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PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[5/7]
"Eine Legitimation  erklärt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihrem objektivierten Sinn eine kognitive Gültigkeit zuschreibt. Sie rechtfertigt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht."

"So ist es eben; Das macht man so -, das sind die frühesten und im Großen und Ganzen auch wirkungsvollsten Antworten auf die  Warum-Fragen des Kindes. Diese Ebene ist natürlich vortheoretisch. Aber sie ist die Grundlage des  Wissens als Gewißheit, auf der alle späteren Theorien ruhen müssen - und auf die sie umgekehrt zurückgeführt werden müssen, sofern sie in eine Tradition eingehen sollen."

"Die symbolische Sinnwelt des alten Indien schrieb den Kastenlosen einen Status zu, der dem der Tiere näher stand als dem der oberen Kasten. Die absolute Legitimation dafür war die Theorie des  Karma, das alle Wesen, ob menschlich oder nicht, umfaßt. Und nach den spanischen Eroberungen in Amerika wurden die Indianer kurzerhand zu einer anderen Spezies Mensch erklärt, ein Unterfangen, das mit Hilfe einer kaum überzeugend zu nennenden Theorie gerechtfertigt wurde, die  bewies, daß Indianer nicht von  Adam und  Eva abstammen können."

"Zwei Gesellschaften, die sich widersprüchlichen Sinnwelten entgegensetzen, entwickeln beiderseits Konzeptionen, um die jeweils eigene Sinnwelt abzusichern. Welche gewinnen wird, hängt von der  Macht nicht vom theoretischen Genie ihrer Legitimatoren ab. In der Geschichte haben bessere  Waffen, nicht bessere  Argumente den Aufstieg oder Fall von Göttern entschieden. Dasselbe gilt natürlich von innergesellschaftlichen Konflikten. Wer den derberen Stock hat, hat die bessere Chance, seine Wirklichkeitsbestimmung durchzusetzen, eine Faustregel, die für jede größere Gemeinschaft gilt."

"Mythologie ist als eine Wirklichkeitsentwurf zu definieren, der die dauernde Einwirkung heiliger Kräfte auf die Erfahrung der Alltagswelt annimmt. Eine solche Auffassung setzt natürlich ein hohes Maß an Kontinuität zwischen gesellschaftlicher und kosmischer Ordnung voraus, das sich selbstverständlich auch auf alle für beide geltenden Legitimationen erstreckt. Die ganze Wirklichkeit erscheint, als sei sie aus einem Stück."


II. Gesellschaft als objektive Wirklichkeit

2. Legitimierung
a) Ursprünge symbolischer Sinnwelten

Legitimation als ein Prozeß, als Legitimierung (67) also, läßt sich als "sekundäre" Objektivation von Sinn bezeichnen. Sie produziert eine neue Sinnhaftigkeit, die dazu dient, Bedeutungen, die ungleichartigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren. Die Funktion dieses Vorganges ist, "primäre" Objektivationen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen. Wenn wir Legitimation so definieren, ohne Ansehen der Motive, die einen Legitimierungsprozeß im einzelnen bewegen, so müssen wir hinzufügen, daß eine Integration dieser oder jener Art auch das übliche Motiv für die Legitimatoren ist.

Integration und, Hand in Hand mit ihr, die Frage der subjektiven Einsichtigkeit bewegen sich auf zwei Ebenen. Erstens sollte das Ganze einer institutionalen Ordnung sinnhaft erscheinen, und zwar für die an verschiedenen institutionellen Prozessen Beteiligten übereinstimmend sinnhaft. Was die Frage der Einsichtigkeit betrifft, so geht es hier um die subjektive Wahrnehmung eines allgemein verbindlichen Sinns "hinter" den die Situation beherrschenden, aber nur zum Teil institutionalisierten Motiven eigener oder mitmenschlicher Herkunft. Das gilt zum Beispiel für die Beziehung von Heerführer und Priester, Vater und militärischem Vorgesetzten, ja, sogar für ein und dieselbe Person in ihrem Verhältnis zu sich selbst, wenn etwa der Vater zugleich der militärische Vorgesetzte seines Sohnes ist. Diese "horizontale" Ebene der Integration und Einsichtigkeit betrifft die gesamte institutionale Ordnung für mehrere Individuen, die in verschiedenen Rollen an ihr teilhaben, oder auch mehrere institutionelle Teilprozesse, an denen ein einzelnes Individuum zu jeder beliebigen Zeit teilhaben kann.

Zweitens muß dem Einzelnen das Ganze seines Lebens, das Nacheinander seines Weges durch verschiedene Teilordnungen einer ganzen institutionalen Ordnung subjektiv sinnhaft dargeboten werden. Mit anderen Worten: der Lebenslauf des Individuums muß in der Abfolge all seiner institutionell vorformulierten Phasen mit einer Sinnhaftigkeit versehen werden, die das Ganze subjektiv plausibel macht. Deshalb muß eine "vertikale" Ebene im Leben der Person die "horizontale" Ebene der Integration und subjektiven Plausibilität der institutionalen Ordnung ergänzen.

Wir hatten schon früher gesagt, daß Legitimation in der ersten Phase der Institutionalisierung überflüssig ist, wenn nämlich die Institution einfach ein Faktum ist, das keiner weiteren subjektiven oder biographischen Unterstützung bedarf. Als Faktum ist sie für alle Betroffenen Gewißheit. Das Problem der Legitimation entsteht unweigerlich erst dann, wenn die Vergegenständlichung einer (nun bereits historischen) institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß. Zu diesem Zeitpunkt kann, wie wir gesehen haben, der Gewißheitscharakter der Institutionen nicht länger mehr mittels Erinnerung und Habitualisierung des Einzelnen aufrechterhalten werden. Die Einheit von Lebenslauf und Geschichte zerbricht. Um sie wieder herzustellen und so ihre beiden Aspekte plausibel zu machen, muß man zu Erklärungen und Rechtfertigungen in die Augen springender Elemente der institutionellen Überlieferungen übergehen. Legitimierung ist der Prozeß dieses Erklärens und Rechtfertigens. (68)

Legitimation "erklärt" die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihrem objektivierten Sinn eine kognitive Gültigkeit zuschreibt. Sie rechtfertigt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht. Daß Legitimation sowohl eine kognitive als auch eine normative Seite hat, darf nicht außer acht gelassen werden. Sie ist, mit anderen Worten, keineswegs einfach eine Frage der "Werte", sondern impliziert immer auch "Wissen". Eine Verwandtschaftsstruktur z. B. wird nicht nur durch die Moral ihrer Inzesttabus legitimiert. Zuerst muß "Wissen" von den Rollen vorhanden sein, die "rechtes" oder "unrechtes" Handeln im Rahmen der Gesamtstruktur bestimmen. Ein Mann darf beispielsweise keine Frau aus seinem Clan heiraten. Aber zuerst muß er einmal "wissen", daß er zu diesem Clan gehört und welches sein Clan ist. Derartige "Erklärungen", die eine "Geschichte" und "Soziologie" und, im Fall von Inzesttabus, auch noch geradezu eine "Anthropologie" begründen, sind sowohl Instrumente zur Legitimation als auch moralische Elemente der Tradition. Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen  soll  und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind,  was  sie sind. Mit anderen Worten: bei der Legitimierung von Institutionen geht das "Wissen" den "Werten" voraus.

Analytisch kann man Unterschiede zwischen verschiedenen Ebenen der Legitimation machen (die sich empirisch natürlich überlagern). Der Grund für die Legitimation ist gelegt, sobald ein System sprachlicher Objektivationen menschlicher Erfahrung weitergegeben wird. Die Weitergabe eines Vokabulars der Verwandtschaft legitimiert eo ipso [schlechthin - wp] die Struktur der Verwandtschaft von Generation zu Generation. Die fundamentalen, legitimierenden "Erklärungen" sind sozusagen in das Vokabular eingebaut. Wenn ein Kind also lernt, daß ein anderes Kind sein "Vetter" ist, so ist dies ein Stück Information, das unmittelbar und als solches das Verhalten "Vettern" gegenüber legitimiert, welches zusammen mit der Bezeichnung gelernt wird. Auf dieser ersten Ebene beginnender Legitimation bewegen sich all die simplen, üblichen Versicherungen: "So ist es eben"; "Das macht man so" -, das sind die frühesten und im Großen und Ganzen auch wirkungsvollsten Antworten auf die "Warum"-Fragen des Kindes. Diese Ebene ist natürlich vortheoretisch. Aber sie ist die Grundlage des "Wissens" als Gewißheit, auf der alle späteren Theorien ruhen müssen - und auf die sie umgekehrt zurückgeführt werden müssen, sofern sie in eine Tradition eingehen sollen.

Auf der zweiten Ebene der Legitimation finden sich schon theoretische Postulate in rudimentärer Form: verschiedene Schemata, die objektive Sinngefüge miteinander verknüpfen. Sie sind noch höchst pragmatisch, direkt und mit einem konkreten Tun verbunden. Die sogenannten Lebensweisheiten, Legenden und Volksmärchen gehören hierhin und vermitteln die Legitimation oft in poetischer Verkleidung. Das Kind lernt Sprichwörter wie: "Wer seinen Vetter bestiehlt, bekommt Warzen auf die Hände", oder "Geh, wenn die Frau weint, aber lauf, wenn der Vetter ruft". Es ist beglückt, wenn es das "Lied von den braven Vettern, die zusammen auf die Jagd gingen" hört und erschrocken und außer sich bei der "Klage auf zwei Vettern, die Unzucht getrieben haben".

Auf der dritten Ebene der Legitimation stehen explizite Legitimationstheorien, die einen institutionalen Ausschnitt anhand eines differenzierten Wissensbestandes rechtfertigen. Solche Legitimationen liefern mehr oder weniger geschlossene Bezugssysteme für die entsprechenden Ausschnitte institutionalisierten Handelns. Sie sind ihrer Schwierigkeit und Differenziertheit wegen häufig einem besonderen Personenkreis anvertraut, der sie in formalisierten Initiationsriten weitergibt. Man stelle sich einmal eine ausgetüftelte Theorie der "Vetternwirschaft" vor, mit Rechten, Pflichten und feststehenden Bräuchen. Die Verwalter der ehrwürdigen Kunde sind die alten Männer des Clans, eine Ehre, die ihnen wohl zuteil wird, wenn sie wirtschaftlich zu nichts anderem mehr tauglich sind. Die Alten weihen die Jünglinge mit umständlichen Pubertätsriten in die höhere Vetternwirtschaft ein. Sie treten auch als Experten auf den Plan, wann immer sich praktische Schwierigkeiten ergeben. Nehmen wir nun an, die tüchtigen Greise hätten keinerlei sonstige Pflichten. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie miteinander die ihnen anvertrauten Theorien ausspinnen, ist ziemlich groß - selbst wenn es gar keine praktischen Schwierigkeiten gibt. Ja, beim Theoretisieren werden sie geradezu praktische Probleme erfinden. Mit anderen Worten: wenn spezialisierte Legitimationstheorien erst einmal da sind und von hauptamtlichen Legitimatoren betreut werden, so beginnt die Legitimation über die Verwendbarkeit für die Praxis hinauszugreifen und "reine" Theorie zu werden. Mit diesem Schritt gewinnt die Sphäre der Legitimationen gegenüber den durch sie legitimierten Institutionen ein gewisses Maß an Autonomie, ja, sie kann sich sogar ihre eigenen institutionellen Prozesse zulegen (69). In unserem Exempel erwacht eine "Wissenschaft" der Vetternwirtschaft zu einem Eigenleben, das vom Tun und Lassen einfacher "Laien"-Vettern gänzlich losgelöst ist. Die Korporation ihrer "Wissenschaftler" ergeht sich bald im Angesicht jener Institutionen, die zu legitimieren sie ursprünglich bestimmt war, in eigenen institutionellen Prozessen. Nicht auszudenken, welchen Gipfel der Ironie die Entwicklung erklimmen würde, wenn das Wort "Vetter" nicht mehr länger nur eine Verwandtschaftsrolle, sondern den Inhaber eines Grades der Hierarchie von "Vetternwirtschafts"-Spezialisten bedeutete.

