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PAUL SZENDE
Verhüllung und Enthüllung
[Der Kampf der Ideologien in der Geschichte]
[2/3]

"Die Logik trägt in doppeltem Maß zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung bei. Erstens liefert sie keine neuen Erkenntnisse, daher nichts, was das Bestehende erschüttern könnte. Im Gegenteil, sie kontrolliert und klassifiziert die aus anderen Quellen geschöpften Erkenntnisse. Die Logik ist weiter eine  normative  Wissenschaft. Sie schreibt die Regeln des  idealen  Denkens vor und betrachtet das auf andere Weise verlaufende Denken als fehlerhaft, seine Resultate als Irrtümer. Erst in der jüngsten Zeit fand die Ansicht Anerkennung, daß Wahrheit und Irrtum relative Begriffe sind und die Entstehungsart des Wertvollen und Wertlosen dieselbe ist."

"Der Begriff des  Staatswillens  soll verheimlichen, daß hier eigentlich nur der Wille der jeweils herrschenden Klassen gemeint wird. Die  Nation  ist eine Abstraktion gleicher Art. Bei der Bildung dieser  allgemeingültigen  Begriffe wird daher eben dasselbe Merkmal unterschlagen, welche das Wesen der Gesellschaftsordnung ausmacht: die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit. Beinahe  alle Schlagwörter der politischen Metaphysik  sind solche Abstraktionen:  Gleichheit, Freiheit, Volkssouveränität, Volksgeist, Demokratie  usw., die alle von den bestehenden Machtverhältnissen absehen."

"Die  Sprache  ist das Mittel des Denkens, der Mitteilung, der Begriffsbildung und überhaupt sämtlicher logischer Operationen. Ohne sie gibt es keine Erkenntnis. Sie läßt sich aber Wucherzinsen für ihre Dienste zahlen. Die Sprache ist nicht eindeutig, die Worte enthalten teils durch Abstammung, teils durch Entwicklung sowohl innere als auch äußere Beziehungen, welche unerlaubterweise in das Denken und in die Begriffsbildung miteinbezogen werden. Die Ökonomie des Denkens hat die Tendenz, nicht für jeden Begriff, geschweige denn für jeden Bewußtseinsinhalt ein Wort zu bilden, sondern ein schon vorhandenes zu benützen."

"Die Erbschaft der Vergangenheit, der Druck der Überlieferung behindert eine Änderung der Gesellschaftsordnung weit mehr als der innere Gehalt der Rechtsinstitutionen und die sie schützenden Machtmittel. Die ohnehin große Autorität der Bibel wird in den Augen der Massen in der klaren Erkenntnis, daß sie jede grundlegende Einrichtung der bestehenden Gesellschaftsordnung anerkennt und heiligt, noch künstlich gesteigert."


III. Die Verhüllung

1. Ihre Psychologie

Die Verhüllung bevorzugt jene psychischen Gebilde und Vorgänge, welche verhindern, daß der Wunsch nach Änderung der Gesellschaftsordnung in den Gemütern aufkommt. Sie verfälscht die Erkenntnis, verwirrt das Werten, schwächt den Willen, treibt die Zwecksetzung und Mittelwahl auf falsche Bahnen. Die Abschüttelung der eingewurzelten Ideologien erfordert die Entfaltung psychischer Energien. Wenn die Eindrücke der Außenwelt nicht stürmisch auf Abänderung drängen, hält der Mensch lieber am Bestehenden fest. Nicht nur in der Religion (MARX), auch in der Gesellschaftsordnung wird er vom Machwerk seines eigenen Kopfes beherrscht. Das  Denken  ist die mehr- oder weniger bewußte Verarbeitung des uns in Empfindungen und Wahrnehmung gegebenen Materials. Die neuen Eindrücke und der vorhandene Vorstellungsvorrat werden einander angepaßt. Die Ökonomie des Denkens erstrebt diese Anpassung mit einem Minimum an Denkmitteln und Energieaufwand.

Diese kurze Schilderung zeigt schon, wieviele Möglichkeiten der Verhüllung sich im Verlauf des Denkprozesses bieten. Der Verstand hat die ökonomische Tendenz, alles Neue auf Bekanntes zurückzuführen. Die  Denkzutaten,  die im einfachen Erfahrungsinhalt nicht gegeben sind und erst in einem Verarbeitungsprozeß hinzutreten, gelangen dadurch zur führenden Rolle. Die Bahn für frühere Ideologien und Vorurteile wird freigemacht, die Vergangenheit siegt über die Gegenwart.

Unsere Vorstellungen, zum geringsten Teil von uns geschaffen, sind Produkte "von vielen Milliarden vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Menschen" (ENGELS). Der Vorrat des Wissens ist unübersehbar. Der Durchschnittsmensch kann es nicht beherrschen und muß sich der Autorität der Berufeneren anvertrauen. Er gewöhnt sich, alles was diese erklären, für eine unumstößliche Wahrheit zu halten, nach denen er selbst seine einfachsten Empfindungen und Wahrnehmungen orientiert. Je älter eine Erkenntnis, eine Idee, desto mehr glaubt er daran. Hätte sie die Prüfung durch die Zeit nicht so zäh bestanden, wäre sie dann unwahr? Den autoritären Vorstellungen zuwiderlaufende Kenntnisse werden verdrängt oder vernachlässigt. Die Autorität der Bibel und des ARISTOTELES verhinderte Jahrhunderte lang die Entwicklung der Naturwissenschaften, selbst den eigenen Sinnen wollte man nicht glauben, wenn die Wahrheit der Autorität widersprach. Auch LUTHER befehdete, gestützt auf die Worte der Bibel, die kopernikanische Theorie. So erwuchs und besteht für die Masse noch immer der Zustand, den die Psychopathologie als  "Verarmung des Vorstellungsschatzes"  bezeichnet. Dieser verringerte Vorstellungsvorrat enthält in hohem Maß  Scheinprobleme,  Gedankengänge über die  "letzten Gründe",  welche die Menschheit als tote Last seit Jahrtausenden mit sich herumschleppt. Diese Probleme sind die Meisterstücke des aprioristisch-mystischen Denkens.

Noch größer ist der Einfluß der autoritären Vorstellungen auf die Zwecksetzungen und Werturteile.

Von den  Gefühlen  kommen in erster Linie solche in Betracht, welche die Menschen geneigt machen, sich fremder Führung anzuvertrauen und überhaupt die Willenskraft schwächen. Da sie den Entschluß auf Änderung der Gesellschaftsordnung hemmen, tragen sie zu ihrer unveränderten Erhaltung bei. Zwischen Gefühlen und  Affekten  ist - besonders was ihren Vorstellungsinhalt betrifft - keine scharfe Grenze zu ziehen. Wir erwähnen nur die bedeutsameren.

Furcht  und  Hoffnung  sind korrelative Begriffe: keine Hoffnung ohne Furcht und keine Furcht ohne Hoffnung (SPINOZA). Der verhüllende Einfluß dieser mächtigsten aller Gefühle begann erst, als sie sich mit Vorstellungen über höhere Wesen und übernatürliche Kräfte verbanden. GOETHE sie zwei der größten Menschenfeinde, die es jedem leicht machen, von uns Besitz zu nehmen. Sie schwächen die Willenskraft. Der Mensch erwartet alles Heil von übernatürlichen Wesen und nicht von der eigenen Tätigkeit, lebt in ständiger Angst wegen ihres Zorns und rafft sich zu keiner selbständigen Handlung auf. Diese Gefühle werden auf jene Machtfaktoren übertragen, die als Vertreter einer höheren Ordnung gelten wie z. B. Kirche, Monarchie, Staat. Die Furcht vor den Lebenden - sagt SPENCER - ist der Keim der politischen, die Furcht vor den Toten der Keim der religiösen Herrschaft. Die Wirkung der apriorischen Ideologien verwirrt den Kausalzusammenhang, es wächst ein üppiges Gewebe von Aberglauben und mit ihm ein unvertilgbares Geschlecht falscher Propheten. Die Sehnsucht nach Wunder und Offenbarung beherrscht das Gefühlsleben. Der Druck dieser Gefühle ist nicht zu erschüttern, weil ihre Vorstellungsgrundlage ins Jenseits, in die Sphäre unsichtbarer Mächte verlegt ist und sich daher jeder Kontrolle entzieht.

Im staatlichen Leben wird die Furcht vor der bestehenden Gesellschaftsordnung außerdem noch mit den gewöhnlichen Machtmitteln ständig wachgehalten, ebenso die Hoffnung auf die Staatsgewalt, auf den gütigen Herrscher, dessen Weisheit und liebevolle Fürsorge mehr das Wohl des Gemeinwesens fördert, als die der Unwissenheit entspringenden Handlungen der Untertanen.

Der Gemütszustand, den die Kirche den Gläubigen vorschreibt, enthält alle Gefühle, die der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung förderlich sind: Angst vor Sünde, vor der Verdammung und Vergeltung im Jenseits, und andererseits die Hoffnung auf Belohnung und ewige Glückseligkeit. Dieses ins Jenseits verlegte Glücksideal - der Trost aller Unterdrückten - hält sie von einer Auflehnung gegen die Gesellschaftsordnung zurück. Die Lehre von der Erbsünde und von der Erlösung liefert den Gläubigen unerbittlich dem Zorn und der Gunst höherer Mächte aus. Hilflos, in die Sünde ohne eigenen Willen hineingeboren, steht er ihnen gegenüber.  Keine Hoffnung  und  übermäßige Hoffnung,  das sind die zwei Pole des psychischen Mechanismus, mit dessen Hilfe die Kirche die Gemüter zu freiwilliger Unterwerfung zwingt. Ein "Scheinegoismus der Besitzlosen" (LORIA) wird wachgerufen, die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung, das Dulden des Übels wird als Voraussetzung des künftigen Seelenheils betrachtet. Die Züchtung und Hochpreisung der  Demut  zeitigt dasselbe Resultat.

Danach ist es leicht verständlich, warum im letzten Jahrhundert, im Bestreben nach radikaler Änderung der Gesellschaftsordnung mit großer Wucht auftraten, die katholische Kirche an Macht und Ansehen so ungemein zugenommen hat. NAPOLEON nannte den Katholizismus eine Schutzimpfung und das Mysterium der sozialen Ordnung, welches verhindert, daß der Reiche vom Armen massakriert wird. Von demselben polizeilichen Standpunkt aus forderte FRIEDRICH der Große: die Schulbildung soll in erster Linie "ein Attachement [Beziehung - wp] zur Religion" herstellen, "damit die Leute nicht stehlen und nicht morden". Die katholische Kirche wird als "der Würgeengel der Revolution" von den protestantischen Regierungen überall tatkräftig unterstützt.

Ein vollständiges System dieser Ideologien gibt DANTE in seiner  Divina Comedia.  Jetzt, da die 600jährige Wiederkehr seines Todestages gefeiert wurde, sieht man, wie lebendige Wirklichkeit dieses mächtige Epos noch immer ist, denn es faßt das System jener psychischen Machtmittel zusammen, die heute noch die Gesellschaftsordnung aufrechterhalten.

Das Gefühl der  Achtung  wird hauptsächlich jenen Einrichtungen gezollt, die apriorischen Ursprungs sind. Mögen die üblichen Definitionen der Achtung die Würdigung des moralischen Wertes noch so sehr in den Vordergrund stellen: im Leben herrschen die vererbten Vorstellungen und eingefleischten Werturteile. Was Macht und Autorität genießt, wird auch als sittlich höherstehend geachtet.

Schließlich seien noch die wichtigen Gefühlspaare erwähnt, in denen auf der Lustseite  Liebe, Sympathie, Mitleid,  auf der Unlustseite  Haß  und  Neid  stehen. Lieben und Hassen sind Elementarbedürfnisse der menschlichen Seele. Sie sind die vornehmsten Triebkräfte der Geschichte und können bis zum Fanatismus gesteigert werden, besonders wenn zu ihrem Gegenstand die mächtigsten Ideologien - Religion, Gott, Seelenheil, Vaterland - gemacht werden. Früher kamen sie besonders in Religionskriegen und Ketzerverfolgungen zum Ausdruck, heute äußern sie sich mehr in denjenigen Bewegungen, deren treibende Kraft Chauvinismus, Nationalismus, Imperialismus sind und in denen das Streben nach Herrschaft und Unterdrückung durch verknüpfende und trennende Ideologien verhüllt wird. Der  Misoneismus,  der Haß gegen neue Ideen, Sitten und Einrichtungen entstammt der künstlich gesteigerten Anhänglichkeit an die hergebrachten Ideen und Institutionen und ihrer übermäßigen Wertschätzung. Er sichert die Passivität der Massen und ist eines der vornehmlichsten Hindernisse aller Reformbestrebungen.

