ra-1ra-3ra-2P. SzendeG. RadbruchK. LamprechtA. MüllerH. Marcuse    
 
HERBERT MARCUSE
Über den affirmativen
Charakter der Kultur

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"Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt: sondern eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigeführt werden soll. Humanität wird zu einem inneren Zustand; Freiheit, Güte, Schönheit werden zu seelischen Qualitäten : Aus einem solchen Zustand soll ein Handeln fließen, das nicht gegen die gesetzte Ordnung anrennt. Kultur hat nicht, wer die Wahrheiten der Humanität als Kampfruf versteht, sondern als Haltung. Diese Haltung führt zu einem Sich-benehmen-können: bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein Harmonie und Abgewogenheit zeigen. Die Kultur soll das Gegebene veredelnd durchdringen, - nicht ein Neues an seine Stelle setzen. So erhebt sie das Individuum, ohne es aus seiner tatsächlichen Erniedrigung zu befreien. Sie spricht von der Würde des Menschen, ohne sich um einen tatsächlichen würdigeren Zustand der Menschen zu kümmern."

"Die tiefen und feinen Seelen mögen im Kampf um eine bessere Zukunft der Menschen abseits oder auf der falschen Seite stehen. Vor der harten Wahrheit der Theorie, welche die Notwendigkeit der Veränderung einer elenden Daseinsform aufzeigt, erschrickt die Seele: wie kann eine äußere Umgestaltung über die eigentliche, die innere Substanz des Menschen entscheiden! Seele läßt weich und gefügig werden und den Tatsachen gehorchen, auf die es ja zuletzt doch nicht ankommt. Mit Hilfe der Seele hat das späte Bürgertum seine einstigen Ideale begraben. Daß es auf die Seele ankommt, eignet sich gut zum Stichwort, wenn es nur noch auf die Macht ankommt."


II. Affirmative Kultur

Die affirmative Kultur hat mit ihrer Idee der reinen Menschlichkeit die geschichtliche Forderung der allgemeinen Befreiung des Individuums aufgenommen. "Betrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen, so kennen wir nichts Höheres, als Humanität im Menschen." (10) In diesem Begriff soll alles zusammengefaßt sein, was auf "des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feineren Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde" (11) ausgerichtet ist. Alle menschlichen Gesetze und Regierungsformen sollten nur den einen Zweck haben: "daß jeder, sich unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schöneren, freieren Genuß des Lebens erwerben kann." (12) Das Höchste, was aus dem Menschen gemacht werden kann, weist in seiner Verwirklichung auf eine Gemeinschaft freier und vernünftiger Personen, in der jeder dieselbe Möglichkeit zur Entfaltung und Erfüllung all seiner Kräfte hat. Der Begriff der Person, in dem der Kampf gegen unterdrückende Kollektivitäten bis heute lebendig geblieben ist, wendet sich über die sozialen Gegensätze und Konventionen hinweg an alle Individuen. Niemand nimmt dem Einzelnen die Last seines Daseins ab, aber niemand schreibt ihm auch sein Dürfen und sein Tun vor - niemand außer dem "Gesetz in seiner eigenen Brust".
    "Die Natur hat gewollt, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins hinaus geht, gänzlich aus sich selbst herausbringt, und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig wird, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat." (13)
Aller Reichtum und alle Armut kommen aus ihm selbst und schlagen auf ihn selbst zurück. Jedes Individuum ist unmittelbar zu sich selbst: ohne irdische und himmlische Vermittlungen. Und so ist es auch unmittelbar zu allen anderen. Die klarste Darstellung hat diese Idee der Person in der klassischen Dichtkunst seit SHAKESPEARE gefunden. In ihren Dramen sind die Personen einander so nahe, daß es zwischen ihnen nichts prinzipiell Unsagbares, Unaussprechbares gibt. Der Vers macht möglich, was in der Prosa der Wirklichkeit schon unmöglich geworden ist. In Versen sprechen die Personen über alle gesellschaftlichen Isolierungen und Distanzierungen hinweg von den ersten und letzten Dingen. Sie überwinden die faktische Einsamkeit in der Glut der großen und schönen Worte, oder sie lassen die Einsamkeit selbst in metaphysischer Schönheit erscheinen. Verbrecher und Heiliger, Fürst und Diener, Weiser und Narr, reich und arm vereinigen sich in einer Diskussion, aus deren freiem Ablauf die Wahrheit herausleuchten soll. Die Einheit, welche die Kunst darstellt, die reine Menschlichkeit ihrer Person ist unwirklich; sie ist das Gegenbild dessen, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschieht. Die kritisch-revolutionäre Kraft des Ideals, das gerade in seiner Unwirklichkeit die besten Sehnsüchte der Menschen inmitten einer schlechten Realität wachhält, wird in jenen Zeiten wieder deutlich, wo der Verrat der saturierten Schichten an ihren eigenen Idealen ausdrücklich vollzogen wird. Das Ideal war freilich so konzipiert, daß weniger seine vorwärtstreibenden als seine retardierenden, weniger seine kritischen als seine rechtfertigenden Charaktere dominieren. Seine Realisierung soll durch die kulturelle Bildung der Individuen in Angriff genommen werden. Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt: eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigeführt werden soll. Humanität wird zu einem inneren Zustand; Freiheit, Güte, Schönheit werden zu seelischen Qualitäten: Verständnis für alles Menschliche, Wissen um das Große aller Zeiten, Würdigung alles Schweren und Erhabenen, Respekt vor der Geschichte, in der das alles geworden ist. Aus einem solchen Zustand soll ein Handeln fließen, das nicht gegen die gesetzte Ordnung anrennt. Kultur hat nicht, wer die Wahrheiten der Humanität als Kampfruf versteht, sondern als Haltung. Diese Haltung führt zu einem Sich-benehmen-können: bis in die alltäglichsten Verrichtungen hinein Harmonie und Abgewogenheit zeigen. Die Kultur soll das Gegebene veredelnd durchdringen, - nicht ein Neues an seine Stelle setzen. So erhebt sie das Individuum, ohne es aus seiner tatsächlichen Erniedrigung zu befreien. Sie spricht von der Würde "des" Menschen, ohne sich um einen tatsächlichen würdigeren Zustand der Menschen zu kümmern. Die Schönheit der Kultur ist vor allem eine innere Schönheit und kann auch dem Äußeren nur von innen her zukommen. Ihr Reich ist wesentlich ein Reich der  Seele. 

Daß es in der Kultur um seelische Werte geht, ist mindestens seit HERDER konstitutiv für den affirmativen Kulturbegriff. Die seelischen Werte gehören zur Definition der Kultur gegenüber der bloßen Zivilisation. ALFRED WEBER zieht nur die Konsequenz aus einer schon lange wirksamen Begriffsbildung, wenn er definiert:
    "Kultur ... ist bloß, was seelischer Ausdruck, seelisches Wollen ist, und damit Ausdruck und Wollen eines hinter aller intellektuellen Daseinsbeherrschung dahinterliegenden  Wesens, einer  Seele, die bei ihrem Ausdrucksstreben und ihrem Wollen gar nicht nach Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit fragt ...". "Daraus folgt der Begriff der Kultur als der jeweiligen Ausdrucks- und Erlösungsform des Seelischen in der materiell und geistig gebotenen Daseinssubstanz." (14)
Die Seele, wie sie einer solchen Auffassung zugrundeliegt, ist etwas anderes und mehr als die Gesamtheit der psychischen Kräfte und Mechanismen (so, wie sie etwa in der empirischen Psychologie Gegenstand werden): sie soll dieses nicht-körperliche Sein des Menschen als die eigentliche Substanz des Individuums andeuten.