Symbolische Sinnwelten (70) konstituieren die vierte Ebene der Legitimation. Wir meinen damit synoptische [übersichtlich zusammengestellt - wp] Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen, wobei der Ausdruck "symbolisch" so zu verstehen ist, wie wir ihn oben definiert haben. Um das zu wiederholen: symbolische Vorgänge sind Verweisungen auf andere Wirklichkeiten als die der Alltagserfahrung. Es wird bald deutlich werden, wie die symbolische Sphäre mit der kompaktesten Schicht der Legitimation verknüpft ist. Die Sphäre praktischer Verwendung ist ein für allemal überschritten. Legitimation erfolgt nun mit Hilfe symbolischer Gesamtheiten, die im Alltagsleben gar nicht erfahren werden können - außer natürlich, sofern man von "theoretischer Erfahrung" sprechen will, eine Fehlbezeichnung, die nur heuristisch, wenn überhaupt, gebraucht werden sollte. Diese Ebene der Legitimation unterscheidet sich weiterhin von der vorigen durch die Reichweite der sinnhaften Integration. Schon auf der vorigen war ein hoher Integrationsgrad bei bestimmten Sinnprovinzen und abgetrennten Prozessen institutionalisierten Verhaltens zu finden. Jetzt jedoch werden  alle  Ausschnitte der institutionalen Ordnung in ein allumfassendes Bezugssystem integriert, das eine Welt im eigentlichen Sinn begründet, weil  jede  menschliche Erfahrung nun nurmehr als etwas gedacht werden kann, das  innerhalb  ihrer stattfindet. Die symbolische Sinnwelt ist als die Matrix  aller  gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen. Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse  innerhalb  dieser Sinnwelt. Von besonderer Wichtigkeit ist, daß auch die Grenzsituationen (71) im Leben des Einzelnen von einer symbolischen Sinnwelt umfaßt werden - wobei "Grenzsituationen" Situationen jenseits der Wirklichkeit des Alltagslebens in der Gesellschaft sind. Derartige Situationen erlebt man in Wach- und Schlafträumen - als Sinnprovinzen, die vom Alltagsleben abgetrennt und mit einer seltsamen Wirklichkeit eigenen Rechts ausgestattet sind. Innerhalb der symbolischen Sinnwelt sind auch abwegige Bereiche der Wirklichkeit zu einer sinnhaften All-Einheit integriert, die sie "erklärt", ja, vielleicht sogar rechtfertigt. Träume zum Beispiel kann man mit einer psychologischen Theorie "erklären", "erklären"  und  zugleich rechtfertigen mit einer Theorie der Metempsychose ( Seelenwanderung). Beide Theorien aber ruhen in viel umfassenderen Sinnwelten - in cum grano salis [mit einem Augenzwinkern - wp] "naturwissenschaftlichen" im Unterschied zu metaphysischen.

Die symbolische Sinnwelt kommt selbstverständlich auch durch gesellschaftliche Objektivationen zustande. Doch reicht ihre sinnverleihende Qualität weit über den Eigenbereich des sozialen Lebens hinaus, so daß die Person noch bei den einsamsten Erlebnissen "ihren Ort" in ihr findet. Auf dieser Ebene der Legitimation gelangt die Integration isolierter institutionaler Prozesse mittels Reflexion zu ihrer letzten Erfüllung. Eine ganze Welt wird erschaffen. Alle Legitimationstheorien einfacherer Art erscheinen als Sonderperspektiven auf Phänomene, die Aspekte dieser ganzen Welt sind. Die institutionellen Rollen sind nun Form der Teilhabe an einem Universum, das die institutionale Ordnung sowohl überhöht als auch umgibt. Unsere "Wissenschaft der Vetternwirtschaft" ist nur ein Teil eines viel weiterreichenden theoretischen Systems, zu dem fast sicher eine allgemeine Theorie des Kosmos und eine allgemeine Theorie des Menschen gehören. Die absolute Legitimation für das "richtige" Handeln im Rahmen der Verwandtschaftsstruktur ist nun dessen "Stellenwert" in einem kosmologischen und anthropologischen Bezugssystem. Inzest z. B. erhält als Vergehen gegen die göttliche Ordnung und gegen die von Gott geschaffene Natur des Menschen eine absolut negative Bewertung. Dasselbe gilt für wirtschaftliche Verfehlungen und schließlich für jede beliebige Abweichung von den institutionalen Normen. Die Grenzen dieser absoluten Legitimationen stimmen im Prinzip mit denen des Genies und theoretischen Ehrgeizes der Legitimatoren überein, deren offizielles Amt die Auslegung der Wirklichkeit ist. In der Praxis gibt es natürlich Unterschiede hinsichtlich des Genauigkeitsgrades der Anordnung von Teilen der institutionalen Ordnung im kosmischen Gesamtzusammenhang. Wieder können sich derartige Variationen aus speziellen praktischen Schwierigkeiten ergeben, deretwegen die Legitimatoren zu Rate gezogen werden. Und wieder können sie Folgeerscheinungen autonom weiter ausgesponnener theoretischer Liebhabereien der Sachverständigen für Weltordnung sein.

Die Herauskristallisierung symbolischer Sinnwelten folgt den oben dargestellten Regeln für Objektivationen, Sedimentbildung und Ansammlung von Wissen. Das heißt: auch symbolische Sinnwelten sind gesellschaftliche Produkte, die Geschichte haben. Wenn man ihre Sinnhaftigkeit verstehen will, so muß man die Geschichte ihrer Entstehung verfolgen, was umso wichtiger ist, da diese Hervorbringungen des menschlichen Bewußtseins sich ihrem Wesen nach als vollentfaltete, unumstößliche Ganzheiten präsentieren.

Wir sind nun so weit, daß wir der Wirkung symbolischer Sinnwelten, die das individuelle Leben und die institutionale Ordnung rechtfertigen, weiter nachforschen können. Diese Wirkung ist ansich in beiden Fällen dieselbe, nämlich: sie setzt Ordnung bzw. Recht. (72)

Die symbolische Sinnwelt bringt Ordnung in die subjektive Einstellung zur persönlichen Erfahrung. Erfahrungen, die verschiedenen Wirklichkeitssphären angehören, werden durch die Einbeziehung in ein und dieselbe überwölbende Sinnwelt integriert. Die symbolische Sinnwelt bestimmt zum Beispiel die Bedeutung von Träumen für die Wirklichkeit des Alltagslebens, indem sie in jedem Augenblick das Übergewicht der Alltagswelt neu sichert und dem Schock zu begegnen weiß, der den Übergang von einer Wirklichkeit in die andere begleitet (73). Sinnprovinzen, die ohne eine "oberste" symbolische Sinnwelt unbegreifliche Enklaven in der Wirklichkeit der Alltagswelt bleiben müßten, gruppieren sich mit ihrer Hilfe zu einer Hierarchie der Wirklichkeiten, die dadurch begreiflicher und weniger erschreckend wirkt. Diese Integration der Wirklichkeit von Grenzsituationen in die oberste Wirklichkeit des Alltagslebens ist von größter Bedeutung, weil derartige Situationen die stärkste Bedrohung des als gewiß angesehenen, routinisierten Daseins in der Gesellschaft sind. Wenn man diese Routine-Existenz als die "Tagseite" des menschlichen Lebens ansehen will, dann sind die Grenzsituationen seine "Nachtseite", die ständig unheimlich an den Rändern des Bewußtseins lauert. Gerade weil die "Nachtseite" ihre eigene Wirklichkeit hat, und oft genug eine sinistere [unheilvolle - wp] ist sie eine ständige Gefahr für die "gesicherte", "vernünftige", "gesunde" Wirklichkeit des Lebens in der Gesellschaft. Ganz von selbst stellt sich der Gedanke ein (der "ungesunde" Gedanke par excellence), die helle Wirklichkeit der Alltagswelt sei vielleicht nichts als eine Täuschung und jeden Augenblick in Gefahr, von den heulenden Gespenstern der anderen, der Nachtwirklichkeit verschluckt zu werden. Irrsinn und Grauen solcher Vorstellungen haben ihre Grenzen an der Eingliederung aller vorstellbaren Wirklichkeiten in die eine symbolische Sinnwelt, von der die Wirklichkeit der Alltagswelt umrundet ist. Nur dank dieser schützenden Umarmung behält die Wirklichkeit der Alltagswelt ihre oberste, absolute und, wenn man will, "wirklichste" Wirklichkeitsqualität.

Diese "nomische" [integrierende - wp] Funktion, die symbolische Sinnwelten für das individuelle Bewußtsein erfüllen, kann ganz einfach als diejenige bezeichnet werden, die "jedes Ding an seinen rechten Platz rückt". Wann immer man von der Gewißheit dieser "Platzordnung" abschweift (wenn man sich selbst in den Grenzsituationen der Erfahrung befindet), ermöglicht die symbolische Sinnwelt dem Bewußtsein, "zur Wirklichkeit zurückzukehren", nämlich zur Wirklichkeit der Alltagswelt. Da diese Wirklichkeit nun einmal die Sphäre ist, in die alle Formen institutionellen Verhaltens mit den ihm entsprechenden Rollen hineingehören, verleiht die symbolische Sinnwelt der institutionalen Ordnung ihre endgültige Legitimation, das heißt, sie gibt ihr den Primat in der Hierarchie menschlicher Erfahrungen. Außer der entscheidend wichtigen Integration von Grenzwirklichkeiten bildet die symbolische Sinnwelt auch die höchstmögliche Integrationsebene für all jene widersprüchliche Sinnhaftigkeit, die nicht am Rande, sondern  inmitten  des Alltagslebens der Gesellschaft vorkommt. Wie eine sinnhafte Integration isolierter Teile institutionalisierten Verhaltens mittels vortheoretischer und theoretischer Reflexion zustande kommt, haben wir erläutert. So eine sinnhafte Integration setzt keine symbolische Sinnwelt ab initio [von der Einweihung an - wp] voraus. Sie kann ohne Rückgriff auf symbolische Vorgänge stattfinden, das heißt, ohne eine Verweisung über die Wirklichkeit der Alltagserfahrung hinaus. Wenn jedoch erst einmal eine symbolische Sinnwelt da ist, so können widersprüchliche Ausschnitte des Alltagslebens durch einen direkten Bezug auf die symbolische Sinnwelt integriert werden. Widersprüche etwa zwischen dem Rollensinn des Vetters und des Grundbesitzers können zwar ohne Bezug auf einen verbindlichen Mythos beseitigt werden. Ist aber eine allgemeine mythische Weltanschauung gegeben, so kann sie direkt auf die Gegensätze im Alltagsleben wirken. Den Vetter von einem Stück Land zu vertreiben, ist dann nicht mehr nur unökonomisch oder unmoralisch. Das sind negative Bewertungen, die nicht bis in kosmische Dimensionen reichen müssen. Aber die Vetternvertreibung wird zur Verletzung der göttlichen Weltordnung, das ist entscheidend. Auf diese und eine ähnliche Weise ordnet und regelt die symbolische Sinnwelt Alltagsrollen, Prioritäten und Prozeduren und rechtfertigt sie zugleich. Sie weist ihnen ihren Ort  sub specie mundi [im Hinblick auf die Welt - wp] zu, das heißt, sie stellt sie in das umfassendste Bezugssytem, das vorstellbar ist. Innerhalb eines solchen Zusammenhangs erhält noch das trivialste Geschäft der Alltagswelt eine tiefere Bedeutung. Daß damit die wirkungs- und machtvollste Legitimation für die institutionale Ordnung als Ganze und auch für ihre einzelnen Teilbereiche gegeben ist, bedarf nun keiner Bekräftigung mehr.