Wird ein starkes Gefühl oder ein mächtiger Affekt dauernd, so erlangen sie die Herrschaft über das Werten, Denken und Wollen, sie werden zur  Leidenschaft,  die sich durch eine besonders intensive Zwecksetzung und Zweckverfolgung auszeichnet. Alle Vorstellungen, die der Erfüllung der Begierde günstig sind, werden bevorzugt, die ungünstigen verdrängt. Die autoritären Ideologien sind prädestiniert, Vorstellungsinhalte von Leidenschaften zu werden, denn ihre Dauerhaftigkeit ist durch Vererbung, Erziehung, Gewöhnung "apriori" gegeben. Wer von einer Leidenschaft erfaßt ist, wird leichtgläubig jenen Vorstellungen gegenüber, die ihm eine schnelle und restlose Befriedigung der Begierde versprechen; daher die Wundersucht sowie der Hang zum Aberglauben und Mystischen.

Wir behaupten nicht, daß die soziale Wirkung der Gefühle immer konservative Tendenzen zeitigt. Doch halten wir den Standpunkt ROUSSEAUs, daß im Menschen das Tiefste und Beste seiner Gefühle sind, für übertrieben. SPENCER beklagt, daß im Verlauf der Menschheitsentwicklung der natürliche Zusammenhang einerseits zwischen Freuden und vorteilhaften Tätigkeiten, andererseits zwischen Leid und schädlichen Tätigkeiten zerrissen wurde, und weist auf die moralischen und religiösen Ideen hin, die diese Störung hervorgerufen haben. Wir können diesen Gedanken dahin ergänzen, daß sämtliche autoritäre Ideologien an dieser Störung schuld sind, denn sie bewegen die Menschen dazu, an Vorstellungen und Tätigkeiten, die ihnen schädlich sind, sogar Freude zu haben. In der sozialen Rolle der Gefühle kommt das Übergewicht der Vergangenheit über die Gegenwart zum Ausdruck. Sagt doch NIETZSCHE, daß seinen Gefühlen vertrauen heißt, seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und Erfahrung.

Von den komplizierten psychischen Gebilden wollen wir noch erwähnen, daß  Stimmung, Neigung, Temperament  und  Disposition  umso eher als Nährboden der Verhüllung dienen können, je mehr in diesen Zuständen der Hang zum  Passivismus  vorherrscht. Dieser Hang ist auf sämtlichen Geistesgebieten sehr stark (GOLDSCHEID) und daher eine mächtige Stütze der Gesellschaftsordnung.

Der  Pessimismus - halb Gemütsstimmung halb Weltanschauung - ist der Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung sehr günstig. Er hindert die Menschen, für deren Abänderung einzutreten, da sie ohnehin nicht verbessert werden kann. Besonders in der Formulierung durch SCHOPENHAUER und EDUARD von HARTMANN zeigt der Pessimismus (trotz SCHOPENHAUERs antireligiöser Haltung) große Ähnlichkeit mit den Glaubenssätzen vom Sündenfall und der Erlösung, was seinen willenslähmenden Einfluß noch steigert. Die gleiche Wirkung zeitigt auch der  Optimismus dem die bestehende Welt die beste aller möglichen ist (LEIBNIZ), weil ihm jedes Streben nach ihrer Abänderung überflüssig erscheint.

Infolge der Enge des Bewußtseins kann die  Aufmerksamkeit  nur verhältnismäßig wenige Inhalte erfassen. Aufmerksamkeit erfordert Konzentration, die darin besteht, daß die mit einer dominierenden Vorstellung verwandten Vorstellungen und Empfindungen bevorzugt, die gegenteiligen aber vernachlässigt werden. Zur dominierenden Vorstellung wird jener Bewußtseinsinhalt, dem die denkende Person das meiste Interesse zuwendet, daher in erster Linie die autoritären Ideologien. Die Enge des Bewußtseins birgt die Gefahr in sich, daß diese Ideologien, gestützt auf Vererbung, Gewohnheit und Autorität, die gegenteiligen Vorstellungen zu keiner dominierenden Stellung gelangen lassen. Die künstliche Steigerung gewisser Geistestätigkeiten - besonders durch religiöse Übungen - schaltet anders gerichtete Bewußtseinsinhalte aus. In jedem Zeitalter mit einem vorherrschenden  kontemplativen  Leben erstarrt die Gesellschaftsordnung. Die Starrheit der sozialen Verfasung Indiens, die Unbeweglichkeit des Kastensystems ist in bedeutendem Maße dem Umstand zuzuschreiben, daß der überwiegende Teil der intellektuellen Kräfte der Kunst des Yoga ergeben ist. Diese bedeutet eine Höchstausbildung des Konzentrationsvermögens, eine vollständige intuitive Erkenntnis, zugleich jedoch die Stilllegung sämtlicher anderer psychischer Tätigkeiten. KEYSERLING, ein begeisterter Verehrer der Yogakunst, gibt auch zu, daß die Unproduktivität der Inder vornehmlich aus dem Yoga stammt. Die Regierungen der herrschenden Klasse, besonders aber ihre Presse, suchen durch eine ununterbrochene Aufstachelung der nationalen Leidenschaften (Imperialismus, Rassenkampf, Nationalitätenhader, Antisemitismus) die Aufmerksamkeit der Massen von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen abzulenken.

Die Tätigkeit des  Gedächtnisses die Wiederbelebung und Wiedererzeugung früher vorhandener Vorstellungen wird ebenfalls durch das Interesse bestimmt. Sie dient der Verhüllung, wenn die Vorstellungen und Zwecksetzungen, welche die Richtung des Interesses bestimmen, autoritäre Ideologien sind. Für die Größe ihrer verdrängenden Macht liefert die Gegenwart ein sehr lehrreiches Beispiel. Der Zusammenbruch der Mittelmächte, der ihnen auferlegte harte Frieden, die Folgen des vierjährigen Krieges, haben in den besiegten Ländern das Elend auf das Höchste gesteigert. Die republikanischen Regierungen können gegen dasselbe nichts ausrichten. Mit Hilfe der am meisten gefühlsbetonten Ideologien, mit den religiösen und nationalen Schlagworten, gelang es nun den reaktionären Parteien, bei einem großen Teil der Massen eine ihnen günstige Gedächtnisstörung hervorzurufen. In vielen ihrer Anhänger ist die Tatsache, daß die Monarchien den Krieg entfesselt haben und für alle Leiden und Entbehrungen verantwortlich sind, völlig verdrängt. Sie erinnern sich nur daran, daß unter der Monarchie das Leben leichter und die Preise niedriger waren.

Die  Mechanisierung der psychischen Prozesse  dient trotz ihrer zweckmäßigen Folgen meist der Verhüllung. Die aus der Vergangenheit stammenden, einer schon überholten Bedürfnisbefriedigung entsprechenden Gedankengänge werden biologisch festgelegt und das Aufkommen neuer Vorstellungen wird verhindert.

Wir haben bereits erwähnt, daß jedes psychische Mittel, das die Menschen bewegt, sich fremder Autorität zu unterwerfen, für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung wirkt.  Erziehung, öffentliche Meinung, Wissenschaften,  alle arbeiten in diesem Sinne. Die zwei größten Machtorganisationen, die  Kirche  und die  Armee,  verlangen von ihren Untergebenen den Kadavergehorsam. Jeder Machtfaktor ist bestrebt, sich durch Suggestion bei den Massen das nötige Ansehen zu verschaffen. Die weitere Auswirkung des Autoritätsprinzips besteht darin, daß derjenige, der sich einem anderen unterwirft, seinersetis über die noch schwächeren zu herrschen trachtet.

Die religiöse  Demut  ist die Verbeugung vor einem Herrscher mit übernatürlicher Macht. Das Leitprinzip des Alten Testaments ist die unumschränkte Herrschaft des jüdischen Gottes. Da sämtliche christliche Religionen sich auf dem Alten Testament aufbauen, sind sie Stützen jeder bestehenden Macht. Die gegenteiligen Äußerungen des Neuen Testamentes werden in der Praxis nicht befolgt.  Buddha  nahm auf das Schärste gegen den Autoritätsglauben Stellung; von allen großen Religionen hat nur der Buddhismus sich niemals durch Krieg, durch Gewalt auszubreiten gesucht.

Die Erziehung zur Willenskraft bezweckt die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit, der Pflicht über die Neigung, der Erkenntnis über die Begierde. Stehen aber die der Erziehung zugrunde liegenden Ideologien im Bann des Autoritätsprinzips, so wird der Erzogne vielleicht in Alltagsfragen seine Instinkte meistern können, als soziales Wesen wird er dafür rettungslos einer fremden Autorität ausgeliefert.

Eine überragende Bedeutung kommt den  Assoziationsvorgängen  zu. In der Psychologie ist es nach WUNDT üblich, zwischen  eigentlicher Assoziation  oder passiver Apperzeption und  aktiver Apperzeption  zu unterscheiden. Jene ist ein mechanischer Vorgang bei mehr oder weniger passivem Zustand des Bewußtseins. Die aktive Apperzeption hingegen bedeutet die klare Erfassung der Bewußtseinsinhalte durch aufmerksames Erleben. Bei den mechanisierten Assoziationsprozessen überwiegen die Einflüsse der bio- und ontogenetischen Entwicklung, der Gewohnehit; bei der aktiven Apperzeption fällt die Führung einer gefühlsbetonten Vorstellung zu. Beide Arten lassen daher den Weg zur Verhüllung frei, die Vergangenheit kann gleichmäßig ihren Einfluß ausüben, im zweiten Fall besonders dann, wenn die führende Vorstellung eine autoritäre Ideologie ist. Die Apperzeption ihrerseits ruht auf mechanischen Assoziationsvorgängen, in deren Getriebe sie ordnend eingreift. Die Grenzen schwanken. Die festgewurzelten Vorstellungen verlaufen auf durch die Übung "ausgeschliffenen", "ausgefahrenen" Nervenbahnen und haben ein immenses Beharrungsvermögen.

Der Assoziationsvorgang wird durch einen neuen Eindruck, durch eine neue Vorstellung veranlaßt. Dieser geht mit der vorhandenen Vorstellungs- und Gefühlsmasse verschiedene simultane und sukzessive Verbindungen ein, er regt solche auch unter den Bestandteilen dieser Masse an. Aus diesen Verbindungen - meistens durch den Kampf der verschiedenen psychischen Gebilde - geht eine gefühlsbetonte Vorstellung siegreich hervor und löst als Zweckvorstellung oder Motiv entweder die Willenshandlung oder eine innere Bereitschaft aus.

Es gibt gewisse empirische Regeln, die über den Verlauf der Assoziationsvorgänge orientieren. Ihre Kenntnis schreibt die Taktik der Verhüllung vor. Die praktische Politik, die mit Massen arbeitet, ist lediglich eine psychologische Experimentierkunst nach diesen Regeln. Die großen Erfolge der Religionsstifter, Massenführer und Demagogen stammen daher, daß sie die Assoziationsvorgänge glänzend bemeistern können. Die Taktik ist meist folgende: Jede neue Einwirkung muß so beschaffen sein, daß sie womöglich die festgewurzelten, autoritären Vorstellungen wachruft. Das wird dadurch erreicht, daß die anregende Vorstellung, auch in  autoritäre  Gestalt eingekleidet wird. Bei jedem, gegen den sich die Einwirkung richtet, wird die Konstatierung der Übereinstimmung von einem Bekanntheitsgefühl geleitet, das die Assimilierung mit der vorhandenen Vorstellungsmasse lebhaft fördert. Wird ein gewisses Verhalten, eine Handlung oder Passivität verlangt, dann wird das meist als Gebot Gottes, der Religion, des Vaterlands, des Staats, als Pflicht hingestellt. Die angeregten Verknüpfungen rufen dann die Gefühle von Furcht und Hoffnung, von Achtung, Liebe und Haß wach und schaffen so den Gemütszustand, der die Voraussetzung der erwünschten Handlung ist. Bereits der Name löst assoziative Wirkungen aus. Die bloße Erwähnung des Wortes "Gott" ruft die Assoziation von Herrschaft, Strafe, Furcht und Hoffnung hervor. Jede neue Vorstellung enthält Elemente, die den autoritären Ideologien widerstreiten und diesen ähnliche, früher aus dem Bewußtsein verdrängte Elemente wieder wachrufen und stärken können. Die Einkleidung der Eindrücke bewirkt, daß dieselben auf die ausgeschliffenen Nervenbahnen gleiten, wo die widerstrebenden Elemente leichter assimiliert oder verdrängt werden. Andererseits erfähr durch solche Einkleidungen auch die vorhandene autoritäre Masse eine Kräftigung, so daß sie die sich aufdrängenden gegenteiligen Elemten zurückweisen, ihre Revolution unterdrücken kann.

Es wird dafür gesorgt, daß die autoritären Ideologien womöglich niemals in Gedankenverbindungen erscheinen, die ihre überwältigende Wirkung zu beeinträchtigen vermögen. Daher wird die "Profanisierung" von Gott, Vaterland, Monarch in Gedichten, Schauspielen, Anspielungen strengstens untersagt, die Kritik dieser Begriffe womöglich unterdrückt.