Der Substanzcharakter der Seele ist seit DESCARTES auf der Einzigartigkeit des Ich als Res cogitans [denkende Substanz - wp] gegründet. Während die ganze außer-ichliche Welt zur prinzipiell meßbaren und in ihrer Bewegung berechenbaren Materie wird, entzieht sich das Ich als einzige Dimension der Wirklichkeit dem materialistischen Rationalismus des aufsteigenden Bürgertums. Indem das Ich als wesensverschiedene Substanz der Körperwelt gegenübertritt, geschieht eine merkwürdige Aufteilung des Ichs in zwei Bereiche. Das Ich als Subjekt des Denkens (mens, Geist) bleibt in selbstgewisser Eigenständigkeit diesseits des Seins der Materie, gleichsam ihr Apriori, während DESCARTES das Ich als Seele (anima), als Subjekt der "Leidenschaften" (Liebe und Haß, Freude und Trauer, Eifersucht, Scham, Reue, Dankbarkeit usw.) materialistisch zu erklären versucht. Die Leidenschaften der Seele werden auf den Blutkreislauf und dessen Veränderung im Gehirn zurückgeführt. Die Zurückführung gelingt nicht ganz. Es werden zwar alle Muskelbewegungen und Sinnesempfindungen von den Nerven abhängig gedacht, die "wie feine Fäden oder Röhrchen aus dem Gehirn kommen", aber die Nerven selbst sollen "eine sehr feine Luft, einen Hauch enthalten, den man die Lebensgeister nennt. (15) Trotz dieses immateriellen Restes ist die Tendenz der Interpretation eindeutig: das Ich ist entweder Geist (Denken, cogito me cogitare) oder, sofern es nicht bloßes Denken,  cogitatio,  ist, ist es nicht mehr eigentlich Ich, sondern körperlich: die ihm zugeschriebenen Eigenschaften und Tätigkeiten gehören dann der  res extensa  [ausgedehnten Substanz - wp] an (16). Und doch lassen sie sich nicht ganz in Materie auflösen. Die Seele bleibt ein unbeherrschtes Zwischenreich zwischen der unerschütterlichen Selbstgewißheit des reinen Denkens und der mathematisch-physikalischen Gewißheit des materiellen Seins. Das, was später eigentlich die Seele ausmacht: die Gefühle, Begierden, Triebe und Sehnsüchte des Individuums fallen schon im Ansatz der Vernunftphilosophie aus dem System heraus. Die Stellung der empirischen Psychologie, also der wirklich von der menschlichen Seele handelnden Disziplin, innerhalb der Vernunftphilosophie ist charakteristisch: sie kommt vor, ohne durch die Vernunft selbst gerechtfertigt werden zu können. KANT hat gegen die Behandlung der empirischen Psychologie innerhalb der rationalen Metaphysik (bei BAUMGARTEN) polemisiert: sie muß "aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein und ist schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen." Aber er fährt fort:
    "Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch doch noch immer (wenn auch nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten müssen, und zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch nicht so reich ist, daß sie allein ein Studium ausmachen, und doch zu wichtig, als daß man sie ganz ausstoßen oder anderwärts anheften sollte ... Es ist also bloß ein so lange aufgenommener Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie ... seine eigene Behausung wird beziehen können." (17)
Und in der Metaphysik-Vorlesung von 1792/93 äußert sich KANT noch skeptischer über diesen "Fremdling": "Ist eine empirische Psychologie als Wissenschaft möglich? Nein - unsere Kenntnis von der Seele ist gar zu eingeschränkt." (18)

Die Fremdheit der Vernunftphilosophie gegenüber der Seele weist auf einen entscheidenden Sachverhalt hin. In den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß geht die Seele in der Tat nicht ein. Die konkrete Arbeit ist auf die abstrakte reduziert, die den Tausch der Arbeitsprodukte als Waren ermöglicht. Die Idee der Seele scheint auf die Lebensbezirke hinzudeuten, mit denen die abstrakte Vernunft der bürgerlichen Praxis nicht fertig wird. Die Bearbeitung der Materie wird gleichsam nur von einem Teil der  res cogitans  geleistet: von der technischen Vernunft. Beginnend mit der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit und vollendet in der Maschinenindustrie, treten "die geistigen Potenzen des materiellen Produktionsprozesses" den unmittelbaren Produzenten "als fremdes Eigentum und sie beherrschende Macht" (19) gegenüber. Sofern das Denken nicht unmittelbar technische Vernunft ist, löst es sich seit DESCARTES mehr und mehr von der bewußten Verbindung mit der gesellschaftlichen Praxis und läßt die Verdinglichung stehen, die es selbst befördert. Wenn in dieser Praxis die menschlichen Beziehungen als sachliche Verhältnisse, als Gesetze der Dinge selbst erscheinen, so überläßt die Philosophie das Individuum diesem Schein, indem sie sich auf die transzendentale Konstitution der Welt in der reinen Subjektivität zurückzieht. Die Transzendentalphilosophie kommt an die Verdinglichung nicht heran: sie untersucht nur den Prozeß der Erkenntnis der jeweils schon verdinglichten Welt.

Durch die Dichotomie [Zweiteilung - wp] von  res cogitans  und  res extensa  wird die Seele nicht getroffen: sie läßt sich weder als bloße  res cogitans  noch als bloße  res extensa  verstehen. KANT hat die rationale Psychologie zerstört, ohne die empirische Psychologie zu erreichen. Bei HEGEL ist jede einzelne Bestimmung der Seele vom Geist her begriffen, in den sie als in ihre Wahrheit übergeht. Die Seele ist für HEGEL wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie "noch nicht Geist" ist (20). Wo innerhalb seiner Lehre vom subjektiven Geist die Psychologie, also die menschliche Seele abgehandelt wird, ist nicht mehr  Seele,  sondern  Geist  Leitbegriff. HEGEL behandelt die Seele vornehmlich in der "Anthropologie", wo sie noch ganz "an die Naturbestimmungen gebunden" ist. (21) Hier spricht HEGEL von einem allgemeinen planetarischen Leben, von den natürlichen Rassenunterschieden, von den Lebensaltern, vom Magischen, vom Somnambulismus, von verschiedenen Formen psychopathischen Selbstgefühls und - nur auf wenigen Seiten - von der "wirklichen Seele", welche ihm nichts anderes ist als der Übergang zum Ich des Bewußtseins, womit die Seelenlehre als Anthropologie bereits verlassen und die Phänomenologie des Geistes erreicht ist. Die Seele verfällt also teils der physiologischen Anthropologie, teils der Philosophie des Geistes: auch im größten System der bürgerlichen Vernunftphilosophie gibt es für die Eigenständigkeit der Seele keinen Ort. Die eigentlichen Gegenstände der Psychologie: Gefühle, Triebe, Wille kommen zu Wort nur als Daseinsformen des Geistes.

