ra-2 Johannes FallatiF. A. LangeWilhelm OstwaldHermann Schwarz    
 
JULIUS FRAUENSTÄDT
Der Materialismus
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"Unter Materie verstehen wir das in allem Wechsel und Wandel der Formen Beharrliche, die Substanz der Dinge,  das,  woraus alles geworden ist und worin es sich wieder auflöst. Das aber,  woraus  alles geworden ist, kann doch nicht  selbst  geworden sein. Folglich widerspricht es dem Begriff der Materie,  geschaffen  zu sein. Diejenigen, welche die Schöpfung der Materie annehmen, müssen entweder die Vernunft aufgeben - was freilich allen, die auf Selbstdenken verzichten und ihre ganze Erkenntnis von außen her, vom überlieferten Dogma beziehen, sehr leicht wird - oder sie müssen einen anderen Begriff der Materie statuieren, als den angebenen, der allein Geltung hat, sie müssen den Sprachgebrauch, der unter Materie die ewige Mutter (mater) aller Dinge versteht, umstürzen und einen neuen einführen."

I. Die Wahrheit des Materialismus

Fassen wir zunächst die  formellen  Vorzüge des Materialismus ins Auge, so ist sein Fußen auf Empirie, sein Begründen der Begriffe, Urteile und Schlüsse durch das Gegebene, Tatsächliche, Anschauliche anzuerkennen. Dadurch hat der Materialismus dazu mitgewirkt, das unwissenschaftliche Treiben spekulativer, ins Bodenlose sich verlierender Systeme, apriorischer Weltkonstruktionen und transzendenter Hypothesen in Mißkredit zu bringen und der wahren wissenschaftlichen Methode, welche vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Anschaulichen zum Begrifflichen, vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, den Weg zu bahnen. Wir sagen nur, der Materialismus habe dazu  mitgewirkt;  denn sich allein dann er das Verdienst, die Philosophie aus dem Leeren, in dem sie sich tummelte und ihre Luftschlösser baute, wieder auf festen Boden zurückgebracht, überhaupt die Menschheit von  Schwärmerei  befreit und zum  gesunden Verstand  zurückgeführt zu haben, nincht zuschreiben; denn außer den Materialisten hat es auch Philosophen gegeben, welche die materialistische Weltanschauung nicht teilten und dennoch darauf drangen, das Gegebene, Anschaulich, Erfahrungsmäßige zum Ausgangspunkt und Fundament der Erkenntnis zu machen. KANT vor allen war es, der durch Sätze wie diese, daß die Vernunft "vergeblich ihre Flügel anspanne, um über die Sinnenwelt durch die bloße Macht der Spekulation hinauszukommen", daß sich aus bloßen Begriffen "keine Realität herausklaben" lasse, daß ein Mensch "wohl ebenso wenig aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden möchte, als ein Kaufmann an Vermögen, wenn er, um seinen Zustand zu verbessern, seinem Klassenbestand einige Nullen anhängen wollte" (1), epochemachend wirkte und einen völligen Umschwung in die Philosophie brachte. Wenn nach KANT durch die FICHTEsche, SCHELLINGsche und HEGELsche Methode des Philosophierens wieder eine alle Erfahrung überfliegende Schwärmerei aufkam, so haben derselben die an KANT sich anschließenden und in seiner Richtung fortfahrenden Denker, namentlich HERBART und SCHOPENHAUER kräftigst entgegengewirkt. (2) Der Materialismus der heutigen materialistischen Naturforscher darf sich also nicht allein das Verdienst, die Philosophie vom Himmel auf die Erde, vom Wunder zur Natur zurückgebracht zu haben, zuschreiben, sondern er teilt dieses Verdienst mit den kritischen, von KANTs Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens ausgegangenen Systemen. Der Materialismus hat nur mächtig dazu beigetragen, die Erfahrung, als das alleinige Fundament haltbarer Erkenntnisse, wieder in ihre Rechte einzusetzen und dieses Verdienst soll ihm nicht geschmälert werden, obgleich, wie später gezeigt werden wird, das, was die Erfahrung zu leisten vermag, vom Materialismus überschätzt wird.

Mit dem Ausgehen von der Erfahrung, vom Gegebenen, Tatsächlichen hängt es zusammen, daß der Materialismus wieder eine klare, verständliche Sprache spricht, die jeder Gebildete verstehen kann, während die vom Absoluten, Unendlichen, vom reinen Sein usw. ausgehenden, aus hohlen Worten und Phrasen gedrechselten Systeme spekulativer Philosophen, namentliche SCHELLINGs und HEGELs, wie ansich sinnleer, so auch für das Publikum unverständlich sind. Auf den Jargon dieser Philosophen paßt das von SCHOPENHAUER darauf angewendete arabische Sprichwort: "Das Klappern der Mühle höre ich wohl, aber das Mehl sehe ich nicht." Denken und Sprechen hängen so eng und innig zusammen, daß man wohl getrost sagen darf: Wer das Denken aufklärt, der macht eben dadurch auch die Sprache klar und durchsichtig, (3) sowie man auch umgekehrt von dem, der sich unklar und verworren ausdrückt, wohl nicht mit Unrecht schließt, daß es auch in seinem Kopf nicht recht klar ist. Es wäre nur eine elende Ausflucht, die Klarheit von der Oberflächlichkeit herzuleiten und dagegen Unklarheit als ein Zeichen der Tiefe zu betrachten. Es gibt allerdings sehr klar geschriebene Bücher, die sehr oberflächlich sind und wir sind keineswegs gemeint, dem Materialismus mit der Klarheit zugleich Tiefe zuzuschreiben. Es gibt aber auch sehr klar geschriebene Bücher, die sehr tief sind und wir können daher die Tiefe nicht als notwendig mit Unklarheit gepaart betrachten. (4) Die Klarheit ist eine Folge der  Anschaulichkeit.  Begriffe und Urteile, die auf Gegebenem, Tatsächlichem, Konkretem, Anschaulichen ruhen und sich in letzter Instanz darauf zurückführen, oder, wie man zu sagen pflegt, damit "belegen" lassen, sind klar, weil man weiß, was man bei ihnen zu denken hat; dahingegen solche Begriffe und Urteile, die auf nichts Anschaulichem ruhen, sich durch nichts Konkretes belegen lassen, notwendig unklar sind, weil man nicht weiß, worauf sie sich beziehen, welches ihr eigentlicher Gegenstand ist. "Da die Begriffe ihren Stoff von der anschauenden Erkenntnis entlehnen und daher das ganze Gebäude unserer Gedankenwelt auf der Welt der Anschauungen ruht, so müssen wir von jedem Begriff, wenn auch durch Mittelstufen, zurückgehen können auf die Anschauungen, aus denen er unmittelbar selbst oder aus denen die Begriffe, deren Abstraktion er wieder ist, abgezogen worden; d. h. wir müssen ihn mit Anschauungen, die zu den Abstraktionen im Verhältnis des Beispiels stehen, belegen können. Diese Anschauungen also liefern den realen Gehalt allen Denkens, und überall, wo sie fehlen, haben wir nicht Begriffe, sondern bloße Worte im Kopf gehabt. In dieser Hinsicht gleicht unser Intellekt einer Zettelbank, die, wenn sie solide sein soll, Konstanten in Kassa haben muß, um erforderlichenfalls alle ihr ausgestellten Noten einläsen zu können: die Anschauungen sind die Konstanten, die Begriffe die Zettel." (5) "Die abstrakten Erkenntnise erhalten ihren Wert allein durch die  anschauliche  Erkenntnisse des Individuums, auf die sie sich beziehen und die zuletzt die sämtlichen Begriffe realisieren muß. Ist nun diese sehr dürftig, so ist ein solcher Kopf beschaffen wie eine Bank, deren Assignaten den baren Fonds zehnfach übersteigen, wodurch sie zuletzt bankrott wird." (6) "Philosophische Systems, die sich innerhalb sehr allemeiner Begriffe halten, ohne auf das Reale herabzukommen, sind beinahe bloßer Wortkram; denn da alle Abstraktion im bloßen Wegdenken besteht, so behält man, je weiter man sie fortsetzt, desto weniger übrig. Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese, die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen, so kann ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast nichts mehr dabei denken, weil ich eben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hülsen operieren soll, welches eine Empfindung gibt, der ähnlich, wie beim Versuch sehr leichte Körper zu werfen entsteht; die Kraft nämlich und auch die Anstrengung ist da, aber es fehlt am Objekt sie aufzunehmen, um das andere Moment der Bewegung herzustellen. Wer das erfahren will, lese die Schriften der SCHELLINGianer und noch besser der HEGELianer." (7)