Jede Vorstellung, jeder Begriff, jede Wissenschaft, welche eine apriorische und absolute Färbung hat, dient letztenendes der Verhüllung,  wenngleich infolge der Kompliziertheit der Assoziationsvorgänge der Zusammenhang nicht immer leicht aufzuweisen ist.

Es gibt sehr viele Menschen, die gutgläubig und ohne jedwede Absicht der Verhüllung solche Ideologien - besonders religiöse und patriotische - eifrig propagieren. Ihre soziale Rolle ist die des  Bazillenträgers,  der selbst unversehrt bleibt, die übrigen aber ansteckt.

Die  Phantasietätigkeit  ist ein umso günstigerer Nährboden für die Verhüllung, je mehr sie sich von der Erfahrung entfernt. Alles was ans Romantische, Geheimnisvolle grenzt, erweckt Assoziationen, die zum Übernatürlichen und dadurch zu den autoritären Ideologien hinüberführen. Weil Wunsch und Hoffen auf eine Scheinwelt gerichtet sind, fehlt selbstverständlich das Interesse dafür, Änderungen in der wirklichen Welt hervorzurufen. Mag die Mystik sich von der dogmatischen Religiosität noch so vorteilhaft unterscheiden, in Bezug auf ihre soziale Wirkung erfüllt sie dieselbe Rolle. Die  Ekstase  bedeutet die vollständige Entrückung von den irdischen Verhältnissen, für deren Abänderung daher der Ekstatiker kein Interesse hat. Jeder  Messianismus, Chiliasmus [Erwartung des Tausendjährigen Reiches nach der Wiederkunft Christi - wp] die Sehnsucht nach dem Eintreten eines goldenen Zeitalters, die Erwartung des jüngsten Gerichts, die  Eschatologie [Lehre von den letzten Dingen - wp], sind Seelenzustände, die der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung besonders günstig sind. Wer wird in Erwartung des Heils oder der Verdammnis um zeitliches Gut streiten? Gleiches tritt infolge einer intensiven Beschäftigung mit den  Geheimwissenschaften (Okkultismus, Spiritismus, Theosophie) ein, was noch durch ihren esoterischen Charakter, durch die Überwucherung des Autoritätsprinzis verschärft wird.

Die abnormalen psychischen Zustände begünstigen im allgemeinen die Verhüllung.  Jllusion  und  Halluzination  sind Sinnestäuschen bzw. falsche Deutungen der Sinneseindrücke, worin eben auch das Wesen der Verhüllung besteht. Beide Vorgänge sind Produkte von Furcht oder Hoffnung.

Noch sind über die  Massenpsychologie  einige ergänzende Bemerkungen notwendig. LE BON meint: die Masse akkumuliere sich das Gefühl und nicht das Denken. Demgegenüber haben wir festgestellt, daß Gefühle ohne Vorstellungsinhalt nie zum Handeln führen können. Auch ist es unrichtig, daß die Vorstellungen der Massen gefühlsbetonter sind als die der einzelnen Individuen. Der wahre Unterschied besteht vielmehr darin, daß der Vorstellungsschatz der Massen ärmer ist und daß in den Massenbewegungen wenige aber umso schärfer ausgeprägte, autoritäre Ideologien eine entscheidende Rolle spielen und periodisch wiederkehren. Dies erklärt, warum die Massen der Verhüllung zugänglicher sind als die Einzelindividuen.

Das natürliche und künstliche  Milieu,  die  Arbeitsteilung  verwandeln das isolierte Individuum in einen Gruppenbestandteil. Jede Gruppe erwirbt verschiedene geistige Merkmale und reagiert verschieden auf die Einwirkung der verhüllenden Tendenzen. Sprechen wir von der Masse, so verstehen wir darunter immer die in Gruppen oder Klassen geteilte Bevölkerung einer Gesellschaft.

Die größe psychische Wirkung des Milieus äußert sich in der  Nachahmung,  worauf TARDE sein ganzes soziologisches System aufgebaut hat. Die Nachahmung stärkt die bisherige Gesellschaftsordnung, denn ihre Grundlage ist Bewunderung und Anerkennung der Mächtigen, der Großen, sie entwickelt sich auf autoritärer Grundlage. Die meisten Gebräuche und Sitten sind einst durch Nachahmung der Mächtigeren entstanden. Die meisten Ideen der Massen wurden ihnen von dieser Seite durch  Suggestion  beigebracht. Eine pathologische Art der Nachahmung bilden die  geistigen Epidemien.  Aus ihrer bisherigen Geschichte können wir feststellen, daß überwiegend verhüllende Ideologien die Ansteckung verursachten.

Noch sei einiges über das  unbewußte  "Seelenleben", über die ins  Unterbewußtsein  verdrängten Vorstellungen und Gefühle bemerkt. Da die Möglichkeit ihres Wiedereintritts immer gegeben ist, kann ihr Einfluß auf die Willenshandlungen nicht hoch genug veranschlagt werden. Auf diesem Gebiet tritt die ungeheure Bedeutung der  sexuellen  Frage zutage. Es ist das Verdienst der psychoanalytischen Methode FREUDs, die Aufmerksamkeit auf diese Probleme gelenkt zu haben. Allerdings wurde seine fruchtbare Lehre durch die Epigonen verballhornt [verschlimmbessert - wp] und ihre soziologische Ausbeutung arg vernachläßigt.

Die restlose Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse ist in der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht gewährleistet. Angesichts dieser Hindernisse muß das Bewußtsein als Zensurinstanz oder, wie es FREUD zuletzt formulierte, als Ich-Ideal wirken, die nicht erfüllbaren Wünsche hemmen und verdrängen. Letztere wehren sich und versuchen auf allen Schleichwegen - wenn auch entstellt - ins Bewußtsein zurückzugelangen, um die Entladung herbeizuführen. Die Energie der zielgehemmten Sexualtriebe wird in den Dienst anderer, von der Zensur nicht verbotener Ziele gestellt; es setzt eine  Sublimierung  ein, die nach der Schule von FREUD die Grundlage der altruistischen Bindungen abgibt.

Die Zensurinstanz ist das ausführende Organ der religiösen und moralischen Gebote; der Rechtsnormen. Sie steht ganz im Bann der autoritären Ideologien. Fügen wir noch hinzu, daß das Unbewußte an der Vergangenheit haftet, so ist leicht einzusehen, in welchem Maß die verhüllenden Tendenzen bei der Befriedigung und Verdrängung sexueller Triebe zur Wirkung gelangen können.

Der unter dem Einfluß seiner sexuellen Wünsche stehende Mensch neigt zur Phantastik, die wenigstens in Trugbildern Befriedigung gewährt. Das sexuelle Leben ist ein Nährboden für Mystik und Romantik, treibt zu Wundersucht und Aberglauben. Diese Umstände erklären, warum die Sublimierung der sexuellen Antriebe meist zur Erstarkung der religiösen Gefühle führt und oft in einem vollständigen Aufgehen in der Religion endet. Die Tatsache, daß die Frauen stärker zur Religiosität neigen und willfährigere Werkzeuge der Kirche sind als die Männer, findet ihre teilweise Erklärung darin, daß nach der herrschenden Moral die sexuelle Befriedigung der Männer weniger gehemmt, ihre Verfehlungen milder beurteilt werden als die der Frauen.


2. Ihre Logik

Die Logik wird als Wissenschaft des  richtigen Denkens  bezeichnet. Daraus folgt, daß es auch ein unrichtiges, daher minderwertiges Denken geben muß. Damit ist eine neue Rangordnung geschaffen. Die Logik ist eine  Kunstlehre,  der Eigenbesitz der Philosophen und derjenigen Schichten, die Zeit und Muße haben, sie zu erlernen, was ihre Autorität in den Augen der Ungebildeten mächtig erhöht. Gegen die Gesetze der Logik gibt es ebensowenig eine Berufung wie gegen die Offenbarung. Sie ist eine ebenso  esoterische  Wissenschaft wie die Mathematik. Auch die letztere verdankt ihr Ansehen nicht dem Umstand, daß der Mensch sich mit ihrer Hilfe in der Natur zurechtfinden, die sich darbietende Wirklichkeit erfassen kann, sondern dem, daß sie infolge ihrer komplizierten Symbolsprache den Massen unzugänglich und in ihren Augen von einem mystischen Schimmer unwoben ist. Die Logik trägt in doppeltem Maß zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung bei. Erstens liefert sie keine neuen Erkenntnisse, daher nichts, was das Bestehende erschüttern könnte. Im Gegenteil, sie kontrolliert und klassifiziert die aus anderen Quellen geschöpften Erkenntnisse.

Die hauptsächlichste Forderung dieser Wissenschaft ist die  Widerspruchslosigkeit  der neuen Erkenntnis. Diese muß sich mit der bestehenden Masse der Erkenntnisse in Übereinstimmung befinden, sonst ist die neue Erkenntnis infolge der ungleichen Kräfteverhältnisse meist in einer hoffnungslosen Lage: Unterordnung oder Verschwinden wird ihr Schicksal.

Die Logik ist weiter eine  normative  Wissenschaft. Sie schreibt die Regeln des "idealen" Denkens vor und betrachtet das auf andere Weise verlaufende Denken als fehlerhaft, seine Resultate als Irrtümer. Erst in der jüngsten Zeit fand die Ansicht Anerkennung, daß Wahrheit und Irrtum relative Begriffe sind, die Entstehungsart des Wertvollen und Wertlosen dieselbe ist, das Denken auch durch widerspruchsvolle Operationen zu Ergebnissen gelangt und schließlich, das von der Logik postulierte ideale Denken sich überhaupt nirgendwo vorfindet. (MILL, JAMES, VAIHINGER, POINCARÉ, ENRIQUES)

Und endlich ist die Logik eine  formale  Wissenschaft, die sich dagegen sträubt, daß ihre Prinzipien, ihr Wahrheitsgehalt genetisch untersucht werden: mit der Begründung, daß einer solchen Untersuchung schon der Bestand dieser Prinzipien vorausgehen muß. Jede formale Wissenschaft, überhaupt jede Ordnung, die uns aufgedrängt wird, verteidigt sich gegen solche Versuche, da die Aufdeckung des Ursprungs eine Erschütterung ihrer Autorität und die Bezweiflung der verbindlichen Kraft ihrer Vorschriften nach sich ziehen würde.

Die Logik lehrt, wie richtige Begriffe und wahre Urteile gewonnen werden. Sie ordnet diese rangmäßig und vereinigt sie nach verschiedenen Methoden mit den bereits vorhandenen Kenntnissen zu einem widerspruchslosen System. Es ist klar, welch' große Möglichkeiten sich der Verhüllung bei der Durchführung der logischen Operationen darbieten. Aus Raumrücksichten seien nur einige wichtige Arten der Begriffs- und Urteilsbildung herausgehoben.

Die  Abstraktion  vernachlässigt gewisse Merkmale eines Vorstellungskomplexes, andere hingegen hebt sie heraus und faßt sie zu einer selbständigen synthetischen Einheit des Begriffs zusammen. Das vernachlässigte Merkmal wird absorbiert, in das Unterbewußtsein verdrängt. Die Abstraktion ist daher meist eine Wahlhandlung. Der bisherige Stand der Erkenntnisse, die vorhandenen Werturteile und Zwecksetzungen wirken dabei mit. Es hängt von der Einstellung der Aufmerksamkeit, vom psychischen Interesse ab, welche Vorstellungs(Objekt-)elemente bevorzugt oder vernachlässigt werden. Es fällt eine große Rolle der Phantasie zu; aber auch ein Offenbarungsglaube und mystische Intuition sind am Abstraktionsprozeß beteiligt.

Die Abstraktion ist infolge der Bewußtseinsenge ein denkökonomischer Prozeß und entspringt dem Einheitsbedürfnis der Psyche, vieles zugleich zu denken. Auch darin liegt ein ökonomischer Zug, daß die konstanteren Merkmale den weniger beständigen gegenüber in den Vordergrund treten. Die isolierte Betrachtung eines Merkmals erleichtert seine Erkenntnis. Diese ökonomischen Vorteile werden meist dadurch aufgewogen, daß die überlieferten Ansichten bestimmen, welche Merkmale als konstant und ursprünglich anzusehen sind - ein neuer Anreiz zur Überwucherung der Vergangenheit. Das abstrakte Denken ist ein späteres Entwicklungsprodukt und seine allgemeine Anwendung ist schon eine Folge der Herrschaft der verhüllenden Ideologien.

Die Begriffe sind nach dem Grad ihrer Abstraktheit in eine Rangordnung eingeteilt. Je abstrakter ein Begriff ist, umso weniger kann sein Gegenstand durch Anschauung und Erfahrung kontrolliert werden. Je mehr er sich dem höchsten Grad der Abstraktion nähert, desto dünner wird sein Inhalt, desto größer sein Geltungsumfang, desto geringer die Kontrollmöglichkeit, desto weiter das Herrschaftsgebiet.