Die affirmative Kultur meint jedoch mit der Seele gerade das, was nicht Geist ist; ja der Seelenbegriff tritt in einen immer schärferen Gegensatz zum Geistbegriff. Was mit Seele gemeint ist,
    "bleibt dem taghellen Geist, dem Verstand, der empirischen Tatsachenforschung für immer zugänglich ... Eher ließe sich ein Thema von Beethoven mit dem Seziermesser oder Säure zerlegen als die Seele durch die Mittel des abstrakten Denkens." (22)
Durch die Idee der  Seele  werden die nicht-leiblichen Vermögen, Tätigkeiten und Eigenschaften des Menschen (nach der traditionellen Einteilung sein Vorstellen, Fühlen und Begehren) zu einer unteilbaren Einheit zusammengefaßt, - eine Einheit, welche sich in allem Verhalten des Individuums manifest durchhält und erst seine Individualität konstituiert.

Der für die affirmative Kultur typische Begriff der Seele ist nicht von der Philosophie geprägt worden: die Belege aus DESCARTES, KANT und HEGEL sollten nur auf die Verlegenheit der Philosophie gegenüber der Seele hinweisen. (23) Ihren ersten positiven Ausdruck hat die Idee der Seele in der Literatur der Renaissance gefunden. Hier ist die Seele zunächst ein unerforschter Teil der zu entdeckenden und zu genießenden Welt, auf den jene Forderungen erstreckt werden, mit deren Verkündung die neue Gesellschaft die rationale Beherrschung der Welt durch den befreiten Menschen begleitet hatte: Freiheit und Selbstwert des Individuums. Der Reichtum der Seele, des "Innenlebens" ist so das Korrelat neu erschlossener Reichtümer des äußeren Lebens. Das Interesse an den bisher vernachlässigten "individuellen, unvergleichbaren, lebendigen Zuständen" der Seele gehörte zu dem Programm: "sein Leben voll und ganz auszuleben." (24) Die Beschäftigung mit der Seele "wirkt auf die zunehmende Differenzierung der Individualitäten, und sie erhöht das lebensfreudige Bewußtsein der Menschen von einer im Menschenwesen gegründeten natürlichen Entfaltung." (25) - Von der Vollendung der affirmativen Kultur, also etwa vom 18. und 19. Jahrhundert her gesehen, erschein ein solcher seelischer Anspruch wie ein unerfülltes Versprechen. Die Idee der "natürlichen Entfaltung" ist geblieben; aber sie meint vor allem die innere Entfaltung. In der äußeren Welt kann sich die Seele nicht frei ausleben. Die Organisation dieser Welt durch den kapitalistischen Arbeitsprozeß hat aus der Entfaltung des Individuums die ökonomische Konkurrenz gemacht und die Befriedigung seiner Bedürfnisse dem Warenmarkt anheimgestellt. Mit der Seele protestiert die affirmative Kultur gegen die Verdinglichung, um ihr dann doch zu verfallen. Die Seele wird als der einzige noch nicht in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß hineingezogene Lebensbereich gehütet.
    "Das Wort Seele gibt dem höheren Menschen ein Gefühl seines inneren Daseins, abgetrennt von allem Wirklichen und Gewordenen, ein sehr bestimmtes Gefühl von den geheimsten und eigensten Möglichkeiten seines Lebens, seines Schicksals, seiner Geschichte. Es ist in den Sprachen aller Kulturen von früh an ein Zeichen, in dem zusammengefaßt wird, was nicht in der Welt ist." (26)
und in dieser - negativen - Qualität wird sie nun der einzige noch nicht befleckte Garant der bürgerlichen Ideale. Die Seele verklärt die Resignation. Daß es zuletzt, über allen natürlichen und sozialen Unterschieden, um den Menschen geht, um den einzelnen, unersetzbaren Menschen, daß zwischen den Menschen Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit sein sollen, daß alle menschlichen Gebrechen durch reine Menschlichkeit gesühnt werden: ein solches Ideal läßt sich in einer durch das ökonomische Wertgesetz bestimmten Gesellschaft nur durch die Seele und als seelisches Geschehen darstellen. Nur von einer reinen Seele kann die Rettung ausgehen. Alles andere ist inhuman, diskreditiert. Die Seele allein hat offenbar keinen Tauschwert. Der Wert der Seele geht nicht so in ihren Körper ein, daß er in ihm zum Gegenstand gerinnt und zur Ware werden kann. Es gibt eine schöne Seele in einem häßlichen Leib, eine gesunde in einem kranken, eine edle in einem gemeinen - und umgekehrt. - Ein Kern von Wahrheit liegt in dem Satz, daß, was mit dem Leib geschieht, die Seele nicht angreifen kann. Aber diese Wahrheit hat in der bestehenden Ordnung eine furchtbare Gestalt angenommen. Die Freiheit der Seele wurde dazu benutzt, um Elend, Martyrium und Knechtschaft des Leibes zu entschuldigen. Sie diente der ideologischen Auslieferung des Daseins an die Ökonomie des Kapitalismus. Aber recht verstanden weist die Seelenfreiheit nicht auf die Teilnahme des Menschen an einem ewigen Jenseits hin, wo schließlich alles gut wird, wenn das Individuum nichts mehr davon hat. Sie nimmt vielmehr jene höhere Wahrheit vorweg, daß im Diesseits eine Gestalt des gesellschaftlichen Daseins möglich ist, in welcher nicht schon die Ökonomie über das ganze Leben der Individuen entscheidet. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein: eine solche Wahrheit ist keineswegs schon durch die falsche Auslegung erledigt, daß seelische Nahrung ein ausreichender Ersatz für zu wenig Brot ist.

Wie die Seele sich dem Wertgesetz zu entziehen scheint, so auch der Verdinglichung. Sie läßt sich beinahe dadurch definieren, daß durch sie alle verdinglichten Beziehungen in menschliche aufgelöst und aufgehoben werden. Die Seele stiftet eine allumspannende innere Gemeinschaft der Menschen über die Jahrhunderte hinweg. "Der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten menschlichen Seele zusammen." (27) Seelische Bildung und seelische Größe einigt die Ungleichheit und Unfreiheit der alltäglichen Konkurrenz im Reicht der Kultur, darin die Individuen als freie und gleiche Wesen eingehen. Wer auf die Seele sieht, sieht durch die ökonomischen Verhältnisse hindurch die Menschen selbst. Wo die Seele spricht, da wird die zufällige Stellung und Wertung der Menschen im Gesellschaftsprozeß transzendiert. Liebe durchbricht die Schranken zwischen reich und arm, hoch und niedrig. Freundschaft hält selbst den Verstoßenen und Verachteten die Treue, und die Wahrheit erhebt noch vor dem Thron des Tyrannen ihre Stimme. DIe Seele entfaltet sich, trotz aller sozialen Hemmnisse und Verkümmerungen, im Innern des Individuums: der kleinste Lebensraum ist groß genug, um sich zu einem unendlichen Seelenraum erweitern zu können. - So hat die affirmative Kultur in ihrem klassischen Zeitalter immer wieder die Seele gedichtet.

Die Seele des Individuums ist zunächst abgehoben gegen seinen Leib. Wenn sie als der entscheidende Bereich des Lebens in Anspruch genommen wird, so kann dies zweierlei meinen: einmal die Freigabe der Sinnlichkeit (als des irrelevanten Lebensbereiches) oder aber eine Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Herrschaft der Seele. Die affirmative Kultur hat eindeutig die zweite Richtung eingeschlagen. Eine Freigabe der Sinnlichkeit wäre die Freigabe des Genusses. Sie setzt das Fehlen des schlechten Gewissens voraus und eine reale Möglichkeit der Befriedigung. In der bürgerlichen Gesellschaft wirkt ihr in steigendem Maß die Notwendigkeit einer Disziplinierung unbefriedigter Massen entgegen. Es wird eine der entscheidenden Aufgaben der kulturellen Erziehung, den Genuß zu verinnerlichen durch Beseelung. Indem die Sinnlichkeit in das seelische Geschehen hineingenommen wird, soll sie gezügelt und verklärt weden. Aus der Verkoppelung von Sinnlichkeit und Seele erwächst die bürgerliche Idee von Liebe.