Die symbolische Sinnwelt reguliert auch die Abfolge verschiedener Phasen des Einzellebens. In primitiven Gesellschaften geben die Riten der Lebensübergänge dieser nomischen Funktion auf urtümliche Weise Ausdruck. Die Periodisierung des Lebenslaufes wird für jedes Stadium im Hinblick auf das Ganze des menschlichen Lebens symbolisiert. Kind, Jüngling, Mann und so weiter - jede Phase wird als eine Seinsweise in der symbolischen Sinnwelt legitimiert, meistens in der Art einer bestimmten Beziehung zur Welt der Götter. Daß eine solche Symbolisierung die Gefühle der Sicherheit und Zugehörigkeit fördert, ist allzu offensichtlich, als daß wir darauf eingehen müßten. Ein Fehler wäre es jedoch, dabei nur an primitive Gesellschaften zu denken. Eine moderne psychologische Entwicklungstheorie der Persönlichkeit kann dieselbe Wirkung tun. In beiden Fällen kann die Person ihren Übergang von einer Lebensphase zur anderen als eine Sequenz auffassen, die "in der Natur der Dinge" oder in ihrer eigenen "Natur" angelegt ist. Das heißt: der Mensch kann sich vergewissern, daß er "wirklich" bzw. "richtig" lebt. Die Wirklichkeit und Richtigkeit seiner Lebensvorstellung erhält so ihre Legitimation von der höchsten Ebene der Allgemeingültigkeit. Schaut er zurück auf vergangene Zeiten seines Lebens, so wird ihm dessen Gang in diesem Sinne verständlich. Blickt er voraus in die eigene Zukunft, so kann er sein Leben als Entfaltung in einer Sinnwelt auffassen, deren endliche Koordinaten bekannt sind.

Die Legitimation durch die symbolische Sinnwelt erstreckt sich auch auf die Wirklichkeit und Richtigkeit der eigenen Identität des Einzelnen. Daß sie etwas Gefährdetes ist, liegt im Wesen der Sozialisation begründet (74). Sie ist von der Verbindung des Individuums mit signifikanten Anderen, die kommen und gehen, abhängig. Ihre Gefährdung nimmt mit der Selbsterfahrung in den oben erläuterten Grenzsituationen zu. Die "gesunde" Einstellung des Einzelnen zu sich selbst als dem Eigner einer definitiven, stabilen und gesellschaftlich anerkannten Identität ist ständig der Drohung "surrealistischer" Metamorphosen in Träumen und Phantasien ausgesetzt, auch dann noch, wenn sie in der gesellschaftlichen Interaktion des Alltagslebens relativ konsistent bleibt. Identität erhält ihre definitive Legitimation, sobald sie in den Zusammenhang einer symbolischen Sinnwelt gestellt wird. Mythologisch ausgedrückt, ist der "wirkliche" Name des Menschen der, den ihm seine Götter verliehen haben. Der Mensch kann "wissen, wer er ist", wenn er seine Identität in einer kosmischen Wirklichkeit verankert, die vor den Zufällen der Sozialisation und vor den bösen Selbstransformationen durch Grenzsituationen geschützt ist. Noch wenn sein Nachbar nicht weiß, wer er ist, ja, sogar wenn er selbst "sich" in den Qualen der Alpträume vergessen haben sollte, kann er sich vergewissern, daß sein "wahres Selbst" ein absolut wirkliches Wesen in einer absolut wirklichen Sinnwelt ist. Die Götter wissen für ihn - oder die Psychiatrie - oder die Partei. Mit anderen Worten, das Realissimum der Identität braucht nicht dadurch legitimiert zu werden, daß es jederzeit vom Menschen  gewußt wird Für die Legitimation genügt es, daß es wißbar ist. Da eine Identität, welche von den Göttern, der Psychiatrie oder der Partei gewußt wird bzw. wißbar ist, zugleich diejenige ist, welcher der Status der absoluten Wirklichkeit zukommt, integriert ihre Legitimation auch alle vorstellbaren Identitätstransformationen mit dieser Identität, deren Wirklichkeit im Alltagsleben der Gesellschaft gründet. Wiederum stellt die symbolische Sinnwelt eine Hierarchie her, von den "wirklichsten" zu den flüchtigsten Selbstauffassungen der Identität. Das heißt: der Einzelne kann in der Gesellschaft mit einiger Gewißheit darüber leben, daß er  wirklich  der ist, als den er sich ansieht, sofern er seine gesellschaftlichen Routinerollen bei hellem Tageslicht und unter den Augen signifikanter Anderer abspult.

Eine strategische Bedeutung für den Lebenslauf des Einzelnen hat die Legitimationsfunktion symbolischer Sinnwelten durch die "Ortsbestimmung" des Todes. Die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die daraus folgende Antizipation des eigenen Todes in der Phantasie ist für den Einzelnen die Grenzsituation par excellence (75). Daß der Tod auch die ärgste Bedrohung für die Gewißheit der Wirklichkeiten des Alltagslebens darstellt, braucht nicht eigens betont zu werden. Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionale Ordnung von größter Wichtigkeit. Demzufolge ist die Legitimation des Todes eine der wichtigsten Funktionen symbolischer Sinnwelten. Ob sie mit oder ohne Rückgriff auf mythologische, religiöse oder metaphysische Interpretationen der Wirklichkeit zustande kommt, ist nicht die entscheidende Frage. Auch der moderne Atheist, der dem Tod durch den Glauben an Evolution oder Revolution Sinn verleiht, integriert ihn in ein wirklichkeitsumfassendes, symbolisches Sinnsystem. Sämtliche Sinngebungen des Todes sind vor dieselbe Aufgabe gestellt_ der Mensch muß auch nach dem Tod signifikanter Anderer weiterleben können. Das Grauen vor dem eigenen Tod aber muß zumindest so gemildert werden, daß es nicht die kontinuierliche Routine des Alltagslebens lähmt. Daß eine derartige Legitimation bei ungenügender Interaktion des Phänomens  Tod  in eine symbolische Sinnwelt schwer sein dürfte, ist ersichtlich. Erst der legitime Sinn des Todes stellt dem Menschen ein Rezept für den "wirklichen" und "richtigen" Tod aus. Ein solches Rezept kann sogar wirksam bleiben, wenn der Tod vor der Tür steht. Es kann den Menschen vermögen, "wirklich" und "richtig" zu sterben.

In der Legitimation des Todes manifestiert sich die Kraft symbolischer Sinnwelten im Hinblick auf eine Transzendenz am klarsten, und die Fähigkeit der absoluten Legitimation der obersten Wirklichkeit des Alltagslebens, die menschliche Urangst zu mildern, enthüllt sich ihr. Der Primat der gesellschaftlichen Objektivation des Alltagslebens kann seine subjektive Plausibilität nur behalten, wenn er unablässig vor Angst und Grauen geschützt wird. Auf der Ebene der Sinnhaftigkeit ist die institutionale Ordnung ein Schutz gegen das Grauen. Eines solchen Schutzes beraubt zu sein, allein gelassen, dem Griff des Nachtmahrs ausgesetzt, heißt zu recht - anomal sein. Zwar ist die Furcht vor der Einsamkeit wahrscheinlich schon in der konstitutionellen "Geselligkeit" des Menschen angelegt (76). Aber auf der Sinnebene manifestiert sie sich in der menschlichen Unfähigkeit, ein sinnhaftes Dasein isoliert von nomischen Konstruktionen der Gesellschaft zu führen. Die symbolische Sinnwelt schützt den Menschen vor dem absoluten Grauen, indem sie den schützenden Strukturen der institutionalen Ordnung die absolute Legitimation verleiht (77). Ungefähr dasselbe ist von der gesellschaftlichen - im Unterschied zur eben erörterten individuellen - Bedeutung symbolischer Sinnwelten zu sagen. Sie sind wie schützende Dächer über der institutionalen Ordnung und über dem Einzelleben. Auch die Begrenzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit steht bei ihnen. Das heißt: sie setzen die Grenzen dessen, was im Sinne gesellschaftlicher Interaktion relevant ist. Eine extreme Möglichkeit - in primitiven Gesellschaften manchmal annäherungsweise verwirklicht - wäre, schlechthin  alles  als gesellschaftliche Wirklichkeit zu erklären. Noch das anorganische Leben wird in gesellschaftliche Vorstellungen einbezogen. Vertrauter ist uns die Beschränkung des Gesellschaftlichen nur auf die organisch-animalische Welt. Die symbolische Sinnwelt verleiht den Phänomenen ihren Rang in einer Hierarchie des Daseins und bestimmt die Reichweite des Gesellschaftlichen in dieser Hierarchie (78). Daß solche Rangunterschiede auch auf verschiedene Menschentypen verteilt werden, braucht kaum erwähnt zu werden. Schließlich kommt es häufig vor, daß ganze Kategorien von Typen -  alle  die außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft stehen - als anders oder weniger menschlich angesehen werden. Gewöhnlich kommt das sprachlich zum Ausdruck (im Extremfall ist der Name der Gemeinschaft dasselbe Wort wie "menschlich"). Dergleichen ist sogar in zivilisierten Gesellschaften gar nicht so selten. Die symbolische Sinnwelt des alten Indien zum Beispiel schrieb den Kastenlosen einen Status zu, der dem der Tiere näher stand als dem der oberen Kasten. Die absolute Legitimation dafür war die Theorie des  Karma,  das alle Wesen, ob menschlich oder nicht, umfaßt. Und nach den spanischen Eroberungen in Amerika - vor gar nicht so langer Zeit also - wurden die Indianer kurzerhand zu einer anderen Spezies Mensch erklärt, ein Unterfangen, das mit Hilfe einer kaum überzeugend zu nennenden Theorie gerechtfertigt wurde, die "bewies", daß Indianer nicht von  Adam  und  Eva  abstammen können.

Auch in die Geschichte bringt die symbolische Sinnwelt System. Sie weist allen allgemeinen Ereignissen in einer zusammenhängenden Einheit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt, ihren Platz zu. Für die Vergangenheit hält sie "Erinnerung" bereit, deren alle teilhaftig sein können, die zu der betreffenden Gesellschaft gehören (79). Für die Zukunft garantiert sie ein gemeinsames Bezugssystem, einen Projektionsrahmen für individuelle Handlungen. So verbindet die symbolische Sinnwelt die Menschen mit ihren Vorfahren und Nachfahren (80) zu einer sinnhaften Totalität, in der die Endlichkeit der individuellen Existenz transzendiert und dem Tod des Individuums Sinn verliehen wird. Jetzt können sich alle Mitglieder einer Gesellschaft als einer sinnhaften Welt  zugehörig  empfinden - einer Welt, die da war, bevor sie geboren wurden, und da sein wird, nachdem sie gestorben sind. Die empirische Gemeinde wird auf kosmische Höhen erhoben - zu majestätischer Unabhängigkeit von den Wechselfällen der individuellen Existenz. (81)

Wir hatten schon gesagt, daß die symbolische Sinnwelt eine umfassende Integration aller isolierten institutionellen Prozesse vorsieht. Die Gesellschaft als Ganze hat nun Sinn. Institutionen und Rollen werden durch ihren Ort in einer umfassend sinnhaften Welt legitimiert. Die politische Ordnung z. B. wird legitimiert durch ihre Beziehung zu einer kosmischen Ordnung von Macht und Gerechtigkeit, und die politischen Rollen werden als Repräsentationen dieser kosmischen Prinzipien legitimiert. Die Institution des Gottkönigtums bei archaischen Kulturen zeigt besonders klar, wie sich derartige absolute Legitimationen auswirken. Wir dürfen jedoch nicht außer acht lassen, daß auch die institutionale Ordnung, wie die des Einzellebens, ständig durch die Gegenwart von Wirklichkeiten bedroht ist, die in ihrem eigenen Sinn sinnlos sind. Die Legitimation der institutionalen Ordnung ist also mit der ständigen Notwendigkeit konfrontiert, ein Chaos in Schach zu halten. Jede gesellschaftliche Wirklichkeit ist gefährdet und jede Gesellschaft eine Konstruktion am Rande des Chaos. Der gesetzlose Terror ist eine konstante Möglichkeit, deren Verwirklichung sich nähert, sobald Legitimationen, die die Gefahr verdecken, bedroht sind oder zusammenbrechen. Die Furcht, die den Tod des Königs begleitet, besonders wenn er plötzlich und gewaltsam eintritt, zeugt von der Möglichkeit eines solchen Terrors. Oberhalb und jenseits aller Sympathiegefühle und pragmatischer politischer Belange, bringt der gewaltsame Tod eines Königs das Chaos in die Reichweite des Bewußtseins. Die Reaktion auf die Ermordung von Präsident KENNEDY war ein eindrückliches Beispiel dafür. Es ist sehr begreiflich, daß solchen Ereignissen die feierlichsten Versicherungen der überlebenden Wirklichkeit schützender Symbole auf dem Fuß folgen.