Die zwei Hauptarten (VOLKMANN) der Abstraktion sind: die  Isolation,  welche die Erscheinungskomplexe zerlegend einen Teil als unabhängig betrachtet, und die  Superposition,  wo die Elemente nach rückwärts, zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Bei der letzteren Operation haben die verhüllenden Tendenzen doppelte Gelegenheit ihre Wirkung auszuüben.

In der Abstraktion ist die Tendenz zur Annäherung ans  Absolute  unverkennbar. Der Hervorhebung und der Vernachlässigung bestimmter Merkmale liegt das mehr oder weniger bewußte Streben zugrunde, dem Begriff durch eine Erweiterung seines Geltungsbereiches einen höheren Rang zu verschaffen. Je mehr sich der Umfang erweitert, mit desto stärkerem Anspruch auf Allgemeingültigkeit tritt der Begriff auf.  Allgemeingültigkeit  selbst ist eine Abstraktion durch Generalisierung der bevorzugten Merkmale. Man vernachlässigt dabei vollständig alle Unterschiede. Meist proklamiert man die Form als das wesentliche Merkmal sämtlicher Erscheinungen und Begriffe. Die widerstreitenden Elemente, die sich gegen eine solche Uniformierung auflehnen, werden als "Inhalt" und "Materie" degradiert. So kommen die allgemeingültigen Begriffe und Urteile zustande, welche die Unveränderlichkeit der Dinge, einen nie vorhandenen absoluten Grad der Erkenntnis voraussetzen, sich über Zeit, Gesellschaft, Klasse und Individuen erheben, während sie in der Tat nur  Festlegungen der in einer bestimmten Zeit, Gesellschaft oder Klasse vorherrschenden Ansichten  sind.

An einigen Beispielen soll nun gezeigt werden, wie Begriffe auf den verschiedensten Gebieten abstrahiert werden. Beinahe jede Art der Begriffsbildung kann mit mehr oder weniger gewaltsamer Betrachtung  Abstraktion  genannt werden.

Gott  ist eine personifizierte Abstraktion. Die Welt, die Natur, die unsichtbaren Mächte, die dem Menschen gegenüberstehen und ihm überlegen sind, werden mit der Abstreifung der unvollkommenen Züge in ihrer Totalität zu einem allmächtigen Wesen zusammengefaßt, das existiert und herrscht. Die Erfahrungstatsachen, die dem entwicklungsgeschichtlichen Gottesbegriff zugrunde lagen, werden gänzlich unterdrückt.

Ein anderer Zentralbegriff in Bezug auf die Gesellschaftsordnung ist der des  Staates MARX hat ausführlich den logischen Prozeß bei der Bildung dieses Begriffs geschildert. Die Verteilung der Bevölkerung in Klassen, Stadt und Land, auf verschiedene Produktionszweige, auf Produktion und Konsumtion, auf Ein- und Ausfuhr werden insgesamt vernachlässigt. So kommt der rein formale Begriff des Staates zustande, der es ängstlich vermeidet, von der  Existenz der Klassen  Kenntnis zu nehmen. Der Begriff des Staatswillens soll verheimlichen, daß hier eigentlich nur der Wille der jeweils herrschenden Klassen gemeint wird. Die  Nation  ist eine Abstraktion gleicher Art. Bei der Bildung dieser "allgemeingültigen" Begriffe wird daher eben dasselbe Merkmal unterschlagen, welche das Wesen der Gesellschaftsordnung ausmacht: die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit. Beinahe  alle Schlagwörter "der politischen Metaphysik"  sind solche Abstraktionen:  Gleichheit, Freiheit, Volkssouveränität, Volksgeist, Demokratie  usw., die alle von den bestehenden Machtverhältnissen absehen. Die meisten werden als außerhalb der Erfahrung stehende Machtfaktoren - die das Menschenschicksal bestimmen - betrachtet und gewinnen einen mystischen Zug. Hierher gehören auch die Begriffe der "öffentlichen Meinung" und des "Publikums". Das letztere hat besonders KIERKEGAARD als ein "ungeheures Phantom", als "eine Abstraktion der Nivellierung" mit bitterer Verachtung bekämpft. Doch sein Urteil trifft auf  alle  Begriffe zu.

In der jüngsten Zeit macht die politische Reaktion immer mehr die Forderung nach einer "reinen", von Politik befreiten  Wissenschaft  geltend. Sie will das gesamte öffentliche Leben "entpolitisieren" und fordert, daß die Partei-Interessen den staatlichen weichen sollen. Sie bedient sich dabei ihrer altbewährten Methode, daß ein Begriff oder ein politisches Schlagwort umso abstrakter ist, je mehr dabei von den bestehenden Machtverhältnissen abgesehen wird, umso mehr kann er im Interesse der herrschenden Klassen benützt werden. Die Forderungen üben ihre Wirkung auf das Publikum aus. Wer würde eine "reine" Wissenschaft nicht höher schätzen?  Die Rückständigkeit eines Landes kann am Grad der Abstraktion der herrschenden politischen Begriffe gemessen werden. 

Auf dem Gebiet der  Rechtsordnung  und  Rechtswissenschaft  treibt die Abstraktion besonders schöne Blüten. Der Ursprung des Rechts wird in verschiedene metaphysische Wesenheiten verlegt, wie  Gesamtwille, Vernunft, Rechtsgefühl, Rechtsbewußtsein, menschliche Natur  usw.  Per circulum vitiosum [Teufelskreis - wp] wird die Rechtsordnung aus der sittlichen bzw. einer Weltordnung abgeleitet, ein metaphysischer Stammbaum. Der näheren Bestimmung dieser Begriffe, der Berücksichtigung des Klassenstandpunktes geht man vorsichtig aus dem Weg. Ebenso vermeidet man die Prüfung der Frage, warum das Recht in jeder Gesellschaft der Ausdruck der Ungleichheit und die Begünstigung der Stärkeren war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts leitete die deutsche historische Rechtsschule das Recht aus einem Volksgeist, dem Rechtsbewußtsein des Volkes ab, in einer Zeit, da die überwiegende Mehrheit des Volkes von der Gesetzgebung und Rechtsprechung vollkommen ausgeschlossen war.

Die Grundinstitution des Rechts, das Eigentum wird ganz formal bestimmt und aus den oben angeführten Rechtsquellen abgeleitet. Die Kühnheit dieser Abstraktion beleuchtet treffend MARX:
    "In eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben, es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert."
Auf sämtlichen Rechtsgebieten flüchtet die Rechtswissenschaft in die Hochburg der Form zurück, um unbliebsame Untersuchungen über den wirklichen Ursprung und Inhalt der bestehenden Rechtsnormen zu vermeiden.

Untersucht man den Gehalt der  ethischen  Gebote, so sieht man, daß dieselben solche Tatbestände kanonisieren, die den Interessen der herrschenden Klassen entsprechen. (LORIA, KAUTSKY, MENGER) Darüber was sittlich oder unsittlich ist, entscheidet nicht die "Allgemeinheit", sondern diejenigen autoritären Faktoren, welche die Macht besitzen, der Gesellschaft ihren Willen aufzudrängen. Ethische Gebote werden auch erst dann befolgt, wenn sie mit der notwendigen Autorität auftreten können. Dieselbe Machtorganisation und der gleiche psychische Mechanismus, der dem religiösen Gebot und den Rechtsregeln Ansehen verschafft, sorgt auch für die Befolgung der Sittengesetze. Der Inhalt und das Resultat dieser Gesetze ist der Schutz des Eigentums. Sie fordern von den Untergebenen Vertrauen und Gehorsam, verurteilen jedwede gewaltsame Auflehnung gegen die Obrigkeit und sichern so die Unterwerfung der Massen. Freilich der Erfahrung gegenüber, die aufdringlich zeigt, wie die bevorrechteten Klassen diese "allgemeingültigen" Regeln weder unter sich, noch besonders in Bezug auf die unteren Volksklassen einhalten, haben diese Sittengesetze einen schweren Stand. Doch in dieser Bedrängnis ist Hilfe zur Hand: die Kirchenlehre vertröstet die Empörten damit, daß die Mächtigen und Reichen für ihr unsittliches Verhalten im Jenseits der ewigen Verdammnis verfallen werden.

Die  sittliche Ordnung,  die als Ursprung nicht nur der ethischen Normen, sondern auch der Rechtsordnung und besonders des Eigentumsrechts gilt, stellt sich - näher besehen - als Machtstütze der herrschenden Klassen heraus. Die Majorität der Gesellschaft ist von der Gestaltung dieser Ordnung vollkommen ausgeschlossen, ihr fällt nur die passive Rolle zu, derselben durch ihre Unterwerfung die notwendige Stabilität zu verleihen. Der Begriff der sittlichen Ordnung ist auch ein festgewurzelter "eingefahrender" Vorstellungskomplex. Wer seinen Willen als Gebot der Sittenordnung darzustellen vermag, kann darauf rechnen, daß der Assoziationsprozeß für seine Zwecke günstig verläuft.

Auf die ethischen Probleme kommen wir noch wiederholt zurück.

Wir wollen noch auf politischem Gebiet eine überragende Rolle spielende Abstraktion der  Rasse  erwähnen. Als ihr entscheidendes Merkmal werden bald die Sprache, bald die anthropologischen Eigenschaften, bald der Charakter oder der Geist hervorgehoben. Was diesem Begriff so große Kraft verleiht, ist die gewaltsame Unterdrückung der widerstreitenden Elemente, besonders aber der Tatsachen der Klassengliederung (KAUTSKY).

Die verhüllende Wirkung all dieser Abstraktionen kennzeichnet am besten der schmerzliche Ausruf BAKUNINs:
    "Die Geschichte der Menschheit war bis jetzt nur das beständige und blutige Opfer von Millionen armer, menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, nationale Ehre, historische Rechte, politische Freiheit."
Die  Volkswirtschaftslehre,  besonders aber die theoretische Nationalökonomie macht von der Abstraktion umfassenden Gebrauch. SMITH und RICARDO lehrten: der ökonomische Eigennutz des wirtschaftenden Individuums sei die Grundlage und der beste Regulator der Wirtschaft. Das Individuum wird als von Staat, Klassen, Religion, Weltanschauung vollkommen isoliert betrachtet. Es entging aber ihrer Aufmerksamkeit, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung infolge der Wirkung der verhüllenden Ideologien außerstande ist, den eigenen Nutzen zu erkennen, und daß selbst, wenn dies der Fall ist, die bestehende Gesellschaftsordnung sie an der freien Entfaltung der Eigennutzes verhindert und so im Wirtschaftsleben nur der Egoismus der herrschenden Klassen frei waltet. Sämtliche Schlagwörter des Merkantilismus, des Liberalismus, der Freihandels- und Schutzzollbewegung sind ähnliche, auf das Interesse der wirtschaftlich Stärkeren zugespitzte Abstraktionen.  Freihandel, Gewerbefreiheit, laissez-faire  waren Parolen, deren sich die emporkommende Bourgeoisie bediente, um die Fesseln der feudalen Wirtschaftsordnung, welche die Entwicklung des Kapitalismus hemmten, zu sprengen. Ihre Allgemeingültigkeit wurde nur vorgetäuscht. das war die negative Seite dieser Abstraktionen; positiv bezweckten sie die Sicherung billiger, dem Konkurrenzkampf ausgelieferter Arbeitskräfte. Der Begriff des  Rechtsstaats,  der sich jeder Einmischung in die Wirtschaft seiner Bürger enthält, diente hauptsächlich dem Zweck, die sozialpolitische staatliche Fürsorge zu hintertreiben. Machten hingegen die Arbeiter von der gepriesenen "Freiheit" für sich Gebrauch, so wurde die Staatseinmischung gegen sie von den Kapitalisten als selbstverständlich verlangt. Das Schlagwort des  Schutzzollsystems,  des Schutzes der produktiven Arbeit bedeutete immer nur eine gesetzliche Unterstützung der Industriellen und nie einen wirklichen Schutz der Arbeiter. Es wurde schon erwähnt, daß MARX es war, der die wirkliche Natur dieser ökonomischen Abstraktionen mit unerbittlicher Konsequenz aufdeckte. Er zeigte, daß die ökonomischen Kategorien nur Daseinsformen, Existenzbewegungen und Beziehungen des Wirtschaftsleben sind und daß sie in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften verschiedene Bilder zeigen. Die Menschen betrachten sie aber als ewige Kategorien, als personifizierte Wesenheiten, die über ihnen stehen. MARX erkannte den mystischen Zug, den  Fetischcharakter  der leitenden wirtschaftlichen Begriffe, in erster Linie der  Ware und zeigte, wie die Menschen von ihrem eigenen Machwerk beherrscht werden.