Die Beseelung der Sinnlichkeit verschmilzt die Materie mit dem Himmel, den Tod mit der Ewigkeit. Je schwächer der Glaube an das himmlische Jenseits wird, umso stärker die Verehrung des seelischen Jenseits. In die Idee der Liebe wurde die Sehnsucht nach der Ständigkeit irdischen Glücks, nach dem Segen der Unbedingtheit, nach der Überwindung des Endes aufgenommen. Die Liebenden der bürgerlichen Dichtung lieben gegen die alltägliche Unbeständigkeit, gegen die Realitätsgerechtigkeit, gegen die Knechtung des Individuums, gegen den Tod. Er kommt nicht von außen: er kommt aus der Liebe selbst. Die Befreiung des Individuums vollzog sich in einer Gesellschaft, welche sich nicht auf der Solidarität, sondern auf einem Interessengegensatz der Individuen aufbaute. Das Individuum gilt als eigenständige selbstgenügsame Monade. Seine Beziehung zur (menschlichen und außermenschlichen) Welt ist entweder eine abstrakt unmittelbare: das Individuum konstituiert in sich selbst jeweils schon die Welt (als erkennendes, fühlendes, wollendes Ich), - oder eine abstrakt vermittelte: sie wird durch die blinden Gesetze der Warenproduktion und des Marktes bestimmt. In beiden Fällen wird die monadische Isolierung des Individuums nicht aufgehoben. Ihre Überwindung würde die Herstellung einer wirklichen Solidarität bedeuten; sie setzt die Aufhebung der individualistischen Gesellschaft in einer höheren Form des gesellschaftlichen Daseins voraus.

Die Idee der Liebe fordert aber die individuelle Überwindung der monadischen Isolierung. Sie will die erfüllende Hingabe der Individualität in der unbedingten Solidarität von Person zu Person. Diese vollendete Hingabe erscheint einer Gesellschaft, in der das Gegeneinander der Interessen das  principium individuationis  ist, rein nur im Tod. Denn nur der Tod beseitigt all jene äußerlichen, eine dauernde Solidarität zerstörenden Bedingtheiten, im Kampf mit denen sich die Individuen aufreiben. Er erscheint nicht als das Aufhören des Daseins im Nichts, vielmehr als die einzig mögliche Vollendung der Liebe und so gerade als ihr tiefster Sinn.

Während die Liebe in der Kunst zur Tragödie erhöht wird, droht sie im bürgerlichen Alltag zur bloßen Pflicht und Gewohnheit zu werden. Die Liebe enthält das individualistische Prinzip der neuen Gesellschaft in sich: sie verlangt Ausschließlichkeit. Eine solche Ausschließlichkeit erscheint in der Forderung unbedingter Treue, die von der Seele her auch die Sinnlichkeit verpflichten soll. Aber die Beseelung der Sinnlichkeit mutet dieser etwas zu, was sie nicht leisten kann: sie soll dem Wechsel und der Veränderung entzogen und in die Einheit und Unteilbarkeit der Person hineingenommen werden. An diesem einen Punkt soll eine prästabilierte Harmonie zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit bestehen, welche gerade durch das anarchische Prinzip der Gesellschaft überall zerstört ist. Dieser Widerspruch macht die auschließende Treue unwahr und verkümmert die Sinnlichkeit, welche in der verstohlenen Gemeinheit des Spießbürgers einen Ausweg findet.

Die rein privaten Beziehungen wie Liebe und Freundschaft sind die einzigen Verhältnisse, in denen sich die Herrschaft der Seele unmittelbar in der Wirklichkeit bewähren soll. Sonst hat die Seele vor allem die Funktion, zu den Idealen zu erheben, ohne deren Verwirklichung zu urgieren. Die Seele hat eine beruhigende Wirkung. Weil sie von der Verdinglichung ausgenommen wird, leidet sie auch am wenigsten an ihr und setzt ihr den schwächsten Widerstand entgegen. Da Sinn und Wert der Seele nicht in der geschichtlichen Realität aufgehen, kann sie sich schadlos halten auch in einer schlechten Realität. Seelische Freuden sind billiger als leibliche: sie sind gefahrloser und werden gerne gewährt. - Es ist ein wesentlicher Unterschied der Seele vom Geiste, nicht auf die kritische Erkenntnis der Wahrheit ausgerichtet zu sein. Wo der Geist schon verurteilen muß, kann die Seele noch verstehen. Das begreifende Erkennen sucht das eine vom andern zu sondern und hebt den Gegensatz nur aufgrund der "kalt fortschreitenden Notwendigkeit der Sache" auf; der Seele versöhnen sich alle "äußeren" Gegensätze schnell in irgendeiner "inneren" Einheit. Wenn es eine abendländische, germanische, faustische Seele gibt, dann gehört zu ihnen auch eine abendländische, germanische und faustische Kultur, und dann sind die feudalistische, kapitalistische, sozialistische Gesellschaft nur Manifestationen solcher Seelen, und ihre harten Gegensätze lösen sich in der schönen und tiefen Einheit der Kultur auf. Die versöhnende Natur der Seele zeigt sich deutlich dort, wo die Psychologie zum Organon der Geisteswissenschaften gemacht wird, ohne in einer hinter die Kultur zurückgreifenden Theorie der Gesellschaft fundiert zu sein. Die Seele hat eine starke Affinität zum Historismus. Schon bei HERDER soll die vom Rationalismus befreite Seele sich überall "einfühlen" können:
    "ganze Natur der Seele, die durch Alles herrscht, die alle übrigen Neigungen und Seelenkräfte nach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbt - um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Wort, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein ..." (28)
In ihrer Eigenschaft universaler Einfühlung entwertet die Seele die Unterscheidung des Richtigen und Falschen, Guten und Schlechten, Vernünftigen und Unvernünftigen, welche durch die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Hinblick auf die erreichbaren Möglichkeiten der materiellen Daseinsgestaltung gegeben werden kann. Jede geschichtliche Epoche manifestiert dann, nach RANKEs Wort, eine andere Tendenz desselben menschlichen Geistes; jede hat ihren Sinn in sich, "und ihr Wert beruth gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." (29) - Seele sagt noch nichts für die Richtigkeit der Sache, die sie vertritt. Sie kann eine schlechte Sache groß machen (der Fall DOSTOJEWSKIs) (30). Die tiefen und feinen Seelen mögen im Kampf um eine bessere Zukunft der Menschen abseits oder auf der falschen Seite stehen. Vor der harten Wahrheit der Theorie, welche die Notwendigkeit der Veränderung einer elenden Daseinsform aufzeigt, erschrickt die Seele: wie kann eine äußere Umgestaltung über die eigentliche, die innere Substanz des Menschen entscheiden! Seele läßt weich und gefügig werden und den Tatsachen gehorchen, auf die es ja zuletzt doch nicht ankommt. So konnte die Seele als ein nützlicher Faktor in die Technik der Massenbeherrschung eingehen, als, in der Epoche der autoritären Staaten, alle verfügbaren Kräfte gegen eine wirkliche Veränderung des gesellschaftlichen Daseins mobilgemacht werden mußten. Mit Hilfe der Seele hat das späte Bürgertum seine einstigen Ideale begraben. Daß es auf die Seele ankommt, eignet sich gut zum Stichwort, wenn es nur noch auf die Macht ankommt.

