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FRIEDRICH CHRISTOPH DAHLMANN
Vom Recht des Widerstandes

"Wenn das Volk verpflichtet ist, jedem Regierungsbefehl, auch demjenigen, welcher unzweideutigen Verfassungsbestimmungen, mithin anderen Regierungsbefehlen, geradezu widerspricht, oder gar die Verfassung aufhebt, ohne Widerrede Folge zu leisten, alles Unrecht nicht bloß schweigend zu dulden, sondern es selbst vollenden zu helfen, so ist jede Verfassung Lüge."

200. Es gibt mannigfache Wege des Widerstandes gegen Unterdrückung: Widerstand der Sitte, der Einsicht ("Wissen ist Macht"), des Privatrechts, des politischen Rechts, Widerstand durch physische Kraft. Hier ist vom Recht der Untertanen die Rede sich gegen Überschreitungen ihrer Staatsregierung durch physische Kraft sicher zu stellen. DAVID HUME rät, daß die Gesetze über das Recht des Widerstandes lieber zu schweigen fortfahren mögen (obwohl sie nicht immer schwiegen), aber er verwahrt sich ausdrücklich vor der Nachrede, als wolle er damit die ganze Untersuchung niederschlagen.

201. Soviel ist klar, wenn in einem Volk der Grundsatz aufgestellt ist, jede Verletzung der Verfassung, die am Ende auch eine unfreiwillige, wieder gutzumachende sein könnte, sie mit bewaffneter Hand zu rächen, und das sei nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht jedes Einzelnen im Volke, und wenn das Volk dann nicht verständiger ist als sein Gesetz, so steht keine Regierung sicher, denn keine ist ohne Fehl und keine vermag einmal durchweg so zu handeln wie in den Paragraphen eines Staatsgrundgesetzes geschrieben steht. Nun heißt es aber in den Menschenrechten der französischen Konstitution von 1793 § 35: "Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten" und Artikel 66 der neuen Charta von 1830 scheint in zierlicheren Ausdrücken: "Die gegenwärtige Charta und alle durch dieselbe geheiligten Rechte, bleiben dem Vaterlandssinn und dem Mut der Nationalgarden und aller französischer Bürger anvertraut" doch fast dasselbe zu besagen.

202. Von der anderen Seite ist klar: Wenn das Volk verpflichtet ist, jedem Regierungsbefehl, auch demjenigen, welcher unzweideutigen Verfassungsbestimmungen, mithin anderen Regierungsbefehlen, geradezu widerspricht, oder gar die Verfassung aufhebt, ohne Widerrede Folge zu leisten, alles Unrecht nicht bloß schweigend zu dulden, sondern es selbst vollenden zu helfen, so ist jede Verfassung Lüge. Schon die Sittenlehre befiehlt einer Herrschaft zu widerstehen, welche nicht bloß Unrecht zu dulden, sondern selbst zu begehen gebietet. Auch würde der ganz blinde Gehorsam am Ende jeden Unterschied zwischen faktischer Regierung und rechtmäßiger verwischen; man hielte sich dem unrechtmäßigen Eroberer gleichmäßig unbedingt verpflichtet und ließe den rechtmäßigen Oberherrn hilflos im Elend schmachten. Darum muß der Satz, daß Regierungen Unrecht tun können, selbst um der Sicherheit der Regierungen Willen fortbestehen; am allerwenigsten aber ist es diesen zu raten, durch die Aufstellung eines göttlichen Rechts auch zum Unrechttun ohne Widerstand, den Knoten zu zerhauen. Aus der Bibel erweist es sich nicht. Denn soll PAULUS unbedingt gedeutet werden: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat etc.", so verlangt CHRISTUS gewiß das gleiche Recht, der nicht einmal, scheint es, eine erwiesene Ehebrecherin durch ein Gericht, das sich nicht selber rein fühle, wollte verurteilt wissen. LUTHER lernte mit der Zeit, da der Gang der Welt ihm Unterschiede aufdrang, deren Kenntnis er lieber abgelehnt hätte, den Spruch, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, auch seinem Kurfürsten gegenüber deuten, und nahm in seinen späteren Tagen auch keinen Anstoß mehr an der Widersetzlichkeit gegen einen Kaiser, der "beschriebenen Rechten" nicht folgen will; er hielt den Kaiser für richtig entsetzt, welchem das Reich und die Kurfürsten einträchtig den Gehorsam aufkündigen. Und der sanfte MELANCHTON fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz, wer bei den geradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt, nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen ist nicht die Rede), hat weit kühnere Antworten zu befahren, als die ein Mann von politischer Lebenskenntnis auf sich nehmen möchte.