Wenn die modernen Materialisten, ein VOGT, MOLESCHOTT, BÜCHNER u. a. klarer sind, als die SCHELLINGianer und HEGELianer, so ist das eine Folge ihrer größeren Anschaulichkeit, ihres nicht mit leeren Hülsen, sondern mit reellen, stofflichen Dingen Operierens.

Ein dritter, mit den beiden vorhergenannten zusammenhängender Vorzug der Materialisten ist der  Mut der Wahrheit,  das unerschrockene, um traditionelle Ansichten sich nicht bekümmernde, vor keinen Konsequenzen zurückbebende Aussprechen des gewonnenen Resultats. Diesen Mut kann eben nur das Bewußtsein, die Begriffe nicht selbst  gemacht,  sondern sie aus der vorliegenden, jedem zugänglichen, anschaulichen Welt geschöpft zu haben und sie überall durch Tatsachen belegen zu können, geben. Was können wir dafür, sagen die Materialisten, daß die Welt so ist wie sie ist, daß die Natur nichts nach unseren Wünschen und Hoffnung fragt, daß sie unbekümmert um unsere Einbildungen ihren Gang geht. "Es muß uns", sagt BÜCHNER, "in letzter Linie erlaubt sein, von allen Moral- oder Nützlichkeitsfragen vollkommen abzusehen. Der einzige und oberste bestimmende Gesichtspunkt unserer Untersuchungen liegt in der  Wahrheit.  Die Natur ist nicht um der Religion, um der Moral, um der Menschen, sondern um ihrer selbst willen da. Was können wir anderes tun, als sie nehmen wie sie ist? Würden wir uns nicht einem gerechten Spott aussetzen, wollten wir wie eine kleine Kinder Tränen darüber vergießen, daß unsere Butterbemme [Butterbrot - wp] nicht dick genug gestrichen ist?" (8) "Sollte es in der Tat nicht möglich sein, den gebildeten Teil der Gesellschaft seinen Vorurteilen zu entreißen, ohne damit der Gesellschaft im Ganzen einen Schaden zuzufügen, so könnte die Wissenschaft und empirische Philosophie doch nicht anders als sagen, daß die  Wahrheit  über allen göttlichen und menschlichen Dingen steht und daß keine Gründe stark genug sein können, um sie veräußern zu lassen." (9) Eine solche Gesinnung ist ehrenwert. Einen solchen Mut gibt aber auch nur das Bewußtsein, auf der  Tatsache,  auf dem Empirischen zu fußen.

Für wen die Tatsachen sprechen, der darf es getrost mit allen noch so alten und ehrwürdigen, von noch so vielen Millionen geglaubten Überlieferungen aufnehmen. Er wird, ob zwar anfangs in der Minorität stehend, ja für seine Person Gefahr laufend, von der gläubigen Menge gesteinigt oder gekreuzigt zu werden, doch zuletzt die Majorität für sich haben und mit seiner Sache siegreich durchdringen. Das ist eben die  force des choses  [Sachzwänge - wp], die sich nicht bloß auf dem politischen, sondern auch auf dem wissenschaftlichen Gebiet unwiderstehlich geltend macht. Eine einzige Tatsache vermag die Systeme ganzer Jahrhunderte über den Haufen zu werfen und ganze Bibliotheken in Makulatur verwandeln. Gegen die Tatsachen hilft kein Sträuben und kein Protestieren. Die Tatsachen bekümmern sich nicht um das Winseln deren, denen die überlieferten Irrtümer und Vorurteile zur süßen Gewohnheit ihres Denkens oder vielmehr ihrer Gedankenlosigkeit geworden sind. Sie sind unerbittlich wie die Natur und geben denen, die sie anerkennen, den frischen Mut der Natur. "Die Wahrheit", sagt BÜCHNER mit Recht, "birgt einen inneren Reiz der Anziehung in sich, neben dem alle anderen Rücksichten leicht verschwinden. Daher wird es ihr nie an begeisterten Anhängern und rücksichtslosen Verfolgern fehlen. Keine äußere Schwierigkeit kann ihr auf die Dauer einen ernstlichen Damm entgegensetzen; sie erstarkt im Gegenteil unter der Wucht der Widerwärtigkeiten. Die ganze Geschichte des menschlichen Geschlechts ist trotz der maßlosen Summe von Torheiten, welche in ihr auftreten und sozusagen einander die Hände reichen, doch ein fortlaufender Beweis für diese Behauptung. Noch unter den Foltern der Inquisition rief GALILEI sein berühmtes und seitdem tausendmal mit Begeisterung wiederholtes  E pur si muove!  [Und sie bewegt sich doch. - wp] (10)

