tb-4 R. StammlerKatzensteinK. Diehl    
 
EDUARD BERNSTEIN
Die soziale Doktrin
des Anarchismus

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"Die Freiheit ist Anarchie, weil sie die Herrschaft der Willkür nicht zuläßt, sondern bloß die Autorität des Gesetzes, das heißt die Notwendigkeit. Der Gedankengang ist hier überall derselbe wie der des unangekränkelten bürgerlichen Liberalismus. Die Anarchie ist die Unterordnung der öffentlichen Einrichtungen unter die Bedürfnisse des redlichen Tausches."

"Die hohen Mauern in der Umgebung von Paris, die dem armen Fußgänger den Genuß der Sonne und den Anblick der Felder raubten, die Inschriften  Privateigentum  vor offenen Durchgängen weckten stets ein Gefühl der Erbitterung in  Proudhon  und er versprach, wenn jemals Eigentümer sein werde, so zu handeln, daß Gott und die Menschen, und vor allem der Arme es ihm verzeihen."

"Wo eine Macht finden, die fähig wäre, dieser fürchterlichen Macht des Staates das Gegengewicht zu halten? Es gibt keine andere als das Eigentum. Als Gegengewicht gegen die öffentliche Gewalt zu dienen, dem Staat die Waage zu halten, und dadurch die individuelle Freiheit zu sichern - das ist also im politischen System die Hauptfunktion des Eigentums."

"Dieses Sehnen nach dem  Gleichgewicht der Werte  - welches Wort bei allen Proudhonianern als magische Zauberformel gilt, die Tore des Palastes der Seligen öffnet - ist nichts als die reinste Romantik, der Wunsch, sich über die bürgerliche Gesellschaft hinausdenken zu können, ohne an ihren ökonomischen Grundbedingungen etwas zu ändern."


III. Proudhon und der Mutualismus (4)

STIRNER war in seinem Radikalismus kein Freund von tönenden Schlagworten. Er wollte durch die Schärfe seiner Untersuchung, durch die Kühnheit seiner Schlüsse imponieren, aber es lag ihm wenig daran, Sätze aufzustellen, die bloß durch ihren paradoxen Schall beim großen Publikum Sensation machen sollten. In dieser Hinsicht zeichnet sich sein Buch vielmehr durch eine vornehme Gleichgültigkeit aus. Anders PROUDHON. In seinen Schriften wimmelt es von Paradoxen, er verfällt bei jeder Gelegenheit in Deklamationen, sucht stets Sätze zu formulieren, die noch nie Dagewesene in verblüffender Form aussprechen, und sieht sich, da es eben meist nur die  Form  ist, in der bei ihm das noch nie Dagewesene steckt, zu beständigen Berichtigungen genötigt. Mißverstanden zu werden ist gewöhnlich das Pech der Schriftsteller, die eigene Gedanken haben - und ich möchte von vornherein der Auffassung vorbeugen, als wollte ich PROUDHON diese Eigenschaft abstreiten - aber bei PROUDHON ist das Mißverständnis geradezu obligatorisch. Welche seiner Schriften man auch in die Hand nimmt, so wird man nie mit Sicherheit von einem darin enthaltenen Satz sagen können, er sei der Ausdruck von PROUDHONs Ansicht über den behandelten Gegenstand. Je apodiktischer der Satz, umso sicherer kann man vielmehr sein, ihn in einer folgenden Schrift modifiziert oder gar in sein Gegenteil verkehrt zu finden. Und das nicht etwa infolge einer in der Zeit zwischen beiden Publikationen eingetretenen Änderung der Grundanschauungen PROUDHONs, sondern lediglich weil es PROUDHON inzwischen beliebt hat, die Sache von einem anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Es war, glaube ich, KARL GRÜN, der einmal schrieb, PROUDHON schiele etwas. Wenn das aber vom Menschen richtig war, so gilt es noch viel mehr vom Schriftsteller PROUDHON. Seine Augen waren stets verschieden gestellt, wenn er schrieb, er sah nie mit beiden geradeaus, sondern immer höchstens mit dem einen, während das andere bald da, bald dorthin blickte. Auf diese Weise ist man bei PROUDHON mehr als bei jedem anderen Schriftsteller aufs Interpretieren und Kombinieren angewiesen.

So schreibt der deutsche Evangelist PROUDHONs, Herr Dr. ARTHUR MÜLBERGER:
    "Eine wahre Darstellung der PROUDHONschen Eigentumslehre hat also zur Voraussetzung eine genaue Analyse nicht nur sämtlicher besonderer Schriften über das Eigentum, sondern ebenso auch seiner gelegentlichen Entwicklungen über dasselbe in den anderen Werken. Diese Analysen wären dann unter sich in Beziehung zu setzen, die Hauptpunkte der Entwicklung herauszuheben und zu vergleichen und schließlich alles auf seinen begrifflichen Wert zu untersuchen. Dann erst kann die Frage beantwortet werden, ob die Eigentumslehre PROUDHONs ein Sammelsurium mehr oder minder geistreicher, sich oft widersprechender Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] ist ... oder nicht vielmehr - ein einheitlicher, ebenso grandioser, wie logischer Gedankenbau von strenger Folgerichtigkeit." (Studien über Proudhon, Seite 164)
Was heißt das? Daß, wenn wir erfahren wollen, welches PROUDHONs Standpunkt in Bezug auf das Eigentum ist, wir uns nicht, wie etwa bei anderen Schriftstellern, an ein den Gegenstand behandelndes Werk aus der gereiften Epoche des Mannes halten dürfen, sondern uns durch den ganzen Berg der Veröffentlichungen PROUDHONs hindurchwürgen müssen, Exegese [Auslegung - wp], Homilektik [Predigtlehre - wp] und Gott weiß was noch für theologische Künste mit ihnen zu treiben haben.

Wie in Bezug auf die PROUDHON'sche Eigentumslehre steht es nach MÜLBERGER auch in Bezug auf dessen Theorie des allgemeinen Wahlrechts und, müssen wir annehmen, auch aller sonstigen Fragen der Politik und Ökonomie, mit denen sich PROUDHON beschäftigte. Denn an widersprechenden Äußerungen fehlt es nirgends; überall gilt es, in und auseinander direkt ins Gesicht schlagenden Sätzen den "einheitlichen logischen Gedankenbau" herauszufinden.

Zum Glück ist die Aufgabe in Wirklichkeit nicht ganz so schwer, als ie nach der MÜLBERGERschen Vorschrift erscheint. Eines ist nämlich wirklich in PROUDHONs Werken einheitlich, und wenn man will, sogar grandios einheitlich, und das ist das Wesen und die Triebfeder der in ihnen enthaltenen Widersprüche. Ist man einmal darüber im Klaren, so braucht man wirklich nicht alle Produkte der Feder PROUDHONs in der Hand zu haben, um zu erfahren, welches wirklich dessen Stellung zu irgendeiner einzelnen Frage ist. Es genügt in der Regel dasjenige Werk, worin PROUDHON den Gegenstand am ausführlichsten behandelt, und eine oder zwei andere Schriften daneben. Man wird aus ihnen genau ebensoviel erfahren.

PROUDHON ist neben STIRNER derjenige Schriftsteller, auf welchen gemeinhin die anarchistische Doktrin zurückgeführt wird. Er hat sogar zuerst das Wort  Anarchie  als Bezeichnung des erstrebten Gesellschaftszustandes gebraucht. Sofern dieses Wort nur die Abwesenheit jeder unterdrückenden, jeder aus einem eigenen, über dem der Gesellschaft stehenden Recht reglementierenden Staatsgewalt bedeutet, war es freilich nichts Neues, was PROUDHON damit postulierte, so wenig sein Ausspruch "Eigentum ist Diebstahl" neu war. Aber gleichviel, welche Bedeutung er selbst mit ihnen verband - die Negation des Eigentums und des Staates hießen 1840, als PROUDHONs Schrift "Qu'est-ce que la propriété?" erschien, schon etwas ganz Anderes als sie bei den Schriftstellern des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet hatten. Es ist die Zeit, die den Schlagworten ihre Bedeutung gibt, und die Zeit des ersten Auftretens PROUDHONs ist die Zeit der ersten revolutionären Regungen des modernen Proletariats. Der Einfluß, den PROUDHON späterhin auf die französische Arbeiterbewegung und mittelbar auf die Arbeiterbewegung anderer Länder erhielt, und der sich namentlich auch in der  Internationalen Arbeiterassoziation  geltend machte, wurde zum Anlaß, daß der erste Versuch, eine anarchistische Partei in der Arbeiterbewegung zu bilden, direkt an PROUDHON anknüpfte. Soweit ist es demnach auch berechtigt, wie es Herr MACKAY tut, PROUDHON den "Vater der Anarchie" zu nennen. Sehen wir zu, wie weit noch.

Schon in der Schrift "Qu'est-ce que la Propriété?", wo sich PROUDHON als Anarchist bekennt, reduziert er seinen Angriff auf das Eigentum schließlich auf die Bekämpfung bestimmter Formen des Eigentums. Es ist sehr leicht, es hinterher zu sagen, aber es ist darum noch unbestreitbar richtig, daß schon in diesem Buch im Keim der Grundgedanke des Schlußworts der PROUDHONschen Eigentumsuntersuchungen enthalten ist: "Das Eigentum ist die Freiheit." Es ist nicht das Eigentum schlechthin, sondern das ausschließliche, privilegierte Eigentum, das verworfen wird, im Übrigen heißt es: "Der Besitz ist rechtlich, das Eigentum widerrechtlich. Unterdrückt das Eigentum und behaltet den Besitz, so werdet ihr durch diese einzige Modifikation des Prinzips alles in den Gesetzen, in der Regierung, der Wirtschaft, in den Institutionen umändern, ihr vertreibt das Übel von der Erde." Ganz im selben Sinne hatte auch der spätere Konventionalist BRISSOT, der bekanntlich sechzig Jahre vor PROUDHON - in seinen 1780 erschienenen "Recherches philosophiques sur la propriéte et sur le vol" - das ausschließliche Eigentum einen Diebstahl genannt, den Besitz für "das wahre, das heilige Eigentum" erklärt. Der Besitz bildet keinen Rechtstitel. "Wenn der Besitzer kein Bedürfnis hat und ich habe eines, so ist das mein Titel, der den Besitz aufhebt." Ist auf beiden Seiten ein Bedürfnis vorhanden, so ist die Frage "eine Sache der Statik." Das sei das Recht des Urzustandes, und dieses Recht sei universell und unveräußerlich. (Vgl. JULES PANIN, Les origines du Socialisme contemporain) Aber BRISSOT erklärt nicht nur das ausschließliche - man beachte die Einschränkung - Eigentum als Diebstahl, er rechtfertigt den auf das Bedürfnis gegründeten Diebstahl, und so hätten zumindest die Verherrlicher der Spitzbubentaktik unter den Anarchisten allen Grund, auf den ersten Verkünder des genannten Ausspruchs zurückzugehen. Zu mehr allerdings ist BRISSOT nicht zu gebrauchen, und so können wir auch die Frage, ob PROUDHON ihn plagiiert habe, auf sich beruhen lassen. Im äußersten Fall handelte es sich immer nur um eine paradoxen Ausdruck für einen Gedanken, der bereits durch die ganze Literatur der Naturrechtsphilosophen hindurchgelaufen war, um eine Anregung. Das Wesentliche, worauf es hier ankommt, ist nicht die kritische Stellung gegenüber dem hergebrachten Eigentum schlechthin, sondern die besondere Natur der Kritik und die aus ihr sich ergebenden Anwendungen.

Die Abhandlung, "Was ist das Eigentum?" ist ein Gemischvon moralischen, soziologischen und ökonomischen Deduktionen, dergestalt, daß PROUDHON nicht etwa die Frage nacheinander unter diesen drei Gesichtspunkten untersucht, sondern meist ganz nach Willkür seine Argumente bald aus diesem, bald aus jenem Gebiet hernimmt, beständig von dem einen auf das andere überspringt, mitten in einer ökonomischen Untersuchung z. B. plötzlich anfängt zu moralisieren, und mit den ethischen Begriffen der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit manipuliert, wo ihn der Faden historischer oder ökonomischer Analyse abreißt. Der Kernpunkt der letzteren findet sich in folgender Stelle:
    "Hat jedes industrielle Erzeugnis einen absoluten, unveränderlichen, daher auch gerechten und wahren Verkaufswert? Ja.

    "Kann jedes Produkt eines Menschen gegen ein Produkt des Menschen ausgetauscht werden? Noch einmal ja.

    "Wieviele Nägel braucht ein paar Schune?

    "Könnten wir dieses erstaunliche Problem lösen, so hätten wir den Schlüssel zum ganzen gesellschaftlichen System, nach dem die Menschheit seit 6000 Jahren sucht. Vor diesem Problem verwirrt sich der Nationalökonom und tritt zurück, der Bauer, der nicht lesen und schreiben kann, antwortet ohne Zaudern, eben soviel als man in der nämlichen Zeit mit dem nämlichen Aufwand machen kann." ("Was ist das Eigentum?", deutsch von FRIEDRICH MEYER, Bern 1844, Seite 149 - 150)
"Vor diesem Problem verwirrt sich der Nationalökonom und tritt zurück." Man weiß, daß "der Nationalökonom" bereits 23 Jahre vor Erscheinen der PROUDHONschen Schrift  nicht  vor dem Problem zurückgetreten war, sondern auf dasselbe die gleiche Antwort gegeben hat, wie PROUDHON hier dem Bauern in den Mund legt, und daß dieser Nationalökonom RICARDO hieß. Mit anderen Worten, daß der Stein der Weisen lange vor dem "Bauern" JOSEPH-PIERRE PROUDHONs vom Bourgeoisökonomen DAVID RICARDO gefunden worden war. Alles weitere über die Geschichte dieser Entdeckung ist im "Elend der Philosophie" von KARL MARX und in der Vorrede, die FRIEDRICH ENGELS dazu geschrieben hat, nachzulesen, hier würde ein besonderes Eingehen darauf zu weit führen. Nur so viel, daß schon bald nach dem ersten Erscheinen des RICARDOschen Hauptwerkes, in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, englische Sozialisten den Versuch gemacht hatten, aus der RICARDOschen Wertlehre eine Waffe gegen die bürgerliche Gesellschaft zu schmieden.

Auch PROUDHON spielt den Satz, daß der Wert eines Produkts in der zur Herstellung desselben erforderlichen Arbeitszeit steckt, als Waffe gegen das Eigentum aus. Aber es ist fast nur das Bodeneigentum, auf das er exemplifiziert, sowie das Wucherkapital. Über das industrielle Kapital geht er dagegen stets schnell hinweg (5). Rente und Bodeneigentum sind es, gegen die er die ganze Wucht seiner Angriffe richtet. Die Bodenrente ist aber bekanntlich auch das Hauptobjekt der Kritik - RICARDOs. Wovon PROUDHON jedoch wiederum nichts weiß.
    "Nach RICARDO, MacCULLOCH und MILL", schreibt er, "ist die sogenannte Grundrente nichts anderes, als der Überfluß des Produkts des fruchtbarsten Grundstücks über das Produkt von minderguten Grundstücken; so daß die Grundrente vom ersten dann bezahlt wird, wenn die Vermehrung der Bevölkerung den Anbau der letzteren nötig macht. Es ist schwer irgendeinen Sinn hierin zu finden. Wie kann aus der verschiedenen Qualität des Erdbodens ein Recht auf denselben erwachsen? Wie sollte die Verschiedenheit des  Humus  ein Prinzip der Gesetzgebung und Politik gebären? Diese Metaphysik ist für mich so fein, oder so dick, daß ich mich darin verliere, je mehr ich an sie denke. ... Hätte man sich begnügt, aus der Verschiedenheit der Grundstücke die  Gelegenheit  der Grundrente anstatt ihren  Grund  herzuleiten, so hätten wir aus dieser einfachen Bemerkung die kostbare Lehre ziehen können, daß die Einrichtung der Grundrente zu ihrem Prinzip das Verlangen nach Gleichheit gehabt habe." (a. a. O. Seite 175, 176)
RICARDO und seiner Schule zu unterstellen, sie hätten aus der verschiedenartigen Beschaffenheit der Grundstücke ein  Recht  auf Grundrente abgeleitet, ist ein ziemlich starkes Stück, bei dem es wirklich schwer wird, an ein bloßes Mißverständnis zu glauben. Man muß jedoch bei PROUDHON in diesen Dingen nun einmal sehr nachsichtig sein, und so wollen wir annehmen, es sei ihm wirklich entgangen, daß es sich für RICARDO nicht um eine Rechtfertigung, sondern nur um ökonomische  Erklärung  der Grundrente handelte, und daß die Tendenz der RICARDOschen Untersuchungen eine der Grundrente  feindliche  ist. Für uns aber enthüllt sich der vermeintliche Gegner RICARDOs auch hier wieder als dessen Nachzügler.

Noch deutlicher zeigt sich dies einige Seiten nach den zitierten Sätzen.

PROUDHON wirft die Frage auf: "Aber wenn der Schmied, der Wagner, kurz jeder Gewerbetreibende ein Recht auf das Produkt wegen des Instrumentes hat, das er liefert; und wenn die Erde ein Produktionsinstrument ist, warum sollte dieses Instrument nicht seinem wahren oder angeblichen Eigentümer einen Anteil an den Produkten gewähren, wie dies für den Fabrikanten von Pflügen und Wägen der Fall ist?"

Und er gibt darauf folgende Antwort:  "Antwort:  Hier liegt der Knoten des Rätsels, das Arkanum (Geheimnis) des Eigentums, den man wohl entwirre muß, wenn man irgendetwas von dem seltsamen Herrschaftsrecht des Eigentümers begreifen will. Der Arbeiter (französisch  ouvrier,  als richtiger übersetzt "Handwerker"), welcher die Instrumente des Landbaus fabriziert oder ausbessert, empfängt den Preis dafür  ein einziges Mal,  entweder bei der Ablieferung oder später nach und nach; und ist dieser Preis einmal dem Arbeiter bezahlt worden, so gehören die von ihm gelieferten Werkzeuge nicht mehr ihm. Nie verlangt er eine doppelte Bezahlung für dasselbe Gerät, für dieselbe Reparatur: wenn er alle Jahre mit dem Pächter teilt, so geschieht das deshalb, weil er alle Jahre für ihn etwas arbeitet. ... Zwischen dem (Grund-)Eigentümer und dem Pächter findet demnach gar kein Austausch von Werten oder Dienstleistungen statt; die Pacht ist demnach ein wahres Sklavengeld, wie wir im Axiom gesagt haben, eine Erpressung, die einzig auf Betrug und Gewalt einerseits, auf Schwäche und Unwissenheit andererseits beruth.  Die Produkte,  sagen die Nationalökonomen,  lassen sich nur durch Produkte kaufen.  Dieser Aphorismus spricht dem Eigentum das Urteil. Der Eigentümer ist entweder ein Schmarotzer oder ein Dieb, weil weder durch sich, noch durch sein Instrument etwas hervorbringt, und für Nichts durch den Tausch Produkte erhält." (a. a. O. Seite 182, 183, 184)

Kurz, das verwerfliche Eigentum ist das Grundeigentum, das verwerfliche Eigentumseinkommen ist die Grundrente, neben die dann noch der Zins tritt. - PROUDHONs Axiom: "Das Eigentum ist Diebstahl", löst sich auf in den Satz: Die Grundrente und der Zins ist Diebstahl. Der Unternehmergewinn schlüpft mit dem Arbeitseinkommen durch.