Die Ursprünge einer symbolischen Sinnwelt liegen in der Verfassung des Menschen begründet. Wenn der Mensch in seiner Gesellschaft ein Welterbauer ist, so ist das nur möglich aufgrund seiner konstitutionellen Weltoffenheit, in der bereits der Konflikt zwischen Ordnung und Chaos angelegt ist. Menschliche Existenz ist  ab initio [von Anfang an - wp] eine ständige Externalisierung [Entäußerung - wp]. Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozeß seiner Selbstentäußerung projiziert er seinen subjektiv gemeinten Sinn auf die Wirklichkeit. Symbolische Sinnwelten, die den Anspruch erheben, daß alle Wirklichkeit im Sinne des Menschen sinnhaft ist, und den ganzen Kosmos zum Zeugen für die Gültigkeit der menschlichen Existenz anrufen, lassen ahnen, wie weit die Projektionen des Menschen reichen. (82)


b) Theoretische Konstruktion als
Stütze für Sinnwelten

Als kognitive Konstruktion gesehen, ist die symbolische Sinnwelt theoretischer Natur. Sie beruth auf Prozessen subjektiver Reflexion, die auf dem Weg über gesellschaftliche Objektivation eine explizite Verbindung der Hauptthemen, die aus den verschiedenen Institutionen herkommen, herbeiführt. In diesem Sinne ist der theoretische Charakter der symbolischen Sinnwelten unbezweifelbar, ganz gleich wie unsystematisch oder unlogisch eine solche Sinnwelt einem "unverbindlichen" Außenseiter vorkommen mag. Man kann jedoch - und das ist das Übliche - in einer symbolischen Sinnwelt ganz naiv leben und leben lassen. Während ihr Zustandekommen irgendjemandes theoretische Reflexion voraussetzt - die Reflexion eines Jemand, dem die Welt, das heißt speziell die institutionale Ordnung, problematisch erschien -, kann jedermann die Sinnwelt "bewohnen" und sie als fraglose Gewißheit hinnehmen. Wenn die institutionale Ordnung in ihrer Totalität als sinnhaftes Ganzes Gewißheitscharakter annehmen soll, so muß sie mittels ihrer "Platzierung" in einer symbolischen Sinnwelt legitimiert werden. Die symbolische Sinnwelt selbst aber - und nicht sie allein - braucht keine besondere Legitimation mehr. Es war von Anfang an die institutionale Ordnung, nicht die symbolische Sinnwelt, die problematisch erschien und entsprechende theoretische Ambitionen auf sich lenkte. Denken wir z. B. an unsere Verwandtschaftslegitimation: wenn die Institution "Vetternwirtschaft" erst einmal in einem Kosmos mythischer Vettern "platziert" ist, so ist sie nicht länger eine einfache gesellschaftliche Tatsache ohne "zusätzlichen" Sinn. An der Mythologie selbst aber kann naiv festgehalten werden, ohne jede theoretische Reflexion.

Erst nachdem eine symbolische Sinnwelt als ein "Erstlings"produkt theoretischen Denkens objektiviert ist, entsteht die Möglichkeit einer systematischen Reflexion über ihr Wesen. Während die symbolische Sinnwelt die institutionale Ordnung auf der höchsten Ebene ehrwürdiger Allgemeinheit legitimiert, ist die Reflexion über die symbolische Sinnwelt sozusagen eine Legitimation zweiten Grades. Alle Legitimationen, von der simpelsten vortheoretischen isolierter institutionalisierter Sinneinheiten bis zu den kosmischen Gebilden symbolischer Sinnwelten, können umgekehrt als Konzeptionen zur Stütze von Sinnwelten bezeichnet werden. Solche Konzeptionen verlangen zweifelsohne von vornherein einiges an Begriffsvermögen.

Offensichtlich ist es nicht leicht, in konkreten Fällen klare Grenzen zwischen "naiv" und "begrifflich" bzw. theoretisch zu ziehen. Diese analytische Unterscheidung ist jedoch auch hier nützlich, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Frage der Grenzen lenkt, bis zu denen eine symbolische Sinnwelt Gewißheitscharakter hat. Das analytische Problem ähnelt in dieser Hinsicht einer Frage, auf die wir schon bei unserer Behandlung der Legitimation symbolischer Sinnwelten, geradeso wie es verschiedene Ebenen der Legitimation von Institutionen gibt. Nur kann man von der Legitimation symbolischer Sinnwelten nicht sagen, daß sie bis zur vortheoretischen Ebene hinunterreicht - aus dem einfachen Grund, weil eine symbolische Sinnwelt als solche ein theoretisches oder zumindest in synoptisches Phänomen [der Aneinanderreihung - wp] ist und bleibt, auch wenn sie naiv erlebt wird.

Wie im Falle der Institutionen erhebt sich die Frage nach dem Umständen, die es nötig machen, symbolische Sinnwelten mit Hilfe besonderer Konzeptionen zu stützen. Und wieder ist die Antwort ähnlich wie bei den Institutionen: Besondere Maßnahmen zur Erhaltung von Sinnwelten werden nötig, wenn eine symbolische Sinnwelt  zum Problem  wird. Solange das nicht der Fall ist, ist sie auf sich selbst gestellt, das heißt, sie legitimiert sich selbst durch die Tatsache ihrer objektiven Existenz in der betreffenden Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft, in der das möglich wäre, ist durchaus vorstellbar. Sie wäre ein harmonisches, in sich geschlossenes, perfekt funktionierendes "System". Tatsächlich gibt es keine solche Gesellschaft. Wegen der unausbleiblichen Spannungen in den institutionalisierten Prozessen und weil schließlich alle gesellschaftlichen Phänomene in einem geschichtlichen Prozeß durch Menschen hervorgebrachte Konstruktionen sind, verhilft keine Gesellschaft zu völliger Gewißheit - keine Gesellschaft und erst recht keine symbolische Sinnwelt. Jede symbolische Sinnwelt ist potentiell problematisch. Die Frage ist also, bis zu welchem  Grad  sie problematisch geworden ist.

Ein Problem, dem wir ähnlich schon bei der Behandlung der allgemeinen Tradition begegnet waren, stellt sich wieder für den Prozeß der Übertragung einer symbolischen Sinnwelt von einer Generation zur nächsten. Die Sozialisation des Individuums wird nie ganz erreicht. Manche Menschen "bewohnen" ihre überlieferte Sinnwelt entschiedener als andere. Und sogar bei mehr oder weniger "heimischen" Bewohnern gibt es Unterschiede der Empfänglichkeit für die symbolische Sinnwelt. Da sie nämlich im Alltagsleben nicht als solche erlebt werden kann, sondern diese vielmehr ihrem Wesen gemäß transzendiert, kann man ihren Sinn nicht so ohne weiteres "lehren", wie man die Sinngehalte der Alltagswelt lehren kann. Die Fragen der Kinder nach der symbolischen Sinnwelt sind schwieriger zu beantworten als ihre Fragen nach den institutionalen Wirklichkeiten des Alltagslebens. Auch die Fragen beunruhigter Erwachsener verlangen noch mehr und differenziertere Denkarbeit. In unserem Beispiel repräsentieren Vettern von Fleisch und Blut, die ihre Vetternrollen in den bewährten Routinen der Alltagswelt spielen, den Sinn der Vetternwirtschaft. Menschliche Vettern sind empirisch zugegen, göttliche Vettern dagegen leider nicht. Das schafft für die Lehrer der göttlichen Vetternwirtschaft ein echtes Problem. Dasselbe gilt  mutatis mutandis [unter vergleichbaren Bedingungen - wp] für die Übertragung aller symbolischen Sinnwelten.

Das eigentliche Problem verschärft sich jedoch, sobald ganze Gruppen von "Bewohnern" symbolischer Sinnwelten sich auf eine abweichende Version ihrer Auslegung einlassen. Aus Gründen, die sich aus dem Wesen der Objektivation herleiten, erstarrt die abweichende Version dann zu einer Wirklichkeit eigenen Rechts, die durch ihr bloßes Vorhandensein in der Gesellschaft den ursprünglich gesetzten Wirklichkeitsstatus der symbolischen Sinnwelt in die Schranken fordert. Die Gruppe, welche die Abweichung objektiviert hat, wird Träger (83) einer alternativen Wirklichkeitsbestimmung. Es versteht sich von selbst, daß häretische Gruppen die symbolische Sinnwelt nicht nur theoretisch anfechten, sondern für die institutionale Ordnung, deren Legitimation die angefochtene symbolische Sinnwelt ist, auch eine praktische Gefahr darstellen. Mit den üblichen Repressalien der Hüter der "offiziellen" Wirklichkeitsbestimmung brauchen wir uns nicht auseinanderzusetzen. Für unseren Gedankengang ist das Bedürfnis wichtig, solche Repressalien zu legitimieren, wozu natürlich wiederum theoretische Konzeptionen herangezogen werden, die zur Stütze der "offiziellen" Sinnwelt gegen die Herausforderer entworfen werden.

In der Geschichte war eine Irrlehre oft der erste Anstoß zur theoretischen Systematisierung symbolischer Sinnwelten. Die Ausbildung der christlichen Theologie als Folge häretischer Herausforderungen der "offziellen" Überlieferung ist ein Exempel dafür. Wie bei jeder Theorie erscheinen im Verlauf des Prozesses neue theoretische Möglichkeiten aus der Überlieferung selbst, die damit über ihre ursprüngliche Formulierung hinaus zu neuen Konzeptionen vordringt. Die präzisen christologischen Formulierungen der frühen Kirchenkonzile entstanden zum Beispiel nicht aus der Tradition selbst, sondern sie waren eine Antwort auf Irrlehren. In diesen Neu- und Umformulierungen wurde die Tradition sowohl bewahrt als auch erweitert. Auf diese Weise entstand - neben anderem Neuen - eine theoretische Konzeption der Trinität, die in der frühchristlichen Gemeinde nicht nur überflüssig, sondern tatsächlich noch nicht vorhanden war. Die symbolische Sinnwelt wird also nicht nur legitimiert, sondern durch theoretische Konzeptionen zur Abwehr von Abtrünnigen auch modifiziert.

Ein Hauptanlaß zur Entstehung von Stützkonzeptionen für Sinnwelten ergibt sich, wenn eine Gesellschaft auf eine andere stößt, die eine ganz andere Geschichte hat (84). Das durch eine solche Konfrontation gestellte Problem ist meistens krasser als bei innergesellschaftlichen Irrlehren, weil nun eine alternative Sinnwelt mit ihrer eigenen "offiziellen" Überlieferung da ist, deren objektiver Gewißheitscharakter dem der ersten nicht nachsteht. Für den Wirklichkeitsstatus der ersten Sinnwelt ist es viel ungefährlicher, mit Abtrünnigen zu tun zu haben, deren Schritt vom Weg als verrückt oder unverschämt bezeichnet werden kann, als mit einer anderen Gesellschaft, die ihrerseits andere Wirklichkeitsbestimmungen für dumm, verrückt oder gar böse hält (85). Wenn ein paar Leute herumlaufen - sogar wenn es sich um eine Minoritätsgruppe handelt -, die nicht beim institutionellen Reglement der Vetternwirtschaft bleiben wollen, so ist das etwas ganz anderes als der Zusammenprall mit einer ganzen Gesellschaft, die nie von diesem Reglement gehört hat, ja nicht einmal ein Wort für "Vetter" kennt und dennoch ganz gut mit sich fertig wird. Der alternativen Sinnwelt, die diese Gesellschaft repräsentiert, muß mit den denkbar besten Gründen für die Überlegenheit der eigenen Paroli geboten werden. Dafür bedarf es einer theoretischen Konzeption von beträchtlicher Differenziertheit.