Die am Alten, Überlieferten, an eingewurzelten Irrtümern und Vorurteilen, trotz aller durch Erfahrung gewonnenen besseren Erkenntnis, hartnäckig Festhaltenden, die theologischen Kasten und philosophischen Zünfte haben zwar auch Mut - denn es gehört wahrlich Mut dazu, der Wahrheit zum Trotz an aufgedeckten, durch die Tatsachen widerlegten Irrtümern festzuhalten -; aber dieser Mut ist nicht mehr der Mut der  Wahrheit,  sondern der Mut der  Unverschämtheit,  der Mut des pharisäischen Egoismus und Tartuffianismus. BÖRNE sagt witzig: "Seitdem der Entdecker des Pythagoräischen Lehrsatzes aus Freude über seine Entdeckung eine Hekatombe [100 Rinder - wp] geopfert hat, seitdem  zittert  jeder Ochse, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird." Das Zittern, die Angst, den gewohnten Gedankenbesitz und eben damit die gewohnte Reputation zu verlieren, ist es eben, was den verzweifelten Mut, der Wahrheit zu trotzen, einflößt. Die Ochsen lassen sich nicht so leicht und gutwillig zur Schlachtbank führen, sie stoßen und brüllen vorher noch gewaltig. Diesen Mut hat man also nicht mit dem Wahrheitsmut der mit den Tatsachen im Bunde stehenden Wissenschaft zu verwechseln. Beide Arten des Mutes haben in unserer Zeit ihre Repräsentanten aufzuweisen und beide sind in der Tat für dieselbe höchst charakteristisch. Man kann sie kurz als den Mut der  Wahrheit  und den Mut der  Lüge  einander gegenüberstellen. Je mächtiger die Wahrheit wird, desto unverschämter muß ihr gegenüber natülich auch die Lüge werden. Die Wahrheit muß sich kreuzigen lassen, ehe sie siegreich auferstehen kann.

Die bisher genannten drei charakteristischen Eigenschaften des Materialismus:
    1) sein methodisch richtiges Verfahren, vom Besonderen, Konkreten ausgehend zum Allgemeinen, Abstrakten aufzusteigen;

    2) seine aus der Anschaulichkeit folgende Klarheit und Allgemeinverständlichkeit

    3) seinen aus dem Bewußtsein, die Tatsachen für sich zu haben, entspringenden, kühn allen Vorurteilen den Krieg erklärenden Wahrheitsmut -
diese drei respektablen Eigenschaften kann man als die  formellen  Vorzuüge und Verdienste des Materialismus betrachten. Außer diesen formellen hat er aber auch  materielle,  d. h. den Inhalt, die Sache selbst betreffende Vorzüge und Verdienste, zu deren näherer Angabe wir nun im Folgenden übergehen.

Zunächst zeichnet sich die materialistische Weltanschauung durch ihre  Einheit  und  Konsequenz  aus. Sie führt alle Dinge auf  einen  Urgrund, auf  ein  Prinzip zurück und befriedigt durch diesen Monismus ein wesentliches Bedürfnis der Vernunft, während alle dualistischen Systeme - sei der Gegensatz, den sie an die Spitze stellen, beschaffen wie er wolle, heiße er  Geist  und  Materie  oder Natur und Geist - unbefriedigt lassen und immer wieder unwiderstehlich dazu antreiben, ein einheitliches Prinzip, aus welchem sich der Gegensatz erklären läßt, aufzusuchen. Bei zwei mit gleicher Geltung und gleicher Ursprünglichkeit einander gegenüberstehenden Weltprinzipien kann sich die Vernunft einmal nicht begnügen, sie kann weder religiöse einen ORMUZD und AHRIMAN, einen Gott und Teufel, noch philosophisch Materie und Geist oder denkende und ausgedehnte Substanz an der Spitze dulden, ohne entweder das eine der beiden entgegengesetzten Prinzipien aus dem andern oder beide aus einem höheren dritten, das beide in sich vereinigt, abzuleiten. Daher sind auch in der Geschichte der Religion und Philosophie auf dualistische Systeme immer wieder monistische gefolgt (11) oder die dualistischen Systeme machten selbst schon den Versuch, ihren an die Spitze gestellten Gegensatz in eine höhere Einheit aufzulösen. (12)

Der Materialismus ist  Monismus,  denn er erklärt alles aus dem kraftbegabten Stoff. Stoff und Kraft sind ihm nicht zwei dualistische einander gegenüberstehende, voneinander unabhängige Prinzipien, wie bei CARTESIUS die materielle und immaterielle Substanz (Denken und Ausdehnung), die eines Vermittlers bedurften, um zusammenzukommen und aufeinander einzuwirken; sondern dem Stoff sind seine eigentümlichen Kräfte als unzertrennliche Eigenschaften von Ewigkeit her innewohnend und somit entspringen alle Dinge nur aus  einem  ursprünglichen Prinzip, aus dem kraftbegabten Stoff oder kürzer aus  Stoffwirkungen.  Was gegen sich gegen diese Erklärung einwenden lasse, das werden wir später sehen. Hier sollte nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß die materialistische Weltanschauung eine monistische ist und daß sie dadurch den Vorzug aller monistischen Systeme teilt, das Interesse der Vernunft, welches wesentlich auf Einheit gerichtet ist, zu befriedigen.

Der erste und größte Gegensatz, den der Materialismus auflöst, ist der Gegensatz von  Gott  und  Welt,  ein Gegensatz, in dessen Auflösung er nicht nur die  Tatsachen,  sondern auch die  Vernunft  für sich hat. In dem alten, echten Sinn genommen, den jener Gegensatz hat, wonach unter Gott ein extramundanes [überirdisches - wp] Wesen mit Verstand und Willen und unter der Welt das All der von ihm aus Nichts geschaffenen Dinge verstanden wird (13), bietet derselbe der Vernunft unüberwindliche Schwierigkeiten und Widersprüche dar, an denen er notwendig scheitern muß.  Aus Nichts wird Nichts; die Materie,  d. h. der Stoff, woraus alles geworden ist,  muß ewig und unerschaffen sein  - das sind Sätze, auf die sich der Materialismus getrost stützen darf, ohne befürchten zu müssen, daß diese Stützen je einbrechen werden; denn es ist der Vernunft  unmöglich,  eine aus Nichts geschaffene Materie zu denken und einen Gott, Schöpfer, der die Welt aus Nichts gemacht hat, annehmen, hieße daher nichts Geringeres als  die Vernunft aufgeben.  Es ist der Vernunft unmöglich, Materie  entstanden  zu denken, weil es der Vernunft unmöglich ist, widersprechende Begriffe miteinander zu verbinden. Unter Materie verstehen wir das in allem Wechsel und Wandel der Formen Beharrliche, die Substanz der Dinge,  das,  woraus alles geworden ist und worin es sich wieder auflöst. Das aber,  woraus  alles geworden ist, kann doch nicht  selbst  geworden sein. Folglich widerspricht es dem Begriff der Materie,  geschaffen  zu sein. Diejenigen, welche die Schöpfung der Materie annehmen, müssen entweder die Vernunft aufgeben - was freilich allen, die auf Selbstdenken verzichten und ihre ganze Erkenntnis von außen her, vom überlieferten Dogma beziehen, sehr leicht wird - oder sie müssen einen anderen Begriff der Materie statuieren, als den angebenen, der allein Geltung hat, sie müssen den Sprachgebrauch, der unter Materie die ewige Mutter (mater) aller Dinge versteht, umstürzen und einen neuen einführen.

