" annimmt, innerhalb welcher bei einer kommunistisch organisierten Produktion die Lebensmittel und Bedürfnisse für sämtliche Angehörige eines nationalen Verbandes erarbeitet, sowie alle Ansprüche der Kultur an die Produktion befriedigt werden können. Da durch die Erhöhung der Kultur, durch das Weiterschreiten der Wissenschaft, durch Maschinen und Arbeitsteilung der gesamte Produktionsertrag sich immer rascher und mit stets abnehmenden Aufwand an Zeit und Mühe erreichen läßt, so sinkt diese "notwendige Arbeitszeit" mit jedem dieser Fortschritte herab und in demselben Maß wird auch der Normalarbeitstag im sozialistischen Staat geringer. So erklärt es sich, wenn der "Volksstaat" (1872, Nr. 42) schreibt:
    In England (Siehe verschiede Briefe im  Beehive,  Organ der englischen Gewerkschaften) wird schon der  zweistündige Normalarbeitstag  für die Zukunft befürwortet. Der Normalarbeitstag, das heißt  die zur Vollbringung der notwendigen Gesellschaftsarbeit notwendige Arbeitszeit des Individuums,  muß mit der steigenden Produktivität der Arbeit (durch verbesserte Maschinen, wissenschaftlicheren Betrieb, größere Konzentrierung der Produktion usw.) beständig abnehmen. Schon 1827 rechnete ROBERT OWEN aus, daß 5 Millionen englische Arbeiter mit Hilfe der Maschinen die Arbeit von 400 Millionen Handarbeitern verrichteten, daß also durch die Maschinen die Produktivität der Arbeit um das Achtzigfache gesteigerte worden! Die heutige Gesellschaft läßt dem Arbeiter die Vorteile der erhöhten Produktivität der Arbeit nicht zugute kommen. In einer geordneten, auf Gerechtigkeit gegründeten Gesellschaft wird die notwendige Gesellschaftsarbeit und deren Ertrag gleichmäßig verteilt sein und wird der Normalarbeitstag sein:  die der Zeit nach abgemessene notwendige Gesellschaftsarbeit, dividiert durch die Zahl der Arbeitsfähigen.  Ist das Ergebnis 12 Stunden täglich, so sind 12 Stunden der Normalarbeitstag, ist es 8 Stunden, so haben wir den achtstündigen und ist es 2 Stunden, so haben wir den zweistündigen Normalarbeitstag. Man sieht hieraus, daß von einem absoluten Normalarbeitstag. Man sieht hieraus, daß von einem absoluten Normalarbeitstag nicht die Rede sein kann. Da aber der echte menschliche "Fortschritt" darin besteht, die Natur mehr und mehr dem Menschen dienstbar zu machen, oder, was dasselbe ist, die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, so muß mit der voranschreitenden menschlichen Entwicklung der Normalarbeitstag immer kürzer werden. Schon jetzt läßt sich die Kultur eines Volks nach der herrschenden Durchschnittsarbeitszeit berechnen. Je länger sie ist, desto niedriger die Bildungsstufe, je kürzer, desto höher."
4. Wenn man die Sozialisten hört, so wollen sie nicht das Eigentum abschaffen, sondern bloß das gegenwärtige Eigentum, soweit dieses einen kapitalistischen Charakter hat, d. h. ohne die eigene Arbeit seines Besitzers demselben Früchte bringt; anstelle dieser Art Eigentum soll das wahre Eigentum treten, das nur der Arbeit des Eigentümers selbst entspringt. Es ist dies eine konsequente Anwendung des Grundsatzes, daß bloß die Arbeit Werte erzeugt, daß somit das Eigentum sich naturrechtlich nur auf die Arbeit stützen kann. Auch in dieser Beziehung hat die bürgerliche Ökonomie durch ihre ganz verkehrte Auffassung der Dinge das Feld geebnet. Anstatt das Eigentum nach allen Richtungen hin festzuhalten (daher auch die moralischen Verpflichtungen der Besitzenden zu betonen), hat man die Ansicht akzeptiert, daß aller Wert von der Arbeit ausgehe und hat den Kapitalgewinn als Arbeitslohn zu rechtfertigen gesucht. Man hat sich damit schon auf den Boden des modernen Sozialismus gestellt und den rechtlichen Bestand des gegenwärtigen Privateigentums aufgegeben. Ähnlich war es, als man das Kapital als ersparte und aufgehäufte Arbeit definierte und dabei als selbstverständlich voraussetzte, daß Anhäufer und Arbeiter dieselbe Person seien, eine Voraussetzung, die eben sehr häufig nicht eintrifft.

Daß der moderne Sozialismus dem gegenwärtig bestehenden Eigentum ein auf eigener Arbeit des Besitzers beruhendes entgegenstellt, ersehen wir als MARX. Auf Seite 744 seines "Kapital" setzt er das "kapitalistische Privateigentum" und das "individuelle, auf eigene Arbeit gegründete Privateigentum" in einen Gegensatz. Dieses letztere soll hergestellt werden "auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera, der Kooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigentum an der Erde und den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln."