Das Auftauchen einer alternativen symbolischen Sinnwelt ist eine Gefahr, weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, daß die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist. Jetzt kann jedermann sehen, daß man schließlich sein Erdenleben ohne die Institution "Vetternwirtschaft" zubringen kann. Ja, man kann sogar die vervetterten Götter leugnen oder ihrer spotten, ohne daß alle Himmel einstürzen. Mit dieser peinlichen Tatsache muß mindestens theoretisch gerechnet werden. Es kann allerdings sogar passieren, daß die alternative Sinneswelt missionarisch wirkt. Einzelne oder Gruppen der eigenen Gesellschaft könnten versucht sein, aus der überlieferten Sinnwelt "auszuwandern", oder, was viel schlimmer wäre, die alte Ordnung nach dem Bild der anderen umzumodeln. Man kann sich ausmalen, wie z. B. die Ankunft der patriarchalen Griechen die Sinnwelt der matriarchalen Gesellschaften, die damals am östlichen Mittelmeer lebten, durcheinander gebracht hat. Die griechische Sinnwelt muß auf die Pantoffelhelden dieser Gesellschaften eine beachtliche Anziehungskraft ausgeübt haben, und wir wissen, daß andererseits die große Mutter einigen Eindruck auf die Griechen gemacht hat. Die griechische Mythologie steckt voller Finessen, die beweisen, wie nötig es war, sich der beiderseits prekären Lage anzunehmen.

Wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, daß Stützkonzeptionen für Sinnwelten ihrerseits - wie alle Formen der Legitimation - Produkte gesellschaftlicher Aktivität sind und kaum je von anderen Aktivitäten der betreffenden Gesellschaft isoliert verstanden werden können. Vor allem ist der Erfolg bestimmter Konzeptionen mit der Macht derer verknüpft, die sich ihrer bedienen (86). Der Zusammenstoß alternativer symbolischer Sinnwelten wirft automatisch die Machtfrage auf, an welcher der konkurrierenden Wirklichkeitsbestimmungen die Gesellschaft "hängenbleiben" wird. Zwei Gesellschaften, die sich widersprüchlichen Sinnwelten entgegensetzen, entwickeln beiderseits Konzeptionen, um die jeweils eigene Sinnwelt abzusichern. Hinsichtlich ihrer inneren Schlüssigkeit mögen beide Konzeptionen dem unbeteiligten Betrachter wenig Auswahl bieten. Welche gewinnen wird, hängt von der Macht nicht vom theoretischen Genie ihrer Legitimatoren ab. Man kann sich zwar vorstellen, wie die blasierten Spezialisten für olympische und chtonische [die Unterwelt betreffende - wp] Götterkunde in ökumenischen Gesprächen zusammenkamen, um die Vorzüge ihrer Sinnwelten  sine ira et studio [ohne Ärger oder Begeisterung - wp] gegeneinander abzuwägen. Wahrscheinlich ist jedoch der Konflikt auf dem weniger feinen Feld kriegerischer Macht ausgetragen worden. In der Geschichte haben bessere Waffen, nicht bessere Argumente den Aufstieg oder Fall von Göttern entschieden. Dasselbe gilt natürlich von innergesellschaftlichen Konflikten. Wer den derberen Stock hat, hat die bessere Chance, seine Wirklichkeitsbestimmung durchzusetzen, eine Faustregel, die für jede größere Gemeinschaft gilt, was freilich nicht ausschließt, daß politisch uninteressierte Theoretiker einander überzeugen, ohne zu massiveren Bekehrungsmitteln zu greifen.

Konzeptionen, die symbolische Sinnwelten stützen, führen immer zur Systematisierung kognitiver und normativer Legitimationen, die in naiver Form schon längst in der Gesellschaft vorhanden waren und in ihrer symbolischen Sinnwelt in kristallisierter Form erscheinen. Mit anderen Worten: das Material, aus dem die Stützkonzeptionen bestehen, ist meistens nichts anderes als eine Weiterverarbeitung der Legitimationen der einzelnen Institutionen auf der höheren Ebene theoretischer Integration. So bestehen meistens kontinuierliche Übergänge von den Erklärungs- und Ermahnungsmethoden, die auf der niedrigsten Stufe der Theorie als Legitimationen dienen, bis zu den imposanten, einen ganzen Kosmos deutenden Denkkonstruktionen. Die Grenze zwischen kognitiver und normativer Begriffsbildung ist hier wie auch anderswo in der Praxis fließend. Normative Konzepte haben immer gewisse kognitive Voraussetzungen. Für die Analyse ist die Unterscheidung jedoch nützlich, weil sie das Augenmerk auf die wechselnden Grade der Differenzierung zwischen beiden Begriffssphären lenkt. Es wäre absurd, wenn wir uns nun im einzelnen auf die Fülle an Stützkonzeptionen für Sinnwelten, die die Geschichte bietet, einließen (87). Aber ein paar Bemerkungen zu einigen besonders markanten Typen seien doch gestattet: Mythologie, Theologie, Philosophie und Wissenschaft. Ohne einer evolutionären Folge das Wort reden zu wollen, kann man doch ruhig sagen, daß Mythologie die archaischste Form einer Stützkonzeption und Legitimation von Sinnwelten ist. (88) Sehr wahrscheinlich ist sie eine unerläßliche Phase in der Entwicklung des menschlichen Denkens überhaupt (89). Jedenfalls sind die ältesten Stützkonzeptionen für Sinnwelten, zu denen wir Zugang haben, mythologischer Art. Für unsere Zwecke reicht es aus, Mythologie als eine Wirklichkeitsentwurf zu definieren, der die dauernde Einwirkung heiliger Kräfte auf die Erfahrung der Alltagswelt annimmt (90). Eine solche Auffassung setzt natürlich ein hohes Maß an Kontinuität zwischen gesellschaftlicher und kosmischer Ordnung (91) voraus, das sich selbstverständlich auch auf alle für beide geltenden Legitimationen erstreckt. Die ganze Wirklichkeit erscheint, als sei sie aus einem Stück.

Als theoretische Konzeption steht der Mythos jener naiven Ebene symbolischer Sinnwelten noch am nächsten, auf der das geringste Bedürfnis nach theoretischer Untermauerung besteht. Auf dieser Ebene sind Sinnwelten objektive Wirklichkeit. Deshalb können auch - was in der Geschichte wiederholt vorgekommen ist - mythische Traditionen verschiedenster Herkunft ohne theoretische Integraton weiter nebeneinander bestehen. Meistens wird ihre Unvereinbarkeit erst empfunden, wenn die Traditionen problematisch werden und eine gewisse Integration doch schon stattgefunden hat. Die "Entdecker" solcher Ungereimtheiten (oder, wenn man will, deren nachträglicher Entstehung) sind gewöhnlich die Traditionsspezialisten, die schließlich auch die isolierten traditonellen Inhalte integrieren. Ist erst einmal der Wunsch nach Integration laut geworden, so können die mythologischen Rekonstruktionen, die dann entstehen, von - auch in theoretischer Hinsicht - beachtlicher Qualität sein, wie das Beispiel HOMERs beweist.

Daß die Mythologie noch auf der naiven Stufe symbolischer Sinnhaftigkeit steht, zeigt sich schon daran, daß es zwar Spezialisten für die Überlieferung gibt, deren "Wissen" jedoch kaum von dem entfernt ist, was jedermann weiß. Von außen mag es schwer sein, einen Zugang zu der Tradition, die sie verwalten, zu gewinnen. Die Initiation ist wohl auf auserwählte Bewerber, auf besondere Gelegenheiten oder Zeiten beschränkt. Immanente Schwierigkeiten im Wissen bestehen jedoch kaum. Um dem Monopolanspruch der Spezialisten zu genügen, muß ihre Lehre institutionell abgesichert sein. Es wird also ein "Geheimnis" postuliert und damit ein ansich allgemein verständlicher Wissensbestand zu einem esoterischen erklärt. Ein kurzer Blick auf den Umgang zeitgenössischer Theoretiker-Cliquen mit der Öffentlichkeit genügt, um zu zeigen, wie sich dieser uralte Taschenspielertrick auch heute noch bewährt. Wie dem auch sei, zwischen Gesellschaften, deren Stützkonzeptionen für ihre Sinnwelten mythologisch sind, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, bestehen wichtige soziologische Unterschiede.

Höher entwickelte mythologische Systeme bemühen sich, die Ungereimtheiten zu beseitigen und die mythologische Sinnwelt in theoretisch integrierter Form zu erhalten. Eine solche "kanonische" Mythologie geht in theologische Begriffsbildung über. Für diese Überlegungen wollen wir theologisches Denken von seinen Vorläufern einfach durch den höheren Grad theoretischer Systematik unterscheiden. Theologische Begriffe sind weiter von der naiven Stufe entfernt. Der Kosmos mag noch immer im Zeichen der geheiligten Mächte oder Wesen der alten Mythologie gesehen werden. Aber die Heiligen der Theologie sind in weitere Fernen entrückt. Das mythische Denken operiert mit einem Kontinuum zwischen der Welt der Menschen und der der Götter, das theologische will zwischen beiden Welten vermitteln, hauptsächlich, weil es ihre ursprüngliche Kontinuität für zerbrochen hält. Mit dem Übergang von Mythologie zu Theologie erscheint die Alltagswelt nicht mehr in dem Maße von ständig wirkenden heiligen Kräften durchdrungen. Der theologische Wissensbestand ist entsprechend vom allgemeinen Wissensvorrat der Gesellschaft weiter entfernt und inhaltlich schwerer zugänglich. Selbst wo er nicht ausdrücklich als esoterisch institutionalisiert ist, bleibt er kraft seiner Schwerverständlichkeit für die Allgemeinheit "geheimnisvoll". Das hat die weitere Folge, daß die breite Masse von geistreichen Theorien zur Stütze der Sinnwelt, die theologische Spezialisten zusammengebraut haben, ziemlich unberührt bleiben kann. Die Koexistenz einer naiven Mythologie bei den Massen und einer durchdifferenzierten Theologie bei einer Elite von Theoretikern - die beide dieselbe Sinnwelt stützen sollen - ist ein häufiges historisches Phänomen. Nur wenn man es berücksichtigt, kann man zum Beispiel überhaupt die traditionellen Gesellschaften des fernen Ostens "buddhistisch" oder die mittelalterliche - um jede Anspielung zu vermeiden - Gesellschaft Europas "christlich" nennen.

Theologie ist für die späteren philosophischen und wissenschaftlichen theoretischen Konzeptionen des Kosmos paradigmatisch. Zwar mag sie in den religiösen Inhalten ihrer Wirklichkeitsbestimmung der Mythologie noch näher stehen - mit späteren säkularisierten Konzeptionen verbindet sie jedoch ihr gesellschaftlicher Ort. Anders als bei der Mythologie wurden die drei anderen die Geschichte beherrschenden theoretischen Konzeptionen zur Stütze von Sinnwelten, zur Domäne von Eliten, deren Spezialwissen sich zunehmend vom allgemeinen Wissensvorrat der Allgemeinheit entfernte. Die moderne Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, macht einen äußersten Schritt in dieser Entwicklung zur Säkularisierung und zugleich Durchtheoretisierung ihrer Stützfunktionen für die Sinnwelt. Sie entläßt nicht nur das Heilige endgültig aus der Alltagswelt, sondern überhaupt das Wissen, das die Sinnwelt stützt. Das Alltagsleben ist sowohl seiner geheiligten Legitimation als auch jener Art theoretischer Verständlichkeit beraubt, die es mit der Totalität der symbolischen Sinnwelt verbinden kann. Einfacher gesagt: der "Laie" weiß nicht mehr, wie seine Sinnwelt theoretisch untermauert werden muß, obwohl er allerdings noch weiß, welche Spezialisten dafür zuständig sind. Die interessanten Probleme, die sich aus dieser Situation ergeben, wären das Thema einer empirischen Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft und können hier nicht weiterverfolgt werden.

Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß unsere Typen theoretischer Stützkonzeption in der Geschichte in unzähligen Modifikationen und Kombinationen auftreten und daß die, von denen hier die Rede war, nicht notwendig erschöpfend sind. Zwei "angewandte" Formen von sinnweltstützender Theoriebildung müssen im Rahmen einer grundsätzlichen Abhandlung über Wissenssoziologie jedoch unbedingt erörtert werden: Therapie und "Nihilierung". (92)

Therapie bedient sich einer theoretischen Konzeption, um zu sichern, daß wirkliche oder potentielle Abweichler bei einer institutionalisierten Wirklichkeitsbestimmung bleiben. Sie soll mit anderen Worten verhindern, daß "Einwohner" einer bestehenden Sinnwelt "auswandern". Zu diesem Zweck wendet sie den Legitimationsapparat auf individuelle "Fälle" an. Da jede Gesellschaft mit der Gefahr individueller Abweichung rechnen muß, ist die Therapie in dieser oder jener Form wahrscheinlich ein globales gesellschaftliches Phänomen. Ihre besonderen institutionellen Methoden, von der Teufelsaustreibung bis zur Psychoanalyse, von der Seelsorge bis etwa zur Ehe- und Berufsberatung, gehören in die Kategorie  soziale Kontrolle Was uns hier jedoch interessiert, ist die theoretische Seite der Therapie als solcher. Da sie es mit Abweichungen von "offiziellen" Wirklichkeitsbestimmungen zu tun hat, muß sie eine theoretische Konzeption entwickeln, die sowohl die Abweichungen erfaßt als auch die von ihnen bedrohten Wirklichkeiten stützt. Dazu bedarf es eines Wissensbestandes, der eine Theorie der Abweichung, eine diagnostische Methodik und ein theoretisches System der "Seelenheilung" enthält.

In einem Staat zum Beispiel, der für seine Armee  Homosexualität  zur Institution gemacht hätte, wäre der eigensinnig heterosexuelle Soldat ein sicherer Kandidat für eine Therapie, und zwar nicht nur, weil seine sexuellen Neigungen eine offenbare Gefahr für die Kampfkraft seiner Einheit bedeuten, die nun einmal aus Soldatenliebhabern besteht, sondern auch, weil seine abseitige Veranlagung auf die spontane Virilität [Manneskraft - wp] der anderen psychologisch subversiv wirkt. Schließlich könnte dieser oder jener "unterbewußt" versucht sein, dem bösen Beispiel zu folgen. Das Verhalten des Abweichlers bedroht die gesellschaftliche Wirklichkeit als solche fundamental, indem es die Gewißheit ihrer kognitiven und normativen Verfahrensweisen ("Männliche Männer lieben von Natur aus Männer" und "Männliche Männer sollen Männer lieben") in Frage stellt. Der Abweichler steht wahrscheinlich als leibhaftige Beleidigung der Götter da, die einander in ihren Himmeln nicht anders lieben als ihre Verehrer auf Erden. Ein so radikales Abweichlertum verlangt eine therapeutische Praxis, die fest in therapeutische Theorie gegründet ist. Es muß eine Theorie der Abweichung ("Pathologie" genannt) geben, die für so betrübliche Fälle zuständig ist und zu ihrem Repertoire etwa auch dämonische Besessenheit rechnet. Ein Fundus diagnostischer Begriffe muß zur Verfügung stehen (etwa eine Symptomatologie mit den dazugehörigen Untersuchungsmethoden zur Bereitstellung für Gottesurteile). Bestenfalls sollte die Diagnose nicht nur akute Fälle erfassen und spezifizieren, sondern auch "latente Heterosexualität" aufdecken und die sofortige Anwendung von Vorbeugungsmaßnahmen ermöglichen. Schließlich und endlich muß auch der Heilungsprozeß selbst seine Theorie haben (einen Methodenkatalog der Dämonenaustreibung beispielsweise, in dem jedes Verfahren mit angemessener theoretischer Begründung dargestellt ist).

Eine theoretische Konzeption wie diese ermöglicht nun die praktische Therapie geeigneter Spezialisten und kann auch von der Person, welche von der Abweichung betroffen ist, internalisiert werden. Allein die Internalisierung wird schon einen therapeutischen Effekt habe. In unserem Beispiel muß die theoretische Konzeption geeignet sein, Schuldgefühle im Betroffenen (etwa so etwas wie eine "heterosexuelle Panik") zu wecken. Wenn die Primärsozialisation auch nur einen minimalen Erfolg gehabt hat, dürfte das nicht allzu schwer sein. Unter der Last seiner Schuld ist das gequälte Individuum bald bereit, seinen Zustand subjektiv im Sinne einer theoretischen Konzeption zu akzeptieren, so wie er ihm von den Praktikern der Theraphie dargestellt wird. Er kommt zur "Einsicht", das heißt: die Diagnose wird subjektiv wirklich für ihn. Die Theorie kann noch vervollkommnet werden. Sie kann zum Beispiel jeglichen Zweifel an der Therapie, seitens des Patienten oder des Therapeuten, in einer Weise theoretisch vorwegnehmen, die einer Liquidation solcher Zweifel gleichkommt. Für diejenigen des Patienten steht dann etwa eine Theorie des "Widerstandes", für die des Therapeuten eine Theorie der "Gegenübertragung" zur Verfügung. Eine erfolgreiche Therapie bringt eine Symmetrie zwischen dem theoretischen Apparat und seiner subjektiven Aneignung durch das Bewußtsein des Patienten zustande. Sie resozialisiert den Abweichler in die objektive Wirklichkeit der symbolischen Sinnwelt seiner Gesellschaft. Natürlich bringt die Rückkehr zur "Normalität" eine persönliche Genugtuung mit sich. Der Soldat kehrt heim in die liebenden Arme seines Leutnants, im glücklichen Bewußtsein, "sich selbst gefunden" zu haben und den Göttern ein Wohlgefallen zu sein.

Auf eine  Therapie  ist die theoretische Konzeption angewiesen, um jedermann innerhalb einer Sinnwelt zu halten.  Nihilierung  umgekehrt braucht sie, um alles, was außerhalb dieser Sinnwelt steht, zumindest theoretisch zu liquidieren. Man kann ein solches Verfahren auch eine Form von negativer Legitimation nennen. Nihilierung leugnet die Wirklichkeit von Phänomenen (bzw. ihrer Interpretationen), die nicht in die betreffende Sinnwelt hineinpassen. Das kann auf zweierlei Weise geschehen. Erstens kann abseitigen Phänomenen ein negativer ontologischer Status zugeschrieben werden, und zwar mit und ohne therapeutische Absicht. Die theoretische Konzeption einer Nihilierung wird am häufigsten bei Individuen oder Gruppen gebraucht, die für die betreffende Gesellschaft Fremde sind und daher für eine Therapie nicht in Frage kommen. Das Verfahren ist in diesem Fall ziemlich einfach. Die Gefahr für die gesellschaftlichen Wirklichkeitsbestimmungen wird durch den ihr zugeschrieben inferioren [untergeordneten - wp] ontologischen Status neutralisiert, der zugleich auch kognitiv nicht ernst zu nehmen ist. Die Neutralisierung betrifft damit alles, was als außerhalb der symbolischen Sinnwelt stehend definiert wird. Die Gefahr, die für unsere homosexuelle Gesellschaft bei heterosexuellen Nachbargesellschaften lauert, kann beseitigt werden, indem man solche Nachbarn als Untermenschen ansieht, Leute, welche die wahre Ordnung angeborener Mängel wegen eines nicht erkennen können, Bewohner einer hoffnunglosen kognitiven Dunkelheit. Der fundamentale Syllogismus in solchen Fällen lautet folgendermaßen: Die Nachbarn sind ein Barbarenstamm. Die Nachbarn sind heterosexuell. Also ist ihre Heterosexualität barbarisch, nichts Ernstzunehmendes für ernsthafte Männer. Dieselbe theoretische Prozedur kann natürlich auch gegenüber Abweichlern innerhalb der Gesellschaft vorgenommen werden. Ob man von der Nihilierung zur Therapie übergeht oder auch physisch vernichtet, was man theoretisch nihiliert hat, ist eine Frage der politischen Praxis. In den meisten Fällen ist die konkrete Macht der theoretisch nihilierten Gruppe ein nicht zu unterschätzender Faktor. Manchmal zwingen einen leider widrige Umstände, sogar mit Barbaren auf freundschaftlichem Fuß zu stehen.

Mit der Nihilierung entsteht zweitens der Ehrgeiz, alle abweichenden Wirklichkeitsbestimmungen mit Begriffen aus der eigenen Sinnwelt angehen zu können. In einem theologischen Bezugssystem bedeutet das den Übergang von Häresiologie [Ketzerlehre - wp] zu einer Apologetik [Rechtfertigungslehre - wp]. Die abweichenden Auffassungen werden nicht nur mit einem negativen Status versehen, sondern es wird im Einzelnen theoretisch mit ihnen gerungen. Das Endziel dieses Vorgehens ist, sie der eigenen Sinnwelt  einzuverleiben  und so endgültig zu liquideren. Deshalb müssen sie in Begriffe "übersetzt" werden, die von der eigenen Sinnwelt abgeleitet sind. Ihre Nihilierung der bedrohten Sinnwelt wird auf diese Weise listig in eine Bestätigung umgemünzt. Unterstellt wird dabei immer, der Leugner wisse nicht wirklich, was er sagt. Seine Behauptungen bekämen erst Sinn, wenn sie in "richtige" übersetzt werden, das heißt in solche der von ihm geleugneten Sinnwelt. Unsere Theoretiker der Homosexualität können zum Beispiel argumentieren, alle Männer seien von Haus aus homosexuelle. Männer, die das verleugnen, weil sie entweder von Dämonen besessen oder einfach Barbaren sind, verleugnen ihr wahres Wesen. In ihrem Innersten wissen sie das. Man muß deshalb nur sorgfältig auf ihre Aussagen achten, die ihren Defensivcharakter und ihre Verlogenheit selbst enthüllen. Was immer gesagt wird, läßt sich in einer Bestätigung der homosexuellen Sinnwelt, die äußerlich verleugnet wird, übersetzen. In einem theologischen Bezugssystem wird auf solche Weise demonstrier, daß der Teufel widerwillig Gott die Ehre gibt, daß aller Unglaube nur eine unbewußte Unehrlichkeit ist, ja, daß noch der Atheist "in Wirklichkeit" ein Gläubiger ist.