Nicht minder als auf die Sätze:  Aus Nichts wird Nichts; die Materie aller Dinge muß ewig und unerschaffen sein,  stützt sich der Materialismus bei seiner Bekämpfung des Schöpfungsbegriffs mit Recht darauf, daß "die Anwendung des endlichen Zeitbegriffs auf die Schöpferkraft eine Ungereimtheit enthält". (14) Was hat denn die ewige Schöpferkraft Gottes - so fragt der Materialismus mit Recht -  vor  der Schöpfung getan? Ist sie müßig gegangen oder hat sie geschlafen? Oder ist etwa die Schöpferkraft Gottes keine ewige, sondern ist selbst erst zu einer bestimmten Zeit entstanden? (15) Ferner, wie verträgt es sich mit der göttlichen  Allmacht,  daß die Erde erst nach ungeheuren Anstrengungen, in langen Zeiträumen, durch viele Übergangsstufen, es endlich zum Menschen, dem angeblichen Zweck der Schöpfung, gebracht hat?`Wie verträgt sich diese langsame und schwierige  Vermittlung  mit der  unmittelbar wirkenden  Schöpfermacht? "Welche Sonderbarkeit, ja Abenteuerlichkeit der Vorstellung liegt darin, von einer schaffenden Kraft zu reden, welche die Erde und ihre Bewohner durch einzelne Übergangsstufen und ungeheure Zeiträume hindurch zu stets entwickelteren Formen geführt habe, um sie am Ende zu einem passenden Wohnplatz für das zuletzt auftretende Glied der Schöpfung, für das höchst organisierte Tier, für den  Menschen  werden zu lassen? Kann eine willkürliche und mit der vollkommensten Macht ausgerüstete Kraft solcher Anstrengungen bedürfen, um ihren Zweck zu erreichen? Kann sie nicht unmittelbar und ohne Zögern tun und schaffen, was ihr gut und nützlich scheint? Warum bedarf sie der Umwege und Sonderbarkeiten?" (16) Mit Recht weist der Materialismus darauf hin, daß die geologischen Ergebnisse, das Gesetz der notwendigen Abhängigkeit, welche die organischen Wesen in Entstehung und Form von den äußeren Zuständen der Erdrinde zeigen, die allmähliche Hervorbildung höherer organischer Formen aus niederen, Schritt haltend mit den Entwicklungsstufen der Erde, der Umstand namentlich, daß die Entstehung organischer Wesen nicht ein momentaner, sondern ein durch alle geologischen Perioden hindurch fortdauernder Prozeß war, daß jede geologische Periode durch ihre besonderen Geschöpfe charakterisiert wird; daß alle diese auf Tatsachen beruhenden Ergebnisse durchaus unvereinbar sind mit dem Gedanken an eine persönliche und mit Machtvollkommenheit ausgerüstete Schöpferkraft, welche sich unmöglich zu einer derartigen langsamen, allmählichen und mühsamen Schöpfungsarbeit bequemen und sich in dieser Arbeit von den natürlichen Entwicklungsphasen der Erde abhängig machen konnte. (17) Mit Recht betrachtet der Materialismus die Wissenschaft von den Entwicklungsverhältnisse der Erde als den "gewaltigsten Sieg" über den theologischen Schöpfungsglauben. (18)

Nicht minder als die  Geologie  ist die  Astronomie  dem Gedanken einer persönlichen Schöpferkraft, die das Weltganze angeordnet hat, feindlich. Abgesehen davon, daß sich die Bildung, gegenseitige Stellung und Bewegung der Himmelskörper ganz natürlich aus den innnewohnenden Kräften der Materie und ihren Gesetzen erklären läßt, (19) man also keinen Schöpfer zu ihrer Erklärung zu Hilfe zu nehmen braucht, so streitet auch hier wieder die natürliche Beschaffenheit der Welt mit der Annahme eines Schöpfers. "Wenn es", sagt der Materialismus mit Recht, "einer persönlichen Schöpferkraft darauf ankam, Welten und Wohnungen für Tiere und Menschen zu schaffen, warum aber dann jener ungeheure, wüste, leere, nutzlose Weltraum, in welchem nur hie und da einzelne Sonnen und Erden als fast verschwindende Pünktchen schwimmen? Warum sind dann die anderen Planeten unseres Sonnensystems nicht so eingerichtet, daß sie ebenfalls von Menschen bewohnt werden können? Warum ist der Mond ohne Wasser und Atmosphäre und darum jeder organischen Entwicklung feindlich? Wozu endlich die Unregelmäßigkeiten und ungeheuren Verschiedenheiten in der Größe und Entfernung der einzelnen Planeten unseres Sonnensystems? Warum fehlt hier jede Ordnung, jede Symmetrie, jede Schönheit?" (20) Ferner weist der Materialismus auf die Unvereinbarkeit des Übels in der Welt mit dem Schöpfungsbegriff hin. "Wozu", fragt er mit Recht, "das Heer der Krankheiten, der physischen Übel überhaupt? Warum diese Masse von Grausamkeiten, von Entsetzlichkeiten, wie sie die Natur täglich und stündlich an ihren Geschöpfen ausübt? Konnte es ein nach Zweckbegriffen der Gütigkeit und des Wohlwollens handelndes Wesen sein, welches der Katze, der Spinne ihre Grausamkeit verlieh und den Menschen selbst, die sogenannte Krone der Schöpfung, mit einer Natur begabte, welche aller Greuel und Wildheiten fähig ist?" (21)