Der Kampf gegen die Grundrente bildet jedoch, wie man weiß, eine Phase in der Geschichte des  industriellen  Kapitals, er ist ein Kampf innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, nicht gegen dieselbe. Was PROUDHON von den Ökonomen, welche die Interessen der industriellen Bourgeoisie gegen die der Grundbesitzerklasse vertreten, unterscheidet, ist nicht der Kern, sondern die Form seiner Kritik. Während jene sich ängstlich davor hüten, als prinzipielle Feinde des Eigentums zu erscheinen, gebärdet sich PROUDHON, als mache er dem Eigentum schlechthin den Prozeß; während sie die liebe Unschuld spielen, hüllt sich PROUDHON in das Gewand des bürgerlichen Antichristen, des zürnenden Racheengels, der der bürgerlichen Gesellschaft den Prozeß auf Leben und Tod macht. Aber das Schwert, das er gegen sie zückt, zielt nicht nach ihrem Herzen, und das auf die Klinge desselben geschriebene "Recht auf einen redlichen Tausch" ist das Ideal des wohlmeinenden Bürgersmannes.

Und die Anarchie? Nun, man braucht nur die Ausführungen nachzulesen, welche PROUDHON dem Satz folgen läßt, wo er sich als Anarchist bekennt, um sich zu überzeugen, daß auch hier das "Neue und Unerhörte" im Wort und nicht in der Sache liegt. Fünf Seiten nach jenem Satz heißt es: "Das Eigentum und das Königtum gehen seit dem Beginn der Welt ihrem Untergang entgegen: wie der Mensch die Gerechtigkeit in der Klugheit sucht, so sucht die bürgerliche Gesellschaft die Ordnung in der Anarchie. - Anarchie, Entferntsein jedes Herrn, jedes Souveräns, ist die Regierungsform, welcher wir uns täglich mehr nähern, und welche uns die eingewurzelte Gewohnheit, den Menschen zur Regel und seinen Willen zum Gesetz machen, als die größte Unordnung und den Ausdruck von Chaos betrachten läßt." (a. a. O., Seite 311, 312)

Sodann einige Stellen weiter: "Übrigens sehe ich die Gefahr für die Freiheit der Bürger nicht ein, wenn anstatt der Feder des Gesetzgebers das Schwert des Gesetzes in die Hände der Bürger zurückgelegt würde. Die exekutive Gewalt gehört wesentlich zum Willen und kann nicht zu vielen Bevollmächtigten übertragen werden: das ist die wahre Volkssouveränität." (Seite 313, 314) Ferner in den Schlußthesen: "2) Das Gesetz, das sich auf die Wissenschaft der Tatsachen, folglich auf die Notwendigkeit selbst stützt, beeinträchtigt die Unabhängigkeit nie." ... "3) Die individuelle  Unabhängigkeit  oder die Autonomie der subjektiven Vernunft, welche aus der Verschiedenheit der Talente und Fähigkeiten entspringt, kann ohne Gefahr innerhalb der Grenzen des Gesetzes bestehen." Und schließlich heißt es von der Freiheit, der von PROUDHON gefundenen "Synthese der Gemeinschaft -  communauté  - und des Eigentums": "Die Freiheit ist Anarchie, weil sie die Herrschaft der Willkür nicht zuläßt, sondern bloß die Autorität des Gesetzes, das heißt die Notwendigkeit."

Der Gedankengang ist hier überall derselbe wie der des unangekränkelten bürgerlichen Liberalismus. Die Anarchie ist die Unterordnung der öffentlichen Einrichtungen unter die Bedürfnisse des redlichen Tausches."

Das ist PROUDHON in seiner ersten ökonomischen Abhandlung, in der er wenigstens noch Proletarier ist, auch hin und wieder die Sprache des Proletariers spricht und selbst vor dem Unternehmergewinn nicht Halt macht. Aber mit jeder kommenden Schrift läßt die Kraft der Angriffe auf die bürgerlichen Institutionen nach und passen sich die Forderungen mehr den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft an. Das ursprünglichste Mißverständnis, die Ideale des an sich selbst glaubenden Bürgertums für die des Proletariats zu halten, wird zur bewußten Tendenz, das Proletariat zu verbürgerlichen. Aber der Entwicklungsgang ist ein logischer. Nach der Schrift "Was ist das Eigentum?" blieb PROUDHON nur die Wahl, entweder die in derselben enthaltenen bürgerlichen Vorurteile loszuwerden, oder darauf zu verzichten, sich als Gegner des bürgerlichen Eigentums zu gerieren. Die nächste größere Arbeit war ein Schritt in der zweiten Richtung, und von da an gab es keinen Halt mehr. Die vielen Widersprüche in den Schriften PROUDHONs können, soweit sie nicht Produkte einer dialektischen Effekthascherei sind, als die Resultate des Ringens des proletarischen und des bürgerlichen Gedankens in ihm bezeichnet werden. Daher dann auch seine spätesten Schriften, wo der Bourgeois den Proletarier völlig untergekriegt hat, die wenigsten Widersprüche aufweisen. Nur noch ganz ausnahmsweise und in sehr abgeschwächten Klagelauten - statt der drohenden Proteste - läßt sich die Stimme des Proletariats vernehmen. In der aus PROUDHONs letzten Lebensjahren stammenden, erst nach seinem Tod publizierten "Theorie des Eigentums" zum Beispiel, ist das Resultat der Untersuchung eine Verherrlichung des Eigentums, wie sie der eingefleischteste Bourgeoisie-Ökonom nicht krasser hätte liefern können, worauf ganz zum Schluß PROUDHON jammernd ausruft, was er da gesagt hat, sei nur die Stimme seiner Vernunft, sein  Herz  werde nie für das Eigentum sein. Die hohen Mauern in der Umgebung von Paris, die dem armen Fußgänger den Genuß der Sonne und den Anblick der Felder raubten, die Inschriften "Privateigentum" vor offenen Durchgängen weckten stets ein Gefühl der Erbitterung in ihm. "Wenn ich jemals Eigentümer sein werde, so werde ich so handeln, daß Gott und die Menschen, und vor allem der Arme es mir verzeihen.

Alle Ehre dem guten Herzen PROUDHONs, aber hören wir nun die Stimme seiner geläuterten Vernunft.

Die ersten 62 Seiten der Schrift "Die Theorie des Eigentums" rühren nicht von PROUDHON her. Da das Manuskript derselben verloren gegangen ist, so haben die Herausgeber des PROUDHONschen Nachlasses, seine Freunde J. M. LANGLOIS, G. DUCHÊNE, F. G. BERGMANN und F. DELHASSE, die Einleitung aufgrund der anderweitig über den Gegenstand von PROUDHON in seinen letzten Jahren entwickelten Ansichten zusammengestellt. Gleich am Eingang (Seite 15 der französischen Ausgabe) lassen auch sie PROUDHON sagen: "Nur von dem Letzteren - nämlich dem Grundeigentum - habe ich gesagt, daß es Diebstahl sei." Weiter zitieren sie den Satz PROUDHONs aus dessen "Gerechtigkeit in der Kirche und in der Revolution," wo PROUDHON sich von seiner HEGEL nachgebildeten Theorie der Widersprüche, die sich in eine höhere Einheit auflösen, lossagt, das heißt nicht nur von seiner oft sehr schiefen Anwendung der HEGELschen Formel, sondern auch vom revolutionären Kern derselben.  "Die Antinomie  (das Widersprechende in den Dingen)  wird  nicht aufgelöst," heißt es wörtlich; "das ist der Grundfehler aller HEGEL'schen Philosophie. Die beiden Sätze, aus denen sie besteht, halten sich das Gleichgewicht (les deux termes ... se balancent), sie es unter sich, sei es mit anderen antinomischen Sätzen, was zum gesuchten Resultat führt. Aber Gleichgewicht ist nicht Synthese, wie HEGEL sie verstand und wie ich sie nach ihm annahm." (a. a. O. Seite 52)

Das stimmt allerdings, denn diese Gleichgewichtstheorie, nac der alles was besteht, wert ist, daß es nie zugrunde geht, ist der größte Trost für alle Spießbürger, während die HEGELsche Dialektik ihre ewige Verzweiflung bildet. Statt der Auflösung der Widersprüche sucht PROUDHON nun deren "Balanzierung", das konservativste aller Unternehmen, und "suchet, so werdet ihr finden."
    "Es ist daher bewiesen, daß das Eigentum ... für die Regierungsgewalt der furchtbarste Feind und der treuloseste Verbündete ist; mit einem Wort, daß es in seinen Beziehungen zum Staat nur durch ein einziges Prinzip, ein einziges Gefühl, eine einzige Idee, geleitet wird: das persönliche Interesse, der Egoismus. Dies ist vom politischen Gesichtspunkt aus der Mißbrauch des Eigentums." (Seite 135)

    "Das Eigentum ist die größte revolutionäre Kraft, die es gibt und die sich der Staatsgewalt gegenüber zu stellen vermag. ... Wo eine Macht finden, die fähig wäre, dieser fürchterlichen Macht des Staates das Gegengewicht zu halten? Es gibt keine andere als das Eigentum. ... Als Gegengewicht gegen die öffentliche Gewalt zu dienen, dem Staat die Waage zu halten, und dadurch die individuelle Freiheit zu sichern - das ist also im politischen System die Hauptfunktion des Eigentums." (Seite 136, 137, 138)

    "So setzt sich der Absolutismus des Staates dem Eigentumsabsolutismus gegenüber und wirken sie beide aufeinander, wobei sie durch ihre gegenseitige Aktion und Reaktion fortgesetzt neue Sicherheiten für die Gesellschaft, neue Garantien für den Eigentümer ins Leben rufen und die Freiheit, die Arbeit und die Gerechtigkeit endgültig triumphieren machen." (Seite 142)

    "Das moderne Eigentum, scheinbar gegen alles Recht und allen Sinn und Verstand auf einen doppelten Absolutismus begründet, kann als der Triumph der Freiheit betrachtet werden." (Seite 144)

    "Lasset den Eigentümer gewähren. ... Nein, selbst in dem Fall, wo es dem Eigentümer beliebte, seine Ländereien unbebaut zu lassen, dürft Ihr Staatslenker, nicht eingreifen! Lasset den Eigentümer gewähren." (Seite 167)

    "Das Eigentum ist absolut und schließt den Mißbrauch in sich; ihm Bedingungen aufzuerlegen heißt es zerstören." (Seite 176)

    "Das Eigentum ist seiner Natur nach föderalistisch, es widerstreb der einheitlichen Regierung." (Seite 181)
Diese Proben werden genügen; sie zeigen, wohin eine Untersuchung auslief, die statt von den materiellen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens auszugehen, die ökonomischen Zustände, die Klassen und deren Entstehung, Daseinsbedingungen und Bedürfnisse zu studieren, aus abstrakten Begriffen allgemein gültige, für alle Zeiten und für alle Verhältnisse maßgebenden Formeln zu entwickelns suchte. Sie konnte nicht anders enden als in der Verklärung dessen, worauf diese Begriffe beruhten, und das war hier die Gesellschaft, wie sie bestand. Das PROUDHONsche Ideal der Freiheit ist die bürgerliche Freiheit, die das Eigentum zur Grundlage hat, sein Ideal der Gerechtigkeit die bürgerliche Gerechtigkeit. "Was ist die Gerechtigkeit in der Tat," ruft er (Seite 144) aus, "wenn nicht das Gleichgewicht zwischen den Kräften?" Was aber bedeutet die Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Kräften? Die Stabilität, die Erhaltung des Bestehenden. Die politische Zauberformel zur Verwirklichung dieses Ideals sollte der Föderalismus sein, die Formel, mittels deren auch die Arbeiterklasse ihre Rechnung dabei finden sollte, der Mutualismus. Diesen hatte PROUDHON bereits in früheren Schriften gelegentlich skizziert, aber er findet sich am ausführlichsten entwickelt in der zweiten seiner nachgelassenen Schriften, der "Capacité politique des classes ouvriéres."

Die Abhandlung "De la capacité politique des classes ouvriéres" ist im Jahr 1864 abgefaßt. Sie rührt mit Ausnahme des Schlußkapitels von PROUDHON selbst her, der auch bereits die Korrekturen durchgesehen hatte. Eine von PROUDHON selbst noch geschriebene Vorrede widmet das Werk einer Anzahl von Arbeitern in Paris und Rouen, die PROUDHON über das von ihnen bei den Wahlen des Jahres 1863 und 64 zu beobachtende Verhalten angefragt hatten, und denen er in dem bekannten Sendschreiben die Abgabe weißer Stimmzettel als Ausdruck des Protestes empfohlen hatte. Im weiteren Sinne ist es nicht mit Unrecht als das Vermächtnis PROUDHONs an die französische Arbeiterklasse bezeichnet worden. Mit Rücksicht darauf, und da das Buch meines Wissens in der deutschen sozialistischen Presse noch nie ausführlicher besprochen worden ist, scheint mir eine eingehende Skizze seines Inhaltes, soweit derselbe sich auf unseren Gegenstand bezieht, durchaus geboten.

Wie der Titel besagt, will das Buch die Frage der politischen Mündigkeit - so wäre hier wohl am besten das Wort  capacité  zu übersetzen - der Arbeiterklasse zu untersuchen. Die politische Mündigkeit setzt nach PROUDHON drei Dinge voraus: Erstens, daß die Persönlichkeit, Körperschaft oder Bevölkerungsschicht (collectivité), um die es sich handelt, ein Bewußtsein ihrer selbst, ihrer gesellschaftlichen Rolle und Interessen haben; zweitens, daß sie ihrer  "Idee"  Ausdruck geben, d. h. das Gesetz ihres Daseins in seinem Prinzip und seinen Konsequenzen sich durch den Verstand klar machen, durch das Wort übersetzen und durch die Vernunft erklären können; drittens daß sie aus dieser als Glaubensbekenntnis aufgestellten Idee nach dem Bedürfnis und den jeweiligen Umständen  praktische  Schlüsse ziehen können. Mit Bezug auf die Arbeiterklasse stelle sich das Problem so, zu wissen:
    a) ob die Arbeiterklasse im Hinblick auf ihre Beziehungen zum Staat und der Gesellschaft Selbstbewußtsein erlangt habe, ob sie sich als kollektives, moralisches und freies Wesen von der Bourgeoisie als Klasse unterscheidet; ob sie ihre Interessen von denen jener zu trennen weiß und darauf halte, sich nicht mit ihr zu verwechseln; -

    b) ob sie eine  Idee  besitzt, d. h. sich einen Begriff von ihrer eigenen Natur (de sa propre constitution) gemacht hat, die Gesetze, Bedingungen und Formeln ihrer Existenz kennt, deren Bestimmung und Ende voraussieht und ob sie sich in ihren Beziehungen zum Staat, der Nation und der allgemeinen Ordnung begreife; -

    c) ob die Arbeiterklasse schließlich imstand ist, aus dieser Idee praktische Schlüsse für die Organisation der Gesellschaft zu ziehen, die ihr eigen sind, und ob sie, wenn ihr durch den Verfall oder den Verzicht der Bourgeoisie die Macht zufällt, eine neue politische Ordnung zu schaffen und zu entwickeln vermag.
Wie man sieht, stellt sich da PROUDHON im Grunde dieselbe Frage, die sich LASSALLE im "Arbeiterprogramm" gestellt hat, von dem ihm vielleicht einiges zu Ohren gekommen sein mag, und es wäre jedenfalls nicht uninteressant, eine Parallele des Gedankengangs zu geben, den die beiden, in ihren Schlußfolgerungen so weit auseinandergehenden, und doch in Vielem sich so ähnlichen Männer bei ihrer Untersuchung verfolgten. Indessen müssen wir uns hier auf die Charakterisierung der beiderseitigen Schlußfolgerungen beschränken. Diese ist bei beiden darin gleich, daß die bloß formale Gleichberechtigung, welches seit der französischen Revolution verkündet ist, zur sozialen erweitert werden soll; aber während LASSALLE als den Ausfluß der politischen Idee des Arbeiterstandes die Stärkung des unter die Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts gestellten Staates bezeichnet, sucht PROUDHON im Gegenteil, wenn auch nicht mehr den Staat abzuschaffen, so doch in jeder Weise gegenüber den "natürlichen" Elementen der Gesellschaft zu schwächen. Und während für LASSALLE das allgemeine Wahlrecht in seiner überlieferten Form das Mittel der Erreichung dieses Zwecks sein sollte, war es für PROUDHON im Gegenteil die Ursache der Täuschung und Unterdrückung. LASSALLE bezeichnet es als eine Bourgeois-Idee, den Staat untergehen zu lassen in die Gesellschaft, wohingegen PROUDHON der Bourgeoisie gerade die Aufrechterhaltung des Autoritätsprinzips, dessen Ausdruck der Staat ist, zum charakterisierenden Vorwurf macht. Alles das erklärt sich aus den besonderen Verhältnissen, die jeder von beiden vor Augen hatte, während beide, trotz häufiger Bezugnahme auf diese Verhältnisse, schließlich immer wieder aus bestimmten, abgeleiteten Ideen heraus deduzieren. So ist es dann kein Wunder, daß für LASSALLE - in seinem Buch über BASTIAT-SCHULZE von DELITZSCH - PROUDHON überhaupt kein Sozialist und "nie ein Ökonome" war, während PROUDHON LASSALLEs Theorie unter die Rubrik des von ihm verworfenen "System des Luxembourg" (6) eingereiht haben würde - beide unter emphatischer Berufung auf die "Wissenschaft".

Das "System des Luxembourg" - wobei der Sammelname zweifelsohne in polemischer Absicht gegen LOUIS BLANC gewählt wurde, dessen Anhänger nichts von der PROUDHON'schen Taktik der weißen Stimmzettel wissen wollten - ist nach PROUDHON "im Grunde dasselbe wie die Systeme vom CABET, ROBERT OWEN, den Mährischn Brüdern (Herrnhuter), CAMPANELLA, MORUS, PLATO, den ersten Christen usw., ein kommunistisches, regiererisches, diktatorisches, autoritäres und doktrinäres System; es geht von dem Prinzip aus, daß das Individuum im Wesentlichen der Gesamtheit untergeordnet ist, daß es von ihr allein sein Recht und sein Leben ableitet; daß der Bürger dem Staat gehört wie das Kinder der Familie, daß er in seiner Macht und Gewalt - "in manu" - ist und ihm in allen Dingen Unterwerfung und Gehorsam schuldet." (De la capacité, Seite 57) Diesem Prinzip gemäß "strebt die Schule des Luxembourg dahin, in Theorie und Praxis alles dem Staat oder, was auf das Gleiche hinauskommt, der Gemeinschaft zu überweisen: Arbeit, Industrie, Eigentum, Handel, öffentlichen Unterricht, Reichtum, sowie die Gesetzgebung, die Rechtspflege, die Polizei, die öffentlichen Arbeiten, die Diplomatie und den Krieg, damit das alles hinterher im Namen der Gemeinschaft oder des Staates allen Bürgern als Mitgliedern der großen Familie nach ihren Eigenschaften und Bedürfnissen zuerteilt werde." (a. a. O.)