Aber es kommt wirklich auf die Seele an : auf das unausgesprochene, unerfüllte Leben des Individuums. In die Kultur der Seele sind - in falscher Form - diejenigen Kräfte und Bedürfnisse eingegangen, welche im alltäglichen Dasein keine Stätte finden konnten. Das kulturelle Ideal hat die Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben aufgenommen : nach Menschlichkeit, Güte, Freude, Wahrheit, Solidarität. Doch sie alle sind mit dem affirmativen Vorzeichen versehen : einer höheren, reineren, nicht-alltäglichen Welt anzugehören. Sie werden entweder zur Pflicht der einzelnen Seele verinnerlicht (so soll die Seele erfüllen, was im äußeren Dasein des Ganzen ständig verraten wird) oder als Gegenstände der Kunst dargestellt (so wird ihre Realität einem Reich zugewiesen, das wesentlich nicht das des tatsächlichen Lebens ist). - Wenn das kulturelle Ideal hier vor allem an der Kunst exemplifiziert [verbeispielt - wp] wird, so hat das seinen Grund : Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen. Was in der Tatsächlichkeit als Utopie, Phantasterei, Umsturz gilt, ist dort gestattet. In der Kunst hat die affirmative Kultur die vergessenen Wahrheiten gezeigt, über die im Alltag die Realitätsgerechtigkeit triumphiert. Das Medium der Schönheit entgiftet die Wahrheit und rückt sie ab von der Gegenwart. Was in der Kunst geschieht, verpflichtet zu nichts. Sofern eine solche schöne Welt nicht überhaupt als längst vergangene dargestellt wird (das klassische Kunstwerk siegender Humanität, GOETHEs  Iphigenie,  ist ein "historisches" Drama), wird sie, eben durch den Zauber der Schönheit, entaktualisiert.

Im Medium der Schönheit durften die Menschen am Glück teilhaben. Aber auch nur im Ideal der Kunst wurde die Schönheit mit gutem Gewissen bejaht, denn ansich hat sie eine gefährliche, die gegebene Gestalt des Daseins bedrohende Gewalt. Die unmittelbare Sinnlichkeit der Schönheit verweist unmittelbar auf sinnliches Glück. Nach HUME gehört es zum entscheidenden Charakter der Schönheit, Lust zu erregen : Lust ist nicht nur eine Begleiterscheinung der Schönheit, sondern konstituiert ihr Wesen selbst (31). Und für NIETZSCHE erweckt die Schönheit "die aphrodisische Seligkeit" wieder : er polemisiert gegen KANTs Definition des Schönen als interesselosen Wohlgefallens und hält ihr STENDHALs Satz entgegen, daß die Schönheit "une promesse de bonheur" [ein Versprechen von Glück - wp] sei (32). Darin liegt ihre Gefahr in einer Gesellschaft, die das Glück rationieren und regulieren muß. Schönheit ist eigentlich schamlos (33) : sie stellt zur Schau, was nicht offen verheißen werden darf und was den meisten versagt ist. Von ihrer Verbindung mit dem Ideal getrennt : im Bereich der bloßen Sinnlichkeit, verfällt die Schönheit daher der allgemeinen Entwertung dieser Sphäre. Von allen seelischen und geistigen Ansprüchen gelöst, darf die Schönheit nur in sehr genau begrenzten Bereichen mit gutem Gewissen genossen werden : im Bewußtsein, daß man sich dabei auf kurze Zeit entspannt und verliert. - Die bürgerliche Gesellschaft hat die Individuen befreit, aber als Personen, die sich selbst in Zucht halten sollen. Die Freiheit hing von Anfang an davon ab, daß der Genuß verpönt blieb. Den Menschen zum Mittel der Lust zu machen, kennt die in Klassen zerspaltene Gesellschaft ohnehin nur als Knechtschaft und Ausbeutung. Indem die beherrschten Schichten in der neuen Ordnung nicht mehr unmittelbar mit ihren Personen zu Diensten standen, sondern mittelbar durch die Produktion von Mehrwert für den Markt verwendet wurden, galt es als unmenschlich, den Körper der Beherrschten als Lustquelle auszunutzen und so die Menschen direkt als Mittel zu gebrauchen (KANT) : die Einspannung ihrer Körper und Intelligenz für den Profit dagegen als natürliche Betätigung der Freiheit. Entsprechend wurde für den Armen die Verdingung in der Fabrik zur moralischen Pflicht, die Verdingung des Leibes als Mittel der Lust aber zur Verworfenheit, zur "Prostitution". - Das Elend ist auch in dieser Gesellschaft die Bedingung von Gewinn und Macht. Die Abhängigkeit vollzieht sich jedoch im Medium der abstrakten Freiheit. Der Verkauf der Arbeitskraft soll aufgrund eigener Entscheidung des Armen geschehen. Die Arbeit leistet er im Dienst seines Brotherrn; seine Person ansich, von ihren gesellschaftlich wertvollen Funktionen getrennt, dieses Abstraktum darf er für sich behalten und als Heiligtum ausbauen. Er soll es rein bewahren. Das Verbot, den Körper anstatt bloß als Arbeitsinstrument auch auch Lustinstrument auf den Markt zu bringen, ist eine soziale und psychische Hauptwurzel der bürgerlich-patriarchalischen Ideologie. An diesem Punkt werden der Verdinglichung Grenzen gesetzt, deren Einhaltung für das System lebenswichtig ist. Soweit trotzdem auch der Körper als Erscheinung oder als Träger der Geschlechtsfunktion gewissermaßen zur Ware wird, geschieht dies unter allgemeiner Verachtung. Das Tabu ist verletzt. Das gilt nicht nur für die Prostitution, sondern für alle Erzeugung von Lust, sofern sie nicht aus "sozialhygienischen" Gründen mit zur Reproduktion gehört. Die in halb-mittelalterlichen Formen zurückgehaltenen, an den untersten Rand gedrängten, weitgehend demoralisierten Schichten bilden jedoch unter solchen Umständen eine vordeutende Erinnerung. Wo der Körper ganz zur Sache, zum schönen Ding geworden ist, kann er ein neues Glück ahnen lassen. Im äußersten Erleiden der Verdinglichung triumphiert der Mensch über die Verdinglichung. Die Artistik des schönen Körpers, wie sie sich heute einzig noch im Zirkus, Varieté und Revue zeigen darf, diese spielerische Leichtigkeit und Gelöstheit kündet die Freude an der Befreiung vom Ideal an, zu welcher der Mensch gelangen kann, wenn die in Wahrheit zum Subjekt gewordene Menschheit einmal die Materie beherrscht. Wenn die Verbindung mit dem affirmativen Ideal aufgehoben ist, wenn im Zusammenhang einer wissenden Existenz, ohne jede Rationalisierung und ohne das geringste puritanische Schuldgefühl wirklich genossen wird, wenn die Sinnlichkeit von der Seele also ganz freigegeben ist, dann entsteht der erste Glanz einer anderen Kultur.