Die ältere  Geschichtswissenschaft  abstrahierte vollständig von den sozialen und wirtschaftlichen Tatsachen. Ihr Objekt war die Geschichte der Kriege, Dynastien, Staatsformen und herrschenden Klassen. Diese Methode ist noch heute stark verbreitet, ebenso die Auffassung, welche die großen Persönlichkeiten, die  Genies  für die Hauptfaktoren des historischen Geschehens hält. Sie sind nach HEGEL die Mittel, durch die sich die Idee mit Notwendigkeit verwirklicht. Ihnen wird eine überragende Stellung eingeräumt, sie stehen außerhalb der Erscheinungen, ihre Schöpfungen können niemals mit Hilfe der Verstandesprinzipien bewiesen werden. CARLYLE, EMERSON und NIETZSCHE haben den Heroenglauben, die Heldenverehrung neu belebt. Der übliche Geschichtsunterricht besteht einfach in einer Glorifiierung und den Taten der herrschenden Klassen und auserwählter "großer" Männer, in Verheimlichung und Unterdrückung ihrer Verfehlungen und Schandtaten, wobei selbstverständlich diese Geschichte immer als die Geschichte der  ganzen  Nation auftritt. Das ist die beste Methode, das Autoritätsprinzip zur Geltung zu bringen: alles sieht mit Bewunderung und Vertrauen zu den großen Männern auf, die Gefühle der Furcht und Hoffnung, mystische Stimmungen werden assoziiert, die Willenskraft, der Wunsch nach einer Abänderung werden gelähmt, das Handeln wird den "berufenen" Schicksalslenkern überlassen.

Die  Natur- und Formalwissenschaften  bieten dasselbe Schauspiel. Auf allen Gebieten sind die leitenden Begriffe Abstraktionsprodukte mit der Tendenz zur Allgemeingültigkeit. Dieses Streben folgt aus der dem ganzen sozialen Leben inhärenten Herrschaft des Autoritätsprinzips, der absoluten und apriorischen Ideologien, denen sich auch der Naturforscher schwer entziehen kann. Das Streben nach einer Formulierung allgemeingültiger Gesetze ist die Folge der durch die Betrachtung der politischen Zustände hervorgerufenen Assoziationen. Die Religion und die Metaphysik enthalten allgemeingültige Wahrheiten, sie erklären lückenlos sämtliche Probleme des Seins und Werdens. Will die Naturwissenschaft mit ihnen Schritt halten und ihre Konkurrenz bewältigen, so muß auch sie gleiches tun. Dies wird durch bewußte oder unbewußte Abstraktionen vorgetäuscht. Die naturwissenschaftlichen Abstraktionen üben wieder ihrerseits auf sämtliche Geistesgebiete eine assoziative Wirkung aus und stärken somit die autoritäre Weltanschauung.

Wird der  "Welt des Seins"  eine " Welt des Sollens gegenübergestellt, so erfahren die Begriffe eine Rangerhöhung und verwandeln sich in  Ideen  und  Ideale in Musterbilder, die sowohl der Erkenntnis wie auch dem Handeln eine Richtung geben, Ziele setzen und Maßstäbe für die Wertung liefern. Zugegeben, daß der Mensch der Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbstgeschaffene Idealwelt bedarf (F. A. LANGE), so können wir doch nicht übersehen, welche Gefahr diese Idealwelt für diejenigen Bestrebungen in sich birgt, welche die Gesellschaftsordnung der irdischen Welt abzuändern trachtet. Jede Idealisierung besteht in einer Abstraktion, ein unvollkommener Begriff wird von seinen Unvollkommenheiten befreit. Bei dieser "dichtenden und schaffenden Synthese" erliegt man gar leicht der Versuchung, unter dem Einfluß der autoritären Ideologien für die Erhaltung der Gesellschaftsordnung günstige Ideen und Ideale zu schaffen. Nach WUNDT sind die Ideen "ergänzende Gesichtspunkte der Erfahrung". Doch wissen wir, daß diese Ergänzung auch in einer Verfälschung bestehen kann. Die Idee ist ein absoluter Maßstab der Wertschätzung, schafft eine hierarchische Über- und Unterordnung der Werte.

Seit KANT ist es Mode geworden, daß von den Ideen niemals konstitutiver, sondern nur regulativer Gebrauch gemacht werden kann. Sie sind durch keine Gegenstände der Erfahrung gegeben, sondern geben unserem Handeln die Richtung auf Vollkommenheit. Sie sind keine Aussagen über Dinge, sondern nur Forderungen. Alle diese Einschränkungen bieten aber keine Gewähr dafür, daß bei der Formulierung der Ideen verhüllende Tendenzen auftreten, vielmehr wird diese Gefahr noch dadurch vergrößert, daß sich die Ideen nach dieser Auffassung jeder Kontrolle durch die Erfahrung entziehen.

Gott  ist nach KANT ein "fehlerfreies Ideal" und wir haben die unendliche Aufgabe uns ihm anzunähern. Bei diesem Idealbild ist es schon ganz in Vergessenheit geraten, daß es von irdischen Herrschern, von Menschengöttern durch eine Abstreifung ihrer unvollkommenen Eigenschaften geschaffen wurde. Allerdings verursachte es der Theologie jederzeit viel Kopfzerbrechen, das göttliche Ideal vor Vorwürfen und Anklagen der durch die Erfahrung enttäuschten Menschheit zu verteidigen; ein großes Wissensgebiet, die  Theodizeee [Rechtfertigung Gottes - wp], verdankt diesem Umstand seine Daseinsberechtigung. Der Einfluß der Kirche, die allein zu entscheiden vermag, ob ein menschliches Handeln idealgemäß ist, wächst ungemein. Dieselbe Wirkung zeitigt auch das Postulat der  Unsterblichkeit,  denn das Idealbild des Jenseits, nach dem sich die meisten Menschen sehnen, steht ebenfalls in ausschließlicher Verwaltung der Kirche. Dank dem Einfluß der Bibel herrscht die Ansicht vor, daß wir von der Vollkommenheit abgefallen sind und daß dieser ideale Zustand hergestellt werden muß, was zu einer sehnsüchtigen Überschätzung der Vergangenheit führt.

Die nicht kontrollierbaren Begriffe von Gott und der Unsterblichkeit treten mit einer solchen Autorität auf, daß ihre Allgemeingültigkeit allen Angriffen trotzen kann. Mit den  ethischen Forderungen  ist es schlechter bestellt. Würden sie substantiiert, dann könnte die enttäuschende Erfahrung den Glauben an sie leicht erschüttern. Hier muß also die verhüllende Taktik einen anderen Weg einschlagen.  Die Form  des Sittengesetzes, des ethischen Ideals wird als der Grund seiner Allgemeingültigkeit verkündet. Die Form kann weder genetisch noch ursächlich erklärt werden, sie ist überhaupt keine Frage der Wissenschaft, wie dies sogar von marxistischer Seite (MAX ADLER) behauptet wird. Auch von dieser Seite stammt die Begründung, daß die formale Beurteilung in jedem menschlichen Bewußtsein gleichmäßig wirkt. Diese Behauptung ist eine schlechthin  apriorische,  eine durch keine Erfahrung unterstützte Abstraktion, die von jedem Unterschied der Klassen, Zeiten, Völker absieht. Von diesem formalen Standpunkt aus ist es leicht verständlich, wenn KANT für das zentrale Problem der Ethik die Forderung aufstellt: was geschehen soll, auch wenn es niemals geschieht. Mit einer solchen Einschränkung ist die Allgemeingültigkeit wirklich leicht zu erreichen.

Untersucht man die große Anzahl der Definitionen der ethischen Ideale wie  Pflicht, Tugend, Gut und Böse, Willensfreiheit  so bemerkt man, daß - um die vollständige Blutleere zu vermeiden - in jede sich dennoch ein materielles Element eingeschlichen hat. So z. B. definiert KANT die Pflicht als Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz; immerhin ist  Achtung  kein unverdächtiger Ausdruck. Ebenso sein kategorischer Imperativ, von dem wir schon früher festgestellt haben, daß er ein unvollziehbarer Begriff ist.

Ohne eine Anregung der Erfahrung hätten diese Ideen niemals formuliert werden können. Nachdem sie aber allgemeine Anerkennung erlangten, streiften sie sorgfältig alle Spuren der Erfahrung ab.

Auf sämtlichen Gebieten des geistigen Lebens sind solche Ideale anzutreffen.  Patriotismus  ist eine Abstraktion der Herrschaftsideologie, die Ideale einer feudal-militaristischen Kaste werden der ganzen Gesellschaft auferlegt. Die "Moral des Schwertes" (LORIA), der Heldenkult, die Vergötterung persönlicher Stärke kommt nur dem Ansehen der herrschenden Klassen zugute. Von den unteren Volksklassen werden patriotische Opfer und Pflichten im Namen einer Idee verlangt, die dadurch entstand, daß man bei deren Bildung von den unteren Volksklassen vollständig abgesehen hat.

Durch die Idealisierung dienen  Literatur  und  Kunst  gleichfalls der Verhüllung.

Die meisten Ideale werden zu  Symbolen Der ganze ihnen zugrundeliegende Gedankengang stellt sich durch eine anschauliche Vorstellung dar. Durch die Lockerung des Zusammenhangs bleibt der bloße Name oder Gegenstand übrig, die Assoziationen knüpfen sich an das Symbol und der ganze Tatbestand wird verfälscht. Die Symbole treten meist personifiziert als übersinnliche Wesenheiten, als Machtsubjekte auf, denen gegenüber das Individuum machtlos dasteht. Ein solches Symbol, das  Schicksal,  hat OSWALD SPENGLER zum Urphänomen der Geschichte auserkoren.

Die symbolische Befriedigung spielt nicht nur auf sexuellem Gebiet, sondern auch in der Geschichte eine große Rolle. Die meisten  politischen Schlagwörter  sind repräsentative Vorstellungen, Symbole. Geht ihre Abstrahierung zu weit, so verlieren die Massen jedwede Orientierung und werden leicht mit Parteiprogrammen und Scheinreformen anstatt wirksamer Abänderungen befriedigt.

Die Idealisierung und Schematisierung sind auch in den Natur- und Formalwissenschaften von großer Bedeutung, da sie hier auch einem denkökonomischen Bedürfnis entsprechen. Ihre Übertreibung - von methodologischen Nachteilen abgesehen - bewirkt mittelbar, daß dieses Beispiel infolge der großen Autorität dieser Wissenschaften auch auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet eine Nachahmung findet.

Die Idealisierung erweist sich als besonders schädlich, wenn sie unerreichbare Ziele setzt, deren Verwirklichung die menschlichen Kräfte übersteigt. Sie führt zu Verzweiflung, Resignation und Mystik. Wir wollen nicht die Frage näher besprechen, ob Ideale notwendig sind. Doch  gehört der ganze bisherige Idealschatz der übersinnlichen Sphäre an,  die von ihnen veranlaßten Assoziationen führen unerbittlich zu den autoritären Ideologien zurück.

Wollte man eine ausführliche Logik der Verhüllung schreiben, so müßte man die soziale Bedingtheit sämtlicher  Fehlschlüsse  untersuchen. Diese sind entweder bewußte Sophismen [Täuschung bezweckende Trugschlüsse - wp] oder unbewußte, ungewollte Paralogismen [auf Denkfehlern beruhende Trugschlüsse - wp]. Letztere entstammen der "sozialen" Dummheit der Menschen infolge der Verfälschung ihres Erkennens, Wertens und Wollens. Es seien hier nur einige typische Beispiele ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit erwähnt.

Zahlreich sind jene Fehlschlüsse, die durch eine Feststellung  falscher Kausalzusammenhänge  zustande kommen. MILL hat die einschlägigen Typen sehr ausführlich zusammengestellt. Meist handelt es sich um eine Verwechslung von Beobachtung und Folgerung, was gewöhnlich vorkommt, wenn die dominierende Vorstellung eine gefühlsbetonte autoritäre Ideologie ist. Jeglicher Aberglaube, der Glaube an übernatürliche Kräfte, der schon erwähnte Animismus und Fetischismus gehören hierher. Die  Theurgie,  d. h. der Glaube an die Beeinflussung der Götter im Interesse menschlicher Zwecke - der Ursprung und die Grundlage jeder positiven Religion - beruth auf einer fehlerhaft konstruierten Kausalität. Alte, längst verschollene wissenschaftliche Anschauungen setzen ihr Leben als Massenaberglauben mit zäher Beharrlichkeit fort. Die festgewurzelten Ansichten, daß Gedeihen und Verderben der Menschen von Verfügungen höherer Mächte abhängen, werden aufgrund solcher falscher Beobachtungen generalisiert.

Zwei wichtige Fehlschlüsse sind besonders zu erwähnen. Der eine:  post hoc, propter hoc [nachher deshalb deswegen - wp] besteht in der Verwechslung der Kausalfolge mit der Zeitfolge. Wir haben schon erwähnt, daß die Agitation und Taktik der reaktionären Parteien in Deutschland und Österreich gegen die republikanischen Regierungen vollständig auf diese Verwechslung eingestellt ist; für jedes Übel, das der Krieg entfesselt hat, will man die Republik verantwortlich machen. Ähnlich steht es mit dem zweiten Fall:  cum hoc, ergo propter hoc [mit diesem, folglich deswegen - wp]. Dieser Schluß wird meist angewendet, um günstige Ereignisse der Tätigkeit eines Machtfaktors zuzurechnen. Dieses Verfahren ist besonders Herrschern gegenüber üblich: alles Günstige das sich unter ihrer Regierung ereignete, ist ihr Verdienst.