Das heißt aber nur das alte Prinzip der Gesellschaft beibehalten, das, ob es sich nun um die Gesellschaft des Altertums, des Feudalismus oder der Bourgeoisie, um die des göttlichen Rehts oder der Revolution handelt, immer  Autorität  lautet. Und wie in der Politik, so auch in der Ökonomie. Das Eigentum sei bisher immer im Grunde nur eine Konzession des Staates, als Vertreter der nationalen Gemeinschaft, gewesen, nur die Art der Anwendung des Grundsatzes habe differiert, und indem des das Ziel des Kommunismus ist, alle Bruchteile der Domäne des Staates wieder unter dessen Oberhoheit zu bringen, sei nach dem System des Luxembourg die demokratische und soziale Revolution in prinzipieller Hinsicht nur eine Wiederherstellung, d. h. ein Rückschritt. Der Kommunismus habe gegen die Armee der Besitzer, wie eine Armee, die die Kanonen des Feindes genommen hat, bloß deren eigene Artillerie umgekehrt; wie der Sklave stets den Herren nachgeäfft hat, so hat der Demokrat den Autokraten zum Muster genommen. Als Mittel der Verwirklichung hat die Partei des Luxembourg die  Assoziation  bezeichnet und propagiert. Die Idee der Assoziation sei aber durchaus nicht neu in der ökonomischen Welt, die Staaten des göttlichen Rechts hätten die mächtigsten Assoziationen gegründet und die Theorie geliefert, die bürgerliche Gesetzgebung kenne verschiedene Arten und Formen derselben. "Was haben die Theoretiker des Luxembourg hinzugefügt? Absolut nichts. Bald ist die Assoziation für sie eine einfache "Gemeinschaft der Güter und Gewinne (Artikel 1836 und folgende des Code Civil), zuweilen hat man aus ihr nur eine einfache Teilhaberschaft oder  Kooperation  oder auch eine Kommanditgesellschaft gemacht, noch öfter hat man unter Arbeiterassoziationen mächtige und zahlreiche Arbeitergesellschaften verstanden, die vom Staat subventioniert, kommanditiert und dirigirt, die Masse der Arbeiter, sowie die Arbeiten und Unternehmungen an sich ziehen, alle Industrie, alle Kultur, allen Handel, alle Funktionen, alles Eigentum in Beschlag nehmen, alle individuelle Aktion, allen getrennten Besitz, alles Leben, alle Freiheit, alles Vermögen um sich herum ausrotten würden, genauso wie es heute die großen Aktiengesellschaften tun." (a. a. O., Seite 59) Desgleichen sei es mit dem politischen System der Schule des Luxembourg, es sei stets die alte Formel, aber in kommunistischer Übertreibung: das System des Privilegs gegen seine bisherigen Schützlinge umgekehrt, die aristokratische Ausbeutung und der Despotismus zum Vorteil der Masse; der "Diener Staat zur Milchkuh des Proletariats geworden und auf den Wiesen und Weiden der Eigentümer ernährt - mit einem Wort, ein einfacher Wechsel in der Begünstigung." In Bezug auf die Ideen, die Freiheiten, die Gerechtigkeit, die Wissenschaft - nichts. Nur in einem Punkt unterscheidet sich der Kommunismus vom System des Bourgeois-Staates: dieser hält die Familie aufrecht, während der Kommunismus sie um jeden Preis abzuschaffen sucht. Warum? "Weil die Ehe, die Familie die Festung der individuellen Freiheit ist, weil die Freiheit der Prellstein des Staates ist, und weil der Kommunismus, um diesen zu festigen, ihn von jeder störenden und hemmenden Opposition zu befreien, kein anderes Mittel sieht, als mit allem übrigen auch die Frauen und die Kinder dem Staat, der Gemeinschaft auszuliefern." (Seite 61)

Soweit die PROUDHON'sche Kritik der kommunistischen Systeme, von der Evangelist MÜLBERGER behauptet, daß sie "an treffender Kürze, Schärfe der Formulierung und vernichtender Kraft ihresgleichen nicht haben dürfte." (a. a. O., Seite 62) Kein Zweifel, der Kommunismus und was daran streift, ist nicht die "Idee" der Arbeiterklasse. Was aber ist diese Idee? Nun eben der Mutualismus. PROUDHON beweist dies anhand des Manifests der 60 Arbeiter, die sich an ihn gewandt haben. Die Art, wie er das Manifest zu seiner Beweisführung benutzt, ist die schon von GOETHE charakterisierte:
    "Im Interpretieren seid ihr munter,
    Legt Ihr nicht aus, so legt Ihr unter."
Wir gehen indessen hier darauf nicht weiter ein, sondern halten uns ausschließlich an PROUDHON selbst. Hören wir von ihm, was der Mutualismus in all den Dingen, an denen sich der Kommunismus versündigt, Neues und Besseres lehrt.

Das "Prinzip" des Mutualismus ist nach PROUDHON zum ersten Mal in jener berühmten Maxime ausgedrückt, welche die Weisen gelehrt und die Konstitutionen des Jahres II und III der ersten französischen Republik in der Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und Bürgers niedergelegt haben:
    "Tut keinem andern, was Ihr nicht wollt, daß man Euch tue."

    "Tut unablässig den andern das Gute, was ihr von ihnen zu empfangen wünscht."
Dieses Prinzip setzt voraus, daß das Individuum, an das die Mahnung ergeht, erstens frei ist und zweitens das Gute vom Bösen zu unterscheiden weiß, d. h. das Grundelement der Gerechtigkeit besitzt. Freiheit und Gerechtigkeit aber heben uns weit über die Idee der auf der Gemeinschaft oder dem göttlichen Recht beruhenden Autorität, auf welche sich das System des Luxembourg stützt.
    "Bisher war jedoch die obige schöne Maxime nur eine Art Ratschlag für die Völker; durch die Art aber, wie die Arbeiterklassen ihre Anwendung fordern, strebt sie  Vorschrift  zu werden, einen durchaus bindenden Charakter, mit einem Wort  Gesetzeskraft  zu erlangen." (PROUDHON, a. a. O., Seite 64)
Wir müssen also  par ordre du mufti  [auf Anordnung des Vorgesetzten - wp] Mustermenschen sein. Unsere eben versprochene Freiheit wird dadurch schon einigermaßen getrübt.

Aber das war nur das Prinzip, sehen wir uns nun die "Idee" Mutualismus näher an.
    "Das französische Wort  mutuel, mutualité, mutuation,"  lehrt uns PROUDHON, "das gleichbedeutend ist mit Gegenseitigkeit, kommt vom lateinischen  mutuum,  das (Verbrauchs-)Darlehen, und in einem weiteren Sinn  Tausch  bedeutet. Man weiß, daß beim Verbrauchsdarlehen der geliehene Gegenstand vom Entleihenden konsumiert wird, der nur ein Gleichwertiges, sei es derselben Art, sei es unter irgendeiner anderen Form zurückgibt. Angenommen, daß der Darleiher seinerseits Entlehnender wird, so hat man ein gegenseitiges Darlehen und infolgedessen einen Tausch; dies ist das logische Band, welches zwei verschiedenen Operationen denselben Namen gibt. Nichts einfacher als dieser Begriff; ich werde mich daher nicht länger bei der logischen und grammatischen Seite der Sache aufhalten. Was uns interessiert, ist zu wissen, wie man dazu gekommen ist, auf die anstelle der Ideen der Autorität, der Gemeinschaft oder der Barmherzigkeit gesetzte Idee der Mutualität, der Gegenseitigkeit, des Tausches, der * Gerechtigkeit  in der Politik und der Ökonomie ein System von Beziehungen auszudenken, das nach nicht Geringerem strebt als die soziale Ordnung von Grund auf umzuwälzen." (Seite 68)
Die Sache ist furchtbar einfach. Anhänger der individuellen Freiheit haben der gouvernementalen Anschauung die Idee gegenübergestellt,
    "daß die Gesellschaft nicht als eine Hierarchie der Ämter und Fähigkeiten, sondern als ein System des Gleichgewichts zwischen zwei freien Kräften betrachtet werden muß ... daß der Staat bloß die Resultante aus der freien Vereinigung gleicher unabhängiger und die Gerechtigkeit wünschender Personen sei und daher nichts darstellt als gruppierte Freiheit und Interessen, daß jeder Streit zwischen der Regierungsgewalt und irgendeinem Bürger sich auf einen Streit zwischen Bürgern reduziert und es daher in der Gesellschaft kein anderes Vorrecht als die Freiheit und keine andere Oberherrschaft als die des Rechts gibt. Die Autorität und die Wohltätigkeit haben ihre Zeit gehabt, sagen sie, an ihrer Stelle wollen wir die Gerechtigkeit. Von dieser Voraussetzung ausgehend, haben sie auf eine Organisation des mutualistischen Prinzips im weitesten Umfang gefolgert. Dienst um Dienst, sagen sie, Produkt um Produkt, Darlehen für Darlehen, Versicherung für Versicherung, Kredit für Kredit, Bürgschaft für Bürgschaft, Sicherheit für Sicherheit etc. Das ist das Gesetz. Es ist eine Art umgekehrter Anwendung des antiken Vergeltungsrechts:  Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben,  sein Übertragung aus dem Kriminalrecht und der rohen Praxis der Blutrache auf das ökonomische Recht, die Werke der Arbeit und die guten Leistungen der freien Brüderlichkeit. Aus diesem ergeben sich alle Institutionen des Mutualismus: gegenseitige Versicherungen, gegenseitiger Kredit, gegenseitige Unterstützungen, gegenseitiger Unterricht, sowie eine gegenseitige Verbürgung des Absatzes, des Tausches, der guten Beschaffenheit und des gerechten Preises der Waren etc. Das ist es, woraus der Mutualismus, mit Hilfe gewisser Institutionen, ein Staatsprinzip, ein Staatsgesetz, ich möchte sogar sagen eine Staatsreligion machen will, deren Praxis den Bürgern so leicht wird, wie sie ihnen vorteilhaft ist, die weder Polizei noch Unterdrückung noch Zwang erfordert und in keinem Fall für irgendjemand eine Ursache der Täuschung und des Ruins werden kann." (Seite 69 und 70)
Machen wir hier einen Augenblick Halt. Vor uns liegt ein anderes Buch und darin lesen wir:
    "Ja, meine Herren, aber als  Wirtschaftsprinzip,  als Grundlage zur Ordnung und Regelung des Haushalts, des Erwerbslebens der Menschen, da können wir die  Brüderlichkeit  unmöglich aufstellen. Die Grundlage für diese Beziehungen, wie wir gesehen haben, als wir über den Tausch und das berechtigte Eigeninteresse sprachen, ist die  Gegenseitigkeit.  Nichts ohne Entgelt! Leistung für Leistung!' so heißt der Spruch, nach welchem sich der wirtschaftliche Verkehr der Menschen regelt. ... Aber wie die  Gegenseitigkeit  das Prinzip für das Wirtschaftsleben ist, so ist für das politische Staatsleben die  Gerechtigkeit  die Grundlage."
Das Buch, in dem das zu lesen ist, heißt: "Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus", und sein Verfasser - SCHULTZE-DELITZSCH. Wie erfreulich, daß der typische Repräsentant des aufgeklärten deutschen Philistertums die "Idee der Arbeiterklasse" nicht minder erkannt hatte, als PROUDHON, "auf den immer und immer wieder sich jeder zurückgeführt sieht, der die Wurzeln der neuen Lehre der Herrschaftslosigkeit bloßzulegen sucht." (MACKAY, Die Anarchisten, Seite 132). Und glaube nicht, daß die Übereinstimmung nur in den Worten liegt. Unzählige Parallelstellen bezeugen, daß sie in der Tat dem  Prinzip  gilt, und wahrhaft rührend ist die Übereinstimmung in der "vernichtenden Kritik des Kommunismus." Wer sich dafür interessiert, kann das Nähere Seite 82 - 89 im SCHULZE'schen und Seite 52 - 63 sowie Seite 70 - 71 im PROUDHON'schen Buch selber nachlesen. Das Ende vom Lied ist hier wie dort die Prophezeiung einer allgemeinen Verlumpung und des Elends, falls der Sozialismus, das System des Luxembourg, die Gesellschaft regieren würde.

Gehen wir jdeoch von der Entwicklung der Idee zu ihrer Anwendung bei PROUDHON über.

Das erste Beispiel, das PROUDHON gibt, ist die Versicherung auf Gegenseitigkeit, im Gegensatz zur Versicherung gegen feste Prämien. Was auch immer die Vorteile der ersteren sind, sie ist eine durchaus den bürgerlichen Interessen zuträgliche Institution. Das zweite Beispiel ist die Verbesserung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage durch das Prinzip der Mutualität. Heute werde bei Angebot und Nachfrage bald der Käufer, bald der Verkäufer übers Ohr gehauen, und manchmal begaunerten gar beide einander. Aber es gibt ein Hilsmittel gegen diesen schmachvollen Zustand, und das ist - der feste Preis.
    "Es ist sicher, daß der Verkauf zu festen Preisen mehr guten Glauben voraussetzt, mehr Würde zum Ausdruck bringt, als das Vorschlagen und Feilschen. Man nehme an, alle Kaufleute und Produzenten gingen zu ihm über, und wir hätten in Angebot und Nachfrage die Mutualität. Zweifelsohne kann sich der zu einem festen Preis Verkaufene über den Wert der Ware täuschen; aber man bedenke, daß er einerseits durch die Konkurrenz, andererseits durch die aufgeklärte Freiheit der Käufer im Zaum gehalten wird. ... Und weiß man, was aus einem solchen Prinzip folgen würde? Kein Zweifel, es würden weniger riesenhafte Vermögen gemacht werden, aber es würde auch weniger Zahlungseinstellungen und Bankrotte, weniger Ruin und Verzweiflung geben. Ein Land, wo die Dinge nur für das gegeben werden, was sie wert sind, ohne die Sucht nach Agio [Aufgeld, Aufschlag - wp], hätte das doppelte Problem des Wertes und der Gleichheit gelöst." (a. a. O., Seite 84)
Bekanntlich ist der feste Preis auf der entwickelten Stufe des bürgerlichen Verkehrs die Regel. PROUDHONs Ideal ist da, wo die Großindustrie und der moderne Großhandel herrschen, so ziemlich durchgeführt, aber die Zahlungseinstellungen und Bankrotte haben darum nicht aufgehört.

Das dritte Beispiel der Anwendung der Mutualität bezieht sich auf Arbeit und Lohn. Da die Mutualität, wie PROUDHON von Neuem betont, im tausch der guten Dienste und Produkte besteht, so stellt sich die Frage so: wie dem Arbeiter einen gerechten Tausch seiner Arbeit, das heißt einen gerechten Lohn verschaffen und sichern? Nach einigen Betrachtungen über die physischen und geistigen Unterschiede unter den Menschen, wobei er mit den bösen Kommunisten zu dem Resultat kommt, daß die Abweichungen vom Durchschnittsniveau sowohl der Zahl wie der Größe nach viel geringer sind, als sie gemeinhin gehalten werden, definiert PROUDHON den normalen Arbeitstag wie folgt:
    "Er besteht aus dem, was in jeder Industreie und jedem Beruf ein Mann von durchschnittlicher Kraft, Intelligenz und durchschnittlichem Alter, der sein Geschäft und dessen verschiedene Teile gut versteht, in einem gegebenen Zeitraum an Diensten zu leisten oder an Werten zu produzieren vermag, entweder in 10, 12 oder 15 Stunden für die Berufe, wo die Arbeit nach dem Tagwerk geschätzt wird, oder in einer Woche, einem Monat, einer Saison, einem Jahr für diejenigen, die einen längeren Zeitraum erfordern." (Seite 95)
Für Kinder, Frauen und Greise, Kränkelnde ist der Arbeitstag nur "ein Bruchteil des als Werteinheit dienenden offiziellen, normalen, gesetzlichen (!) Arbeitstages," desgleichen für den Teilarbeiter, "dessen rein mechanische Leistung, die weniger Intelligenz als Routine erfordert, nicht mit der eines wahrhaften industriellen Arbeiters verglichen werden kann." Umgekehrt muß der Arbeiter, der schneller auffaßt und schneller arbeitet, mehr und bessere Arbeit liefert und mehr noch derjenige, der mit dieser Überlegenheit das Genie des Leitens und die Fähigkeit des Kommandierens verbindet, einen entsprechend höheren Lohn bekommen. Aber diese Erhöhung wird nicht ein Vorzug der Person, sondern nur ein solcher der Fähigkeiten, den die Gerechtigkeit stets anerkennt, sein.

Wie nun aber zu diesem schönen Ziel gelangen? Zwei Dinge sind dazu notwendig. Erstens,
    "daß die arbeitende Gesellschaft zu jenem Grad industrieller und ökonomischer Moralität gelange, daß sich alle der ihnen zugesprochenen Gerechtigkeit unterwerfen, ohne Rücksicht auf die Ansprüche der Eitelkeit und der Persönlichkeit, auf Titel, Rang, Stellung, Ehrenauszeichnung, Berühmtheit, mit einem Wort den Meinungswert. Nur die Nützlichkeit des Produkts, seine Beschaffenheit, die Arbeit und die Kosten die es erfordert, dürfen hier in Rechnung kommen."
Zweitens muß die Arbeiterdemokratie die Frage in die Hand nehmen.
    "Spreche sie sich aus, und der Staat, das Organ der Gesellschaft, wird unter dem Druck ihrer Meinung handeln müssen. Wenn die Arbeiterdemokratie, zufrieden damit, in den Werkstätten zu agieren, die Bourgeois anzugreifen, und sich in nutzlosen Wahlen aufzuspielen, zu den Prinzipien der politischen Ökonomie, welche diejenigen der Revolution sind, sich gleichgültig verhält, so möge sie wissen, daß sie ihre Pflichten verletzt und eines Tages vor der Nachkommenschaft gebrandmarkt werden wird." (Seite 96 und 97).
Wir reiben uns die Augen. Der Staat soll handeln, alle sich der ihnen zugewiesenen Gerechtigkeit unterwerfen, die Persönlichkeiten zurücktreten. Ja, wo bleiben denn da all die schönen Freiheiten, die uns vorher versprochen worden waren? Hier, woe es sich um eine Frage handelt, bei der die Arbeiter ganz unmittelbar interessiert sind, befinden wir uns plötzlich im schönsten "System des Luxembourg". Der Staat soll handeln. Schön. Nach allem hier Gesagten kann man nicht anders annehmen, als daß er durch Gesetz bestimmen soll, welches der Normallohn und wie die Abstufungen desselben sein sollen, ausdrücklich wurde sogar oben wom "gesetzlichen Lohn" gesprochen. Aber wie den einzelnen Unternehmer zwingen, sich an diese gesetzliche Norm zu halten? "Die Wertung der Arbeiten, das beständig erneuerte Maß der Werte ist das Fundamentalproblem der Gesellschaft, ein Problem, das nur der soziale Wille und die Macht der Kollektivität lösen können," heißt es hier, während es oben bei der Kritik des Kommunismus hieß, daß die Autorität, ob man sie nun vom Himmel kommen lasse oder mit ROUSSEAU von der nationalen Kollektivität ableite, das Grundprinzip der alten Gesellschaft, eine Wiederherstellung, reaktionär sei. Und wenn wir den ganzen PROUDHON durchblättern, auf diesen Widerspruch finden wir nirgends eine Lösung.

Der Handel mit all seinen gegenseitigen Übervorteilungen wird durch den Mutualismus im Handumdrehen reformiert.
    "Nicht indem er ihn mit einem Netz von mehr oder weniger kleinlichen und fast stets fruchtlosen Strafvorschriften umgibt, noch dadurch, daß er die Handelsfreiheit beschränkt, ein Mittel, das schlimmer wäre als das Übel selbst, sondern indem er ihn wie die Versicherung behandelt, ich möchte sagen, ihn mit allen öffentlichen Garantien umgibt und ihn dadurch zur Mutualität führt." (Seite 101
)Folgendes sind die Maßregeln, durch welche dieses schöne Resultat erzielt werden wird: detaillierte und oft erneuerte Statistiken, genaue Informationen über die Bedürfnisse und Vorräte, eine loyale Aufstellung der Kostenpreise, das Vorhersehen aller Eventualitäten und, nach vorhergegangener freundschaftlicher Diskussion zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten, die Festsetzung einer Taxe von Maximal- und Minimalprofiten, je nach den Schwierigkeiten und Risikos, sowie die Organisation von Regulierungsgesellschaften. Freiheit soviel man will, aber was noch wichtiger ist wie die Freiheit, Aufrichtigkeit und Gegenseitigkeit, Lich für alle. Ist dies besorgt, dann dem Fleißigsten und Ehrlichsten die Kundschaft.
    "Glaubt man nicht, daß nach etlichen Jahren dieser Reform unsere gesellschaftliche Moral vollständig verändert sein wird zum großen Vorteil des allgemeinen Glücks?" (Seite 101 und 102)
Wer glaubt wird selig, sagt das Sprichwort, aber da nun fast all die schönen Mittelchen dieser Handelsreform bereits existieren, ohne die in Aussicht gestellte glückselige Wirkung gebracht zu haben, so können wir uns nicht helfen, wir hören die Botschaft wohl, allein uns fehlt der Glaube.