Kurz in allem, was der Materialismus gegen die Theologie vorbringt, ist er siegreich. Mit dem Schöpfungsbegriff zerstört der Materialismus zugleich den Begriff des  Wunders  und damit das Reich des Aberglaubens, welches sich bekanntlich nur vom Wunder nährt. Das erste und größte Wunder war die Schöpfung aus Nichts. Mit diesem ersten und allgemeinsten Wunder müssen aher auch alle besonderen, im Einzelnen eine unmittelbare Schöpfung aus Nichts repräsentierenden Wunder fallen. Schöpfungs- und Wunderbegriff stehen und fallen miteinander. Mußten wir daher  das  billigen, was der Materialismus gegen die Schöpfung aus dem Nichts sagt, so müssen wir auch in  das  einstimmen, was er gegen das Wunder vorbringt; denn wer nicht  A  sagt, kann auch nicht  B  sagen; wer den supranaturalistischen Anfang leugnet, muß auch die supranaturalistische Fortsetzung leugnen; so möchten wir den FEUERBACHschen Spruch: "Wer  A  sagt, muß auch  B  sagen; ein supranaturalistischer Anfang erfordert notwendig eine supranaturalistische Fortsetzung" negativ ausdrücken. "Wie wäre es", sagt der Materialismus mit Recht, "möglich, daß die unabänderliche Ordnung, in der sich die Dinge bewegen, jemals gestört würde, ohne einen unheilbaren Riß durch die Welt zu machen, ohne uns und das All einer trostlosen Willkür zu überliefern, ohne jede Wissenschaft als kindischen Quark, jedes irdische Bemühen als vergebliche Arbeit erscheinen zu lassen?" (22) "Und kann es endlich als eine  Gottes  würdigere Ansicht angesehen werden, wenn man sich in demselben eine Kraft vorstellt, welche hier und da der Welt in ihrem Gang einen Stoß versetzt, eine Schraube zurechtrückt usw., ähnlich einem Uhrenreparateur? Die Welt sol von Gott  vollkommen  erschaffen sein, wie könnte sie einer Reparatur bedürfen?" (23) (Wir wissen freilich, daß die Theologie die von Gott vollkommen erschaffene Welt hinterher durch den Sündenfall der ersten Menschen korrumpiert werden läßt; aber damit verwickelt sie sich nur in Widersprüche, da dem  Alles  machenden Schöpfer gegenüber von Freiheit und Selbstbestimmung der Kreatur nicht die Rede sein kann.) Der Materialismus hat unbestreitbar Recht, wenn er auf die Unzerreißbarkeit der natürlichen Kausalkette hinweist. Wenigstens ist  Wissenschaft  nur unter dieser Voraussetzung möglich, daß innerhalb der Natur auch alles  natürlich  zugeht, daß jede eintretende Veränderung ihre Ursache in einer früheren, diese wieder in einer früheren hat und so in infinitum. Jeder wechselnde Zustand der Materie ist bedingt durch einen früheren, dieser wieder durch einen früheren und so in infinitum. Ein erster Anfang oder eine Lücke ist hier nirgends. SCHOPENHAUER sagt treffend: "Das Gesetz der Kausalität ist nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt. Vielmehr gleicht es dem von GOETHEs Zauberlehrling belebten Besen, der, einmal in Aktivität gesetzt, gar nicht wieder aufhört zu laufen und zu schöpfen, sodaß nur der alte Hexenmeister selbst ihn zur Ruhe zu bringen vermag." (24)

Aus der Natur hinauszugehen, um für die Veränderung eines natürlichen Zustandes ihre entsprechende Ursache jenseits zu finden, dazu sind wir nicht befugt; denn das Gesetz der Kausalität ist nur von  immanentem,  nicht von  transzendentem  Gebrauch. "Das Gesetz der Kausalität steht in ausschließlicher Beziehung auf  Veränderungen  und hat es stets nur mit diesen zu tun. Jede Wirkung ist bei ihrem Eintritt eine  Veränderung  und gibt, eben weil sie nicht schon früher eingetreten ist, unfehlbare Anweisung auf eine andere, ihr vorhergegangene  Veränderung,  welche, in Beziehung auf sie,  Ursache,  in Beziehung auf eine dritte, ihr selbst wieder notwendig vorhergegangene  Veränderung  aber  Wirkung  heißt. Das ist die Kette der Kausalität; sie ist notwendig anfangslos. Demnach also muß jeder eintretende Zustand aus einer ihm vorhergegangenen Veränderung erfolgt sein, z. B. die Entzündung eines Körpers, aus welchem die Temperaturerhöhung erfolgen mußte; dieses Hinzutreten der Wärme ist wieder durch eine vorhergehende Veränderung, z. B. das Auffallen der Sonnenstrahlen auf einen Brennspiegel, bedingt; dieses etwa durch das Wegziehen einer Wolke von der Richtung der Sonne; dieses durch Wind; dieser durch ungleiche Dichtigkeit der Luft; diese durch andere Zustände und so in infinitum." (25) "Bei der Kausalität handelt es sich offenbar nur um Formveränderungen der unentstandenen und unzerstörbaren Materie und ein eigentliches Entstehen, ein Insdaseintreten des vorher gar nicht Gewesenen ist eine Unmöglichkeit." (26) "Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist dieser:  Jede Veränderung hat ihre Ursache in einer anderen, ihr vorhergängigen.  Wenn etwas  geschieht,  d. h. ein neuer Zustand eintritt, d. h. etwas sich  verändert,  so muß gleich sich gleich vorher etwas anderes  verändert  haben, vor diesem wieder etwas anderes und so aufwärts ins Unendliche; denn eine erste Ursache ist so unmöglich zu denken, wie ein Anfang der Zeit oder eine Grenze des Raums." (27)

Diese hier kurz angeführten Sätzes SCHOPENHAUERs vernichten mit einem Schlag den theistischen  Schöpfungs-  wie den  Wunderbegriff  und unterstützen den Materialismus in seinem Kampf gegen beide. Auch der Materialismus beruft sich auf die Unverbrüchlichkeit des Gesetzes der Kausalität in der angegebenen Bedeutung und verbietet das Suchen nach einer  Ursache  der Welt. "Das Suchen nach einer  Ursache  der Welt", sagt BÜCHNER, "ist gleichbedeutend mi dem Besteigen einer endlosen Leiter, wobei die Frage nach der Ursache der Ursache die Erreichung eines letzten Endzieles unmöglich macht." (28)