Aber in der affirmativen Kultur gehören die "seelenlosen" Bezirke eben nicht mehr zur Kultur. Sie werden - wie jedes andere Gut der Zivilisationssphäre - offen dem ökonomischen Wertgesetz überlassen. Nur die beseelte Schönheit und ihr beseelter Genuß wurde in die Kultur hineingelassen. Weil die Tiere unfähig sind, Schönheit zu erkennen und zu genießen, so folgt daraus für SHAFTESBURY, daß auch der Mensch nichts mittels der Sinne oder "des tierischen Teils seines Wesens Schönheit erfassen oder genießen kann, sondern daß sein Genießen des Schönen und Guten sich durchweg auf edlere Art vollzieht, mit Hilfe des Edelsten, was es gibt, seines Geistes und seiner Vernunft ... Wenn man die Lust nicht in die Seele, sondern sonst wohin verlegt", dann wird "der Genuß selbst nichts Schönes und seine Erscheinung ohne Reiz und Anmut sein." (34) Nur im Medium der idealen Schönheit, in der Kunst, durfte das Glück als kultureller Wert mit dem Ganzen des gesellschaftlichen Lebens reproduziert werden. Nicht in den beiden anderen Kulturgebieten, die sich sonst mit der Kunst in die Darstellung der idealen Wahrheit teilen : Philosophie und Religion. Die Philosophie wurde in ihrer idealistischen Richtung immer mißtrauischer gegen das Glück; und die Religion gewährte ihm erst im Jenseits einen Raum. Die ideale Schönheit war die Gestalt, in der die Sehnsucht sich aussprechen und das Glück genossen werden konnte; so wurde die Kunst zu einem Vorboten möglicher Wahrheit. Die klassische deutsche Ästhetik hat das Verhältnis zwischen Schönheit und Wahrheit in der Idee einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts aufgefaßt. SCHILLER sagt, daß das "politische Problem" einer besseren Organisation der Gesellschaft "durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert." (35) Und in seinem Gedicht "Die Künstler" spricht er das Verhältnis zwischen der bestehenden und der kommenden Kultur in den Versen aus: "Was wir als Schönheit hier empfunden, Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn." Nach dem Maß an gesellschaftlich zugelassener Wahrheit und an Gestalt gewordenem Glücks ist die Kunst innerhalb der affirmativen Kultur das höchste und für die Kultur repräsentativste Gebiet. "Kultur : Herrschaft der Kunst über das Leben", so hat NIETZSCHE einmal definiert. (36) Was qualifiziert die Kunst zu dieser einzigartigen Rolle?

Die Schönheit der Kunst ist - anders als die Wahrheit der Theorie - verträglich mit der schlechten Gegenwart : in ihr kann sie Glück gewähren. Die wahre Theorie erkennt das Elend und die Glücklosigkeit des Bestehenden. Auch wo sie den Weg zur Veränderung zeigt, spendet sie keinen mit der Gegenwart versöhnenden Trost. In einer glücklosen Welt muß aber das Glück immer ein Trost sein : der Trost des schönen Augenblicks in der nicht enden wollenden Kette von Unglück. Der Genuß des Glücks ist in den Augenblick einer Episode zusammengedrängt. Der Augenblick aber trägt die Bitterkeit seines Verschwindens in sich. Und bei der Isoliertheit der einsamen Individuen ist niemand da, bei dem das eigene Glück nach dem Verschwinden des Augenblicks aufbewahrt wäre, niemand, der nicht derselben Isolierung verfiele. Die Vergänglichkeit, die nicht eine Solidarität der Überlebenden zurückläßt, bedarf der Verewigung, um überhaupt ertragbar zu sein, denn sie wiederholt sich in jedem Augenblick des Daseins und nimmt den Tod gleichsam in jedem Augenblick vorweg. Weil jeder Augenblick den Tod in sich trägt, muß der schöne Augenblick als solcher verewigt werden, um überhaupt so etwas wie Glück möglich zu machen. Die affirmative Kultur verewigt in dem von ihr gebotenen Glück den schönen Augenblick; sie verewigt das Vergängliche.

Eine der entscheidenden gesellschaftlichen Aufgaben der affirmativen Kultur gründet in diesem Widerspruch zwischen der glücklosen Vergänglichkeit eines schlechten Daseins und der Notwendigkeit des Glücks, das ein solches Dasein erträglich macht. Innerhalb jenes Daseins selbst kann die Auflösung nur eine scheinbare sein. Gerade auf dem  Schein-Charakter der Kunstschönheit beruth die Möglichkeit der Lösung. - Einerseits darf der Genuß des Glücks nur in einer beseelten, idealisierten Gestalt freigegeben werden. Andererseits hebt die Idealisierung den Sinn des Glücks auf : das Ideal kann nicht genossen werden; alle Lust ist ihm fremd, sie würde die Strenge und Reinheit zerstören, die ihm in der ideallosen Wirklichkeit dieser Gesellschaft zukommen müssen, wenn anders es seine verinnerlichende, disziplinierende Funktion erfüllen können soll. Das Ideal, dem die entsagende, sich selbst unter den kategorischen Imperativ der Pflicht stellende Person nacheifert (dieses kantische Ideal ist nur die Zusammenfassung aller affirmativen Tendenzen der Kultur), ist unempfindlich gegen das Glück; es kann weder Glück noch Trost erwecken, da es nie eine gegenwärtige Befriedigung gibt. Soll das Individuum wirklich dem Ideal so verfallen können, daß es seine faktischen Sehnsüchte und Bedürfnisse in ihm wiederzufinden glaubt, und zwar als erfüllte, befriedigte wiederzufinden glaubt, - dann muß das Ideal den Schein gegenwärtiger Befriedigung haben. Es ist diese Schein-Wirklichkeit, die weder die Philosophie noch die Religion zu erreichen vermag : nur die Kunst erreicht sie, - eben im Medium der Schönheit. GOETHE hat die trügende und tröstende Rolle der Schönheit verraten:
    "Der menschliche Geist befindet sich in einer herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen Gegenstand erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in diesem Zustand nicht lange verharren; der Gattungsbegriff ließ ihn kalt, das Ideale erhob ihn über sich selbst; nun aber möchte er in sich selbst wieder zurückkehren; er möchte jene frühere Neigung, die er zum Individuo gehegt, wieder genießen, ohne in jene Beschränktheit zurückzukehren, und will auch das Bedeutende, das Geisterhebende nicht fahren lassen. Was würde aus ihm in diesem Zustand werden, wenn die Schönheit nicht einträte und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe mildert und himmlischen Reiz darüber ausgießt, bringt sie es uns wieder näher. Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis durchlaufen, es ist nun wieder eine Art Individuum, das wir mit Neigung umfassen, das wir uns zueignen können." (37)
Nicht daß die Kunst die ideale Wirklichkeit darstellt, sondern daß sie sie als schöne Wirklichkeit darstellt, ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Die Schönheit gibt dem Ideal den Charakter des Liebenswerten, Beseligenden, Befriedigenden - des Glücks. Sie erst mach den Schein der Kunst vollkommen, indem erst durch sie die Scheinwelt den Anschein der Vertrautheit, Gegenwärtigkeit - also Wirklichkeit erweckt. Der Schein bringt tatsächlich etwas zum Erscheinen : in der Schönheit des Kunstwerks kommt die Sehnsucht einen Augenblick zur Erfüllung : der Aufnehmende empfindet Glück. Und einmal im Werk Gestalt geworden, kann der schöne Augenblick ständig wiederholt werden; er ist im Kunstwerk verewigt. Der Aufnehmende kann ein solches Glück im Kunstgenuß immer wieder reproduzieren.