Variatio delectat,  Abwechslung erfreut das Herz. Nach einer Reform auf der Grundlage der höchsten Freiheit wieder eine solche mittels der Autorität des Gesetzes. Es handelt sich jetzt um die aller Welt am Herzen liegende Frage: die Wohnungsfrage. Welches tugendhafte Gemüt empört sich nicht über die hohen Mieten und die Profite der Hauswirte? "Ein Punkt, wo das Gesetz der Mutualität auf das Äußerste verletzt wir, sind die Mietverträge. Hier herrscht noch das alte römische Recht, dieser antike tyrannische Eigentumskultus. Das Gesetz begünstigt den Eigentümer und behandelt den Mieter mit Mißtrauen. Es herrscht zwischen ihnen keine Gleichheit, daher die allgemeine Notlage, während die Eigentümer Millionäre werden. "Nichts leichter" aber, "als unter dem Regime der Mutualität den Mietvertrag zu disziplinieren, ohne das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu verletzen, und mit strenger Innehaltung der Vorschriften der puren Gerechtigkeit." Der "ebenso einwandfreien wie unfehlbaren Mittel dazu" sind drei:
    a) die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften für Gelddarlehen auf Wohnungsverträge. Da das Gesetz vom Jahre 1807 für die Ersteren in Geschäftsangelegenheiten ein Maximum von sechs Prozent vorschreibt, so wäre nichts gerechter als wenn es den Hausbesitzern sagte: Da ihr mehr als Jemand von dieser Beschränkung Nutzen zieht, so werdet ihr eurerseits euch dem allgemeinen Gesetz zu unterwerfen haben; denselben Zins, den ihr eurem Bankier, einem Lieferanten zahlt, wird man euch zahlen. Gegenseitigkeit ist Gerechtigkeit." (Seite 109)

    b) "Ein anderes Mittel, das gebaute Eigentum in Zaum zu halten, wäre, gegenüber dem durch Umstände, die mit der Tätigkeit des Eigentümers nichts zu tun haben, erwachsenen Mehrwert der Grundstücke, das soziale Recht geltend zu machen. Ich gehe darauf nicht weiter ein." (Seite 110)

    c) Die Mietverträge werden rechtlich den Handelsverträgen gleichgestellt und damit alle Privilegien der Eigentümer aufgehoben. Mehr noch, eine Folge dieser Gleichsetzung, im Verein mit den ersten beiden Maßregeln, würde sein, daß "durch die Behörde eine Wohnungsstatistik aufgestellt, eine bessere Kontrolle der sanitären Beschaffenheit der Wohnungen organisiert würde und sich für den Ankauf von Grundstücken, den Bauunterhalt und die Vermietung von Häusern, Maurergesellschaften in Konkurrenz mit den bisherigen Eigentümern und für den Nutzen aller bilden könnten." (a. a. O., Seite 110)
Hierzu nur zwei Bemerkungen. Erstens sind ein Teil dieser Reformvorschläge bereits durchgeführt, während der Rest auf dem Programm bürgerlicher Parteien steht, eines ihrer Hauptagitationsmittel bildet. Denn wie sehr auch die Arbeiterklasse unter den heuten Wohnungsverhältnissen leidet, nicht minder leiden darunter große Kreise des Bürgertums. Zweitens ist von Mutualität in allen drei Maßregeln sehr wenig zu merken. Es heißt überall: Gesetzgebung, Gemeinschaft, Autorität hilf! Mit anderen Worten, ein dreifacher Rückzug zum "System des Luxembourg."

Nicht anders steht es mit dem Mutualismus im Transportwesen, und genauer zugesehen auch mit dem Mutualismus des Kredits. In Bezug auf den Ersteren greift PROUDHON die Regierung LOUIS PHILIPPs wegen der Konzessionierung von Privateisenbahngesellschaften an und sagt, daß wenn sie begriffen hätte, daß sie nur das Organ der Beziehungen der Solidarität und Mutualität zu sein habe, sie den Dienst des Transportwesens selbst organisiert oder ihn Arbeitergesellschaften zur Ausführung nach den Grundsätzen der ökonomischen Gleichheit und Gegenseitigkeit übertragen hätte. In Bezug auf das Kreditwesen schreibt PROUDHON, daß seine Volksbank von 1849 nur zur ökonomischen Erziehung des Volkes dienen sollte, daß es aber zur Herstellung des "credit mutuel" der ganzen Kraft eines kollektiven, ausgesprochen reformatorischen Willens bedarf. "Nicht durch Absonderungen, durch unbedeutende Konkurrenzversuche, noch durch philanthropische Subventionen oder Beiträge der Hingebung wird in Europa der gegenseitige Kredit verwirklicht werden." (Anm. Seite 128) Und an einer anderen Stelle protestier er gegen die "von gewissen Anhängern der ökonomischen Anarchie" geforderte Feiheit der Zettelbanken und "erinnert" daran, daß "jeder dergestalt organisierte öffentliche Dienst, daß er den Konsumenten nichts oder fast nichts kostet, eine Leistung der durch sich selbst und für sich selbst handelnden Kollektivität ist und daher eben so sehr außerhalb der  communaute  wie der Zentralisation steht." (Anm. Seite 126) Ob er das Ding  communaute  oder anders nennt, die durch sich selbst handelnde, öffentliche Dienste einrichtende Kollektivität ist die organisierte Gemeinschaft, d. h. bis auf weiteres die politische Gemeinde oder der Staat.

Die letzte ökonomische Kategorie, an welcher PROUDHON die unübertreffliche Wirkung der Mutualität nachweist, ist die der Assoziation. In seinen früheren Schriften hatte er die Arbeiter-Assoziation, insbesondere die BLANC'sche Idee der Organisation der Arbeit, mit großer Heftigkeit angegriffen, was ihn allerdings nicht gehindert hat, sich, als er seine Volksbank gründet, an eben diese Assoziationen hilfesuchend zu wenden, ebensowenig wie die ihn bei jener Gelegenheit von den Assoziationen geleistete Hilfe zurückhielt, hinterher - in den "Bekenntnissen eines Revolutionärs" - in eben derselben wegwerfenden Weise von den Assoziationen zu sprechen.

Der Widerspruch löst sich in der vorliegenden Schrift. PROUDHONs Verdammungsurteil galt nicht der Assoziation als solcher, sondern der Assoziation ohne die PROUDHON'sche Mutualität. Die Assoziation, erklärt er hier, ist eine ökonomische Kraft wie die Arbeitsteilung, die Kooperation (7), die Maschinen, die Konkurrenz, der Tausch, der Kredit, das Eigentum etc. Die größte ökonomische Kraft jedoch, die Kraft aller Kräfte, man ist versucht zu sagen die Kraft ansich, sei der Mutualismus.
    "Aber von allen ökonomischen Kräften ist die größte, die heiligste, diejenige, die mit den Kombinationen der Arbeit alle Schöpfungen (conceptions) des Geistes und die Rechtfertigungen des Gewissens verbindet, die Mutualität, in der sich, kann man sagen, alle anderen zusammenfinden. - Durch die Mutualität treten die übrigen ökonomischen Kräfte in die Sphäre des Rechts; sie werden sozusagen integrierende Teile des Rechts des Menschen und Produzenten. Ohne dasselbe würden sie für das soziale Wohl wie für das soziale Übel gleichgültig sein; sie haben nichts Verpflichtendes, sie bieten ansich keinerlei moralisches Element dar. ... Sicherlich ist die Assoziation, von ihrer guten Seite betrachtet, lieblich und brüderlich; Gott verhüte, daß ich sie in den Augen des Volkes herabsetze! ... Aber die Assoziation ansich und ohne einen sie durchdringenden Rechtsgedanken ist darum nicht minder ein auf ein rein physiologisches und interessiertes Empfinden begründetes zufälliges Band, ein freier, nach Belieben lösbarer Kontrakt, eine abgeschlossene Gruppe, von der man stets sagen kann, daß die Mittelglieder, nur für sich selbst assoziiert, gegen alle übrige welt organisiert sind. So hat es auch der Gesetzgeber verstanden, und er hat es nicht anders verstehen können." (a. a. O., Seite 130 und 131)
PROUDHON führt zum Beweis für seine Verurteilung aller nicht vom Geist des Mutualismus erfüllten Assoziationen zunächst die "großen, im Sinne der merkantilen und industriellen Feudalität organisierten kapitalistischen Assoziationen" an, für die es sich darum handelt, "die Fabrikation, den Absatz und die Profite an sich zu reißen." Selbst was er zu ihrer Kritik sagt, ist oft sehr anfechtbar, da der Gegenstand aber nicht zu unserem Thema gehört, gehen wir nicht weiter darauf ein, sondern wenden uns gleich zu seiner Kritik der Arbeiter-Assoziationen.
    "Worum handelte es sich für die Arbeiter-Assoziationen nach dem System des Luxembourg? Durch Koalition der Arbeiter und mittels Staatsunterstützungen an die Stelle der kapitalistischen Assoziationen zu treten, d. h. durch die Zentralisierung der Geschäfte, die Zusammenziehung der Arbeiter und die Überlegenheit der Kapitalien ebenfalls die freie Industrei und den freien Handel zu bekriegen. Statt hundert- oder zweimalhunderttausend Inhabern von Gewerbescheinen, die es in Paris gibt, würde es nur etwa hundert große Assoziationen als Vertreter der verschiedenen Branchen der Industrei und des Handels gegeben haben, in welchen die Arbeiterbevölkerung ebenso durch die Staatsräson der Brüderlichkeit einregimentiert und endgültig versklavt worden wäre, wie sie es gegenwärtig immer mehr durch die Staatsräson des Kapitals wird. was hätten die Freiheit, das öffentliche Glück, die Zivilisation dabei gewonnen? Nichts. Wir hätten die Ketten gewechselt und, was das Traurigste ist, und die Unfruchtbarkeit der Gesetzgeber, der Spintisierer und Reformatoren beweist, die soziale Idee wäre um keinen Schritt weiter gerückt. Wir würden uns noch immer unter derselben ökonomischen Willkür, um nicht zu sagen unter demselben ökonomischen Fatalismus befinden."
Schon dieser kurze Überblick ergibt, daß
    "die Einen wie die Anderen - nämlich die kommunistischen wie die kapitalistischen Assoziationen - für Sonderzwecke und im Hinblick auf eogistische Interessen gegründet worden sind; daß nichts in ihnen einen reformatorischen Gedanken, eine höhere Auffassung, die geringste Sorge um den Fortschritt und die allgemeine Bestimmung verrät; daß sie im Gegenteil, wie sie nach Art der Individuen anarchisch verfahren, nie als etwas anderes betrachtet werden können, denn als kleine Kirchen, organisiert gegen die große Kirche, in deren Schoß und auf deren Kosten sie leben." (Seite 132 und 133)
So geht es noch eine Weile fort, wobei PROUDHON die Frage aufwirft, ob es "auch nur einem Einzigen in den Sinn kommt, daß alle diese Assoziationen ineinander aufgehen und nur ein und dieselbe allgemeine Gesellschaft bilden sollen," und damit schließt: "wenn also die Assoziationen unterschieden sind, so werden sie auch durch die Natur der Dinge gezwungen miteinander zu rivalisieren, ihre Interessen gehen auseinander, es gibt Gegensätze, Feindseligkeiten. Ihr werdet niemals darüber hinaus kommen." (Seite 134)

Welchen der Kommunisten oder Sozialisten, die sich für die Assoziationen ausgesprochen haben, wir auch immer nachschlagen, wir werden keinen finden, auf den die vorstehende Kritik PROUDHONs paßt. Bei allen ist die Assoziation nur das Mittel zu einem größeren Zweck: die Arbeiter und mit ihnen die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. Die individuelle Assoziation ist, wo sie auftritt, immer nur als Übergangsstadium gedacht, die Verbindung der Assoziation zu einer großen solidarischen Gemeinschaft ist überall das Endziel. Man kann bezweifeln, ob die Assoziationen das geeignete Mittel zu diesem Ziel darstellen, aber den Sozialisten unterschieben, daß sie bloß die kapitalistischen Verbindungen durch Arbeiterverbindungen ablösen wollen, ohne irgendeinen neuen Gedanken als Grundprinzip der gesellschaftlichen Beziehungen, heißt dann doch die Kritik sich etwas gar zu leicht machen. Selbst auf LOUIS BLANCs Assoziationsprojekt, an das man bei PROUDHON stets zuerst erinnert wird, paßt die gegebene Kritik wie die Faust aufs Auge. PROUDHON dichtet ihm Fehler an, die es nicht besitzt, um dann mit umso größere Wucht auf dieselben loszuschlagen. Das ist jedoch nun mal seine Methode, die wir schon bei anderen Gelegenheiten - wir erinnern nur an seine Kritik RICARDOs - kennen gelernt haben. Sehen wir, wie er die angeblichen Fehler der kommunistischen Assoziationen durch die Mutualität kuriert.
    "Aber, wird man mir sagen, haben wir nicht, um unsere Assoziationen miteinander auszusöhnen und sie, ohne sie zu verschmelzen, in Frieden leben zu machen, das Prinzip der Mutualität? ... A la bonne heure. Schon erscheint die Mutualität als der  Deus ex machina  [Gott aus der Maschine - wp]. Begreifen wir also, was sie uns lehrt und konstatieren wir für den Anfang, daß die Mutualität nicht dasselbe ist wie die Assoziation und daß sie, eine ebenso große Freundin der Freiheit wie der Gruppe, sich gleich entfernt zeigt von aller Phantasie wie von aller Intoleranz." -

    "Wir sprachen soeben von der Teilung der Arbeit. Eine Konsequenz dieser ökonomischen Kraft besteht darin, daß sie mit den Spezialbeschäftigungen, die sie ins Leben ruft, ebenso viele Quellen (foyers) der Unabhängigkeit schafft, was die Trennung der (industriellen) Unternehmungen in sich begreift, - genau das Gegenteil von dem, wonach die Falschmünzer (les fauteurs) der kommunistischen Assoziationen ebenso wie die Gründer der kapitalistischen Assoziation streben. In Verbindung ferner mit dem Gesetz der natürlichen Gruppierung der Bevölkerung in Regionen, Kantonen, Gemeinden, Viertel, Straßen führt die Arbeitsteilung zu dieser entscheidenden Konsequenz: daß nicht nur jede industrielle Spezialität dazu berufen ist, sich in ihrer vollen und ganzen Unabhängigkeit unter den Bedingungen der Gegenseitigkeit, der Verantwortlichkeit und der Garantie, welche die allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft bilden, zu entwickeln und zu betätigen, sondern daß es ebenso mit den Industriellen der Fall ist, welche je an ihrem Ort jeder individuell eine Arbeitsspezialität repräsentieren - diese Industriellen müssen grundsätzlich frei bleiben. Die Teilung der Arbeit, die Freiheit, die Konkurrenz, die politische und soziale Gleichheit, die Würde des Menschen und Bürgers lassen keine Ersatzinstitute (succursales) zu." (Seite 134 und 135)
Der gläubigste Nachbeter aller Gemeinplätze der liberalen Ökonomie könnte nicht anders sprechen. Die Arbeitsteilung schafft - ökonomische Abhängigkeit. Das heißt fast noch hinter ADAM SMITH zurückgehen. Der Hausindustrielle, der in seiner elenden Wohnung irgendeinen Spezialartikel für den Großfabrikanten herstellt, ist nach PROUDHON der Typus ökonomischer Freiheit. Desgleichen, wie es scheint, der Teilarbeiter in der Fabrik, der auch Stücklohn arbeitet. In der Tat läßt PROUDHON im Kapitel IV der vorliegenden Schrift seine "Sechzig" die "Freiheit der Arbeit" bekräftigen, "welche durch das Luxembourg in der Frage der Stückarbeit verurteilt worden war." (a. a. O., Seite 67) Unverzeihliches Verbrechen des Luxembourg, nicht vor der in ein freiheitliches Gewand gehüllten Form der Ausbeutung respektvoll Halt gemacht zu haben.

Doch hören wir weiter:
    "Es folgt daraus, daß das Prinzip der Mutualität, was die Assoziation anbetrifft, darin beruth, die Menschen nur insofern zu assoziieren, als die Bedürfnisse der Produktion, die Wohlfeilheit der Produkte, die Bedürfnisse des Konsums, die Sicherheit der Produzenten selbst es erfordern - da, wo es weder dem Publikum möglich ist, sich an die besondere Industrie zu halten, noch dieser, die Lasten der Unternehmungen und ihre Risikos allein zu tragen. ... Diese Seite der mutualistischen Idee, wie sie aus den im Manifest der Sechzig niedergelegten allgemeinen Prinzipien sich ergiebt, ist dazu geeignet, der neuen Demokratie die lebhaftesten Sympathien der Kleinbürger, Kleinindustriellen und Kleinhändler zu sichern."

    "Handelt es sich um die Großproduktion in der Manufaktur-, in der extraktiven, der Metall- und der maritimen Industrie, so ist es klar, daß hier die Assoziation am Platz ist; kein Mensch bestreitet dies mehr. Handelt es sich ferner um eine der großen Unternehmungen, welche den Charakter eines öffentlichen Dienstes haben, wie Eisenbahnen, Kreditanstalten, Docks? Ich habe anderwärts bewiesen, daß es ein Gesetz der Mutualität ist, daß diese Dienste unter Ausschluß allen Kapitalprofits dem Publikum zum Preis der Ausbeute und des Unterhalts dargeboten werden. Auch in diesem Fall ist es durchaus klar, daß die Garantie der guten Ausführung weder durch Monopolgesellschaft, noch durch vom Staat patronisierte, im Namen und auf Rechnung des Staates arbeitende Gemeinschaften geleistet werden kann. Diese Garantie kann nur von freien Gesellschaften (sociétaires) kommen, die einerseits durch den Kontrakt der Mutualität dem Publikum gegenüber und andererseits durch den gewöhnlichen Assoziationsvertrag gegeneinander verpflichtet sind." (Seite 135 und 136).
Was aber "die tausend Berufe und Geschäfte anbetrifft, die in so großer Zahl in Staat und Land existieren," so sieht PROUDHON in Bezug auf sie "die Notwendigkeit und den Nutzen der Assoziation umso weniger, als der Vorteil, den man sich von ihr versprechen könnte, bereits durch die Gesamtheit der mutualistischen Bürgschaften, gegenseitige Versicherungen, gegenseitigen Kredit, Marktpolizei etc. gegeben sind." Mehr noch,
    "diese Garantien vorausgesetzt, hat in den von uns besprochenen Fällen das Publikum mehr Sicherheit, wenn es mit einem Einzelunternehmer, als wenn es mit einer Kompanie zu tun hat. ... Der Händler ist vor allem ein Verteiler von Produkten, deren Beschaffenheit, Herstellung, Herkunft, Wert er von Grund auf kennen muß. Er muß die Konsumenten seines Bezirks über die Preise, die neuen Artikel, die drohenden Verteuerungen, die Wahrscheinlichkeiten des Preisfalles auf dem Laufenden erhalten. Eine fortgesetzte Arbeit, die Intelligenz, Eifer, Ehrlichkeit erfordert, und die, wiederhole ich, unter den neuen Bedingungen, in die uns der Mutualismus versetzt, keineswegs die übrigens verdächtige Garantie einer großen Assoziation erfordert. Es genügt hier für die Sicherheit des Publikums die allgemeine Reform der Sitten durch das Prinzip. Ich frage mich daher, warum diese ökonomische Individualität verschwinden sollte. Was haben wir uns da hineinzumischen? Organisieren wir das Recht und lassen wir den Kramladen gewähren - Organisons le droit et laissons faire la boutique."