Therapeutische und nihilierende Anwendungen theoretischer Konzeptionen sind der symbolischen Sinnwelt als solcher inhärent. Wenn sie alle Wirklichkeit umfassen soll, so kann nichts außerhalb ihrer theoretischen Reichweite erlaubt sein. Im Prinzip müssen ihre Wirklichkeitsbestimmungen die Gesamtheit des Lebens umfassen. Die theoretischen Konzeptionen, mit deren sie die Totalisierung versuchen, variieren in der Geschichte nach den Graden ihrer Schlüssigkeit und Differenziertheit. In nuce [im Kern - wp] aber treten sie schon mit auf den Plan, sobald sich eine symbolische Sinnwelt herauskristallisiert hat.


c) Gesellschaftliche Organisation
als Stütze für Sinnwelten

Weil Sinnwelten historische Produkte der Aktivität von Menschen sind, verändern sie sich. Wenn man in die Schwierigkeiten der theoretischen Konzeptionen, die eine beliebige Sinnwelt stützen, verstrickt ist, vergißt man diese fundamentale Tatsache leicht. Wirklichkeit ist gesellschaftlich bestimmt. Aber die Bestimmung wird auch immer verkörpert, das heißt: konkrete Personen und Gruppen sind die Bestimmer von Wirklichkeit. Will man den Zustand der gesellschaftlich konstruierten Sinnwelt zu einer beliebigen Zeit oder ihren Wandel im Laufe der Zeit verstehen, so muß man die gesellschaftliche Organisation durchschauen, die es solchen Bestimmern ermöglicht, daß sie bestimmen. Etwas gröber ausgedrückt heißt das, daß sich die Frage nach historisch greifbaren Wirklichkeitskonzeptionen zwangsläufig vom abstrakten "Was?" zu einem soziologisch konkreten "Wer?" verschiebt. (93)

Wir haben gesehen, daß die Spezialisierung von Wissen und mit ihr die Organisation von Verwaltungspersonal für die spezialisierten Wissensbestände aus der Arbeitsteiligkeit entstanden sind. Man kann sich ein früheres Stadium dieser Entwicklung vorstellen, in dem es noch keine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Experten gab. Das Gebiet des Experten ist durch die praktischen Notwendigkeiten der Arbeitsteiligkeit umschrieben. Der Jagdexperte beansprucht nicht, auch für Fischerei zuständig zu sein, und hat also keinen Grund zum Wettbewerb mit dem Fischerei-Experten.

Wenn dann kompliziertere Wissensformen und wirtschaftlicher Überschuß entstehen, widmen sich die Experten hauptamtlich ihren Gebieten, und ihr Sachverstand entfernt sich, sobald theoretische Konzeptionen für ihr Sachgebiet vorhanden sind, immer mehr von den praktischen Anforderungen des Alltagslebens. Sachverständige auf derart veredelten Gebieten erheben Anspruch auf einen gänzlich neuen Status. Sie sind nicht nur für diesen oder jenen Sektor des gesellschaftlichen Wissensvorrates zuständig. Sie beanspruchen vielmehr die absolute Jurisdiktion über den gesamten Wissensvorrat. Sie sind, horribile dictu [es ist furchtbar, dies sagen zu müssen - wp] Welt-Spezialisten. Das bedeutet nicht, daß sie die ganze Welt kennen oder alles über sie wissen, sondern daß sie nicht anstehen, den absoluten Sinn dessen, was jedermann weiß und tut, kennen und wissen zu wollen. Andere Leute mögen nur weiter neue Wirklichkeitsausschnitte abstecken. Sie aber beanspruchen die Expertenschaft für die absoluten Bestimmungen dieser ganzen Wirklichkeit selbst.

Ein solcher Stand der Entwicklung des Wissens hat eine Reihe von Konsequenzen. Die erste haben wir erörtert: die Notwendigkeit reiner Theorie. Weil die Welt-Spezialisten auf einer von den Wechselfällen des Alltagslebens beträchtlich abgesonderten Ebene operieren, schließen sie selbst und andere wohl daraus, ihre Theorie habe keine Verbindung zu dem, was im Leben der Gesellschaft so vor sich geht, und sie lebten in einer Art platonischen Himmel ahistorischer und außergesellschaftlicher Schau der Ideen. Das ist natürliche eine Täuschung. Aber kraft der Verknüpfung von wirklichkeitsbestimmenden und wirklichkeitshervorbringenden Prozessen kann sie großen Einfluß ausüben.

Eine zweite Konsequenz ist die Zunahme des Traditionalismus bei institutionalisierten Tätigkeiten, die durch Tradition legitimiert sind, also: eine Förderung des aller Institutionalisierung innewohnenden Beharrungsvermögens (94). Habitualisierung und Institutionalisierung schränken als solche den Spielraum menschlichen Handelns ein. Institutionen sind dauerhaft, solange sie nicht "problematisch" werden. Absolute Legitimation verstärkt unvermeidlich diese Tendenz, und je abstrakter die Legitimation ist, desto unwahrscheinlicher wird ihre Umwandlung und Anpassung an sich wandelnde praktische Bedürfnisse. Wenn eine Möglichkeit besteht, wie bisher weiterzumachen, so wird die Neigung dazu einmal mehr dadurch unterstützt, daß es für das Weitermachen prächtige Gründe gibt, das heißt: Institutionen können sogar bestehen bleiben, wenn sie für den Betrachter von außen ihre ursprüngliche Funktion oder Brauchbarkeit längst verloren haben. Gewisse Dinge tut man, nicht weil sie nützlich, sondern weil sie "richtig" sind, und zwar richtig im Sinne der absoluten Bestimmungen von Wirklichkeit, wie sie die Welt-Spezialisten verkünden. (95)

Wenn hauptamtliche Legitimatoren für die Erhaltung einer Sinnwelt gebraucht werden, entstehen bald Anlässe zu gesellschaftlichen Konflikten. Solche Differenzen erheben sich zwischen Experten und Praktikern. Die Praktiker können - aus Gründen, die nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen - die Anmaßungen der Experten übelnehmen und sie um ihre ansehnlichen gesellschaftlichen Privilegien beneiden. Besonders bitter ist wahrscheinlich, daß die Experten beanspruchen, die absolute Bedeutung der Arbeit der Praktiker besser beurteilen zu können als diese selbst. Solche "Laien"-Rebellionen können zu rivalisierenden Wirklichkeitsbestimmungen führen, die schließlich neue Experten erforderlich machen. Dafür gibt es im alten Indien einige historische Evidenz. Die Brahmanen als Experten für gültige Wirklichkeit hatten erstaunlich viel Glück damit, der ganzen Gesellschaft ihre Wirklichkeitsbestimmungen aufzunötigen. Woher auch immer das Kastensystem letzten Endes kommen mag, als brahmanische Konstruktion breitete es sich Jahrhunderte lang aus und erfaßte nahezu den ganzen indischen Subkontinent. Die Brahmanen wurden von einem regierenden Fürsten nach dem andern eingeladen, als "Gesellschaftsingenieure" ihr System in seinem Gebiet einzuführen, denn es war gleichbedeutend mit höherer Kultur, und die regierenden Fürsten erkannten ohne Zweifel die großen gesellschaftlichen Kontrollmöglichkeiten, die es bot. Das Gesetzbuch des MANU gibt eine ausgezeichnete Vorstellung vom brahmanischen Entwurf der Gesellschaft und zugleich von den sehr weltlichen Abenteuern, in die die Brahmanen in ihrer allerhöchsten Bestallung als Planer verwickelt wurden. In einer solchen Situation war es unvermeidlich, daß Konflikte zwischen Theoretikern und Praktikern der Macht entstanden. Die Praktiker wurden durch die  Kschatrijas [Kaste der adeligen Krieger - wp], das Militär und die Fürsten-Kaste repräsentiert. Die epische Literatur des alten Indien, das  Mahabharata  und das  Ramajana,  überliefern diesen Konflikt. Nicht zufällig sind die beiden großen theoretischen Rebellionen gegen die brahmanische Sinnwelt, Dschainismus und Buddhismus, gesellschaftlich aus der Kschatrija-Kaste hervorgegangen. Und die dschainistische wie die buddhistische Neubestimmung der Wirklichkeit sorgten für eigenes Expertenpersonal und vielleicht auch für eigene epische Dichter, wobei letztere die brahmanische Sinnwelt nicht ganz so global und nicht ganz so gelehrt angriffen und bedrohten wie die Experten. (96)

Damit kommen wir zu einem anderen, ebenso ernst zu nehmenden Konflikt, der zwischen rivalisierenden Experten-Cliquen ausbrechen kann. Solange Theorien noch unmittelbar in Praxis umgesetzt werden, lassen sich Rivalitäten durch eine Bewährung in der Praxis unter Kontrolle halten. Bei konkurrierenden Theorien für die Jagd auf Wildschweine etwa können rivalisierende Clubs von Jagd-Experten erworbene Rechte ins Feld führen. Die Entscheidung fällt relativ leicht, weil man sehen kann, aufgrund welcher Theorie die meisten Wildschweine erlegt werden. Die Entscheidung zwischen einer polytheistischen und eine monotheistischen Theorie wird dagegen durch nichts dergleichen erleichtert. Die zuständigen Theoretiker müssen abstrakt argumentieren, statt sich praktisch zu bewähren. Theoretische Argumentation hat aber nicht die Überzeugungskraft des praktischen Erfolges. Was den einen überzeugt, kann den andern ganz kalt lassen. Wer wollte es den Theoretikern ernsthaft übelnehmen, wenn sie sich nach einer kräftigeren Unterstützung umsehen, als die Zerbrechlichkeit des bloßen Arguments sie zu geben vermag: wenn sie also zum Beispiel versuchen, die bewaffnete Macht des Staates zur Verteidigung einer Theorie gegen ihre Nebenbuhler einzusetzen. Mit anderen Worten: die Bestimmung der Wirklichkeit kann durch Polizei erhärtet werden. Das muß übrigens nicht bedeuten, daß die Wirklichkeitsbestimmungen selbst weniger überzeugend wären als die "freiwillig" akzeptierten. Macht in der Gesellschaft schließt die Macht ein, über Sozialisationsprozesse zu verfügen, und damit die Macht, Wirklichkeit  zu setzen.  In jedem Fall verdanken höchst abstrakte Symbolsysteme bzw. Theorien, die sich von der konkreten Erfahrung des Alltagslebens weit entfernt haben, ihre Gültigkeit eher gesellschaftlicher Stützung als empirischer Bewährung. (97). Man kann geradezu sagen, daß sich auf diese Weise ein Pseudo-Pragmatismus eingestellt hat. Die Theorien können nun überzeugend wirken, eben weil sie wirken, und zwar als Gewißheiten, als nicht in Frage gestelltes Standardwissen der betreffenden Gesellschaft.

Diese Überlegungen implizieren strukturelle Grundlagen für den Wettbewerb rivalisierender Wirklichkeitsbestimmungen in der Gesellschaft. Sie setzen außerdem voraus, daß Rivalitäten durch Vorgänge auf dieser Grundlage beeinflußt werden, wenn nicht gar determiniert sind. Es ist durchaus möglich, abstruse Theorien in nahezu völliger Isoliertheit von bedeutsamen Bewegungen in der Gesellschaftsstruktur zu formulieren. In solchen Fällen kann es zu einer Konkurrenz zwischen rivalisierenden Experten in einer Art gesellschaftlichem Vakuum kommen. Zwei Derwischgruppen beispielsweise, die als Einsiedler in der Wüste leben, können endlos über das wahre Wesen des Universums disputieren, und kein Mensch ist auch nur im geringsten an ihrem Disput interessiert. Findet jedoch der eine oder andere Gesichtspunkt in einer weiteren Umgebung Gehör, so entscheiden schließlich außertheoretische Interessen über ihre Rivalität. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben verschiedene Affinitäten (98) zu den beiden Theorien und werden in der Folge zu ihren Trägern. Derwischtheorie  A  kann für die höheren, Derwischtheorie  B  für die mittleren Ränge der Gesellschaft attraktiv sein, und zwar aus Gründen, die mit den Leidenschaften ihrer Erfinder kaum etwas zu tun haben. Die Expertengruppen selbst schließen sich dann ihren "Träger"-Gruppen an, und ihr künftiges Schicksal hängt schließlich vom Ergebnis des Konfliktes ab, der die Trägergruppen dazu gebracht hat, ihre Theorien anzunehmen. So wird über konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen in der Sphäre konkurrierender gesellschaftlicher Interessen entschieden, Interessen, deren Antagonismus auf diese Weise ins Theoretische "übersetzt" wird. Ob die Experten und ihre Gönner dann als Einzelne und im Einzelnen die Theorien subjektiv "ehrlich" meinen, ist für das soziologische Verständnis solcher Prozesse von nur sekundärer Bedeutung.