203. Politische Erfahrung rät, gewisse Wege des erlaubten Widerstandes freiwillig zu eröffnen, damit die zerstörenden durch Warnung beizeiten, umso sicherer verschlossen bleiben. Von welcher Art aber können jene sein? Soll man jeden Streit über den Inhalt und die Handhabung der Verfassung einem unparteiischen Dritten im Staate verfassungsmäßig anvertrauen, dessen Anrufung der gesetzliche Widerstand wäre? Im deutschen Reich war das gewissermaßen tunlich, wo über der einzelnen reichsständischen Regierung noch eine Reichsregierung stand, welche die Erkenntnisse des Reichsgerichtes, wenigstens der Theorie nach, auszuführen imstande war; aber die Hauptteilnehmer an dieser Reichsregierung waren gerade die Häupter, gegen welche sich die Beschwerden richteten, und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den Reichsgerichten alle fernere Mühe abgenommen wäre! Wo aber vollends der vollständige Staat keine andere Regierung über der seinen anerkennt, da wird mit der Macht über Regierungsrechte zu entscheiden, die Regierung selber übertragen. Die Ephoren, der karthagische Rat der Hundert, die Justicia der Arragonesen bezeugen das in ihrer Geschichte. Es heißt dem Staat die Revolution einimpfen; denn die als Wächterin aufgestellte Gewalt muß einmal stärker sein wollen als die regierende.

Wäre dann aber dennoch das Recht des bewaffneten Widerstandes verfassungsmäßig aufzustellen und nur auf gewisse namhaft gemachte Fälle zu beschränken? Wir behaupten:  Nein.  In der heutigen Staatsordnung darf gewaltsamer Widerstand nie gesetzlich gemacht werden; er liegt dem Grundgesetz so fern, als der wahrhaften Ehe der Streit der Kirchen über die Zulässigkeit der Scheidung liegt. Das Verfassungsrecht des bewaffneten Widerstandes beruhte auf dem Recht der ständischen Mitregierung, war ein Teil von diesem und ist mit ihm aufgegeben. Wo von Alters her Volksversammlungen schalteten, wurde in jedem einzelnen Mitglied derselben ein Bruchstück der Regierung verletzt; nur die Klugheit beschränkte das Recht des Aufstandes; alle Fraktioinen der Regierung verletzte vollends der Tyrann, es war Pflicht ihn zu töten. Solange privilegierte Stände mitregierten, huldigten diese unter Vorbehalt, ließen sich Festungen einräumen, kündigten den Gehorsam auf und wählten sich einen wohlgefälligeren Herrn. Seit aber wachsende politische Bildung die Wahlfürstlichkeit verworfen und eingesehen hat, daß die Regierung am wohltätigsten von einer erbberechtigten Hand ohne Wahl und Zwischenreich in die andere übergeht, mit Ausschließung aller willkürlichen Verfügung über die Krone, und der Staat sich infolge dieser Grundwahrheit feiner und tiefsinniger organisiert hat, beschränken sich die Wege des erlaubten Widerstandes, welche die Verfassung eröffnen kann aber auch eröffnen soll, allein auf  gewisse Weigerungen,  ein Verneinen des Gehorsams in gewissen Fällen, ein Nichttun ohne alle aggressive Zutat. Es ist das Recht der Untertanen, solchen Steuerausschreibungen und Gesetzen, welche ohne die verfassungsmäßig erforderliche ständische Verwilligung und die Anführung der wirklich geschehenen erlassen sind, den Gehorsam zu verweigern, unterstützt durch die Pflicht der Stände, Minister, die vergleichen Ausschreibungen und Gesetze unterzeichneten, in den Anklagezustand zu versetzen. Im wirklichen Leben der Dinge tritt aber Bitte und Vorstellung und Rechtsverwahrung mannigfach tätig ein, ehe es zu so einem Äußersten kommt. Kommt es gleichwohl dazu, so ist zu gleicher Zeit die Stimme der Besten tätig, daß nicht der Widerstand gegen einzelne Regierungsbefehle die ganze Gesetzgebung ergreife; denn sie eben erkennen die nah und näher rückende Gefahr einer Gewalt das Dasein zu geben, welche, mächtiger als die Staatsregierung, wahrscheinlich auch für die Freiheit bedrohlicher sein wird: denn ihre erste Tat muß, wenn sie siegt, die Wiederherstellung der Ordnung sein. Hat der Zwiespalt unversöhnt seinen Fortgang, so entscheidet dann freilich die Gewalt über die künftige Regierung und Verfassung. "Die Entscheidung fällt dann dem Krieg anheim, nicht der Konstitutioin. - Die Frage über die Entthronung eines Königs war stets eine außerordentliche Staatsfrage und keine Rechtsfrage, es wird dabei stets wie bei jeder Staatsfrage, um die Stimmung, die Mittel, die wahrscheinlichen Folgen, mehr als um positive Rechte sich handeln." (BURKE) (1)