    "Wiederholen wir es ...: Es kann sich hier nicht darum handeln, erworbene Positionen ungeschehen zu machen; es handelt sich einfach darum, durch die Reduktion der Mieten für Kapitalien und Wohnungen, durch eine Erleichterung und Verbilligung der Diskontierungen, durch Ausmerzung des Parasitismus, durch eine Ausrottung der Agiotage, durch eine Markt- und Lagerungspolizei, durch eine Verringerung der Transportkosten, durch eine Herstellung des Gleichgewichts der Werte, durch höheren Unterricht für die Arbeiterklassen, durch das endgültige Übergewicht der Arbeit über das Kapital, durch ein gerechtes Maß der dem Talent und der Funktion gewährten Achtung - durch all das, sage ich, der Arbeit und der Ehrlichkeit das wieder zu erstatten, was ihnen der kapitalistische Zehntenabzug ungerechtfertigterweise nimmt ... mit einem Wort, allen Anomalien und Störungen ein Ende zu machen, welche die gesunde Kritik zu allen Zeiten als die chronischen Ursachen des Elends und des Proletariats bezeichnet hat."

    "Aber wozu über Worte streiten und die Zeit mit fruchtlosen Diskussionen vertrödeln? Da das Volk einmal, was man auch sagen möge, Vertrauen in die Assoziation hat und es doch keine andere gibt, als den durch unsere Gesetzbücher bestimmten Gesellschaftskontrakt, so schließen wir, um gleichzeitig den Ergebnissen der Wissenschaft und den volkstümlichen Bestrebungen treu zu bleiben, daß die Assoziation, deren Formel die zeitgenössischen Neuerer gesucht haben, aber keiner zu definieren vermochte ... die Assoziation, welche die Arbeiterdemokratie unausgesetzt als das Ende aller Knechtschaft und die höhere Form der Zivilisation anruft - wer sieht nicht, daß sie nichts anderes ist und nichts anderes sein kann, als die  Mutualität?  Ist die Mutualität, deren Umrisse wir zu ziehen versucht habe, nicht der gleichzeitig politische und ökonomische, gegenseitig verbindende und wechselseitige Gesellschaftsvertrag  par excellence,  der in seinen so einfachen Sätzen zugleich das Individuum und die Familie, die Korporation und die politische Gemeinde (cité), den Verkauf und den Kauf, den Kredit, die Versicherung, die Arbeit, den Unterricht und das Eigentum, jeden Beruf, jeden Geschäftsabschluß, jeden Dienst, jede Bürgschaft umschließt? der in seiner hohen regenerierenden Tragweite jeden Egoismus, jedes Schmarotzertum, jede Willkür, jede Jobberei, jede Zersetzung ausschließt? Finden wir nicht in ihr in Wahrheit jene mysteriöse, von den Utopisten geträumte, den Philosophen und Rechtsgelehrten unbekannte Assoziation, die wir mit zwei Worten definieren können: Mutations- oder Gegenseitigkeitskontrakt?" (Seite 136 - 139).
In einer Note hierzu verwahrt sich PROUDHON dagegen, daß er eine eitlen Trieb persönlicher Ruhmsucht gefolgt sei, wenn er als Formel der ökonomischen Revolution statt der Assoziation die Mutualität bezeichnet habe; nur das Interesse wissenschaftlicher Präzisierung habe ihn dabei geleitet. Das Wort  Assoziation  sei zu verschwommen, spreche weniger zur Intelligenz als zum Gefühl und habe nicht den unter solchen Umständen erforderlichen Charakter der Universalität. Auch gäbe es alle möglichen Arten von Assoziationen, und weiterhin sei es doch klar, daß drei Viertel, wenn nicht vier Fünftel einer modernen Nation Eigentümer, Ackerbauer, Kleinindustrielle, Schriftsteller, Künstler, Beamte usw. niemals gesellschaftlich vereinigt werden könnten. Wolle man diese nun nicht als von jetzt an außerhalb der Reform, außerhalb der Revolution erklären, so müsse man zugeben, daß das Wort "Gesellschaft", "Assoziation" nicht den Zweck der Wissenschaft erfüllt erfüllt und ein neues suchen, das mit der Einfachheit und Spannkraft die Universalität eines Prinzips verbindet. Schließlich habe er bereits früher ausgeführt, daß in der neuen Demokratie das politische Prinzip dem ökonomischem angepaßt und ihm identisch sein müsse, jenes aber sei seit Langem ausgesprochen und definiert - "es ist das Prinzip des Föderalismus, der gleichbedeutend ist der Mutualität, der gegenseitigen Garantie und nichts mit dem Prinzip der Assoziation gemein hat." (Seite 139)

Im Text schließt das Kapitel mit einer weiteren Apologie des durch die Mutualität geschaffenen "neuen Paktes." Wie eng begrenzt sie auch in ihren Anfängen erscheint, so habe die mutualistische Assoziation - welchen Namen "wir ihr künftig geben können" - doch eine Fähigkeit der Entwicklung in sich, die mit unwiderstehlicher Kraft dahinstrebt, ihr alles, was sie umgibt, zu assimilieren und anzugliedern, die sie umgebende Menschheit und den Staat nach seinem Bild zu gestalten. Die Kadres der mutualistischen Assoziation sind allen offen, sie kennt keinen Ausschluß, sie ist in Bezug auf die Personen ihrer Natur nach unbeschränkt, was das Gegenteil von jeder anderen Assoziation ist. Dasselbe gilt von den Gegenständen, auf die sie sich bezieht: sie strebt, alle Industrien, mit denen sie in näherer oder weiterer Verbindung steht, in ihr Garantiesystem hineinzuziehen, sie ist "von einer unbegrenzten Kraft der Angliederung." Und ebenso steht es mit ihrer Dauer. Da sie vor allem auf eine Rechtsidee und die ökonomische Verwirklichung derselben begründet ist, verträgt die mutualistische Assoziation keine Zeitbeschränkung. "Die Mutualität oder die mutualistische Gesellschaft ist die Gerechtigkeit selbst, und man schreitet in Sachen der Gerechtigkeit ebensowenig zurück, als in Sachen der Religion ... Menschen, die einen Pakt der Rechtschaffenheit, der Loyalität, der Garantie und der Ehre unter sich geschlossen haben, können nicht bei der (durch materielle Mißerfolge etwa nötig gewordenen) Trennung sagen: wir hatten uns getäuscht, jetzt werden wir wieder Lügner und Halunken werden, und wir werden mehr dabei gewinne." Und letzte Schönheit der mutualistischen Gesellschaft: Die Beschaffung eines Kapitals ist in ihr nicht mehr unerläßliche Bedingung; "um Assoziierter zu sein, genügt es, bei den Transaktionen gegenseitige Treue und Glauben zu beobachten."
    "... Sind die Generationen einmal durch das mutualistische Gesetz umgewandelt, so steht durchaus nichts im Wege, daß sich auch weiterhin im Hinblick auf eigenen Gewinn wie jetzt Privatassoziationen bilden zwecks Ausbeutung einer industriellen Spezialität oder den Betrieb einer Unternehmung. Aber diese Assoziationen, die sogar ihre heutigen Bezeichnungen beibehalten können, werden gegeneinander und dem Publikum gegenüber der Pflicht der Mutualität unterworfen, und vom neuen Geist erfüllt, mit ihren heutigen Abbildern nicht mehr zu vergleichen sein. Sie werden den egoistischen und untergrabenden Charakter derselben verloren, aber ihre besonderen, auf ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit beruhenden Vorteile beibehalten haben. Sie werden (ihrer Zahl nach) ebensoviele Einzelkirchen im Schoß der allgemeinen Kirche sein, fähig, diese selbst von Neuem zu erzeugen, wenn es möglich wäre, daß sie je abstürbe." (Seite 140 - 142)
Damit genug. Wir sind so ausführlich wir nur möglich gewesen, um nur ja nicht einen für PROUDHONs Mutualitätsidee wertvollen Gedanken zu unterschlagen, zumal es sich hier um eine Arbeit aus PROUDHONs gereiftester Periode, der Periode seiner "vollendeten Klärung" handelt, um noch einmal mit seinem deutschen Evangelisten MÜLBERGER zu reden. Und als was stellt sich uns nun, wenn wir alles zusammenfassen, diese "Idee der Mutualität," welche "die Gerechtigkeit" ist, dar? Ganz einfach als die Verhimmelung des  Tausches.  Der "ehrliche Tausch", der schon in PROUDHONs erster Schrift über das Eigentum spukte, ist das  A  und  O  der welterschütternde, die Menschheit regenerierenden Idee des Mutualismus. Wenn alle gesellschaftlichen Beziehungen auf ein reines Tauschverhältnis zurückgeführt werden, und es bei diesem Tausch stets ehrlich zugeht, niemand den andern übers Ohr haut, dann ist das Reich der Freiheit und Gerechtigkeit angebrochen, die Menschheit von allen Übeln erlöst. (8)

Was heißt aber ein ehrlicher Tausch? Ein Tausch, bei dem Gleichwertiges gegen Gleichwertiges gegeben wird, antwortet uns PROUDHON. Und was ist gleichwertig? Mit dem von ihm beständig heruntergerissenen RICARDO erklärt PROUDHON: was gleiche Mengen menschlicher Arbeit gekostet hat. Nun ist aber bekanntlich nicht alle menschliche Arbeit gleicht. PETER ist geschickt und arbeitet flink, PAUL ungeschickt und arbeitet langsam, FRITZ hantiert mit einem altmodischen Handgerät, HANS an einer mechanischen, durch irgendeine Naturkraft getriebenen Drehbank. Sind die Produkte einer Stunde Arbeit von PETER und PAUL, von HANS und FRITZ gleichwertig? Was PETER und PAUL betrifft, so haben wir beim Abschnitt von den Löhnen gesehen, daß nach PROUDHON ihre Arbeit  nicht  gleichwertig ist, PETER höher bezahlt werden muß als PAUL, in Bezug auf HANS und FRITZ dagegen läßt uns PROUDHON im Dunkeln. Er sagt zwar, daß wer mehr und bessere Arbeit leistet, höher bezahlt werden soll, und das würde, Dank seinem besseren Arbeitsgerät, doch wahrscheinlich HANS sein, aber HANS ist vielleicht nur Teilarbeiter in einer modernen Fabrik und FRITZ arbeitet in seiner kleinen Werkstatt, und da müßte, wieder nach PROUDHON, HANS weniger Lohn erhalten als FRITZ. So stehen wir vor einem ungelösten Widerspruch, trotzdem die Gesellschaft des ehrlichen Tauschs dem "Wirrwarr" der widerspruchsvollen politischen Ökonomie ein Ende machen sollte.

Lassen wir jedoch diesen Widerspruch auf sich beruhen, und sehen wir zu, wie es weiter mit PETER und PAUL geht. PETER soll höher bezahlt werden als PAUL. Nach welchem Maßstab? Nach der Menge und Güte der fertig gestellten Arbeit. Wer bestimmt diesen Maßstab, wer setzt fest, welches das normale Quantum und die normale Beschaffenheit für jede Arbeitskategorie ist? Hier tauchte, wie wir ferner gesehen haben, plötzlich der "soziale Wille," die "Macht der Gesellschaft" auf und hinter ihnen "der Staat, das Organ der Gesellschaft." Unter dem Druck des ausgesprochenen Willens der Arbeiterdemokratie, hieß es,  muß  der Staat, das Organ der Gesellschaft, handeln,' und die Arbeiter wurden mit der Brandmarkung vor der Nachwelt bedroht, wenn sie nicht mit der erforderlichen Energie dafür agitierten. Wir haben schon gezeigt, wie sehr PROUDHON mit dieser Idee der staatlichen Lohnregulierung der von ihm ausgesprochenen Verdammung des "Luxembourg" ins Gesicht schlägt, sie ist zugleich die entschiedenste Negation des "freien Tausches." Wir wollen dabei die Frage der Durchführbarkeit bei im Übrigen ungehinderten Walten der freien Konkurrenz ganz unerörtert lassen, sondern begnügen uns, zu konstatieren, daß in Bezug auf die Bezahlung der menschlichen Arbeitskraft der "redliche Tausch" realisiert wird durch eine Aufhebung des "freien Tausches."

So sehr ist PROUDHON hier Gegner der freien Aktion der Arbeiter, daß er sich nicht absprechend genug über die Arbeiterkoalitionen zwecks Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung äußern kann. Der einzelne Arbeiter mag allenfalls, solange ihm nicht die "soziale Gerechtigkeit" seinen Lohn zuspricht, mit dem er aber dann gefälligst zufrieden zu sein hat, versuchen, so gute Bezahlung wir nur möglich zu erlangen, er darf sich mit anderen Arbeitern assoziieren, um den kapitalistischen Unternehmern Konkurrenz zu machen, aber, sobald er mit seinen Arbeitsgenossen koaliert, um auf die Meister zur Bewilligung höherer Löhne und kürzerer Arbeitszeit einen stärkeren Druck auszuüben, versündigt er sich an der "sozialen Moral". Auch in diesem Punkt steht PROUDHON am Ende seiner Laufbahn auf demselben Standpunkt wie am Anfang derselben. Was er in der "Philosophie des Elends" gegen die Koalitionen geschrieben hat (9), wiederholt er icht nur, sondern potenziert er noch in der "Capacité". Er kann die liberalen Republikaner, die in den sechziger Jahren dem Kaiserreich Opposition machten, nicht scharf genug für ihr Eintreten zugunsten des Koalitionsrechts der Arbeiter tadeln. Die Arbeiterkoalitionen unterscheiden sich für ihn in nichts von den Unternehmerkoalitionen zur Erzwingung von Monopolpreisen. "Das Gesetz, welches die Koalitionen gestattet," ruft er aus, "ist von Grund auf anti-juristisch, anti-ökonomisch, jeder Gesellschaft und jeder Ordnung entgegen" (Seite 335).

Und dann wieder:
    "Man gab vor, zu glauben, daß, da die Arbeitsherren schon durch ihre höhere Position und ihre geringe Zahl imstande sind, ungestraft zu koalieren, das einzige, was der Gesetzgeber zu tun habe, darin bestehe, die Bedingungen auszugleichen, indem die Arbeiter in dieselbe Lage wie die Meister versetzt und die Gerichtshöfe von allen möglichen Verfolgungen entlastet werden. Leser, was sagt ihr zu dieser Erfindung? ... Verfolgt dieses schöne Prinzip von der Unschädlichmachung der Vergehen und Verbrechen dadurch, daß man allen gestattet, sie zu begehen, und sagt mir, wozu dann die Gesellschaft noch einer Regierung bedarf? - Unter dem Vorwand, die Arbeiterklasse von einer Inferiorität [Unterlegenheit - wp] zu befreien, wird man also damit anfangen müssen, eine ganze Klasse von Bürgern: die Klasse der Meister, Unternehmer, Arbeitsherren, Bourgeois, in Masse zu denunzieren, wird man die arbeitende Demokratie zum Haß und zur Verachtung dieser scheußlichen und unersättlichen Koalierten der Mittelklasse aufreizen, der gesetzlichen Unterdrückung den Krieg im Handel und in der Industrie, der Polizei des Staates den Klassenkampf, der Disziplin des Gesetzes die Herrschaft der Gewalt vorziehen müssen, und trotz dieser verderblichen Notwendigkeit wird die Opposition nicht protestieren. Sie wird die Regierung nicht aufklären; wenn diese in ihrem unüberlegten Liberalismus, von der Fürsorge für das Wohl der Arbeiter verleitet, ohne es zu wissen, rufen wird: Los auf die Bourgeosie! wird sie ihr im Gegenteil antworten: Töte, töte!" (Seite 337-338)
Den Arbeitern aber fühlt sich PROUDHON, als Verkünder der Mutualitätsidee berechtigt, u. a. folgenden Vorwurf zu machen:
    "Unter Androhung von Streiks haben die Einen, die größere Zahl, eine Lohnerhöhung, die Anderen eine Reduktion der Arbeitsstunden, Einige beides zugleich verlangt. Als ob Ihr nicht aus einer langen Erfahrung wüßtet, daß die Erhöhung der Löhne und die Reduktion der Arbeitsstunden nur zur allgemeinen Teuerung führen können; als ob Ihr euch verhehlen könntet, daß es sich hier nicht weder um eine Reduktion noch eine Erhöhung der Preise und Löhne, sondern um einen allgemeinen Ausgleich, die erste Bedingung des Wohlstandes, handelt. - Man ist sogar noch weiter gegangen. Man hat mit der Erhöhung der Löhne ihre Gleichheit erzwingen wollen. Trauriger Rückfall zum Luxembourg, das das Manifest der Sechzig doch verurteilt hatte, indem es offen die freie Konkurrenz anerkannte." (Seite 343)
Außerhalb der Mutualität und der durch dieselbe von allen Schlacken gereinigten Assoziation droht der Arbeiterklasse nur Verderben, sagt der Prophet. Wehe ihr, wenn sie einen anderen Weg als den von ihm vorgezeichneten geht. Aber trotzdem der Prophet sein Anathem [Opfergabe - wp] auf die Weisheit der rechtgläubigsten aller Ökonomen stützt, haben die Arbeiter Lohnerhöhungen und Arbeitsverkürzungen durchgesetzt, ohne daß eine "allgemeine Teuerung" eintrat.

Auf die Art, wie in der Mutualität jedes Produkt zum "ehrlichen Austausch", zur "Realisierung seines vollen Wertes," gelangte, gehen wir hier nicht noch einmal ein. Die Rezepte, die wir bei der Besprechung der Kapitel vom Handel und von Angebot und Nachfrage kennen gelernt haben, haben nicht mehr für sich als gewisse Ratschläge, die man in jedem Lehrbuch für angehende Geschäftsleute findet. Teils sind es Dinge, die sich von selbst verstehen, die schon zu PROUDHONs Zeiten des Reizes der Neuheit entbehrten, teils fromme Wünsche, auf deren Verwirklichung nur da zu rechnen ist, wo sie mit dem Interesse der Beteiligten zusammenfallen. Alle aber stellen nur, und zwar nach Absicht ihres Verkünders, Modifikationen der bürgerlichen Konkurrenz dar, sollen dieser selbst aber beileibe keinen Abbruch tun. Und darum ist es ein Unding, von ihnen das Wunder der Realisierung des "Werts" eines jeden Produkts zu erwarten. Das Wertgesetz der bürgerlichen Konkurrenz oder, mit einem anderen Wort, der warenproduzierenden Gesellschaft, besteht gerade darin, daß sich der Wert nur in den Schwankungen der Preise realisiert. Der "feste Preis", auf den PROUDHON so große Hoffnungen setzt, kann daran so wenig ändern, wie etwa geeichte Maße ein Mittel sind gegen die Schwankungen der Bierpreise. Im besten Fall bedeutet er eine genauere Anpassung der Preise des kleinen Marktes an die Preisschwankungen des großen Marktes - in letzter Instanz an die Änderungen in den Produktionsverhältnissen; oft genug aber ist er eine reine Formalität, bei der alles Mögliche herauskommt, nur nicht die blaue Blume PROUDHON'scher Romantik: der mit allen anderen seinesgleichen ins "Gleichgewicht" gesetzte "absolute Wert."