Die affirmative Kultur war die geschichtliche Form, in der die über die materielle Reproduktion des Daseins hinausgehenden Bedürfnisse der Menschen aufbewahrt blieben, und insofern gilt von ihr wie von der Form der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der sie zugehört : das Recht ist auch auf ihrer Seite. Sie hat zwar die  äußeren  Verhältnisse" von der Verantwortung um die "Bestimmung des Menschen" entlastet, - so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist. Das Bild ist verzerrt, und die Verzerrung hat alle kulturellen Werte des Bürgertums gefälscht. Trotzdem ist es ein Bild des Glücks : Es ist ein Stück irdischer Seligkeit in den Werken der großen bürgerlichen Kunst, auch wenn sie den Himmel malen. Das Individuum genießt die Schönheit, Güte, den Glanz und den Frieden,, die sieghafte Freude; ja es genießt den Schmerz und das Leid, das Grausame und das Verbrechen. Es erlebt eine Befreiung. Und es versteht und findet Verständnis, Antwort auf seine Triebe und Forderungen. Eine private Durchbrechung der Verdinglichung findet statt. In der Kunst braucht man nicht realitätsgerecht zu sein : hier kommt es auf den Menschen an, nicht auf seinen Beruf, seine Stellung. Das Leid ist Leid und die Freude Freude. Die Welt erscheint wieder als das, was sie hinter der Warenform ist : eine Landschaft ist wirklich eine Landschaft, ein Mensch wirklich ein Mensch und ein Ding wirklich ein Ding. Das gibt es, und daran hat man trotz allem noch Teil!

In jener Gestalt des Daseins, dem die affirmative Kultur zugehört, ist "das Glück am Dasein ... nur möglich als Glück am Schein." (38) Aber der Schein hat eine reale Wirkung : es findet eine Befriedigung statt. Ihr Sinn jedoch wird entscheiden verändert : sie tritt in den Dienst des Bestehenden. Die rebellische Idee wird zum Hebel der Rechtfertigung. Daß es eine höhere Welt, ein höheres Gut als das materielle Dasein gibt, verdeckt die Wahrheit, daß ein besseres materielles Dasein geschaffen werden kann, in dem ein solches Glück wirklich geworden ist. In der affirmativen Kultur wird sogar das Glück zu einem Mittel der Einordnung und Bescheidung. Wie die Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt, bringt sie die revoltierende Sehnsucht zur Ruhe. Zusammen mit den anderen Kulturgebieten hat sie zu der großen erzieherischen Leistung dieser Kultur beigetragen : das befreite Individuum, für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht hatte, so zu disziplinieren, daß es die Unfreiheit des gesellschaftlichen Daseins erträgt. Der offenbare Gegensatz zwischen den gerade mit Hilfe des modernen Denkens erschlossenen Möglichkeiten eines reichen Lebens und der armen faktischen Gestalt des Lebens drängte dieses Denken immer wieder dazu, seine eigenen Ansprüche zu verinnerlichen, seine eigenen Konsequenzen abzubiegen. Es gehörte eine jahrhundertelange Erziehung dazu, um jenen großen und alltäglich reproduzierten Schock erträglich zu machen : auf der einen Seite die dauernde Predigt von der unabdingbaren Freiheit, Größe und Würde der Person, von der Herrlichkeit und Autonomie der Vernunft, von der Güte der Humanität und der unterschiedslosen Menschenliebe und Gerechtigkeit, - und auf der anderen Seite die allgemeine Erniedrigung des größten Teils der Menschheit, die Vernunftlosigkeit des gesellschaftlichen Lebensprozesses, der Sieg des Arbeitsmarktes über die Humanität, des Profits über die Menschenliebe. "Auf dem Boden des  verarmten  Lebens ... ist die ganze Falschmünzerei der Transzendenz und des Jenseits aufgewachsen." (39), aber die Einstreuung des kulturellen Glücks in das Unglück, die Beseelung der Sinnlichkeit mildert die Armseligkeit und Krankhaftigkeit eines solchen Lebens zu einer "gesunden" Arbeitsfähigkeit. Es ist das eigentliche Wunder der affirmativen Kultur. Die Menschen können sich glücklich fühlen, auch wenn sie es gar nicht sind. Die Wirkung des Scheins macht selbst die Behauptung des eigenen Glücklichseins unrichtig. Das Individuum, auf sich selbst zurückgeworfen, lernt seine Isolierung ertragen und in gewisser Weise lieben. Die faktische Einsamkeit wird zur metaphysischen Einsamkeit gesteigert und erhält als solche die ganze Weihe und Seligkeit der inneren Fülle bei äußerer Armut. Die affirmative Kultur reproduziert und verklärt in ihrer Idee der Persönlichkeit die gesellschaftliche Isolierung und Verarmung der Individuen.

Die Persönlichkeit ist der Träger des kulturellen Ideals. Sie soll die Glückseligkeit darstellen, wie sie diese Kultur als höchstes Gut proklamiert : die private Harmonie inmitten der allgemeinen Anarchie, freudige Aktivität inmitten saurer Arbeit. Sie hat alles Gute in sich aufgenommen und alles Schlechte abgestoßen oder veredelt. - Es kommt nicht darauf an, daß der Mensch sein Leben lebt; es kommt darauf an, daß er es so gut wie möglich lebt. Das ist einer der Leitsätze der affirmativen Kultur. Mit "gut" ist dabei wesentlich die Kultur selbst gemeint : Anteilnahme an den seelischen und geistigen Werten, Durchformung des individuellen Daseins mit der Menschlichkeit der Seele und mit der Weite des Geistes. Das Glück des unrationalisierten Genusses ist aus dem Ideal der Glückseligkeit herausgefallen. Eine solche Glückseligkeit darf die Gesetze der bestehenden Ordnung nicht verletzen und braucht sie auch nicht zu verletzen : sie ist in ihrer Immanenz zu realisieren. Die Persönlichkeit, wie sie mit der Vollendung der affirmativen Kultur das "höchste Glück" der Menschen sein soll, hat die Grundlagen des Bestehenden zu respektieren; Achtung vor den gegebenen Herrschaftsverhältnissen gehört zu ihren Tugenden. Sie darf nur über die Stränge schlagen, solange sie sich dessen bewußt bleibt, und sofern sie den Ausbruch wieder in ihre Haltung zurücknimmt.