KANT und SCHOPENHAUER können es nicht oft genug einschärfen, daß das Gesetz der Kausalität nur von  immanentem,  nicht von  transzendentem  Gebrauch sei, d. h. daß es nur dazu dienen kann,  innerhalb  der Welt einen Zusammenhang in die Erscheinung zu bringen; aber nicht dazu, aus der Welt hinausgehend, eine Ursache der  Welt  zu finden. Daß nun der Materialismus sich diese Wahrheit angeeignet hat und daß er sich demgemäß darauf beschränkt, den natürlichen Zusammenhang der Dinge zu erforschen, - diese seine  Immanenz,  die ihn vor Schwärmereien und supranaturalistischen Fiktionen behütet, macht seine  Stärke,  seine  Wissenschaftlichkeit  aus. Der Glaube, der, um die ihm wunderbar und unerklärlich scheinenden Tatsachen zu erklären, jeden Augenblick aus der natürlichen Kausalreihe herausspringt und zu übernatürlichen Wesen jenseits der Naturordnung, zu Göttern oder Geistern seine Zuflucht nimmt, hebt jede wissenschaftliche Erkenntnis auf und hindert damit auch die richtige praktische Benutzung und Bearbeitung der Natur. (29) Der ganze Kulturfortschritt des Menschengeschlechts hing davon ab und hängt noch davon ab, daß dem supranaturalistischen Glauben, der, die natürlichen, immanenten Ursachen der Erscheinungen überspringend, zu unmittelbar wirkenden übernatürlichen Ursachen seine Zuflucht nahm, also z. B. Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbebeben, Mißgeburten, Krankheiten, Wahnsinn und dgl. von Göttern und Dämonen ableitete, immer mehr Terrain entzogen wurde durch das Aufsuchen und Auffinden der  natürlichen  Ursachen jener Erscheinungen. Dieses Aufsuchen und Auffinden des natürlichen Zusammenhangs der Dinge war aber wiederum bedingt durch die Annahme, daß die Ursachen aller Veränderungen  innerhalb  und nicht  außerhalb  der Welt zu suchen seien, daß es keine extramundanen Wesen gibt, die von jenseits unmittelbar in die Welt hineinwirken und den natürlichen Kausalzusammenhang durchbrechen, kurz, durch den  atheologischen Materialismus. 

Anstatt diesen daher zu schmähen, sollte man bedenken, wie viel Gutes er gestiftet und wieviel die Menschheit ihm zu verdanken hat, wie sehr hingegen die supranaturalistische Theologie - sei es nun, daß sie mehrere Götter oder nur einen die Welt beherrschen läßt, daß sie polytheistischer oder monotheistischer Supranaturalismus war - die Menschheit in Erkenntnis der Wahrheit und im praktisch-moralischen Fortschritt aufgehalten hat.

Der Kampf gegen den Supranaturalismus der Theologie, in welchem, wie wir gezeigt haben, der Materialismus die Tatsachen und die Vernunft für sich hat, ist unumgängliche Vorbedingung zu einer physisch, ästhetisch und moralisch unbefangenen Naturbetrachtung. Weder der polytheistische, noch der monotheistische Supranaturalismus ließt eine solche aufkommen. Von jenem leuchtet es ohne weiteres ein; aber auch von diesem läßt es sich leicht nachweisen. So lange der alte Gott der Juden, der Schöpfer des Himmels und der Erden, der alles zum Besten des Menschen geschaffen und, nachdem er es geschaffen, sich das Lob erteilt, daß es gut ist, noch eine Wahrheit war, wie sollten da die Tatsachen der Natur richtig aufgefaßt werden können? Mußte nicht eine Kluft zwischen dem Menschen und der ganzen übrigen Schöpfung die Folge jenes Glaubens sein, daß alles für den Menschen gemacht, alles nur zu seinem Dienst geschaffen sei? Mußte nicht jene kleinliche Teleologie aufkommen, die ebenso die Natur wie ihren Schöpfer erniedrigt, indem sie alles bloß aus dem Gesichtspunkt des menschlichen  Nutzens  betrachtet, den Korkbaum zu Stöpseln, die Wolle der Schafe und die Pelze der Bären zu Kleidern, die Wälder zu Brenn- und Bauholz für die Menschen gemacht sein läßt? Mußte nicht ferner aus diesem Glauben, der die Natur all ihrer Selbständigkeit und Selbstzwecklichkeit entkleidete, der Gedanke entspringen, daß die verheerenden Naturwirkungen eine Folge des Zornes Gottes, eine von disem für die Sünden der Menschen diktierte Strafe seien usw.? Kurz, wurde nicht durch diese Beziehung der ganzen Schöpfung auf den Nutzen des Menschen oder auf das Verhalten des Menschen der rechte Gesichtspunkt für die Natur von Grund auf verrückt und dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet?

Man verargt es dem Materialismus, daß er den supranaturalistischen Glauben angreift; aber wenn der Glaube, den er zerstört,  Wahnglaube  ist, ein Glaube, der mit den offenbarsten Tatsachen streitet, der sich der wissenschaftlichen Erkenntnis der  Wahrheit  in den Weg stellt, der aus  moralisch unlauterer  Quelle entsprungen ist, (30) der endlich  unästhetisch  ist, (31) soll man da einen solchen Glauben auch noch schonen? Heißt einen solchen Glauben schonen nicht das Unwahre, Unschöne, Unlautere schonen? Wir unsererseits rechnen es dem Materialismus zu einem großen Verdienst an, obwohl dieses Verdienst nicht ihm allein zukommt, sondern neben ihm auch, wie gezeigt, der KANTschen kritischen Philosophie und ihrer Vollendung durch SCHOPENHAUER, den theologischen Supranaturalismus gestürzt und dadurch Bahn für eine unbefangene, physisch, ästhetisch und moralisch richtigere Würdigung der Natur gebrochen zu haben. Sollen die astronomischen, geologischen, paläontologischen usw. Tatsachen und die daraus sich mit Notwendigkeit ergebenden Folgerungen zu Wort kommen, soll es allgemein anerkannt werden, daß in der Natur nur innere, natürliche Gesetze und Kräfte walten, daß nicht von außen wunderbar hereinwirkt, daß alle Veränderungen Glieder einer ununterbrochenen, anfangs- und endlosen Kausalverkettung sind, daß alle Entwicklungsperioden der Erde und alle Naturreiche in denselben eine kontinuierliche Stufenfolge vom Niederen zum Höheren bilden, daß der Mensch nicht als Herr der Schöpfung der ganzen übrigen Natur gegenübersteht, sondern nur das höchste Naturprodukt auf Erden und mit seiner ganzen geistigen Kultur an physische Bedingungen geknüpft ist, daß, obwohl die Natur ihm die Bedingungen seiner Existenz und Entwicklung gewährt, sie doch nicht seinetwegen  gemacht  ist und wunderbare Ausnahmen von ihren allgemeinen Gesetzen zu seinen Gunsten nicht stattfinden usw.; kurz, soll die ganze naturwissenschaftliche Errungenschaft der neueren und neuesten Zeit ein allgemeines Gut der Menschheit werden, so muß der ihr im Weg stehende theologische Supranaturalismus weichen.  Atheologie  - wir scheuen es uns nicht zu sagen - ist die Grundbedingung einer gesunden, vorurteilslosen Natur- und Weltanschauung. Der Materialismus hat also dieses  negative  Verdienst, die Theologie zu beseitigen. Ob aber das, was er an die Stelle des Gestürzten setzt, für sich allein ausreichend und befriedigen ist, das ist freilich eine andere Frage, die wir im Folgenden untersuchen werden. Hier, wo nur das, was sich  für  den Materialismus sagen läßt, angegeben, wo nur auf seine starke Seite und auf sein Verdienst hingewiesen werden sollte, mußten wir noch alles verschweigen, was sich  gegen  ihn sagen läßt und was seine schwache Seite bildet.