In der Tat ist dieses Sehnen nach dem "Gleichgewicht der Werte" - welches Wort bei allen Proudhonianern als magische Zauberformel gilt, die Tore des Palastes der Seligen öffnet - nichts als die reinste Romantik, der Wunsch, sich über die bürgerliche Gesellschaft hinausdenken zu können, ohne an ihren ökonomischen Grundbedingungen etwas zu ändern. Mit allen seinen Fasern hängt der Proudhonismus an der bürgerlichen, warenproduzierenden Gesellschaft. Auch die kühnste seiner ökonomischen Reformen geht nicht über sie hinaus, zu neun Zehnteln aber bestehen dieselben aus Verallgemeinerungen und vor allem einer Umtaufung bereits auf ihrem Boden vorhandener Institutionen. Seine Moral, sein Ideal der Gerechtigkeit, ist nichts als die ideologische Verklärung des Warenhandels, die Rechtsvorstellung des Warenproduzenten, und nichts ist daher verkehrter als durch Predigen dieser, aus den bürgerlicher Verhältnissen geschöpften Moral die bürgerliche Gesellschaft über sich selbst erheben zu wollen. Die "Idee" des Mutualismus ist der "ehrliche" Tausch, bei dem nichts ohne Gegenwert gegeben, nichts ohne Gegenwert genommen wird; dieser "ehrliche" Tausch aber ist die Praxis des eingefleischten  Bourgeois:  er gibt grundsätzlich nichts, ohne zu nehmen. Für ihn gerade stellt sich die Gesellschaft als die große Tauschanstalt dar, zu der der Mutualismus sich einbildet, sie entwickeln zu müssen, um "die Arbeit zu befreien." Die Praxis des Bourgeois zu verdammen und sie im gleichen Atemzug zum Ideal zu erheben, ist von jeher die Gepflogenheit der kleinbürgerlichen Doktrin gewesen, und wem das Urteil, welches MARX im "Elend der Philosophie" über PROUDHON gefällt hat, noch immer zu hart erscheint, wer es, nach allem hier Entwickelten, mit den deutschen Professoren noch immer für den Ausfluß irgendwelcher persönlicher Ranküne halten kann, wenn PROUDHON dort, zu einer Zeit, wo er der Welt noch als Ultrarevolutionär galt, als Erzkleinbürger gezeichnet wurde, der mag auch noch den Jammerruf vernehmen, mit dem PROUDHON sein Buch über die politische Befähigung der Arbeiterklasse schließt, weil die französischen Arbeiter anfingen, sich gewerkschaftlich zu koalieren, statt sich mutualistisch zu assoziieren:
    "Diese Mittelklasse, in deren Schoß die besser beratene Arbeiterdemokratie vor einem Jahr ganz aufgehen zu wollen erklärte - scheint man nicht von allen Seiten mit einer Art Fanatismus daran zu arbeiten, sie zu vernichten, sie zur Lohnarbeiterstellung herabzubringen? Jeden Tag reißt der Bankrott große Lücken in die Reihen der Kleinbürger, und was noch unerträglicher ist, ihr Notstand dauert fort, das Leben von der Hand in den Mund, ihr geheimes Elend dezimiert sie. Die Arbeiter haben nur ihre eigenen Leiden gesehen, sie ahnen nichts von den quälenden Sorgen des Bourgeois. Durch das Gesetz über die Koalitionen zu Hilfstruppen der kapitalistischen Aristokratie gegen die Kleinindustrie, den kleinen Handel und das kleine Eigentum geworden, werden sie ohne Zweifel 1869 für die Kandidaten der Regierung stimmen; es wird dies nur logisch sein. Freie Koalition, freier Wucher, Freihandel werden von ihnen gegen ihre natürlichen Alliierten diesen Beweis der Ergebenheit verdienen. Mögen sie sich indessen klar werden - nicht durch dieses widerspruchsvolle Verhalten werden sie dazu gelangen, an der Spitze der Zivilisation zu marschieren und die Gesellschaft zu reformieren. Nicht indem sie sich als feile Seelen den Phantasien der Konterrevolution (die Konterrevolution gegen "die Freiheiten und Garantien von 1789" ist gemeint! E. B.) ergeben, werden sie an die Macht ihrer Idee glauben machen, noch daran, daß die politische Befähigung in ihnen sich zur Höhe der ökonomischen Wissenschaft erhebt." (Seite 346)
Nachdem wir den Mutualismus so aus dem Munde PROUDHONs selbst kennengelernt haben, hören wir noch, was der auf PROUDHON schwörende Anarchist heute darüber zu sagen weiß:
    "Was der Vater in der Wildernis der Tage, vielleicht weil es ihm zu nahe stand, nicht zu erfassen vermochte, sollte der Sohn" - schreibt MACKAY von AUBAN dem Jüngeren, der die letzte Konsequenz der Lehre gezogen hatte - "nun in seiner ganzen Tragweite und ungeheuren Bedeutung erkennen: unabhängig vom Staat mittels des Prinzips der Gegenseitigkeit jedem zu ermöglichen, seine Arbeit zum vollen Ertrag ihres Wertes auszutauschen, und ihn so mit einem Wort zu befreien" ... "Er sah jetzt, was es war, das PROUDHON unter (dem als Diebstahl erklärten) Eigentum verstanden hatte: nicht der Ertrag der Arbeit, welchen er stets gegen den Kommunismus verteidigt, sondern die gesetzlich geschützten Privilegien dieses Ertrags, wie sie in den Formen des Wuchers, vornehmlich denen des Zinses und der Rente, auf der Arbeit lasten und die freie Zirkulation derselben hemmen; daß Gleichheit bei PROUDHON nichts anderes heißt als Gleichheit der Rechte, und Brüderlichkeit nicht Entsagung, sondern kluge Erkenntnis der eigenen Interessen im Licht des Mutualismus; daß er die freie Assoziation zu einem bestimmten Zweck im Gegensatz zur Zwangsvereinigung des Staates, die Freiheit, welche sich darauf beschränkt, die Gleichheit in den Mitteln der Produktion und beim Tausch der Produkte aufrecht zu erhalten, verteidigt, als die einzig mögliche, gerechte und wahre Gesellschaftsform." (Die Anarchisten, Seite 114 und 133).
AUBAN-MACKAY hat die PROUDHON'sche Phrase vortrefflich auswendig gelernt. Er hat natürlich keine Ahnung davon, daß "seine Arbeit zum vollen Ertrag ihres  Wertes  auszutauschen," soweit überhaupt ein Sinn in diesem Satz steckt, ein Privilegium des Arbeiters in der heutigen Gesellschaft ist; aber es ist eine wundervoll klingende Phrase - also, her damit. Nicht minder wundervoll klingt die "freie Zirkulation der Arbeit," die nur durch die "gesetzlich geschützten Privilegien des Ertrags der Arbeit" gehemmt wird, also ebenfalls her damit. Daß dieser Satz den ersten zum Teil wieder auffrißt, was macht es? Sahen wir doch den Meister in einem Atemzug den Staat verfehmen und dann sich entrüsten, daß "statt der Polizei des Staates," statt "gesetzlicher Unterdrückung" der Klassenkampf freigegeben wird. An solchen Widersprüchen kann sich nur stoßen, wer den tieferen Sinn, der ihnen zugrunde liegt, nicht begriffen hat. Und so wollen wir uns auch mit der Tatsache trösten, daß PROUDHON, der "Vater der Anarchie", auf den "immer und immer wieder sich jeder zurückgeführt sieht, der die Wurzeln der neuen Lehre der Herrschaftslosigkeit bloszulegen sucht," (Seite 323) in der "Capacité" die mutualistische Idee, "welche heute die Grundlage der demokratischen Emanzipation bildet," der  "anarchistischen oder Bourgeoisie-Idee"  gegenüberstellt. Wissen wir doch, daß trotzdem "mutualistische" und "anarchistische Ideen" gute Verwandte sind, Töchter ein und derselben Mutter: der Gesellschaft des "freien Tausches".


IV. Der Anarchismus Bakunins und die
verschiedenen anarchistischen Zwittergebilde

Schon bald nach dem Erscheinen der ersten Schrift PROUDHONs über das Eigentum standen sich allerhand Leute, welche den Gedanken des Anarchismus, wie er dort entwickelt ist, als äußerste Konsequenz der revolutionären Opposition gegen den bestehenden Zustand der Dinge aufgriffen und in der einen oder anderen Weise weiter zu entwickeln suchten. Dahin gehören u. a. verschiedene deutsche Junghegelianer, wie KARL GRÜN und MOSES HESS, von denen aber der Erstere die Idee bloß ins belletristisch-utopistische verfaselte, während HESS sehr bald ihre Verwirklichung einer späteren Zukunft überließ und für die Gegenwart politische und ökonomische Reformen befürwortete, die eher zur Gattung von Maßregeln gehörten, welche PROUDHON später mit dem Brandmal "System des Luxembourg" behaftete. Ferner zeigt sich auch WILHELM WEITLING verschiedentlich von PROUDHON beeinflußt. Die PROUDONschen Schlagworte erhalten bei ihm jedoch einen ganz anderen Sinn wie bei ihrem Urheber; die Erklärung des Eigentums für Diebstahl wird auf alles überlieferte Eigentum ausgedehnt und der Gegensatz gegen den Staat ist mehr revolutionärer Protest gegen die verschiedenen hergebrachten Regierungsformen als der Ausfluß einer bestimmten wirtschaftspolitischen Vorstellung. WEITLING ist vielmehr in allen wesentlichen Punkten Kommunist. Er steht auf der Scheidegrenze zwischen dem utopistischen und dem modernen revulutionären Kommunismus und könnte, wenn man ihn aufgrund verschiedener seiner Äußerungen in eine Beziehung zur anarchistischen Bewegung zu bringen wünscht, am ehesten noch als Vorläufer des sogenannten anarchistischen Kommunismus bezeichnet werden. WEITLING hat bekanntlich auch anfänglich mit großer Lebhaftigkeit die Idee vertreten, im revolutionären Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft sich der Bevölkerung der Zuchthäuser und des Diebstahls zu bedienen. Aber sie blieb bei ihm Theorie, seine Freunde und Gesinnungsgenossen verwarfen sie, und er selbst kam auch später nicht mehr auf sie zurück, während die Propaganda des spezifisch WEITLINGschen Kommunismus ziemlich schnell einschlief.

Der Erste, der die Idee des Anarchismus zum Ausgangspunkt einer Agitation im größeren Stil zu machen suchte, war BAKUNIN. Sie tritt bei ihm vorzugsweise als politisches Prinzip auf, während BAKUNIN sich über die ökonomisch-soziale Seite der Frage stets nur sehr beiläufig äußerte. Er hatte, selbst bekanntlich ein radikaler Junghegelianer, STIRNER persönlich gekannt, und auch PROUDHON und ebenso auch WEITLING und von allen Dreien finden sich in seinen anarchistischen Publikationen Spuren vo. Andererseits aber verraten sie auch die Lektüre von MARX, den BAKUNIN ebenfalls seit Mitte der vierziger Jahre kannte und dessen mit ENGELS verfaßtes "Kommunistisches Manifest" er selbst ins Russische übertragen hatte. So heißt es z. B. in dem hinterlassenen Fragment BAKUNINs über "Gott und den Staat" gleich auf Seite 3 fast wörtlich nach MARX: "Ja, die gesamte geistige und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit ist der Reflex ihrer ökonomischen Geschichte." (10) Im Ganzen hat jedoch BAKUNIN mimt der MARX-ENGELS'schen materialistischen Geschichtsauffassung nicht viel anzufangen gewußt; die Exkursionen auf das Gebiet der alten Geschichte und Religionsphilosophie in der zitierten Schrift geben keinen Schritt über das von STRAUSS, FEUERBACH und BRUNO BAUER auf diesen Gebieten Gesagte hinaus, stellen vielmehr oft sogar eher einen Rückschritt dar.

BAKUNIN will zeigen, daß der theoretische Idealismus stets mit Notwendigkeit auf den brutalen praktischen Materialismus hinausläuft, während der natürliche Materialismus die Grundlage alles gesunden Idealismus ist, ein Gedanke, der zwar in der Form, wie ihn BAKUNIN hinstellt, sehr anfechtbar ist, der aber auf einer richtigen Grundidee beruth und zum Teil auch von BAKUNIN richtig motiviert wird. Aber BAKUNIN will ihn auch historisch beweisen und exemplifiziert daher auf die griechische und die römische Zivilisation.
    "Welche", fragt er, "ist in ihrem Ausgangspunkt die materialistische, die natürlichste und in ihren Resultaten die am menschlichsten ideale? Ohne Zweifel die griechische Zivilisation. Welche ist dagegen in ihrem Ausgangspunkt die abstrakteste ideale - die die materielle Freiheit des Menschen der durch die Abstraktion des juristischen Rechts dargestellten idealen Freiheit des Menschen und die natürliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft der Abstraktion des Staates opfert, und die nichtsdestoweniger in ihren Konsequenzen die brutalste geworden ist? Sicherlich die römische Zivilisation."
Allerdings sei die griechische Zivilisation wie alle antiken Zivilisationen ausschließlich national gewesen und habe zur Grundlage die Sklaverei gehabt. Aber
    "trotz dieser beiden immensen Fehler hat die erstere nichtsdestoweniger die Idee der Menschheit aufgefaßt und verwirklicht: sie hat das Leben der Menschen veredelt und wahrhaft idealisiert; sie hat die menschlichen Herden in freie Assoziationen freier Menschen verwandelt; sie hat durch die Freiheit die Wissenschaften, die Künste, eine Poesie, eine unsterbliche Philosophie und die ersten Begriffe der Achtung vor dem Menschen geschaffen. (11) Mit der politischen und sozialen Freiheit hat sie den freien Gedanken geschaffen ... Die Emanzipation des Menschen ist der Name der griechischen Zivilisation. Und der Name der römischen Zivilisation? Die Eroberung mit all ihren brutalen Konsequenzen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Sie ist die Erniedrigung der Nationen und der Menschen." (a. a. O. Seite 45 - 46)
Diese Charakterisierung der römischen und griechischen Zivilisation stammt von HEGEL her, dem Altmeister des philosophischen Idealismus. Wenn für diesen die griechische Zivilisation die Entwicklung der Idee des freien und schönen Menschen, die römische die der Idee des Rechts war, so ist das begreiflich. Aber nahezu fünfzig Jahre nach HEGEL die Geschichte derselben Schablone zurechtkonstruieren, das konnte nur, wem die materialistische Geschichtsauffassung ein Buch mit sieben Siegeln geblieben war. Es ist hier nicht der Ort, eingehend zu untersuchen, aus welchen Ursachen die Römer verhältnismäßig lange in Bezug auf Wissenschaften und Künste Halbbarbaren blieben, nachdem die Griechen bereits eine so hohe Stufe in beiden erreicht hatten, aber es liegt auf der Hand, daß diese Ursachen nicht im "theoretischen Idealismus" der Römer zu suchen sind, sondern daß das ausgeprägte Rechtssystem und die Staatsauffasung der Römer Produkte der römischen Geschichte sind. Waren die Römer deshalb Eroberer, weil sie ein ausgebildetes Recht hatten und die Staatshoheit in ungemeinem Ansehen bei ihnen stand oder waren das römische Recht und die römische Staatsautorität nicht eher Folgen der römischen Eroberungen? Oder, um die Frage anders zu stellen, welches ist der Ausgangspunkt der römischen und welches der der griechischen Zivilisation? Wenn die Römer ihren ROMULUS und ihren SERVIUS TULLIUS hatten, so hatten die Athener ihren THESEUS, ihren SOLON, ihre KLEISTHENES, sie hatten ein Eigentumsrecht mit Testierfreiheit und eine sehr entwickelte Staatsauffassung, lange bevor sie im perikleischen Zeitalter die hohe Stufe der Kultur erreichten, die wir noch heute an ihnen bewundern. Und wenn sie in der Praxis nicht den Staatsabsolutismus der Römer erreichten, so gipfelt gerade ihre Philosophie mit PLATO und ARISTOTELES in der Verherrlichung desselben. Andererseits entwickelte nicht Griechenland, sondern Rom den Begriff des Weltbürgertums und der Emanzipation des Menschen als solchen. Es kommt nur darauf an, wo man in der Geschichte den Strich macht.

Noch willkürlicher ist der Nachweis, den BAKUNIN aus der neueren Geschichte für seine Theorie holt. Hier soll Italien den Materialismus und Deutschland den abstraktesten, reinsten und transzendentesten Idealismus darstellen. Italien aber könne trotz seiner Bourgeoisie einen GARIBALDI und MAZZINI aufweisen, Deutschlands derzeitige Helden aber seien WILHELM I., BISMARCK und MOLTKE. Deutschland trete seit seinem Entstehen überall erobernd auf und suche auf alle Nachbarvölker seine eigene freiwillige Knechtschaft auszudehnen; seit es ein einheitliches Reich geworden ist, sei es eine Gefahr für die Freiheit ganz Europas. Abgesehen davon, daß hier, wie auch sonst in der zitierten Schrift, BAKUNINs panslavistischer Deutschenhaß zum Ausdruck kommt, liegt die Schwäche des gewählten Beispiels auf der Hand. Es wird da von allen speziellen Verhältnissen abstrahiert, die dazu mitwirkten, daß die deutsche Einheitsbewegung in einem unter rein dynastischer Leitung geführten Nationalkrieg endete, während die italienische Einheitsbewegung sich in revolutionären Formen abspielen konnte. Kein Zweifel, daß das Vorhersehen von religiösem oder philosophischem Doktrinarismus in einem Volk unter Umständen ein Moment großer politischer Schwäche werden kann, aber in der Regel sind politische Schwäche und philosophischer, bzw. religiöser Idealismus Produkte eines oder mehrerer tiefer liegender Faktoren. Es sind ganz besondere historische Umstände gewesen, unter denen die Deutschen "das philosophischste Volk der Welt" wurden. Ehe diese eintraten, fehlte ihnen die angeborene Farbe der Entschließung so wenig wie irgendeinem anderen Volk.

Die absolute Deutung, die BAKUNIN seinem oben angeführten Satz von den Konsequenzen materialistischer und idealistischer Denkweise gibt, und die schablonenhafte Art, wie er ihn auf die Geschichte anwendet, ist zugleich für seinen ganzen Anarchismus typisch. Ein absoluter Gegensatz wird konstruiert und auf die verschiedenen Erscheinungen und Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens angewendet, derart, daß alles, was nicht in die für gerecht erklärte Kategorie des Natürlichen, auf materialistischer Grundlage beruhenden paßt, kurzweg verworfen wird. Nun aber ist bekanntlich alles Menschenwerk zugleich Kopfwerk, jede menschliche Handlung wird durch das Gehirn vermittelt, es gibt keine Einrichtung, die rein materialistisch wäre. Konsequenterweise wäre daher im Grunde nur das unbewußt wirkende Naturgesetz vom Guten, und ihm wird dann auch tatsächlich von BAKUNIN unbedingte Autorität zugesprochen. Und er beschränkt diese Autorität nicht auf die Naturgesetze der physischen Welt, sondern dehnt sie auch auf die Gesetze der  sozialen  Welt aus.