Das war nicht immer so. Ehemals, in den Anfängen der neueren Epoche, zeigte die Persönlichkeit ein anderes Gesicht. Sie gehörte zunächst - wie die Seele, deren vollendete menschliche Verkörperung sie sein sollte, - zur Ideologie der bürgerlichen Befreiung des Individuums. Die Person war die Quelle aller Kräfte und Eigenschaften, welche das Individuum dazu befähigten, Herr seines Schicksals zu werden, seine Umwelt nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. JACOB BURCKHARDT hat diese Idee der Persönlichkeit am "uomo universale" der Renaissance dargestellt. (40) Wenn das Individuum angesprochen wurde, so sollte damit betont werden, daß es alles, was es auch sich gemacht hatte, nur sich selbst verdankt, - nicht seinen Vorfahren, seinem Stand, seinem Gott. Das Kennzeichen der Persönlichkeit war keineswegs nur ein seelisches (eine "schöne Seele"), vielmehr Macht, Einfluß, Ruhm, - ein möglichst weiter und gefüllter Lebensraum seiner Taten. - Im Begriff der Persönlichkeit, wie er seit KANT repräsentativ für die affirmative Kultur ist, spürt man nichts mehr von einem solchen expansiven Aktivismus. Herr ihres Daseins ist die Persönlichkeit nur noch als seelisches und sittliches Subjekt. Die "Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur", die jetzt ihr Wesen kennzeichnen soll (41), ist nur noch eine "intelligible" Freiheit, welche die gegebenen Lebensumstände als Material der Pflicht hinnimmt. Der Raum der äußeren Erfüllung ist sehr klein, der Raum der inneren Erfüllung sehr groß geworden. Das Individuum hat gelernt, alle Forderungen zunächst an sich selbst zu stellen. Die Herrschaft der Seele ist anspruchsvoller nach innen und bescheidener nach außen geworden. Die Person ist nun kein Sprungbrett mehr für den Angriff auf die Welt, sondern eine geschützte Rückzugslinie hinter der Front. In ihrer Innerlichkeit, als sittliche Person, ist sie der einzig sichere Besitz, der dem Individuum nicht verloren gehen kann. (42) Sie ist die Quelle nicht mehr der Eroberung, sondern der Entsagung. Persönlichkeit ist vor allem der Entsagende, der Mensch, der sich zu seiner Erfüllung innerhalb der vorgegebenen Umstände durchringt, mögen diese auch noch so arm sein. Er findet seine Glückseligkeit im Bestehenden. - Aber noch in einer solchen Form enthält die Idee der Persönlichkeit das vorwärtstreibende Moment, daß es zuletzt um das Individuum geht. Die kulturelle Vereinzelung der Individuen zu in sich geschlossenen, ihre Erfüllung in sich selbst tragenden Persönlichkeiten entspricht immerhin noch einer liberalen Methode der Disziplinierung, die über einen bestimmten Bereich privaten Lebens keine Herrschaft fordert. Sie läßt das Individuum als Person bestehen, solange es den Arbeitsprozeß nicht stört, und läßt die immanenten Gesetze dieses Arbeitsprozesses, die ökonomischen Mächte für die gesellschaftliche Eingliederung der Menschen sorgen.

LITERATUR: Herbert Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang IV, Heft 1, Paris 1937
    Anmerkungen
    10) HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 15. Buch, 1. Abschnitt (Werke, hg. von BERNHARD SUPHAN, Berlin 1877-1913, Bd. XIV, Seite 208).
    11) HERDER, a. a. O., 4. Buch, 6. Abschnitt (Werke XIII, Seite 154).
    12) HERDER, a. a. O., 15. Buch, 1. Abschnitt (Werke XIV, Seite 209).
    13) KANT, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 3. Satz (Werke, hg. von ERNST CASSIRER, Berlin 1912, Bd. IV, Seite 153)
    14) ALFRED WEBER, Prinzipielles zur Kultursoziologie, in "Archiv für Sozialwissenschaft", Bd. 47, 1920/21, Seite 29f. - Vgl. GEORG SIMMEL, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, wo "der Weg der Seele zu sich selbst" als die der Kultur zugrundeliegende Tatsache beschrieben wird (Philosophische Kultur, Leipzig 1919, Seite 222). - OSWALD SPENGLER bezeichnet die Kultur als "die Verwirklichung des seelisch Möglichen" (Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, a. a. O., Seite 418).
    15) DESCARTES, Über die Leidenschaften der Seele, Artikel VII
    16) Vgl. DESCARTES' Antwort auf die Einwände GASSENDIs zur zweiten Meditation (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, übersetzt von A. BUCHENAU, Leipzig 1915, Seite 327f).
    17) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Werke III, Seite 567.
    18) Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, hg. v. ARNOLD KOWALEWSKI, München und Leipzig 1924, Seite 602.
    19) MARX, Das Kapital, Bd. I, Ausgabe Meissner, Hamburg, Seite 326.
    20) HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. II, § 388.
    21) HEGEL, Enzyklopädie a. a. O., § 387, Zusatz.
    22) SPENGLER, a. a. O., Seite 406
    23) Charakteristisch ist die Einführung des Seelenbegriffs in der HERBART'schen Psychologie: die Seele ist "nicht irgendwo und nicht irgendwann", sie hat "gar keine Anlagen und Vermögen, weder etwas zu empfangen noch zu produzieren"- "Das einfache Wesen der Seele ist völlig unbekannt und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der spekulativen so wenig wie der empirischen Psychologie (HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, § 150-153; Sämtliche Werke hg. von HARTENSTEIN, Bd. V, Leipzig 1850, Seite 108f
    24) WILHELM DILTHEY über PETRARCA. In: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften, Bd. II, Leipzig 1914, Seite 20. - Vgl. DILTHEYs Analyse des Übergangs von der metaphysischen zur "beschreibenden und zergliedernden" Psychologie bei LUIS VIVES, ebd. Seite 423f.
    25) DILTHEY, a. a. O., Seite 18
    26) SPENGLER, a. a. O., Seite 407.
    27) HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 2. Teil, 4. Naturgesetz (Werke, a. a. O., Bd. V, Seite 135)
    28) HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Werke V, a. a. O., Seite 503.
    29) RANKE, Über die Epochen der neueren Geschichte, 1. Vortrag (Das politische Gespräch und andere Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. von ERICH ROTHACKER, Halle 1925, Seite 61f).
    30) Über den quietistischen Charakter seelischer Forderungen bei DOSTOJEWSKI vgl. LEO LÖWENTHAL, Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, Jahrgang III dieser Zeitschrift, 1934, Seite 363
    31) HUME, A Treatise of Human Nature, Book II, Part I, Section VIII (Edition L. A. Selby-Rigge, Oxford 1928, Seite 301.
    32) NIETZSCHE, Werke, Großoktav-Ausgabe 1917, Bd. XVI, Seite 233 und Bd. VII, Seite 408
    33) GOETHE, Faust II, Phorkias: "Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn, Daß Scham und Schönheit nie zusammen Hand in Hand Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad" (Werke, Cottasche Jubiläumsausgabe, Bd. XIII, Seite 159)
    34) SHAFTESBURY, Die Moralisten, 3. Teil, 2. Abschnitt (deutsch von KARL WOLFF, Jena 1910, Seite 151f
    35) SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Ende des zweiten Briefes
    36) NIETZSCHE, Werke X, a. a. O., Seite 245
    37) GOETHE, Der Sammler und die Seinigen (gegen Ende des sechsten Briefes).
    38) NIETZSCHE, Werke XIV, Seite 366
    39) NIETZSCHE, Werke VIII, Seite 41
    40) BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien, elfte Auflage, besorgt von LUDWIG GEIGER, Leipzig 1913; besonders Bd. I, Seite 150f.
    41) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, I. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück, Werke V, Seite 95
    42) Das in der Idee der Persönlichkeit liegende "Nur" hat GOETHE einmal so ausgesprochen: "Man mäkelt an der Persönlichkeit, Vernünftig, ohne Scheu; Was habt ihr denn aber, was euch erfreut, Als eure liebe Persönlichkeit? Sie sei auch was immer sie sei." (Zahme Xenien, Werke IV, Seite 54)