Ein sehr wichtiger Platz gebührt der Herstellung falscher Notwendigkeiten, die erfahrungsgemäß nicht kontrollierbar sind. Man konstruiert bestimmte Entwicklungsziele, man stellt Tendenzen fest, die mit unerbittlicher Notwendigkeit eintreten, und man wertet sämtliche Handlungen und Einrichtungen nach diesen Zielen und Tendenzen. Besonders in der Politik ist es üblich, die verschiedenen Institutionen damit zu verteidigen und ihre Autorität zu erhöhen, daß sie im Interesse der erwünschten Ziele unentbehrlich sind und daß die Gesellschaft ohne sie nicht gedeihen kann. Es ist eine allgemein verbreitete Ansicht, die man auch mit Hilfe biologischer Betrachtungen bekräftigen will, daß  Krieg  und Mord immanente Bedürfnisse der menschlichen Natur und des Gruppenlebens sind, daher ist die Rüstung zum Krieg, die Bevorzugung der militärischen Einrichtungen eine unumgängliche Notwendigkeit. Auch LUTHER erklärte, daß Kriege und Würgen von Gott eingesetzt sind, um Unrecht und Böses zu strafen. Hierher gehören ferner der Messianismus, der Chiliasmus, die Eschatologie.

Die  voreiligen Induktionen  oder  falsche  Generalisierungen entstehen dadurch, daß aufgrund weniger Fälle ein möglichst allgemeines Urteil gefällt wird, wobei die anderen, für die Urteilsbildung entscheidenderen Fälle übersehen werden. Diesen Fehlschluß hätten wir schon in Verbindung mit der Abstraktion behandeln müssen, da diese auch meistens eine fehlerhafte Verallgemeinerung ist. Von den zahlreichen Arten, die MILL aufzählt, seien nur angeführt: voreilige Folgerung von der Gegenwart auf die Vergangenheit und Zukunft und umgekehrt; Folgerung von der Mentalität und den Zuständen eines Landes auf die eines anderen. Gewissen Regierungsformen und Institutionen wird ohne Rücksicht auf den Stand der Gesellschaft absolute Güte zugeschrieben. Hierher gehören auch alle Negationen und Urteile, die eine Unmöglichkeit (ignorabimus) behaupten.

Die Induktion ist immer von gewissen Erwartungen begleitet, Assoziationen, Gewohnheit, Furcht und Hoffnung schreiben die Richtung der Erwartung vor. Der Fehler wird unkontrollierbar, wenn die Induktion in übersinnliche Gebiete hineinragt. (MACH)

Beinahe alle anthropologischen Gesetze der Soziologie - Geburten der Reaktion - sind solche voreilige Induktionen. Auch das berühmte Bevölkerungsgesetz von MALTHUS ist eine unerlaubte Verallgemeinerung des ökonomischen Zustands in England am Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehören die meisten "allgemeingültigen" Wahrheiten, besonders jene, welche die Gleichartigkeit der Menschen in Bezug auf die Erkenntnisfunktionen behaupten.

Bei den vorschnellen und falschen  Analogien  schließt man aus der Ähnlichkeit zweier Erscheinungen in einem Punkt auf ihre weitere und vollständige Ähnlichkeit. Manchmal ist sogar keine Ähnlichkeit vorhanden. Besonders die gewohnten Vorstellungen, die autoritären Ideologien können durch ihre suggestive Kraft leicht Analogien vortäuschen. Die politische und wissenschaftliche Reaktion ist eifrig am Werk, alle neuen Erfahrungswahrheiten und die damit verbundenen Theorien aufgrund rein äußerlicher oder gar nicht vorhandener Ähnlichkeiten ihren Zwecken dienstbar zu machen. So wird der vor kurzem noch so eifrig bekämpfte Darwinismus, die Vererbungslehre und überhaupt die ganze moderne Biologie dazu benützt, die Unterdrückung der wirtschaftlich schwächeren Klassen durch die Bevorrechteten zu rechtfertigen. Mittels Analogie des Wärmetodes (Entropie) will man dem naturwissenschaftlich gebildeten Publikum die Schöpfungsgeschichte mundgerecht machen. Die landläufige Geschichtswissenschaft hat die Tendenz, in der Vergangenheit die Herrschaft derselben Ideen zu erblicken, die sie in den heutigen als vorherrschend behauptet, sie geht von der Analogie aus, daß die Menschen damals ebenso gedacht haben wie heute.

Jede Abstraktion kann gewissermaßen als  Fiktion  aufgefaßt werden. VAIHINGER bezeichnet als Hauptmerkmale der Fiktionen ihre ausgesprochen bewußte Unwirklichkeit und ihre Zweckmäßigkeit. Er vernachlässigt in seinem Hauptwerk alle Fälle, in denen die Fiktionen nicht bewußt sind, und läßt die Wirkungen unbeachtet, welche die Fiktionen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung zeitigen. Die wichtigeren Fiktionen sind zugleich autoritäre Ideologien. Im Interesse der Minoritätenherrschaft ist ihre Wirkung  teleologisch [zweckmäßig - wp], in Bezug auf die Gesellschaft  dysteleologisch. [unzweckmäßig - wp].

Bei all diesen fehlerhaften logischen Operationen wird ein Vorgang befolgt, den MACH eine  "Verdeckung der Forschungswege"  genannt hat. Auch MILL sagt, daß die Menschen viele Meinungen haben, von denen sie nicht mehr wissen, wie sie dazu gekommen sind, doch glauben sie, daß dieselben dereinst genügend verifiziert waren, und leiten aus ihnen Sätze ab. Daher gibt es in jeder apriorischen Wissenschaft die Abneigung gegen die genetische Methode, welche die Forschungswege enthüllen und so die Allgemeingültigkeit der Sätze erschüttern müßte.

Die Geschichtswissenschaft beruth auf keiner unmittelbaren Erkenntnis, sie schöpft aus indirekten Quellen. Ihre hauptsächlichsten Operationen sind: Quellenkritik, Interpretation, Interpolation, Kombination, Zusammenziehung und Darstellung (BERNHEIM). Aus dieser Aufzählung ist ersichtlich, welche Bedeutung der Geschichtswissenschaft in Bezug auf die Verhüllung zukommt.

Die  Sprache  ist das Mittel des Denkens, der Mitteilung, der Begriffsbildung und überhaupt sämtlicher logischer Operationen. Ohne sie gibt es keine Erkenntnis. Sie läßt sich aber Wucherzinsen für ihre Dienste zahlen. Die Sprache ist nicht eindeutig, die Worte enthalten teils durch Abstammung, teils durch Entwicklung sowohl innere als auch äußere Beziehungen, welche unerlaubterweise in das Denken und in die Begriffsbildung miteinbezogen werden. (SPENCER) Die Ökonomie des Denkens hat die Tendenz, nicht für jeden Begriff, geschweige denn für jeden Bewußtseinsinhalt ein Wort zu bilden, sondern ein schon vorhandenes zu benützen. Die abstrakten Begriffe bekommen Namen, die früher die Zeichen ganz konkreter Vorstellungen waren. Viele Worte erleiden im Verlauf der Geschichte einen Bedeutungswandelt, sie bezeichnen jetzt einen ganz anderen Bewußtseinsinhalt als früher. Die Worte haben meist einen gewöhnlichen und einen metaphorischen Sinn, die verwechselt werden können. Jedes Wort kann Assoziationen einleiten, die noch an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes anknüpfen, was dem Einfluß der Vergangenheit Tür und Tor öffnet.

Die Sprache ist traditionell, konservativ und unbeweglich. Sie spiegelt in erster Linie die Anschauungen der Vergangenheit, das Wissen und die Erfahrung eines berühmten Entwicklungsgrades.  Sie ist noch immer geozentrisch, anthropomorphisch, sogar animistisch, bevorzugt den Dualismus und kennt nur den überpersönlichen, allmächtigen Gott, den Herrscher der Welt.  Sie ist die Hauptstütze sämlicher autoritärer Ideologien, beim Aussprechen und Hören der meisten Worte werden denselben günstige Assoziationen wachgerufen.  Die Sprache ist päpstlicher als der Papst.  Wir stimmen darin mit FRITZ MAUTHNER überein, daß sie zur Verfälschung der Erkenntnis im höchsten Maß beiträgt.

Die meisten Sprachen gingen aus den Dialekten der herrschenden Klassen hervor. Der überwiegende Teil der abstrakten Begriffe stammt aus dem Lateinischen (Griechischen), der offiziellen Sprache der Kirche, der mittelalterlichen Staatsgewalt und der herrschenden Klassen.

Ich bin mir dessen bewußt, daß die vorliegende Abhandlung - trotz bester Absichten - von autoritären Ausdrücken wimmelt. Da ich aber weder die Fähigkeit noch die Macht besitze, eine neue Sprache zu schaffen und diese den Menschen aufzuerlegen, so bin ich gezwungen mich der überlieferten zu bedienen, um mich  überhaupt  verständlich machen zu können.


3. Ihre Technik

Wir wollen an einigen Beispielen veranschaulichen, wie die bisherigen, mehr theoretischen Ausführungen im Verhalten der jeweils herrschenden Klassen ihre Bestätigung finden.

 Künstliche Steigerung der Autorität.  Im Orient - wie beinahe in jeder primitiven Gesellschaft - führen die Vornehmen ihren Stammbaum auf die Götter zurück. Die homerischen Epen zeigen, daß dieser Gebrauch auch bei den Griechen üblich war. Nach den Evangelien stammt  Jesus  von König DAVID ab. Als die griechische Bildung in Rom allgemein wurde, bemühten sich die Vornehmen um griechische Vorfahren. VERGIL führte die Familie von CAESAR und AUGUSTUS auf AENEAS zurück. Doch AUGUSTUS schöpfte, um sein Prestige zu erhöhen, auch aus anderen Quellen und leitete seine unverletzliche Majestät aus dem alten Tribunenrecht ab. Diese Quelle war nicht so vornehm wie das Gottesgnadentum, doch in den Augen des Volkes durch gefühlsbetonte Erinnerung geheiligt. Sie verlieh daher der Person des Kaisers größere Sicherheit. FRIEDRICH WILHELM IV. nannte Gott seinen Lehnsherren.

Der mystische Schimmer, der die Macht umwebt, assoziiert in den Massen Furcht und Schauer, sichert den Einrichtungen den Schein des Geheimnisvollen, des Nichterforschbaren und entzieht sie so der menschlichen Kontrolle. Wo die Machthaber als Träger der öffentlichen Gewalt dem Volk gegenüber auftreten, bedienen sie sich umständlicher Zeremonien. Religiöse Zeremonien bei jedem öffentlichen Akt sollen noch heute betonen, daß zwischen den Machthabern und den höheren Gewalten eine unmittelbare Verbindung besteht und daß die günstige Beeinflussung dieser nur durch jene möglich ist. Im Altertum waren es astrologische Deutungen, Vogelflug, Eingeweideschau, die jeder öffentlichen Handlung, jeder Machtäußerung die Weihe des Übernatürlichen, die Bestätigung durch den göttlichen Willen verliehen und dadurch den Gehorsam der Massen sicherten. Dieses Geheimwissen, die Fähigkeit der Deutung der göttlichen Absichten war stets ein eifersüchtig bewahrtes Privileg der herrschenden Klasse, die es immer verstand, mit dessen Hilfe die von den Massen verlangten Abänderungen als den Gottheiten mißgefällig hinzustellen. Die komplizierte Liturgie der katholischen Kirche, der Gebrauch der toten lateinischen Sprache bezwecken, das Privileg des unmittelbaren Verkehrs mit Gott in der ausschließlichen Machtsphäre der Kirche zu erhalten.

Jede Macht jüngeren Datums strebt danach, sich die Äußerlichkeiten der historisch festgewurzelten Mächte anzueignen, um ihre Autorität mit denselben auf eine Stufe zu bringen. NAPOLEON ist auch in dieser Hinsicht bewußt planmäßig vorgegangen, indem er bei feierlichen Anlässen womöglich dasselbe Zeremoniell anwenden ließ, das unter den Bourbonen üblich geworden war, und in den Schulen lehren ließ, daß der Ungehorsam gegen das Staatsoberhaupt ebenso mit ewiger Verdammnis bestraft wird, wie die Verletzung der göttlichen Gebote.

Jede herrschende Klasse trachtet in ihrem Auftreten, in Lebensweise und Bildung danach, den Unterschied zwischen sich und den Massen deutlichst hervorzuheben; meist dadurch, daß sie fremden Sitten huldigt, da das Ungewöhnliche und Unverständliche immer den Eindruck des Höheren, des Übernatürlichen erweckt.