"Was ist die Autorität? Ist sie die unvermeidliche Kraft der Naturgesetze, die sich in der Verkettung und der notwendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt offenbart? In der Tat, gegen diese Gesetze ist die Auflehnung nicht nur verboten (!), sondern auch unmöglich ...  wir  sind absolute Sklaven dieser Gesetze."' (Seite 25) ... "
    "Außerdem besteht ein großer Mißstand darin, daß der größte Teil der Naturgesetze, die an die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geknüpft sind, und  die ebenso notwendig und unveränderlich sind wie die Gesetze, welche die physische Welt regieren,  von der Wissenschaft selbst noch nicht gebührend festgestellt und anerkannt sind. (12) Sobald sie einmal erkannt sind, zunächst von der Wissenschaft, und sobald sie, mitteles eines ausgedehnten Systems der Erziehung und Bildung des Volkes, von der Wissenschaft in das Bewußtsein Aller gedrungen sind, wird die Frage der Freiheit vollkommen gelöst sein. Die widerstrebendsten Autoritäten müssen anerkennen, daß es alsdann weder der politischen Organisation, noch der politischen Leitung, noch der politischen Gesetzgebung bedarf, drei Dinge, die, ob sie nun vom Willen des Souveräns oder der Abstimmung eines durch das allgemeine Stimmrecht gewählten Parlaments ausgehen, und selbst wenn sie mit dem System der Naturgesetze übereinstimmten - was nie der Fall ist und nie der Fall sein kann - stets schon dadurch allein der Freiheit der Massen gleich verderblich und gleich entgegen sind, daß sie ihnen ein System äußerlicher und folglich despotischer Gesetze auflegen. - Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil  er selbst  sie als solche erkannt hat und nicht weil sie ihm von Außen durch einen fremden, ob göttlichen oder menschlichen, kollektiven oder individuellen Willen auferlegt sind." (Seite 27)
Nach all dem wäre es die höchste Weisheit, bestünde die Erlösung der Menschheit darin, die Gesetze unseres physischen und sozialen Daseins zu erkennen und uns ihrer  Autorität  sklavisch zu  unterwerfen.  Das mag für ein erstrebenswertes Ziel halten, wer will, bisher hat es sich die Kulturmenschheit in den Kopf gesetzt, die Gesetze ihres Daseins nach Möglichkeit zu  beherrschen,  zu  regulieren.  Das ist schon den Gesetzen der uns umgebenden physischen Welt gegenüber bis zu einem gewissen Grad möglich, in noch viel höherem Grad aber den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens. Nur daß die individuelle Anstrengung dazu nicht ausreicht, sondern daß es dazu der Kraft der organisierten  Gesellschaft  bedarf. Die bloße  Erkenntnis  der Gesetze des sozialen Lebens, die BAKUNIN verlangt, wäre geradezu wertlos, wenn sie zur unbedingten Unterwerfung unter diese Gesetze führte, denn solange sie "Naturgesetze" sind, setzen sie sich auch ohne uns durch. Aber selbst der Fortschritt der Erkenntnis dieser "Naturgesetze" hängt von dem Grad ab, in dem die Menschen die erkannte Natur - ihre gesellschaftlichen Beziehungen -  meistern. 

Wir wollen keine Buchstabenreiterei treiben, sondern zugeben, daß BAKUNIN die schrittweise Meisterung als die selbstverständliche Folge der entsprechenden Fortschritte in der Erkenntnis der Gesetze des sozialen Lebens  vorausgesetzt  haben wird. Aber sie ist dies keineswegs unter allen Umständen. Es gehört dazu jeweilig ein sehr starkes, sehr leistungsfähiges  Interesse,  und wo dieses Interesse nicht vorhanden oder durch andere Interessen neutralisiert wird, da sind Stockungen oder auch Rückfälle in der einen oder anderen Richtung unvermeidlich. Gleichviel jedoch, was sich BAKUNIN gedacht hat, verkündet hat er die  absolute  Autorität, die unbedingte Geltung der Naturgesetze der physischen und sozialen Welt.'

Und das ist auch nur logisch. Entweder - um bei der sozialen Welt zu bleiben - regeln die Menschen ihre Verhältnisse selbst oder sie werden zu Sklaven dieser Verhältnisse. Dieser Gegensatz ist auf den ersten Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung noch nicht vorhanden. Der ursprüngliche Kommunismus kennt ihn gar nicht, die Menschen sind hier zwar absolute Sklaven der sie umgebenden physischen Welt, aber im Schoß jeder einzelnen Gesellschaft herrscht vollkommene Ordnung. Mit der Auflösung der ursprünglichen Verbände hört diese natürliche Ordnung auf, aber noch bleiben bei der Einfachheit der Produktion und dem unentwickelten Verkehr die Verhältnisse leicht zu übersehen. Je mehr sich dagegen der Verkehr unter den Menschen und Völkern hebt, je mehr die Produktion spezialisiert wird und je komplizierter und leistungsfähiger die Produktionswerkzeuge werden, je mehr die Naturkraft in den Dienst der Produktion und des Verkehrs gestellt wird, umso verwickelter gestalten sich die gesellschaftlichen Beziehungen. Produktion und Verkehr entwickeln ihre eigenen Gesetze, und diese Gesetze wirken auf die Masse der Menschen nunmehr mit derselben zwingenden Kraft, wie das Naturgesetz auf den Wilden. Solange sie bestehen, muß der Einzelne sich ihnen unterwerfen, will er nicht zugrunde gehen. Das begreift jeder Bourgeois, ja die Erkenntnis der "Naturgesetze der sozialen Welt" und die gehorsame Unterwerfung unter dieselben ist  der Gipfel aller Bourgeoisweisheit, das Evangelium der Bourgeois-Ökonomen.  "Man muß", schreibt BAKUNIN an einer anderen Stelle mit Bezug auf diese "Naturgesetze", "im Grunde ein Theologe oder wenigstens ein Metaphysiker, ein Jurist oder Bourgeois-Ökonom sein, um sich gegen jenes Gesetz zu empören, wonach zweimal zwei vier sind." Das ist ein großer Irrtum, gerade für den Bourgeois-Ökonomen stehen die "gesellschaftlichen Naturgesetze" fest wie zweimal zwei gleich vier. Und kein Bourgeois-Ökonom, der nicht mit BAKUNIN in den weiteren Satz einstimmen wird:
    "Aber diese Auflehnungen" - gegen die Naturgesetze nämlich - "oder vielmehr diese Versuche oder diese wahnsinnigen Einbildungen einer tatsächlich doch unmöglichen Auflehnung bilden nur eine ziemlich seltene Ausnahme; denn im Allgemeinen kann man sagen, daß die Masse der Menschen in ihrem täglichen Leben sich fast absolut durch den gesunden Menschenverstand leiten läßt, das heißt, durch die Summe der allgemein erkannten Naturgesetze." (Seite 26)
Laßt tun und treiben nach Belieben, die Welt geht von selbst ihren Gang! -

Auch darin hat der Bourgeois-ökonom wenig gegen BAKUNIN einzuwenden, wenn derselbe sagt: Gegenüber den Naturgesetzen hat der Mensch nur eine mögliche Freiheit: sie zu erkennen und, gemäß dem Ziel kollektiver und individueller Emanzipation oder Humanisierung, das er verfolgt, immer mehr anzuwenden - denn das heißt nichts anderes, als daß sich diese Bestrebungen innerhalb der Grenzen dieser "unwandelbaren" Naturgesetze zu bewegen haben. Davon, daß diese Gesetze sich mit der Gesellschaft selbst  ändern,  daß die Menschen also immer mehr  Herren  ihrer gesellschaftlichen Beziehungen zu werden haben, kein Sterbenswort.

Und wie hätte ein solches Wort auch in das System gepaßt - in die absolute Verdonnerung des Staates, gleichviel wie derselbe auch beschaffen, in die Verwerfung jeder Gesetzgebung, gleichviel von wem ausgehend und welcher Art sie sei. Die Theorie, daß der Staat immer nur denselben Klassen zugute kommen könne, deren Werkzeug er früher einmal war, daß die Gesetzgebung immer nur der "ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren Mehrheit der Geknechteten" (Seite 34) von Nutzen sein könne, zerfällt ins Nichts, wenn man nicht an der Idee festhält, daß wie die Gesellschaft auch zusammengesetzt ist, ihre Naturgesetze doch immerdar die gleichen sind, und mit derselben absoluten Gewalt herrschen. Aber zweimal zwei ist doch immer und unter allen Umständen gleich vier? Gewiß, durch die Fortschritte der Mechanik ist man jedoch dahinter gekommen, durch eine zweckmäßige Anordnung von zweimal zwei Einheiten eine Wirkung zu erzielen, die weit über die von vier einzeln wirkenden Einheiten hinausgeht. Die ganze Schrift BAKUNINs ist voller Anathemen gegen die Prätention [Voreingenommenheit - wp] der Gelehrten, die Menschen den Abstraktionen der Wissenschaft aufzuopfern, aber
    "Den Teufel merkt das Völkchen nie
    Und wenn er sie am Kragen hätte."
Eine Theorie, die den Proletariern sagt: weil der Staat und die Gesetzgebung bisher nur von euren Ausbeutern für deren eigene Zwecke benutzt worden sind, dürft ihr euch derselben nicht bedienen, denn wie ihre es auch anstellt, werdet ihr stets nur euren Ausbeutern nützen und euch schaden - eine solche Theorie ist selbst die krasseste Abstraktion von aller Wirklichkeit, allem wirklichen Leben der Gesellschaft. Und wieder stoßen wir auf einen unlösbaren Gegensatz: oben wurde gesagt, daß alle intellektuelle und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit nur ein Reflex ihrer ökonomischen Geschichte sei. Der Staat ist eine geschichtliche Erscheinung - er ist also als soziale und politische Institution nur ein Reflex auf ökonomische Zustände; den Staat  abschaffen  wollen, solange die ökonomischen Zustände bestehen, deren Reflex er ist, der Angriff auf den Staat qua Staat, ist daher nach BAKUNINs eigenem Ausspruch grundverkehrt. Und wenn man einwerfen wollte, der Staat sei doch nun einmal Werkzeug der Klassenherrschaft und müsse also zertrümmert werden, soll der Klassenherrschaft ein Ende gemacht werden, so ist darauf zu erwidern, daß die Klassenherrschaft nicht beseitigt werden kann, ohne vorhergegangene Herrschaft der Klasse des Proletariats und daß die Maßnahmen, um die ökonomischen Grundlagen der Klassenherrschaft aufzuheben, zum Teil staatlicher Natur sind, die Arbeiter daher zunächst danach streben müssen, die Staatsgewalt ihren Zwecken dienstbar zu machen.

Nach Äußerungen BAKUNINs in Gelegenheitsaufsätzen soll nach der Zertrümmerung des Staates die  "natürliche Solidarität"  den Kitt des aufzurichtenden Gesellschaftsgebäudes der Zukunft abgeben, und alle kommunistischen Anarchisten beten es ihm nach. Nun gibt es zunächst zweierlei Arten von Solidarität: eine Solidarität in den  Dingen  und das sogenannte Solidaritäts gefühl.  Dieselben können zusammenfallen, d. h. die Solidarität in den Dingen von den Menschen erkannt werden und diese Erkenntnis als Solidaritätsgefühl, bzw. Solidaritätsbewußtsein ein mächtiger Antrieb gesellschaftlichen Fortschritts werden. Aber in großem Umfang wirkt das Solidaritätsbewußtsein nur unter einem gewissen  Druck  stark genug, um zum freiwilligen Verzicht auf Einzelinteressen zu veranlassen. Eine Auflösung des Verbandes, der, so mangelhaft er es tut, immerhin heute schlecht und recht als Organ der großen Interessen der Gesellschaft fungiert, ohne  vorherige  Schaffung von Einrichtungen, die einen solchen Verband unnötig machen, könnte dagegen nur die Wirkung haben, den  Gegensatz  zwischen Einzelinteresse und gesellschaftlicher Solidarität zu  verschärfen.  Ist dieser Gegensatz schon heute groß genug, um trotz aller besseren Erkenntnis sich in tausend Dingen dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegenzustemmen, um wieviel mehr erst, wenn die Gesellschaft aus nichts bestünde als aus einer Vielheit konkurrierend nebeneinanderher wirtschaftender Gruppen und Individuen. Den Gegensatz der Interessen erst zur erhöhten Potenz zu steigern, und dann von der Einsicht der Menschen und dem Zwang der Naturgesetze das erwarten, das schließlich doch nichts anderes sein würde, als eine Modifizierung der vorher zertrümmerten Einrichtungen, heißt den sicheren Weg zum Ziel verlassen, um einen anderen einzuschlagen, der möglicherweise auch, aber jedenfalls auf großen, zeitraubenden und unsäglich viel Mühen verursachenden Umwegen zum Ziel führt.

Das gilt nicht nur vom Anarchismus BAKUNINs, es gilt von all' den verschiedenen Unter- und Spielarten des Anarchismus, bei denen die freie kommunistische Gesellschaft das gewollte Endziel bildet. Es ist immer dieselbe Tendenz, mit der Kirche ums Dorf zu gehen, es sind dieselben inneren Widersprüche, dieselben Abstraktionen, denen wir da begegnen. Bald wird der Ton mehr auf die örtlichen Verbände, die Gemeinden, gelegt, bald auf die sich zu bestimmten Zwecken "frei" bildenden Wirtschaftsverbände, die sogenannten "freien Gruppen". Gruppen oder Gemeinden, bzw. Gruppen und Gemeinden treten nur miteinander in Verbindung, soweit Bedürfnis und Einsicht sie dazu veranlassen, sonst sind sie absolut selbstherrlich - autonom - wie auch die Individuen selbst. Um bei so gearteten Verhältnissen eine Fortentwicklung der Gesellschaft im Sinne größeren Wohlstandes und größeren Wohlbefindens Aller, sowie gesteigerter Kultur denkbar zu machen, wird den Menschen eine fast engelhafte Vollkommenheit und den Naturgesetzen eine die berühmtesten Universalmittel in Schatten stellende Allheilkraft zugeschrieben - die Welt ist vollkommen überall, wo der  Staat  nicht hinkommt mit seiner Qual.

"Kirche und Staat sind meine Gruseltiere", heißt es ein anderes Mal bei BAKUNIN, und der Staat muß es wohl noch mehr sein als die Kirche, denn BAKUNIN überwindet sein Grauen vor der Letzteren immerhin soweit, daß er es über sich gewinnt, so schwer es ihm nach seiner Behauptung auch ankommt, an der betreffenden Stelle (a. a. O. Seite 33) von "unserer - der Anarchisten - eigenen Kirche" zu sprechen. Das Gruseln vor einer Institution ist aber fast immer ein Beweis, daß man die Natur derselben nur mangelhaft erkannt hat. Hinter der übertriebenen Furcht vor dem Staat steckt der gleiche Aberglauben wie hinter dem übertrieben Kultus desselben.

Wir sagten oben, daß der von den Anarchisten erwartete Zustand sich eben auch nur, wenn erreicht, als eine  Modifizierung  der vorher von ihnen programmäßig zu zertrümmernden Einrichtungen darstellen würde. Die Beweise dafür springen uns in fast jeder anarchistischen Abhandlung, die wir in die Hand nehmen, beim ersten Blick entgegen. Es herrscht da eine wahre Verlegenheit aus Reichtum, sobald wir ans Zitieren gehen wollten. Wie anti-autoritär der Anarchist sich auch gebärdet, es gibt für ihn stets einen Punkt, wo von den Gruppen, Gemeinden, Verbänden an die "Gesellschaft" appelliert wird. Nun klingt ja das Wort  Gesellschaft  harmlos genug, man kann sich dabei das allerunschuldigste, den reinen Begriff einer Vielheit ungezwungen nebeneinander lebender Individuen denken, aber in der Wirklichkeit braucht eine Gesellschaft, die eingreifen, für gewisse Bedürfnisse sorgen, gewissen Mißbräuchen steuern soll, Organe, eine Verfassung, finanzielle Mittel und eventuell Mittel des Zwangs. Es handelt sich da nur um ein Mehr oder Minder - je "kommunistischer" der Anarchist, umso stärker das  Mehr,  so daß seine "Gesellschaft" unversehens zum  Staat  wird, wie  er  denselben definiert; aber auch der anti-kommunistische Anarchist, der nicht absolut den brutalen Standpunkt des Rechts des Stärkeren vertritt, findet, sobald er versucht, seine Zukunftsgesellschaft zu schildern, an irgendeinem Punkt sein Damaskus, wo die Gesellschaft in die Sphäre der Selbstherrlichkeit der freien Gruppen eingreifen muß. Bei PROUDHON sahen wir, wie mitten im schönsten Mutualismus direkt der Staat und die Gesetzgebung in Anspruch genommen wurden. BAKUNIN - wir halten uns nur an die unter seinem Namen erschienenen Schriften, nicht an die anonymen Artikel im "Volksgericht" - ließ sich auf die Einzelheiten seiner anarchistischen Gesellschaft nicht ein, aber KROPOTKIN, den man in der Frage der anarchistischen Doktrin als seinen Nachfolger bezeichnen kann, und der heute von der großen mehrheit der Anarchisten als der wissenschaftliche Vertreter des Anarchismus anerkannt wird, verlangt, daß in der anarchistischen Gesellschaft jedem die Lebensmittel nach seinem Bedürfnis zugeteilt werden: was im Überfluß vorhanden ist, davon soll jeder "vom Haufen nehmen", was aber nur in beschränktem Umfang produziert werden kann, soll, unter Berücksichtigung in erster Linie der Greise und Kinder, wie der Schwachen überhaupt, nach den Bedürfnissen gemessen, in  Rationen  eingeteilt werden. (13) Wie das zustande gebracht werden soll, sagt KROPOTKIN freilich nicht, aber daß dazu mehr gehört als eine mystische körperlose "Gesellschaft", liegt auf der Hand.

An dieser Klippe scheitern alle kommunistelnden Systeme des Anarchismus. Die Ausflüchte, mittels deren dies von den verschiedenen Vätern derselben zu verdecken gesucht wird, lassen den Schiffbruch nur noch deutlicher erkennen.