Fassen wir kurz noch einmal alles zusammen, was wir als  für  den Materialismus sprechend gefunden haben, so ist das:
    Erstens in  formeller  Beziehung zeichnet sich der Materialismus durch die  induktive Methode,  durch  Klarheit  und durch  Wahrheitsmut  aus - drei Eigenschaften, die wesentlich zusammenhängen.

    Zweitens in  sachlicher  Beziehung zeichnet sich der Materialismus durch antidualistischen  Monismus  und  Bekämpfung der Theologie  aus, welche beide Eigenschaften die Grundbedingung einer mit der Vernunft und mit den Tatsachen übereinstimmenden Naturauffassung sind, während die dualistische Theologie, die Welt in Gegensatz stellend zu Gott und innerhalb der Welt den Menschen in Gegensatz stellend zur ganzen übrigen Natur, sowie innerhalb des Menschen wiederum den Geist zum Leib, weder mit der nach  Einheit  strebenden  Vernunft,  noch mit den  naturwissenschaftlichen Tatsachen  übereinstimmt, weder physisch, noch ästhetisch und moralisch eine richtige Würdigung der Dinge aufkommen läßt.
Monismus ist freilich auch der  Pantheismus;  aber der Pantheismus, so sehr er auch als monistisches System dem dualistischen Theismus, welcher Gott als ein außerweltliches persönliches Wesen der Welt gegenüberstellt, von Grund auf entgegengesetzt ist, hat doch andererseits mit dem Theismus noch das gemein, daß er ein  theologisches  System ist. Allen theologischen Systemen gegenüber aber hat der atheistische Materialismus, so sehr der Name Atheismus auch verpönt ist, eine unbestreitbare Berechtigung. Abgesehen davon, daß die thelogischen Systeme von einem Unbekannten, einem Begriff oder, wie KANT sagt, einem "Gedankending" ausgehen, dessen Realität erst noch zu erweisen wäre, aber, wie KANT ebenfalls (in der Kritik der Beweise vom Dasein Gottes) dargetan, nicht zu erweisen ist: so versperren sich alle theologischen Systeme durch den an die Spitze gestellten Gottesbegriff von vornherein eine unbefangene Beobachtung und Betrachtung der Welt. Der Pantheismus sieht in den Dingen nicht sie selbst und ihr eigenes Wesen, sondern die Erscheinung eines Gottes, eine Theophanie und dadurch kommt er mit den  Tatsachen  in Konflikt, mit den schreienden physischen und moralischen Übeln in der Welt, dem blinden Walten zerstörender Kräfte in der unorganischen Natur, der sich gegenseitig zerfleischenden Selbstsucht, der empörenden Bosheit und Grausamkeit in der Tier- und Menschenwelt, die sich schlecht dazu eignen, eine Erscheinung  Gottes  zu sein; (32) Tatsachen, vor denen der Pantheismus die Augen verschließt oder sie damit abfertigen zu können glaubt, daß er Böses und Übel, sie, die so schmerzlich empfunden werden und von jeher den Weltschmerz aller tieferen Geister genährt haben, für bloße Täuschungen, für unwahre, inadäquate Ideen erklärt. Der Theismus entgeht zwar dieser Klippe, er erkennt das Böse und Übel der Welt an; aber um es zu erklären, führt er Begriffe ein, die dem Gottesbegriff geradezu widersprechen. Er leitet die Dissonanzen der Welt entweder, wie der gläubige Theismus, von dem durch den Satan veranlaßten Sündenfall im Paradies her, oder, wie der philosophische Theismus, von der Freiheit des Willens der sich selbständig bestimmenden Weltwesen oder auch von der Endlichkeit und Unvollkommenheit der geschaffenen Dinge (33), als ob geschaffene Dinge, Machwerke, sich gegen ihren allmächtigen Schöpfer empören könnten, und als ob endliche, begrenzte Dinge notwendig disharmonieren müßten und nicht vielmehr wie die begrenzten Töne und Instrumente eines Konzerts aufs schönste harmonieren könnten!

Kurz, alle theologischen Systeme laborieren an unheilbaren Widersprüchen. Entweder sie geraten, wie die pantheistischen, mit den  Tatsachen,  dem Un- und Widergöttlichen in der Welt, in Widerspruch oder sie widersprechen sich, wie die theistischen,  in sich selbst,  indem sie dem alles schaffenden und vollbringenden Gott selbstständige, eigenwillige Kreaturen gegenüberstellen, die ihrem Schöpfer des Konzepts verrücken. Vollends widerspruchsvoll und haltlos sind die aus Theismus und Pantheismus  gemischten  Systeme, eine Erfindung der neuesten Zeit, der zufolge Gott in der Welt steckt und doch total von ihr verschieden ist, was nach SCHOPENHAUERs treffendem Gleichnis an den Weber BOTTOM in SHAKESPEAREs "Sommernachtstraum" erinnert, der verspricht zu brüllen wie ein entsetzlicher Löwe, zugleich aber so sanft wie nur eine Nachtigall flöten kann. (34)

Allen solchen Widersprüchen nun, in die sich die theologischen Systeme notwendig verwickeln müssen, entgeht der Materialismus von vornherein durch seinen  Atheismus,  durch sein unbefangenes, vorurteilsloses Ausgehen von der Natur. Während die theologischen Systeme die Natur von vornherein unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachten, nämlich entweder pantheistisch als  Erscheinung  oder theistisch als  Werk  Gottes und dadurch genötigt sind, die Tatsachen, die diesen Voraussetzungen widersprechen, entweder wegzuleugnen oder sie solange zu drehen und zu deuteln, bis sie zu jenen Voraussetzungen passen: so geht der Materialismus dagegen den umgekehrten Weg von der Beobachtung der Tatsachen zu den über sie zu fällenden Urteilen und dadurch eben räumt er die  Vor urteile weg, die einer unbefangenen Betrachtung der Dinge im Weg stehen, sein Atheismus begünstigt also das Auffinden der  Wahrheit. 