 Traditionskult.  Die Verehrung der Vergangenheit und der alten Institutionen wird zur patriotischen Pflicht gestempelt. Jedes Streben nach einer Abänderung gilt als Vaterlandsverrat oder als Verstoß gegen die göttlichen Absichten und guten Sitten. Die "guten alten Zeiten" erhalten einen romantischen Glanz, die Güte der Einrichtungen wird an ihrem Alter gemessen. Da in der Vergangenheit auch immer eine Minorität herrschte, so erweisen sich Lobpreisung und Heiligsprechung der alten Institutionen als wirksames Mittel zur Kräftigung der bestehenden Herrschaft. Nach umstürzlerischen Bewegungen setzt besonders lebhaft eine Neubelebung des Traditionskults ein. Die Romantik des 19. Jahrhunderts war eine Reaktion auf die französische Revolution. Die heutige Gegenrevolution zeichnet sich durch einen gesteigerten Traditionskult, durch Heldenverehrung und Totenbeschwörung aus. Die Erbschaft der Vergangenheit, der Druck der Überlieferung behindert eine Änderung der Gesellschaftsordnung weit mehr als der innere Gehalt der Rechtsinstitutionen und die sie schützenden Machtmittel.

Die ohnehin große Autorität der Bibel wird in den Augen der Massen in der klaren Erkenntnis, daß sie jede grundlegende Einrichtung der bestehenden Gesellschaftsordnung anerkennt und heiligt, noch künstlich gesteigert. Dieser heilsamen Eigenschaft entspringt das Streben, zur Entscheidung der allerneuesten Tagesfragen die Bibel oder bei den Juden den Talmud zu Rate zu ziehen.

 Lobpreisung der eigenen und Herabsetzung der gegnerischen Bestrebungen.  Aus der Vergangenheit sind uns größtenteils solche Urkunden erhalten, welche die herrschenden Klassen und ihre Taten verherrlichen. Die Dichter und Historiker waren meist Hofleute der Herrscher und der Vornehmen und verewigten ihre angeblichen Verdienste. Solche Aufzeichnungen, die den gegenteiligen Tatbestand überlieferten, wurden vernichtet, die mündliche Tradition unterdrückt oder verfälscht. Dennoch bringen die älteren Geschichtswerke und Dichtungen in ihrer urwüchsigen Naivität hie und da auch die Schattenseiten der damaligen Zustände zum Ausdruck. Hingegen verfälscht und unterdrückt die moderne konservative Geschichtsschreibung planmäßig jede Tatsache, welche die bestehende Machtgestaltung schädigen könnte.

Jede Gesellschaftsordnung wird von ihren Nutznießern als Verkörperung der Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit hingestellt. Die preußne konservative Geschichtsschreibung planmäßig jede Tatsache, welche die bestehende Machtgestaltung schädigen könnte.

Jede Gesellschaftsordnung wird von ihren Nutznießern als Verkörperung der Vollkommenheit und Zweckmäßigkeit hingestellt. Die preußischen Junker wähnten sich im Besitz der besten Verfassung, ebenso wie die polnische Schlachta und der ungarische Feudaladel. GEORG III. nannte die englische Verfassung die vollkommenste menschliche Schöpfung. WELLINGTON lehnte noch im Jahr 1830 die Wahlreformvorschläge mit der gleichen Begründung ab.

Mit unversöhnlichem Haß verfolgen die überlieferten Geschichtsquellen die revolutionären Bestrebungen des Altertums. GAJUS und TIBERIUS GRACHUS werden als eitle Demagogen und Volksbetörer dargestellt. Nachdem die Patrizier GAJUS GRACHUS und dessen Parteigänger ermordet hatten, errichteten sie zur Erinnerung eine Opferstätte, die den Namen "Tempel der Eintracht" trug: eine symbolische Abstraktion, bezeichnend für jede herrschende Klasse, welche die Eintracht sich nur so vorzustellen vermag, daß sie ihren Willen den untersten Volksklassen gewaltsam aufdrängt. CATALINA steht als größter Verbrecher der Geschichte da, sein Widersacher, der bestechliche CICERO, als Moralheld und Vaterlandsverräter. Diejenigen Historiker, die immer vom "unglücklichen" LUDWIG XVI., dem "unschuldigen Enkel sündiger Ahnen" sprechen, stellen die Revolutionsführer als Ungeheuer, als Verkörperung sämtlicher Laster hin. Ebenso verdammen die meisten Geschichtswerke die verschiedenen Bauernaufstände; sie sind in ihren Augen nur Raub, Plünderung und Mordbrennerei. Das war auch LUTHERs Urteil über den deutschen Bauernkrieg, keine seiner Forderungen fand bei ihm Gnade und Verständnis.

Durch die Geschichte zieht sich wie ein roter Faden die Herabsetzung der niederen Klassen und ihrer Vertreter. Den Reigen eröffnet HOMER. In der  Jlias  wird THERSITES als die unsympathischste Figur geschildert, der selbst nichtadelig, dem Adel fortwährend Opposition macht. Nicht nur im Mittelalter, sondern bis tief in die Neuzeit herein werden Bauer und Bürger als Inbegriff aller Laster, Gemeinheit und Unwürdigkeit beschrieben.

Die Kirche führt einen planmäßigen Kampf zur Herabsetzung der Wissenschaft. Nach ihr ist sie die Erbsünde, die zu Hochmut, Laster und Abtrünnigkeit führt. LUTHER hat auch in dieser Hinsicht sein Möglichstes geleistet, er spricht von der Hure Vernunft - genauso wie CALVIN.

 Doppelpolitik und Doppelmoral.  Dieselbe Handlung wird verschieden gewertet, je nachdem sie die herrschenden oder die unteren Volksklassen begehen. Die Revolution galt stets als verwerflich. Doch griffen die herrschenden Klassen immer zu umstürzlerischen Maßnahmen, wenn es sich um die Rettung ihrer Privilegien handelte. Die katholische Kirche, "der Würgeengel der Revolution", fordert für sich offen das Recht der Auflehnung gegen den Staat, wenn dessen Gesetze ihre Vorrechte einschränken oder verletzen. Das englische geflügelte Wort  Right or wrong, my country [richtig oder falsch - es ist mein Land - wp] wird auch in den Konflikten zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen eifrig angewendet. Das Einverständnis mit dem Feind, der Kampf gegen das eigene Vaterland wurde seit jeher als das Scheußlichste aller Verbrechen betrachtet. Nach 1789 aber flohen die französischen Aristokraten ins Ausland und hetzten sämtliche Regierungen Europas gegen ihr Vaterland. LUDWIG XVI. war damit, um seinen Thron zu retten, einverstanden. Vergebens suchen wir in den Geschichtswerken hochpatriotischer Verfasser nach einer Brandmarkung dieser Taten. In unseren Tagen sehen wir die Reaktion wieder eifrig um eine fremde Intervention zum Sturz der republikanischen Verfassungen bemüht. Die Wiener Monarchisten ermunterten offen die ungarische Regierung Österreich mit Waffengewalt anzugreifen, um die Monarchie wieder herzustellen. Die leitende Rolle in diesen Aktionen fällt eben denjenigen gesellschaftlichen Schichten zu, welche bisher die lautesten Verkünder der Vaterlandsliebe waren. Die ganze Welt ist empört über die Gewaltmethoden des Bolschewismus, doch die Gegenrevolution predigt und übt das Recht zur Ermordnung der politischen Gegner. In den internationalen Beziehungen kommt diese Doppelmoral besonders dadurch zum Ausdruck, daß die eigene Nation immer Verteidigungskriege, die Feinde dagegen Angriffskriege führen. Die Kirche befehdet im Namen der Gewissensfreiheit jede Verstaatlichung des Unterrichtswesens, verwahrt sich aber empört dagegen, wenn man den Gläubigen das Recht einräumen will, aus der Kirche auszutreten.

Auch in den primitiven Gesellschaften tritt die beschriebene Tendenz offen zutage. Das Tabu ist ein religiöses Verbot, das wirtschaftlich wichtige Gegenstände unter den Schutz der Religion stellt. Überall findet man das Vermögen der Häuptlinge, Priester und Vornehmen tabuisiert und seine Aneignung mit Todesstrafe bedroht; kein religiöses Verbot hindert dagegen die Vornehmen, die Ärmeren zu berauben.

Das Streben nach einer Änderung der Rechtsordnung und der Verfassung wird als Gotteslästerung, als unpatriotische Gesinnung, als Bruch der geheiligten Tradition bekämpft, wenn es sich um die Wünsche der Massen handelt; wie andere jedoch, wenn die Interessen der herrschenden Klasse in Frage kommen. Den Wunsch nach einer Übernahme zweckmäßiger, ausländischer Einrichtungen bezichtigt man als Verleugnung der nationalen Eigenart; doch besteht die Rechtsgeschichte jedes Landes aus lauter Rezeptionen im Interesse der herrschenden Klasse. Diese schlug dabei immer den Weg ein, daß sie den Schein der Unabänderlichkeit der nationalen Rechtsordnung sorgfältig wahrte und die neuen Institutionen auf den "Schleichwegen des Lebens" ins Rechtssystem einschmuggelt. Klassische Beispiele dafür liefert die Geschichte des römischen und englischen Rechts. Das  jus civile  wurde von den Prätoren durch das  jus aequum  abgeändert, in England mußte das strenge  common law  infolge der Praxis des  Court of Chancery  dem  Equity law  weichen. In beiden Fällen hielt man aber das alte Recht formell aufrecht; seine Abänderung wurde öffentlich nicht zugegeben, sondern die neuen Sätze als Interpretation der alten, als Herstellung ihres wirklichen Sinnes angenommen. Die Prätoren und die Richter der Equitygerichte waren Mitglieder der herrschenden Klasse und haben in der Rechtsprechung die derselben notwendigen Abänderungen durchgeführt; der Masse gegenüber blieb das Dogma der Unveränderlichkeit des alten Rechts aufrecht.

Ein weiteres lehrreiches Beispiel liefert die Bibelkritik. Das jüdische Priestertum hat die mosaischen Gesetze zweimal seinen Interessen gemäß abgeändert. Zuerst unter König JOSIA (621 v. Chr.), als der Hohepriester HISKIA das ursprüngliche Gesetzbuch beim Umbau des Tempels "fand" (Deuteronomium); und sodann im 5. Jahrhundert v. Chr., als der Schriftgelehrte ESRA das neuerlich "aufgefundene" mosaische Gesetz aus der babylonischen Gefangenschaft heimbrachte (Priesterschrift). Diese Einschübe begründeten die Vorherrschaft des Priestertums auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, ihre Echtheit zu bezweifeln hätte eine Gotteslästerung bedeutet.

Die Doppelzüngigkeit der herrschenden Moral kommt auf zweifache Weise zum Ausdruck. Entweder stellt sie solche Gebote und Ideale auf, die unmittelbar die bestehende Gesellschaftsordnung stützen oder sie setzt den handelnden Menschen  unerreichbare  Ziele. Letzterenfalls entsteht ein Dualismus zwischen den hehren Geboten der Moral und den irdischen Handlungen der Menschen. Jene lasten nur auf den Massen mit voller Wucht, die herrschenden Klassen können sie straflos verletzen, weil ihre Autorität, die Macht der Tradition, die Weihe durch die Kirche, sämtliche verhüllenden Ideologien sie schützen und entlasten. Entdecken die Massen schließlich diese Doppelzüngigkeit, so werden sie auf die Strafe vertröstet, welche die Vornehmen und Mächtigen im Jenseits unfehlbar erreichen wird.