So hilft sich KROPOTKIN - und nach ihm RECLUS und andere - damit, daß sie auf die großartigen Leistungen hinweisen, welche schon jetzt die vielen freien Vereinigungen zu gemeinnützigen Zwecken - die Gesellschaft vom Roten Kreuz, die Lebensrettungsbootgesellschaften in England und anderwärts, die Hospitalverbrüderungen etc. - vollbringen, und wie vieles Großartige auf dem Weg freier Vereinbarung erzielt wird, ohne daß der Staat oder die Gesetzgebungsinstitute ihre Hand im Spiel dabei haben - um wieviel Größeres werde also geleistet werden, wenn erst die edleren moralischen Eigenschaften, welche die Menschheit in ihrer langen Geschichte entwickelt hat, sich frei von jeder staatlichen Autorität, frei von jedem staatlichen Zwang entwickeln können. Jeder werde von selbst das Bedürfnis fühlen, sich in irgendeiner Weise für die Gesellschaft nütztlich zu betätigen, und wie der Bibliothekar des britischen Museums den Leser nicht fragt, was seine der Gesellschaft früher geleisteten Dienste waren, wie die Mannschaft eines Lebensrettungsbootes sich nicht erst vergewissert, ob die Leute eines in Not befindlichen Schiffes ein Recht auf ihre Hilfe erworben haben, so werde die anarchistische Gesellschaft furchtlos jedem Einzelnen freistellen können, aus dem Gemeinvorrat der Gesellschaft die Befriedigung seiner Bedürfnisse in beliebiger Auswahl zu entnehmen. ("Die kommende Anarchie, PARSON a. a. O., Seite 129 - 142)

Wer nur einigermaßen die wirklichen Verhältnisse kennt, für den liegen die Trugschlüsse dieses Räsonnement offen zutage. Zunächst sind bei weitem nicht alle aufgezählten Vereinigungen "frei" in dem Sinn, daß der Staat ihnen nicht durch finanzielle Hilfe, Gewährung von Privilegien, Rechtsschutz etc. namhafte Beihilfe leistete, ihren Bestand erst ermöglichte. Dann sind die Leistungen vieler von ihnen, so anerkennenswert sie ansich sein mögen, für den ins Auge gefaßten Zweck absolut unzugänglich. London hat eine Unzahl freiwilliger Krankenhäuser, die zum Teil über sehr große, von Jahrhunderten her aufgespeicherte Fonds verfügen, auf jede Weise wird für sie gesammelt, an bestimmten Tagen an allen Straßenecken, jeder erkennt den guten Zweck an und doch können sie die ihnen zufallende Aufgabe nicht lösen, und doch wird in dieser Erkenntnis jetzt von allen fortschrittlichen Elementen Londons ihre Munizipalisierung angestrebt; die fünf Millionenstadt ist aber wirklich keine "freie Gruppe". Drittens sind die meistens dieser gemeinnützigen Vereinigungen auf bestimmte, ganz ausnahmsweise Bedürfnisse, Notfälle etc. berechnet oder für ideologische Zwecke - es handelt sich aber hier um die Frage der Beschaffung und Verurteilung der Gegenstände des alltäglichen Bedarf, um die prosaischsten Artikel des täglichen Lebens. Was die englische Bibelgesellschaft auch immer an Großartigem für die Versorgung der Menschheit mit heiliger Speise geleistet hat - daraus zu schließen, daß die Menschen der Zukunft gleich den Vögeln unter dem Himmel um ihre irdische Speise unbekümmert zu sein brauchen, ist doch ein etwas gar zu kühner Schluß. Er trifft umso mehr daneben, als, wie früher bemerkt wurde, die nächste Wirkung der unvermittelten Zertrümmerung des Staates und aller staatlichen Organe die wäre, daß der Trieb der individuellen Selbsterhaltung sich noch stärker geltend machen würde, als er es in der heutigen Gesellschaft ohnehin tut. Die Stärkung des Egoismus ist aber gleichbedeutend mit einer Schwächung der vorhandenen altruistischen Triebe. Der Gruppengemeinden-Egoismus würde den weitherzigsten Gemeinsinn ersticken.

Der innere Dualismus der kommunistischen oder kommunistelnden Systeme des Anarchismus stellt sich mit Bezug auf ihre soziale Doktrin so dar, daß wirtschaftlich die Auflösung der Gesellschaft diktiert wird und aus dieser wirtschaftlichen Zersetzung die höchste, bisher unerreichte ethische Regenerierung der Menschheit hervorgehen soll, die dann die Zersetzung wieder aufheben, erst die wahre Gemeinschaft herstellen wird. "Nichts von oben nach unten, alles von unten nach oben", heißt es sonst im anarchistischen Katechismus - hier aber soll sich die Geschichte plötzlich von oben nach unten machen - vom luftigen Gebiet der Ethik aus soll die Brücke gebaut werden zur Ökonomie, nicht diese, sondern jene als Fundament des gesellschaftlichen Gebäudes figurieren. Habe niemand Furcht, daß es bei einer solchen Bautechnik wackelig ausfallen könnte. Wenn auch die Mauern auseinanderstreben und die Tragebalken schief zu stehen kommen sollten - die "Natur der Dinge", der "Zwang der Verhältnisse" wird alles schon wieder ins rechte Gleichgewicht bringen, versichert uns der Anarchist. Wozu wir dem, der's glaubt, viel Glück wünschen.

"Freiheit dem Individuum!" heißt es in KROPOTKINs Schrift "L'Anarchie dans l'evolution socialiste" - "nehmt Kiesel, sagte FOURIER, legt sie in eine Schachtel und schüttelt dieselbe, sie werden sich von selbst in einem Mosaik zusammenpassen, das ihr nie zustande bringen werdet, wenn ihr jemand damit beauftragt, sie harmonisch zu ordnen" (Seite 21). FOURIER war ein geistreicher Mann und in seinen Vergleichen liegt oft sehr viel Richtiges - aber sie müssen mit Verstand angewendet werden. Die Menschen sind keine Kiesel, und solange von einer höheren Gewalt geschüttelt zu werden, bis jeder in die passende Lage fällt, ist alles, nur kein Ideal individueller Freiheit.

Es wäre absurd, von den in Jahrtausende langer Entwicklung erworbenen ethischen Vorstellungen der Kulturmenschen behaupten zu wollen, daß sie für den gesellschaftlichen Fortschritt wertlos oder selbst nur unwesentlich seien. Es wäre nicht minder absurd, sich einzubilden, die gesellschaftlichen Beziehungen ließen sich von einem Zentrum oder ein paar Zentralstellen aus bis ins kleinste Detail befriedigend regeln. Kein nur irgendwie zurechnungsfähiger Anhänger des modernen Sozialismus hegt derartige plumpe Ideen über die zu erstrebende kommunistische Gesellschaft. Die Schwarzmalereien vom Kasernenkommunismus mit engherzigen Schablonisierungen und Allerweltsregiererei sind liebenswürdige Erfindungen der Anarchisten oder Weiterkolportage der von der Bourgeoisiekritik aufgetischten Märchen. Von PROUDHON angefangen finden wir bei keinem Anarchisten eine sachgemäße Kritik des modernen Sozialismus, einen zur Diskussion ermutigenden Versuch, die Grundbegriffe desselben zu analysieren. Überall das gleiche Verfahren, dem Gegner geradezu Blödsinn zu unterschieben, um die Vortrefflichkeit des eigenen Rezepts in desto hellerem Licht erstrahlen zu lassen (14). Ein sachliches Eingehen auf die Schriften der anerkannten Theoretiker des modernen Sozialismus würde eben nur ergeben, daß dieselben, weniger "autoritär" wie alle Anarchisten von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, der zukünftigen Menschheit keine Vorschrift darüber machen, wie sie ihre allgemeinen Angelegenheiten zu regeln hat, daß sie ihr nicht mit einem Strafkodex entgegentreten: Verbot, irgendeinen anderen Weg zu gehen, als den von uns vorgezeichneten; Verbot, Euch auch nur für einen Tag dieser oder jener Einrichtung zu bedienen; Verbot, Euch nach der Decke Eurer Bedürfnisse und Möglichkeiten zu strecken, statt Euch streng an die von uns gebilligten Rechts- und Moralbegriffe zu halten. Von alledem findet man in den Schriften von MARX und ENGELS kein Wort - umso mehr aber in den Schriften der Theoretiker des Anarchismus.

Es klingt sehr "freiheitlich", wenn es bei diesen immer und immer heißt: Nichts von oben nach unten, alles von unten nach oben, nichts vom Zentrum zur Peripherie, alles von der Peripherie zum Zentrum, keine Zentralisation, überall Föderalismus, keine allgemeinen Vertretungskörper, nur spezialisierte Vereinbarungskomitees - aber es ist in Wirklichkeit der höchste Autoritarismus - eine, aus dem Kampf des Bürgertums und der Arbeiterklasse gegen den bürokratischen Staatsabsolutismus geschöpfte Idee auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Angelegenheiten übertragen - die Methode Dr. EISENBARTs, aber nichts weniger als in Übereinstimmung mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Gesellschaftskörpers und seiner Bedürfnisse.

Die moderne Gesellschaft, wie wir sie zunächst überkommen und weiter zu entwickeln haben, ist ein viel zu komplizierter Organismus, als daß sie sich ohne Gefahr für das Wohl ihrer Mitglieder ohne weiteres nach einer willkürlichen Schablone umgestalten ließe - gleichviel ob es sich um die "Staats"- oder irgendeine "Freiheits"-, um die Zentralisations- oder die Föderalisierungsschablone handelt. Ein absoluter Zentralismus wäre, wenn überhaupt durchführbar, ökonomisch und sozial zugleich verderblich, aber die Gesellschaft würde selbstmörderisch handeln, wenn sie mit allen bestehenden zentralisierten Instituten, statt sie ihren Bedürfnissen entsprechend zu reorganisieren, kurzer Hand aufräumen und vom Zufall oder dem Zwang der Verhältnisse Ersatz erwarten wollte. Sie wird nur das beseitigen, was wirklich entbehrlich ist, dessen Funktionen anderweitig besser erfüllt werden können. So wird sie es mit dem Staat machen, so mit sämtlichen einzelnen Verwaltungsorganen, sie wird die einen vielleicht zeitweise stärken, andere sehr bald eingehen lassen und wieder andere erst ins Leben rufen. Sie wird dabei, setzen wir voraus, nach bestimmten politischen und sozialen Grundsätzen verfahren - nichts liegt uns ferner, als einem grundsatzlosen Eklektizismus das Wirt zu reden - aber sie wird bei ihrer Anwendung Vernunft und Erfahrung mitsprechen lassen.

Das will den Anarchisten nicht in den Sinn. Freiheit, Entfesselung der individuellen Kräfte ist das Arkanum [Geheimnis - wp], das alles kurieren, alles Übel beseitigen, alles Gute von selbst bringen soll. Aber weder in der Natur, auf welche alle Anarchisten so gern verweisen, ist dies der Fall, noch hat die Geschichte gezeigt, daß der Weg zum Fortschritt nur Freiheit und nichts als Freiheit heißt. In der Natur herrscht ein grausamer Kampf ums Dasein, Zertrümmerung von Billionen sonst lebensfähiger Keime, Vernichtung von Millionen ansich lebensfähiger Individuen. In der Geschichte der Völker aber hat sich der Fortschritt, die Ermöglichung größerer Freiheit und größeren Wohlstands oft zunächst durch die Beschränkung bestimmter Freiheiten vollzogen - die Vernichtung der feudalen Freiheiten und die Konstituierung des absoluten Staates bildet einen wichtigen Markstein auf dem Weg zur Emanzipation des Menschengeschlechts. Es gibt keine für alle Verhältnisse passende Formel, nach der sich diese Emanzipation vollzieht - je nach den Umständen wird das eine oder das andere Prinzip mehr in den Vordergrund treten. Was für die bürgerliche Gesellschaft die vornehmste Bedingung für ihre volle Entfaltung war, kann für die Entwicklung der von der Arbeiterklasse erstrebten kommunistischen Gesellschaft eventuell in die zweite oder dritte Reihe treten. Die Arbeiterklasse, zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht und entschlossen, die Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen umzugestalten, wird nicht so töricht sein, die in der Weise zu tun, daß sie sich dabei selbst Ketten schmiedet - aber sie wird sich ebensowenig auf ein Prinzip, auf ein Universalheilmittel einschwören lassen, das tatsächlich nichts anderes ist, als die bloße Übertreibung der, aus den Bedürfnissen der bürgerlichen Klassen abgeleiteten Doktrin des entfesselten wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes.

Wir wollen hier abbrechen. Im ursprünglichen Plan dieser Arbeit lag es, auf alle bekannteren Spielarten des Anarchismus einzugehen und zu zeigen, wie sie sämtlich darauf hinauslaufen, die proletarische Bewegung nach bürgerlichen Begriffen - und selbst Schrullen zu modeln und in die Zukunftsgesellschaft einen möglichst großen Vorrat bürgerlicher Einrichtungen hinüberzuretten - teils aus bewußter Verliebtheit in diese Einrichtungen, wie bei PROUDHON und seinen Nachfolgern, teils aus mißverständlicher Übernahme bürgerlicher Schlagworte - aus der Neigung, relativen Wahrheiten eine absolute Deutung zu geben. Rücksichten auf andere Arbeiten zwingen mich jedoch, es bei den obigen zusammenfassenden Sätzen bewenden zu lassen. Auch würde eine allzu detaillierte Kritik vielleicht nicht in den Rahmen dieser Zeitschrift gepaßt zu haben. Aus diesem Grund habe ich noch einige Beispiele fortgelassen, an welchen die Trugschlüsse der anarchistischen Ökonomie besonders schlagend zutage treten. Ich hoffe jedoch, die Momente genügend hervorgehoben zu haben, welche bei der Analyse der ökonomischen Grundsätze des Anarchismus zu berücksichtigen sind. In letzter Instanz verlangen alle anarchistischen Systeme einen furchtbar starken  Glauben.  Man muß sich bei ihnen mit der Hoffnung zufrieden geben, daß die freie Wirtschaft der freien Gruppen alles auf das Beste regeln würde. Auf die Frage: und wenn nicht? bleiben die Exponenten stumm oder antworten mit Ausflüchten. Sie können auch gar nicht anders, nachdem sie der Gesellschaft  verboten  haben, sich in die wirtschaftliche Domäne der freien Gruppen oder Gemeinden einzumischen.

In dieser ganzen Abhandlung ist die soziale Doktrin des Anarchismus nur auf ihren  ökonomischen  Inhalt hin untersucht worden - erst ganz am Schluß wurde auch die  ethische  Seite derselben gestreift. Diese gehört aber zum Thema und sollte ursprünglich ebenfalls noch in diesen Artikeln berücksichtigt werden. Es mit jenen beiläufigen Bemerkungen über sie bewenden zu lassen, würde schon deshalb umso weniger gerechtfertigt erscheinen, als gewisse Strömungen der Gegenwart, die hier und da sogar in der Arbeiterbewegung propagiert werden, entweder direkt von ihr ableiten oder in naher Verbindung zu ihr stehen. Es sei hier u. a. nur an den sogenannten Nietzscheanismus erinnert. Aber das Thema ist interessant genug, eine selbständige Abhandlung zu beanspruchen, und darum brehen wir hier ab mit der Bitte, die vorstehende Skizze als nur der ökonomischen Seite der Frage gewidmet zu betrachten.
LITERATUR: Eduard Bernstein, Die soziale Doktrin des Anarchismus, Die Neue Zeit, Bd. X, Nr. 12f, Stuttgart 1892
    Anmerkungen
    4) Diese in Heft 12 des 10. Jahrgangs der "Neuen Zeit" begonnene Artikelserie erlitt schon nach dem zweiten Artikel eine Unterbrechung, weil eine nervöse Erkrankung mir für eine Zeitlang jede schriftstellerische Tätigkeit verbot. Als ich dieselbe in vollem Umfang wieder aufnahm, beschäftigten gerade die Pariser Dynamitattentat die Tagespresse, und es erschien mir daher der Moment nicht geeignet, meine Untersuchung fortzusetzen. Später begann ich zu zweifeln, ob überhaupt noch unter den Lesen der "Neuen Zeit" Interesse für dieselbe vorhanden sei. Nachdem jedoch verschiedene Zuschriften mich eines anderen belehrten, will ich nicht länger säumen, die begonnene Erörterung zuende zu führen. - - - Für neu hinzugekommene Leser die Bemerkung, daß den Ausgangspunkt dieser Artikel die im vorigen Jahr erschienene Schrift des Herrn JOHN HENRY MACKAY, "Die Anarchisten, Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts" bildet. Der erste Artikel befaßte sich mit dem Inhalt des MACKAYschen Buches im Allgemeinen, der zweite charakterisierte die vielgenannte STIRNERsche Abhandlung "Der Einzige und sein Eigentum", die, 1848 zuerst veröffentlicht, das Radikalste darstellt, was die das Individuum als Mittelpunkt setzende Literatur des Jahrhunderts hervorgebracht hat.
    5) "Er (PROUDHON) will alle Arten von Eigentum kritisieren, liefert aber eigentlich nur eine Kritik des privaten Grundeigentums, wie er selbst in seinem 1862 erschienenen "Majorats littéraires" sagt: Vor 22 Jahren habe ich über das Grundeigentum eine Kritik verfaßt." (DIEHL, Pierre-Joseph Proudhon, erste Abteilung: die Eigentums- und Wertlehre, Seite 34).
    6) Nach der Februarrevolution 1848 wurde von der provisorischen Regierung eine Arbeiterkommission eingesetzt, damit die drängenden Arbeiter sich beruhigten und glaubten, es geschehe etwas für sie. LOUIS BLANC ließ sich an die Spitze dieser Kommission stellen, die ihren Sitz in einem Palais, dem  Luxembourg,  aufschlug. Daher der Ausdruck, dessen sich PROUDHON zur Bezeichnung des "autoritären" Sozialismus bediente. [die Redaktion]
    7) Hier in einem technischen Sinn zu verstehen.
    8) Logischerweise schreibt dann PROUDHON auch an einer Stelle, "die Liebe sei nur in dem Maße vollkommen, als sie zu ihrem Motto die Maxime des Mutualismus - ich hätte fast gesagt des Handels - genommen hat: Ich gebe, wenn du gibst" (De la capacité, Seite 165)
    9) Vgl. MARX, Das Elend der Philosophie, 2. Auflage, Seite 154
    10) MICHEL BAKOUNINE, Dieu et l'Ètat, Geneuve 1882. Wir zitieren nach dieser Originalausgabe, da uns die später erschienene deutsche Übersetzung nicht zur Hand ist.
    11) Auf Seite 29 derselben Schrift BAKUNINs heißt es: "Eigenschaft des Privilegiums und jeder privilegierten Position ist es, den Geist und das Herz der Menschen zu töten. Der sei es politisch, sei es ökonomisch privilegierte Mensch ist an Geist und Seele verkommen. Es ist dies ein soziales Gesetz, das keine Ausnahme zuläßt, und ebensowohl für ganze Nationen, wie für Klassen, für Gesellschaften und für Individuen gilt. Es ist das Gesetz der Gleichheit, die wichtigste Bedingung der Freiheit und Menschlichkeit. Die Hauptaufgabe dieser Studie besteht gerade darin, diese Wahrheit an allen Manifestationen des menschlichen Lebens nachzuweisen." Wenn die Griechen, trotzdem ihre Zivilsation auf der Sklaverei beruhte, all das oben Aufgezählte.
    12) Zu diesem Satz machen die Herausgeber des Fragments - Herr ELISÉE RECLUS und der inzwischen ebenfalls verstorbene CARLO CAFIERO - folgende Note: "Bakunin will ohne Zweifel hier von den  ökonomischen Gesetzen  und der  Sozialwissenschaft  sprechen, die sich in der Tat erst im Anfangsstadium befindet."
    13) Vgl. L'anarchie dans l'évolution socialiste, Paris 1887, Seite 13, und den Aufsatz "Die kommende Anarchie" in der unter dem Namen ALBERT RICHARD PARSON herausgegebenen Sammelschrift "Anarchismus. Seine Philosophie und wissenschaftliche Grundlage", Chicago 1887, Seite 130.
    14) Wobei allerdings zu bemerken ist, daß es der Anarchist seinen mit ihm differierenden Brüderanarchisten oft nicht viel besser macht. "Du willst die freie Liebe gleich mir," sagt der individualistische Anarchist AUBAN-MACKAY zum kommunistischen Anarchisten TRUPP in der Diskussion über die Vorzüge ihrer Systeme. "Aber was verstehst du unter freier Liebe? Daß jede Frau die Pflicht hat, sich dem Verlangen jedes Mannes hinzugeben, und kein Mann das Recht, sich dem Verlangen einer Frau zu entziehen" etc. etc. und AUBAN-MACKAY "schaudert" bei dem Gedanken, daß diese Idee jemals die herrschende werden könnte (MACKAY, Die Anarchisten, Seite 172). Er hätte sich die Gänsehaut sparen können. Bei keinem noch so kommunistischen Anarchisten, und ebensowenig bei irgendeinerm "autoritären" Kommunisten sind wir auf diese schauderhafte blödsinnige Auslegung des Begriffs der freien Liebe gestoßen. So etwas konnte nur Meister PROUDHON im trauten Verein mit den Zotenblättern der Bourgeoisie aushecken, um das "System Luxembourg" vor dem entsetzten Spießbürger als den Gipfel aller Scheußlichkeit hinzustellen.