Theologie  und  Wissenschaft  bilden insofern einen unversöhnlichen Gegensatz, als jene von bestimmten  Voraussetzungen  ausgeht, die Wissenschaft aber  voraussetzungslos  zu Werke gehen muß. Die Theologie, sei sie pantheistische oder theistische oder konfus aus beiden gemischte, verhält sich nicht rein rezeptiv, unbefangen anschauend zu den Dingen, sondern sie sieht sie durch ein selbstgeschaffenes Medium, gleichsam durch eine Brille, die erst entfernt werden muß, wenn die selbsteigenen Gestalten der Welt klar hervortreten sollen und somit  Wissenschaft  im wahrsten Sinne des Wortes möglich werden soll. Theologie und Wissenschaft stehen insofern einander feindlich im Weg. Die Theologie läßt keine Wissenschaft, die Wissenschaft keine Theologie aufkommen.

Von diesem Gesichtspunkt aus wird man es als ein unbestreitbares Verdienst des Materialismus betrachten, daß er der Theologie gewaltig zu Leibe geht. Er verfolgt die Theologie, wie namentlich aus dem BÜCHNERschen Buch zu ersehen ist, in jeglicher Gestalt und treibt sie aus allen Schlupfwinkeln. Das ist die starke, die glänzende Seite des Materialismus. Er bekämpft die Theologie mit siegreichen Waffen, obwohl freilich der Sieg hier kein schwerer ist, wo der Gegner von Haus aus so schwach, wo Terrain und Waffen nebst Kampfmethode so ungleich sind. Die Theologie schwebt in der Luft und ficht mit Begriffen, nach denen sie die Tatsachen modelt; der Materialist hingegen fußt, gleich ANTÄUS, auf der Erde, schleudert Tatsachen in das feindliche Lager und zerstört durch diese theologischen Luftschlösser. Daher ist auch niemand erbitterter auf den Materialismus, als die Theologen. (Man vergleiche das Vorwort zur dritten Auflage des BÜCHNERschen Buchs.)

Der Materialismus hat zwar, wie wir später zeigen werden, auch seine Voraussetzungen, die seine schwache Seite bilden. Aber der  Theologie  gegenüber, das ist ausgemacht, steht er stark und unüberwindlich da. Mit  theologischen  Waffen läßt sich dem Materialismus nicht beikommen.
LITERATUR: Julius Frauenstädt, Der Materialismus - Seine Wahrheit und sein Irrtum [Eine Erwiderung auf Büchners "Kraft und Stoff"], Leipzig 1856
    Anmerkungen
    1) KANT, Kritik der reinen Vernunft, von den Beweisen des Daseins Gottes.
    2) Vgl. meine "Briefe über die Schopenhauersche Philosophie" im Vorwort.
    3) Zum Beleg dafür kann LESSING dienen, dessen Sprachdurchsichtigkeit eine Folge seiner Gedankenklarheit ist.
    4) Tief ist, wer auf die letzten und eben damit  tiefsten  Gründe der Dinge zurückgeht, während der Oberflächliche nur bei den nächsten Gründen stehen bleibt. Warum sollte nun aber der auf die letzten, tiefsten Gründe zurückgehende nicht klar sein können?
    5) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Seite 70
    6) SCHOPENHAUER, a. a. O. Seite 78
    7) ARTHUR SCHOPENHAUER, "Die Welt als Wille und Vorstellung II, Seite 63
    8) BÜCHNER, Kraft und Stoff, 3. Auflage, Seite 312
    9) BÜCHNER, Kraft und Stoff, Seite 301
    10) BÜCHNER, Kraft und Stoff, 3. Auflage, Seite 313
    11) Auf den Cartesianischen Dualismus folgte der Spinozistische Monismus.
    12) So löst der persische Dualismus ORMUZD und AHRIMAN, Licht und Finsternis, in das  eine  Urwesen, ZERUANE AKERENE, d. h. die Ewigkeit, auf.
    13) Die modernen pantheistischen Philosophen haben längst den Worten  Gott  und  Welt  eine andere Bedeutung unterlegt.
    14) BÜCHNER, Kraft und Stoff, Seite 9
    15) BÜCHNER, a. a. O. Seite 7 - 9
    16) BÜCHNER, a. a. O. Seite 64
    17) BÜCHNER, a. a. O. Seite 95f
    18) BÜCHNER, a. a. O. Seite 62
    19) KANT und LAPLACE haben diese natürliche Erklärung gegeben.
    20) BÜCHNER, Kraft und Stoff, Seite 57
    21) BÜCHNER, a. a. O. Seite 108
    22) BÜCHNER, a. a. O. Seite 35
    23) BÜCHNER, a. a. O. Seite 39
    24) SCHOPENHAUER, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 2. Auflage, Seite 37
    25) SCHOPENHAUER, a. a. O. Seite 33
    26) SCHOPENHAUER, a. a. O. Seite 35
    27) SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Seite 45
    28) BÜCHNER, Kraft und Stoff, Vorrede zur 3. Auflage, Seite XXII
    29) Vgl. meine Schrift "Die Naturwissenschaft in ihrem Einfluß auf Poesie, Religion, Moral und Philosophie", Seite 9, 78 - 81 und 121.
    30) Der jüdisch theistische Glaube, der die ganze Schöpfung nur zum Nutzen des Menschen gemacht sein läßt, ist ein egoistischer, genußsüchtiger, der kein höheres Ziel des Lebens kennt, als Wohlsein und langes Leben auf Erden.
    31) "Was kann unästhetischer sein, als die Natur nur aus dem Gesichtspunkt des  Nutzens  betrachten?" - GOETHE wendete sich mit Unwillen und Spott von einer solchen Naturbetrachtung ab.
    32) Vgl. ARTHUR SCHOPENHAUER, Parerga und Paralipomena II, Kap. 5
    33) Das LEIBNIZsche sogenannte "metaphysische Übel".
    34) SCHOPENHAUER, Parerga und Paralipomena I, Seite 177