Jede Moral besitzt eine  esoterische  und eine  exoterische  Fassung. Dieser Zweiteilung begegnet man bereits in den Sittennormen der primitiven Gesellschaften. Das Christentum brachte die vollständige Gleichstellung aller Menschen in Bezug auf unerfüllbare ethische Pflichten. Die Praxis der katholischen Kirche führte unter Aufrechterhaltung dieser scheinbaren Gleichheit die mildere Behandlung der herrschenden Klassen ein. Der  Probabilismus [es gibt keine absoluten Wahrheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten - wp] der Jesuiten stellt den vollständigen Durchbruch dieser Tendenz dar. Noch heute gilt die Feststellung NIETZSCHEs, die er freilich in einem anderen Sinn gebraucht hat, daß die Herrschenden stets sittlich sind, was immer sie auch begehen. Unter dem Schutz der erhabenen Ideen des Neuen Testaments gedeiht üppig eine Doppelmoral, welche die Menschen in zwei Klassen scheidet und dadurch die Machtverhältnisse deutlich und adäquat zum Ausdruck bringt.  Die Schärfe einer Klassenherrschaft läßt sich an der Größe der Spannung zwischen den ethischen Idealen und der tatsächlichen Moral der herrschenden Klasse erkennen.  Treffend sagt BAKUNIN:
    "Die Aktion des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der Erde führte schließlich immer und überall zur Begründung des einer kleinen Zahl wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger ausgesetzten Idealismus der Massen."
In einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruth, zeitigt jedes Moralsystem, das für alle Menschen gleiche Gebote aufstellt, eine noch krassere Ungleichheit. Je erhabener die Sittengesetze lauten, desto mehr werden die sie befolgenden Menschen denjenigen ausgeliefert, die über die notwendige Macht und Autorität verfügen, um sich vor den Folgen ihrer unmoralischen Handlungen zu schützen. Diese Folge würde die Ethik von KANT zeitigen, wenn sie von den Massen überhaupt befolgt werden könnte. Nach KUELPE besteht die Verwandtschaft der christlichen Moral mit der kantischen darin, daß
    "sie den moralischen Wert einer Person nicht nach ihren Talenten und Leistungen, nach ihrer gesellschaftlichen Stellung oder nationalen Eigenart, sondern bloß nach ihren rein menschlich-vernünftigen Eigenschaften bemißt."
Das Phantom dieser Gleichheit in Bezug auf die "menschlich-vernünftigen Eigenschaften" täuscht auch Sozialisten. Ebenso verwurzelt ist das kantische Gebot: Handle autonom!  Autonomie  ist ein leerer Begriff. Der Mensch bringt schon in seinem Nervensystem heteronome Einflüsse mit, er kann notgedrungen nur heteronom handeln. Wer ihm rät, sich als vernünftiges Wesen, frei von allen heteronomen Antrieben autonom zu bestimmen, der liefert ihn unerbittlich den herrschenden heteronomen Einflüssen aus. Es ist daher nur folgerichtig, wenn KANT sich bei der Aufstellung des Sittengesetzes blutwenig darum kümmert, ob dieses befolgt werden kann. Seine Morallehre ist nur als eine Reaktion gegen den preußischen Polizeistaat verständlich, doch trägt sie letztenendes zur Erhaltung sämtlicher Polizeistaaten bei. KANT hat sich durch die Verkündung dieses Moralgesetzes als der vornehmste  "Bazillenträger"  erwiesen, den die Geschichte der Wissenschaften kennt.

 Formalismus.  Das System der religiösen, ethischen und juridischen Regeln entwickelt sich allmählich zu einem unübersehbaren Komplex. Jede Kompliziertheit führt zur Bevorzugung der Form, die doch eine gewisse Orientierung im Wirrwarr der Regeln gewährt. Diese Bevorzugung entwickelt sich zur Überwucherung und Verknöcherung der Form, sobald die herrschende Klasse entdeckt, daß der Formalismus ein mächtiges Mittel zur Abwehr der Abänderungsbestrebungen ist. In den Formen finden sich nur die Gebildeten, die Mitglieder der privilegierten Klassen zurecht. Je unbeschränkter die Minoritätsherrschaft waltet, desto grausamer sind die formalen Forderungen der Rechtsordnung; die geringste Verletzung der Form kann den Rechtsunkundigen um seine Existenz bringen. Der Fortschritt der Rechtsentwicklung besteht in der allmählichen Zurückdrängung des übertriebenen Formalismus der Normen. In jeder Epoche führten die unteren Volksklassen einen zähen Kampf um eine schriftliche Fixierung der Rechtsregeln. Der ägyptische König BOK EN RAUF, der auf Wunsch des Volkes das bestehende Recht aufzeichnen ließ, wurde von den revolutionierenden Adeligen und Priestern besiegt und lebendig verbrannt (STERNBERG). Das schriftlich festgelegte Recht bedeutet dem den unteren Volksklassen vollständig unbekannten Gewohnheitsrecht gegenüber zwar einen Fortschritt, doch bleibt es weiter ein Gebiet des Formalismus, wo die rechtsunkundige Masse den von Juristen unterstützten herrschenden Klassen unterliegen muß.

Auf religiösem Gebiet machte sich eine gegenteilige Tendenz bemerkbar. Durch das Neue Testament geht ein demokratischer, sogar revolutionärer Zug; die Bergpredigt und die Aussprüche  Jesu  könnten allen Abänderungsbestrebungen Vorschub leisten und solche assoziieren. Die Kirche nahm diese Gefahr wahr und zog die  traditio divina  unter ihre Kontrolle. Sie verfügte, daß die Aussprüche des Herrn durch die kirchliche Lehrgewalt zu formulieren sind. Sie macht aus den Worten CHRISTI ein Gesetz, dem gegenüber unbedingter Gehorsam verlangt wird und dessen Auslegung allein der Kirche zusteht. So auch CALVIN. Die jüdische Rabbinerpraxis bestimmte sogar die Regeln, mit deren Hilfe der Talmud ausschließlich interpretiert werden darf.

 Expropriation und Verfälschung der gegnerischen Bestrebungen.  Wenn die Bestrebungen der Massen nach einer Abänderung der Gesellschaftsordnung nicht mehr niederzuhalten sind, macht sie sich die herrschende Klasse scheinbar zu eigen, um hierdurch die Bewegung unter ihre Führung zu bringen. Das bekannteste Beispiel aus dem Altertum ist die Annahme des Christentums durch die kaiserliche Bürokratie unter der Führung von KONSTANTIN dem Großen. Dadurch wurde aus einer proletarischen Religion die mächtigste Stütze der Klassenherrschaft. Das ungestüme Vorwärtsdrängen des Sozialismus veranlaßte die Kirche,  christlichsoziale  Organisationen zu bilden; in kluger Berechnung, daß in der assoziativen Verknüpfung der beiden Schlagwörter der Sozialismus als neuere Vorstellung durch die biologisch festgewurzelten religiösen Vorstellungen assimiliert oder verdrängt wird. Nicht nur den Namen, sondern die ganze Terminologie und agitatorische Technik übernahm sie von der sozialistischen Bewegung. Es gibt christliche Gewerkschaften, Genossenschaften, Fachverbände usw. Die Kirche bekämpfte stets das Freimaurertum; doch als im 18. Jahrhundert diese Institution zu großer Verbreitung gelangte, gründete sie einen eigenen Freimaurerorden und es gelang ihr durch geschickte Taktik auch die Führung der protestantischen Logen an sich zu reißen. Als im 17. Jahrhundert der Skeptizismus um sich griff, benutzten die Jesuiten diese Stimmung, um durch skeptizistische Gründe den Glauben an den Protestantismus und die Autorität der Wissenschaft zu untergraben.

Denselben Weg beschreitet, wenngleich mit geringerem Erfolg, die nationalistische Taktik, die gleichfalls bemüht ist, den Sozialismus für ihre Zwecke zu expropriieren [auszubeuten - wp]. In jeder Gesellschaft und in jeder historischen Epoche produzieren die herrschenden Klassen Schlagwörter, die eigens auf die Massen gemünzt sind und die in diesen Kreisen volkstümlichen Programmpunkte expropriieren oder zurechtstutzen. Die Geschichte dieser  argumenta ad hominem [Polemik in Bezug auf die Person des Gegners - wp], richtig  ad massam [in Bezug auf die Masse - wp], ist sehr wechselvoll. Die bewährteste Methode war zu allen Zeiten die Idealisierung und Vergötterung des Bauerntums, der zahlreichsten Gesellschaftsklasse. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Schlagwort als einziges Rettungsmittel gegen das Emporkommen des Sozialismus allgemein und mit Erfolg angewendet. Es ist noch in Erinnerung, welch große Erfolge KARL LUEGER in Wien zeitweilig mit dem Schlagwort vom  "kleinen Mann"  erzielt hat.

Es wurde bereits erwähnt, daß sämtliche Errungenschaften der modernen Wissenschaft zuerst von der Kirche und den herrschenden Klassen befehdet, dann zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung benützt und zurechtgestutzt wurden.

 Anpassung an alte Lehren.  Auf diesem Gebiet fällt die führende Rolle wiederum der Kirche und der Theologie zu. Beide hatten den Ergebnissen der Bibelkritik und dem Fortschritt der Naturwissenschaften gegenüber einen schweren Stand. Die protestantischen Theologen haben sich bemüht, die gefärdeten Positionen aufzugeben und so das Wesen des Glaubens zu retten. Sie erklärten, daß mit dem Dogma nicht auch der Glaube fallen muß, denn der letztere hängt nicht davon ab, ob die Ereignisse historisch wirklich so verlaufen sind, wie die Heilige Schrift es schildert. SCHLEIERMACHER verkündete, daß die Religion als ein inneres Erlebnis tief im Gefühl wurzelt und daß die Erlösung kein geheimnisvoller Akt ist, sondern innerhalb des religiösen Erlebens liegt. Man nahm ferner den Standpunkt ein, daß die Gottheit  Jesu  kein objektiver Tatbestand, sondern nur ein  Werturteil  der Gläubigen ist, daß die Wunder und Visionen des Alten Testaments nicht wörtlich zu nehmen, sondern als ekstatisch religiöse Erlebnisse betrachtet werden müssen. Alle diese Anpassungen dienten dazu, den stark erschütterten Glauben des intellektuellen Mittelstandes durch große Konzessionen zu retten, die Religion ganz in die Gefühlssphäre zu verlegen, in der Annahme, daß man dank dieser neuen Einstellung dieselben Assoziationen erwecken kann, wie mit der alten. In der Behandlung der Massen bliebt die frühere dogmatische Methode aufrecht. Die katholische Kirche war infolge ihrer Machtstellung und ihres glänzend funktionierenden Assoziationsmechanismus weniger zu Zugeständnissen gezwungen. Das Liebäugeln mit dem Modernismus wurde nach einem zeitweiligen Schwanken schonungslos unterdrückt. Die gebildeten Schichten aber, deren Glaube durch den naturwissenschaftlichen Fortschritt stark ins Wanken geraten war, hielten dennoch an der Kirche fest, weil sie ihre unschätzbaren Dienste um die Erhaltung der Gesellschaftsordnung gehörig zu werten wissen.

Die gleiche Anpassung zeigte die konservative Soziologie, besonders die Anthropologie, die es verstand, ihre Forderungen und Schlagworte in das Gewand der neuen biologischen und physikalischen Theorien einzukleiden.

 Theodizee.  Es war von jeher die wichtigste Aufgabe der Theologie, Gott gegenüber dem Übel, das trotz seiner Allmacht und Liebe auf der Welt herrscht, zu rechtfertigen. Die Verteidigung stellt entweder das Übel überhaupt in Abrede oder betrachtet es als Prüfung Gottes, als Mittel zur Erfüllung seines Heilplans. Diese Erfüllung wird in das unkontrollierbare Jenseits verlegt. MILL macht darauf aufmerksam, daß die Lehre von der göttlichen Güte und die Tatsachen der Statistik in Widerspruch stehen, daß aber niemand hieraus Konsequenzen zu ziehen wagt, weil das die Weisheit und Güte Gottes tadeln hieße. Die Unanfechtbarkeit des Standpunktes wird noch die Hinzufügung der Lehre von der Erbsünde gesteigert, aufgrund deren selbst der tugendhafteste Mensch leiden und büßen muß. Die Sünden und Verbrechen der herrschenden Schichten entschuldigt man damit, daß sie auch dazu dienen können, die unerforschlichen göttlichen Absichten zu erfüllen. Das vorgeschriebene Verhalten zur Vermeidung von Sünde ist so kompliziert, daß niemand sicher sein kann, wenn auch unbewußt, der Sünde zu verfallen. Die Vertröstung auf die Zukunft ist die Peitsche, welche die Menschen vorwärtstreibt und sie zur Erduldung des Übels zwingt. Diese Hoffnung ist schier unerschöpflich; mag die Enttäuschung noch so schwer sein, der Mensch erhebt sich wieder und hofft weiter. Alle Religionen kennen die Theodizee, zur höchsten Entfaltung hat sie aber die katholische Kirchenlehre gebracht; denn keine Religion versprach den Menschen so Ungeheures wie das Christentum. Übrigens ist, wie beinahe dessen ganze autoritäre Ausrüstung, auch das System der Theodizee dem geistigen Arsenal der jüdischen Religion, dem Alten Testament entnommen. Sie dient als Mittel, um die Verantwortlichkeit für die Gesellschaftsordnung auf den nichtverantwortlichen Gott überzuwälzen. Ihre Dienste sind für die Gesellschaftsordnung unverlgleichlich wichtiger als der Schutz der bewaffneten Macht.


4. Organisation der Verhüllung

Diese Organisation beschreiben, hieße das Gesamtgebiet der Wissenschaften bearbeiten. Wir bemerken nur, daß ihre integrierenden Bestandteile Kirche, Schule, Wissenschaft, Presse, Kunst, Dichtung, der psychische Mechanismus der öffentlichen Meinung sind. Ihr vornehmlichste Aufgabe besteht darin, das Denken im Interesse der Erhaltung der Gesellschaftsordnung zu  mechanisieren,  die Menschen in Denkmaschinen zu verwandeln, ihr Denken in ein autoritäres Schema hineinzupressen. Der Vorstellungsschatz wird limitiert und dafür gesorft, daß die dem beabsichtigten Ziel günstigen Ideologien das Übergewicht behalten. Diesen Ideologien fällt in der geistigen Welt die Rolle der Polizei zu.
LITERATUR: Paul Szende, Verhüllung und Enthüllung, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 10. Jahrgang, Leipzig 1922