Positiv spricht sich LASSALLE (BASTIAN-SCHULZE, Seite 210) aus, indem er sagt: "Was der Sozialismus will, ist nicht das Eigentum aufheben, sondern im Gegenteil individuelles Eigentum, auf die Arbeit gegründetes Eigentum erst einführen." Der "Volksstaat" (1871, Nr. 103) drückt denselben Gedanken aus, indem er sagt:
    "Der Sozialismus und folglich auch die Internationale, will nicht das Kapital zerstören, sondern bloß den heutigen Kapitalismus, der das Kapital zum Monopol einer Klasse und zum Mittel der Unterdrückung des Proletariats macht; der Sozialismus will nicht das Eigentum vernichten, sondern im Gegenteil, indem er jedem den vollen Ertrag seiner Arbeit sichert, jedem Arbeiter - und wer nicht arbeiten will, gegen den hat die Gesellschaft natürlich keine Pflichten, als die der Erziehung zum nützlichen Staatsbürger - sein Eigentum gewährleisten, dessen er heute durch die kapitalistischen "Teiler" beraubt wird. Was endlich das Erbrecht angeht, nun, so gestaltet sich in der sozialistisch organisierten Gesellschaft der ganze Streit um die Erbschaftsfrage zu einem Streit um des Kaisers Bart. Diese Frage hat überhaupt nur ein Interesse für den, welcher auf dem Boden der heutigen Gesellschaft steht und sich einen Zustand nicht denken kann, welcher die ökonomische Ungleichheit organisch ausschließt und die möglichst vollkommene Entwicklung des Individuums zum Zweck hat."
Wenn man die im Vorstehenden dargelegte sozialistische Theorie vom Eigentum auf den Besitz der primären Rohstoffe, des Grundes und Bodens, anwendet, so kommt das einer förmlichen Expropriation [Enteignung - wp] gleich. Erzeugt nur die Arbeit Wert und Eigentum, dann bleibt dem Eigentümer bloß noch der rohe, unbearbeitete Stoff; jede durch Arbeit an demselben hervorgebrachte Wertvermehrung gehört nicht dem Eigentümer, sondern dem Arbeiter. Die Rente, die gegenwärtig der bloßen Tatsache des Besitzes entspringt, wird dadurch aufgehoben und der bisherige Eigentümer erntet nur dann die Früchte seines Besitztums, wenn er es selbst bearbeitet. Die Bedeutung des Eigentums wird auf diese Weise grundsätzlich vernichtet; von hier bis zur tatsächlichen Proklamierung des Kollektiveigentums ist nur  ein  Schritt.

Auf der Grundlage des Gemeinbesitzes beginnt dann die neue Verteilung des Produktionsertrages. Jeder Arbeiter soll dem neuen Eigentumsbegriff entsprechend, die durch seine Arbeit hervorgebrachte Wertvermehrung zu eigen erhalten. Die Verteilung wird von Gesellschafts wegen geregelt. Hier stehen sich nun zwei Prinzipien gegenüber. Das eigentlich sozialistische belohnt jeden gemäß seiner Leistung, das kommunistische gemäß seiner Anstrengung. Entsprechend der vom gesamten modernen Sozialismus angenommenen Theorie über das naturrechtliche Eigentum gehört die Wertvermehrung naturrechtlich dem Arbeiter; es müßte daher jeder gemäß seiner Leistung belohnt werden. Und doch wäre diese Verteilung des Produktionsertrages, obwohl sie gemäß der Theorien des modernen Sozialismus über Wert und Eigentum nur der natürlichen Gerechtigkeit zu entsprechen scheint, in Wahrheit das schreiendste Unrecht. Denn es würden dabei diejenigen am besten wegkommen, welche auf sehr fruchtbarem Boden, in besonders ergiebigen Bergwerken usw. beschäftigt wären; sie würden mit leichter Mühe Werte produzieren, zu denen die meisten anderen längerer Zeit und weit größere Anstrengung bedürften. Die Benachteiligung wäre umso schwerer, als die Produktionsmittel selbst allen gehörten. Es dürfte also nur die gesellschaftliche, d. h. die durchschnittliche Arbeitszeit, mithin auch nur die ihr entsprechende gesellschaftliche (durchschnittliche) Wertvermehrung maßgebend sein und somit wäre die Verteilung des Produktivertrage glücklich beim Kommunismus angekommen. So verlangt der Sozialismus einerseits im Namen der natürlichen Gerechtigkeit für den Arbeiter den vollen Arbeitsertrag, andererseits kann er im Namen derselben Gerechtigkeit dieses Verlangen gar nicht durchführen, weil eben niemals die gleiche Arbeit auch gleichen Ertrag bringt, da die, von der Natur gegebenen Produktionsmittel selbst ins Unendliche individualisiert sind. Dieses unlösbare Dilemma entspringt dem Gemeineigentum der Produktionsmittel, die man, um das Reich der Gleichheit zu gründen, auch vorerst gleich machen müßte, so daß Grund und Boden, Bergwerke usw. sämtlich von gleicher Produktivität wären. Hält man am Kollektiveigentum fest, so muß man, um gerecht zu sein, auch zu einer kommunistischen Verteilung des Produktionsertrages greifen. Damit ist aber der Untergang von Freiheit, Kultur und Fortschritt gegeben, der kommunistische Staat wird niemals etwas anderes als ein gewaltsam zusammengehaltener Staat von Sklaven sein können. Die auf Privateigentum beruhende Organisation der Produktion und die hieran sich schließende Verteilung des Produktionsertrages ist eben doch trotz aller Mängel die relativ beste, weil die einzig mögliche und haltbare.
LITERATUR: Eugen Jäger, Der moderne Sozialismus, Berlin 1873
    Anmerkungen
    1) ADAM SMITH, Untersuchungen über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums, Frankfurt und Leipzig 1796, I. Band, I. Buch, V. Kapitel, Seite 48, 50, 54, 60.
    2) Der Grundsatz "La propriété, c'est le vol" soll nicht von PROUDHON zuerst aufgestellt worden sein, sondern von BRISSOT herrühren, der bereits vor der ersten französischen Revolution eine Schrift unter diesem Titel schrieb.