204. Sowenig also betrachtet ein in politischer Bildung vorgerücktes Volk das stolze  y si no, no  [und wenn nicht, nicht - wp] der Arragonesen, und was bei den Polen, Ungarn, und in Englands und Deutschlands Geschichte Verwandtes vorkommt, als einen beneidenswerten Vorzug einer kräftigeren Vergangenheit, daß es vielmehr von den aus der Ferne vorbeugenden Mitteln, die hauptsächlich in der Kraft furchtlos freier Rede aus gerechtem Mund ruhen, stets am meisten erwartet, und selbst den Widerstand durch Versagung zu ergreifen zaudert wegen der zarten Grenze, die ihn vom aggressiven Widerstand scheidet. Ein solches Volk gibt aus tiefer Überzeugung selbst seine Stimme zu den Strafen, welche die Gesetzgebung denen droht, welche gewaltsame Unternehmungen gegen eine einzelne Tat der Regierung durch Aufstand oder gegen das Dasein derselben durch Revolution versuchen möchten. Gleichwie es aber hiermit auf sein Notrecht, oder wie man es denn heiße, des Widerstandes gegen offenbare Unterdrückung keineswegs verzichtet, so erkennt es von der anderen Seite an, daß einer Staatsregierung, welche durch eine schlechte Verfassung ihrer heilsamen Kraft beraubt würde, ein gleiches Notrecht zur Seite steht (2), mit anderen Worten, daß solange es Revolutionen der Völker gibt, auch die Staatsstreiche der Gewaltigen nicht aufhören werden.

205. Denn Notwehr hat von jeher als sittliche Rechtfertigung der Erhebung gegen jedes Staatsgewalt gegolten, welche über ihre Zwecke und Grenzen beharrlich hinausschreitet. Es ist aber für das Heil der Staaten und ihrer Regierungen hochwichtig zu erkennen, wie nicht überall dieselben Verletzungen das Herz der Nation mit der Überzeugung verwunden, die Stunde der Notwehr sei gekommen. Es gibt Völker, die allein den Bedarf, andere die auch die Bequemlichkeiten zu den Notwendigkeiten des Lebens rechnen, es gibt Regionen, in denen Genug haben, wie der Dichter sagt, darben hieße. Eine Regierung, die ihren Untertanen den aufrechten Gang verböte, welche den Kindern die Herrschaft über die Erwachsenen gäbe, schreitet nicht viel rascher dem Untergang entgegen, als diejenige, welche die Töchter des Landes der rohen Gewalt Preis gibt, nicht viel rascher als diejenige, welche einem froh erwerbenden Volk in sein Recht der Selbstbeschatzung eingreift und an die Stelle der Steuern die allgemeine Plünderung setzt, welche sich ausländischer Macht bedient, um auf die Ruine der vaterländischen Freiheiten das Banner der Despotie zu pflanzen, welche dem kirchlich begeisterten Volk die Gegenstände seiner Verehrung, dem wissenschaftlich erregten Zeitalter den freien Austausch seiner Gedanken entzieht.

206. Aber was die Tat der Staatsumwälzung rechtfertigt oder entschuldigt, hebt darum ihre Folgen nicht auf; jede Revolution ist nicht bloß das Zeugnis eines ungeheuren Mißgeschicks, welches den Staat getroffen hat, und einer keineswegs bloß einseitigen Verschuldung, sondern selbst ein Mißgeschick, selbst schuldbelastet. Darum werden weise und gewissenhafte Männer weder das Gelingen einer Revolutioin, darum weil es ihre Straflosigkeit verbürgt, als ihre Rechtfertigung darstellen, noch die zögernde Hand zur Widersetzlichkeit erheben, als wenn kein Mittel sonst mehr übrig bleibt, der allgemeinen Herabwürdigung zu entgehen. Denn was allein auf den Herrscher oder die Dynastie angesehen ist, schlägt allzu leicht zu einem Umsturz der ganzen gesellschaftlichen Ordnung aus, und wenn sich auch der bessere Wille der neuen Herrschaft verbürgen ließe, wird sie sich auch befestigen können? Eben darum kann der einmal entschiedenen Umwälzung sich löblich auch der Vaterlansfreund anschließen, derselbe der ihren Ausbruch mißbilligte, weil ein Zustand nicht dauern darf, in welchem die Regierung nirgendwo ist, weil sie überall ist; auswandern oder sich irgendwie entziehen in der Stunde, wo alles was Gutes im Staat ist enger zusammentreten sollte, war von jeher für unwürdig des guten Bürgers geachtet.

Auch die aufs Beste ausgehende Revolution ist eine schwere Krise, die Gewissen verwirrend, die innere Sicherheit unterbrechend und nicht minder alle Staatsverträge gefährdend; denn diese beruhen auf dem Dasein einer nicht strittigen, darum der Anerkennung fähigen Regierung. Einige Fälle gibt es zwar, da die mit jeder Staatsumwälzung unvermeidlich verbundene Zerstörung vor der Wiederherstellung verschwunden ist; wo sie dann hereinbrach mehr als eine Begebenheit denn als ein ersonnener Plan, wie als GUSTAV WASA König war; im noch selteneren Fall gelingt es der Kraft des unverletzt fortbestehenden Teils der Verfassung den verstümmelten Staatskörper wieder zu ergänzen und das unstete, herrscherlose Kreisen auf den engsten Zeitraum zu beschränken (England 1689). Wo dann das Beste geschehen ist was möglich war, da fällt die Frage weg, ob das Geschehene rechtmäßig geschehen sei.

207. Der revolutionäre Sinn, der mit Revolutionen wie mit öffentlichen Lustbarkeiten rechnet, die nicht allzu lange ausbleiben dürfen, ist von der Vaterlandsliebe viel weiter entfernt als die träge Verehrung alles ländlich sittlich Hergebrachten es ist, über die er sich so vornehm zu erheben pflegt. Die Vaterlandsliebe schlägt ihre Wurzel in den Örtlichkeiten, welche sich um die Wiege des Menschen versammelten; sie bleibt vielleicht daran hangen und verschließt sich provinzialistisch gegen die Entwicklung von Volk und Staat in ihren großen Dimensionen, allein der beschränktere Sinn bewahrt den menschlichsten Neigungen, welche die vierundzwanzig Stunden jedes Tags zusammenhalten, seine Treue, bis vielleicht die Stunde der Not ihn weiter hinaus zu blicken zwingt. Der revolutionäre Sinn hat seine flache Wurzel im Verstand, ist familienlos, heimatlos. Für ihn gelten nur die großen Verhältnisse. Er möchte das Jahrhundert umgestalten, unbekümmert ob die nächste Heimat mit ihrem Glück und ihrer Sitte ein Opfer des Umschwungs wird. Zwar wird die Nachwelt dem angebildeten politischen Quietismus die Ehre nicht zollen, die er sich selbst verschwenderisch zumißt; aber wer das Reich, dessen geborener König jeder ist, die Beherrschung seiner eigenen Seele, wohl verwaltet, und ein Bild des guten Staats in seiner Familie zeigt, der verbessert die öffentliche Sitte, welche die Trägerin aller freiheitlichen Einrichtungen ist und bewahrt auch unter einer Despotie  ein  unverletzliches Gebiet der Freiheit.
LITERATUR: Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Leipzig 1847
    Anmerkungen
    1) Herr FRIEDRICH MURHARD, Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung der Staatsbürger gegen die bestehende Staatsgewalt, in sittlicher und rechtlicher Beziehung, Braunschweig 1832, meint Seite 194, das Problem sei "Staatsordnungen zu erschaffen,  wodurch jeder Mißbrauch der Staatsgewalt und eben dadurch jede Empörung unmöglich gemacht wird."  Wir würden die Lösung dieses Problems, welche laut der Vorrede einem zweiten Werk aufgespart ist (das gelieferte enthält bloß eine Zusammenstellung der Meinungen anderer) mit ebenso großer Verwunderung lesen, als nur die des JOHANNES MAJOR sein könnte, sähe er sich hier (Seite 195) unter den Kirchenvätern aufgeführt.
    2) AGIS und KLEOMENES in Sparta. FRIEDRICH III. von Dänemark und GUSTAV III. von Schweden. Auch BONAPARTEs 18ter Brumaire gehört hierher.