Stehen Expertengruppen mit ihren definitiven Wirklichkeitsbestimmungen einander nicht nur als Konkurrenten in der Theorie, sondern auch in der Praxis gegenüber, so entpragmatisieren sie ihre Theorien wechselseitig und "veräußern" damit deren praktische Möglichkeiten. Das heißt: eine Theorie wird als praktisch überlegen "demonstriert", nicht wegen ihrer inneren Qualitäten, sondern wegen ihrer Verwendbarkeit für die gesellschaftlichen Interessen ihrer Trägergruppen. Eine große Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Organisation theoretischen Expertentums ist in der Geschichte die Folge. Zwar können wir natürlich keinerlei erschöpfende Typologie vorlegen. Aber es kann doch von Nutzen sein, einige der generellen Typen zu betrachten.

Zunächst gibt es einmal die vielleicht paradigmatische Möglichkeit, daß die Welt-Spezialisten tatsächlich das Monopol für alle absoluten Wirklichkeitsbestimmungen einer Gesellschaft innehaben. Als paradigmatisch kann eine solche Situation deshalb bezeichnet werden, weil gute Gründe dafür sprechen, daß sie für die Frühphasen der Geschichte typisch ist. Das Monopol besteht dann darin, daß eine einzige Symboltradition die betreffende Sinnwelt aufrechterhält. Zur Gesellschaft zu gehören, impliziert die Anerkennung dieser Tradition, deren Experten von tatsächlich allen Angehörigen der Gesellschaft respektiert werden und nicht mit Rivalen zu rechnen brauchen. Alle primitiven Gesellschaften (99), die wir kennen, scheinen zu diesem Typus zu gehören, und in gewissen Modifikationen gilt das für die meisten archaischen Kulturen. Das bedeutet nicht, daß nicht auch solche Gesellschaften ihre Skeptiker haben. Nicht jedermann hat die Tradition voll internalisiert. Nur ist, was an Skeptizismus kursiert, gesellschaftlich nicht genügend organisiert, um eine Herausforderung der "offiziellen" Tradition und ihrer Stützen darzustellen (100).

Die monopolistische Tradition und ihre Sachwalter genießen in einer solchen Situation die volle Unterstützung der gesamten Machtstruktur. Wer die entscheidenden Machtpositionen innehat, ist bereit, seine Macht für die traditionellen Wirklichkeitsbestimmungen einzusetzen und sie der Bevölkerung autoritativ aufzuzwingen. Mögliche Konkurrenz für die Sinnwelt wird liquidiert, sobald sie auftaucht, nämlich entweder physisch zerstört ("Wer den Göttern nicht dient, muß sterben") oder integriert. Die Welt-Spezialisten erklären, das konkurrierende Pantheon sei "wirklich" nichts als ein anderer Aspekt oder habe für das traditionelle Pantheon nur eine andere Nomenklatur [Fachausdrücke - wp]. In diesem Fall, wenn nämlich die Experten Gehör finden und die Rivalität durch "Verschmelzung" beseitigt worden ist, wird die Tradition reicher und differenzierter. Die Konkurrenz kann aber auch von der Gesellschaft abgesondert werden und damit für das traditionelle Monopol harmlos sein, etwa in der Form: kein Anghöriger der Eroberer oder der herrschenden Schicht kann Göttern des Typs  Y  huldigen, die unterworfenen bzw. niederen Schichten aber dürfen es. Diese schützende Segregation [Ausgrenzung - wp] wird oft bei Fremden oder "Gastvölkern" (101) vollzogen.

Das Christentum des Mittelalters (gewiß keine primitive oder archaische, aber doch eine Gesellschaft mit einem Symbolmonopol) liefert anschauliche Beispiele für alle drei Liquidationsformen. Offene Häresie [Ketzerei - wp] wurde physisch vernichtet, ob sie von einem Einzelnen (einer Hexe z. B.) oder einer Vereinigung (den Albigensern etwa) verkörpert wurde. Zur gleichen Zeit war die Kirche als Hüterin des Monopols der christlichen Tradition sehr geschickt und fähig, vielerlei Volksglauben und -praktiken ihrer Tradition einzuverleiben, solange diese nicht in formulierte, häretische Herausforderungen der christlichen Sinnwelt im ganzen ausarteten. Es kam nicht darauf an, ob die Bauern einen ihrer alten Götter in einen christlichen Heiligen umtauften und weiter die alten Geschichten erzählten und die alten Feste feierten. Und mindestens gewisse konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen konnten vom Christentum abgesondert gehalten werden, ohne als Bedrohung zu gelten.

Das wichtigste Beispiel dafür sind natürlich die Juden, obgleich ähnliche Situationen auch entstanden, wo Christen und Moslems in Friedenszeiten nah beieinander leben mußten. Diese Segregation schützte übrigens auch die Sinnwelten der Juden und Moslems vor christlicher "Ansteckung". Solange konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen inhaltlich und gesellschaftlich als zu Fremdgruppen gehörig segregiert werden können und auf diese Weise für einen selbst irrelevant bleiben, kann man recht freundliche Beziehungen zur diesen Fremden unterhalten. Die Schwierigkeit beginnt erst, wenn die "Fremdheit" durchbrochen wird und auch die fremde Sinnwelt dem eigenen Volk eine "sinnhafte" Heimstätte bieten könnte. Zu diesem Zeitpunkt rufen die Sachwalter der Tradition wahrscheinlich nach Feuer und Schwert. Wenn sich herausstellen sollte, daß Feuer und Schwert nicht zu haben sind, bietet sich die Alternative, in ökumenische Verhandlungen mit den Konkurrenten einzutreten.

Monopolsituationen dieser Art setzen einen hohen Grad an Stabilität der Gesellschaftstruktur voraus und wirken selbst strukturstabilisierend. Traditionelle Wirklichkeitsbestimmungen behindern den sozialen Wandel. Umgekehrt beschleunigt der Zusammenbruch des Gewißheitscharakters eines Monopols den sozialen Wandel. Es sollte danach nicht mehr verwundern, daß zwischen Leuten, die ein Interesse an der Erhaltung etablierter Machtpositionen haben, und dem Personenkreis, der die Monopoltradition einer Sinnwelt verwaltet, eine große Affinität besteht. Mit anderen Worten: konservative politische Kräfte neigen dazu, die Monopolansprüche der Sinnwelt zu unterstützen, während die Organisationsmonopolisten umgekehrt eine Tendenz zeigen, konservativ zu sein. In der Geschichte waren natürlich die meisten solcher Monopole religiöser Art. Man kann durchaus sagen, daß Kirchen, als Monopolvereinigungen hauptamtlicher Experten einer religiösen Wirklichkeitsbestimmung, von selbst konservativ werden, sobald sie ihr Monopol erfolgreich in einer bestehenden Gesellschaft errichtet haben. Umgekehrt sind herrschende Gruppen mit ihrem Interesse an der Erhaltung des politischen Status quo in ihrer religiösen Orientierung von selbst prokirchlich und - das gehört dazu - gegenüber allen Neuerungen in der religiösen Tradition mißtrauisch (102). Für das Versagen bei der Errichtung oder Erhaltung von Monopolsituationen gibt es - sowohl auf dem "internationalen" wie auf dem "häuslichen" Parkett - eine Reihe historischer Ursachen. Zwischen konkurrierenden Traditionen bzw. ihren Sachwaltern kann es zu einem langandauernden Kampf kommen. Wenn eine Wirklichkeitsbestimmung so weit ist, daß sich ein konkretes Machtinteresse mit ihr verbindet, so kann sie "Ideologie" (103) genannt werden. Wir finden, daß der Ausdruck wenig nützlich ist, wenn er auf eine Monopolsituation, wie wir sie oben angeführt haben, bezogen wird. Es hat zum Beispiel wenig Sinn, vom Christentum als Ideologie des Mittelalters zu sprechen, selbst wenn es damals für die herrschenden Gruppen offenkundig von politischem Vorteil war. Aber die christliche Sinnwelt wurde von jedermann in der mittelalterlichen Gesellschaft "bewohnt", von den Sklaven und von ihren Herren. Für die Zeit, die auf die industrielle Revolution folgte, besteht dagegen eine gewisse Berechtigung, das Christentum eine bürgerliche Ideologie zu nennen, weil der Bürger die christliche Überlieferung und ihre Sachwalter in seinem Kampf gegen die neue Arbeiterklasse benutzte, die in den meisten europäischen Ländern nicht mehr als "Bewohner" der christlichen Sinnwelt angesehen werden konnte. (104) Es hat auch keinen Sinn, den Ausdruck "Ideologie" zu gebrauchen, wenn zwei verschiedene Wirklichkeitsbestimmungen in einem innergesellschaftlichen Kontakt aufeinanderstoßen - so etwa von einer "christlichen Ideologie" der Kreuzfahrer und der "Moslem-Ideologie" der Sarazenen zu sprechen. Es ist vielmehr gerade die Eigenart der Ideologie, daß dieselbe allgemeinverbindliche Sinnwelt verschieden ausgelegt wird - in Abhängigkeit von Interessen innerhalb der betreffenden Gesellschaft. Häufig verschreibt sich eine Gruppe einer Ideologie um besonderer theoretischer Elemente willen, die ihren Interessen entgegenkommen. Wenn beispielsweise eine ausgebeutete Bauerngruppe gegen eine städtische Händlergruppe angeht, die sie finanziell an der Kette hält, so kann sie sich Entlastung verschaffen mit Hilfe einer religiösen Doktrin, die die Tugenden des bäuerlichen Lebens preist, die Geldwirtschaft und das Kreditsystem aber als unmoralisch verdammt und die Annehmlichkeiten des Lebens in der Stadt bestreitet. Der für die Bauern ideologische "Nutzen" einer solchen Doktrin ist offenbar. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte des alten Israel zur Genüge. Ein Irrtum wäre es jedoch, sich die Verknüpfung von Interessengruppen und Ideologien immer so einfach vorzustellen. Jede Gruppe, die in einen gesellschaftlichen Konflikt gerät, braucht Solidarität. Die Wahl einer bestimmten Ideologie gründet sich nicht notwendig auf ihre theoretischen Elemente, sondern kann aus einem Zusammentreffen von Zufällen herrühren. Es ist keineswegs sicher, daß innere Elemente des Christentums es für gewisse Gruppen zur Zeit KONSTANTINs politisch "interessant" gemacht haben. Eher scheint das Christentum (ursprünglich, wenn überhaupt, eine Ideologie der unteren Mittelklasse) von mächtigen Interessen für politische Zwecke, ohne eine Anknüpfung an seine religiösen Inhalte, benutzt worden zu sein. Es hätte auch irgendetwas anderes sein können - das Christentum stand nur zufällig am Scheideweg der Interessen. Wenn eine Ideologie allerdings einmal von der jeweiligen Gruppe adaptiert worden ist, genauer: wenn die betreffende Doktrin zur Ideologie der betreffenden Gruppe wird, so wird sie auch im Sinne der Interessen, die sie nun legitimieren soll, modifiziert. Das hat für den ursprünglichen theoretischen Fundus einen Selektions- und Ergänzungsprozeß zur Folge. Aber kein Grund spricht dafür, daß solche Veränderungen die Gesamtheit der übernommenen Doktrin anfechten. Eine Ideologie kann viele wichtige Elemente haben, die in keiner besonderen Beziehung zu den legitimierten Interessen stehen, die aber von der "Träger"-Gruppe eine kräftige Bestätigung erhalten, einfach weil diese sich der Ideologie verschrieben hat. In der Praxis kann das dazu führen, daß Machthaber ihre Experten für Ideologie bei theoretischen Querelen, die für ihre eigenen Interessen völlig irrelevant sind, unterstützen. KONSTANTINs Einmischung in die christologischen Kontroversen seiner Zeit ist ein typisches Beispiel dafür.

Wir müssen nun bedenken, daß die meisten modernen Gesellschaften pluralistisch sind, das heißt, daß sie alle bestimmte gemeinsame Grundelemente einer Sinnwelt aufweisen, die als solche Gewißheitscharakter haben, daß aber zusätzlich verschiedene Teilsinnwelten bestehen, die im Status gegenseitiger Übereinkunft koexistieren.

Solche Teilsinnwelten mögen gewisse ideologische Funktionen erfüllen, aber der offene Konflikt von Ideologien wird nun ersetzt durch verschiedene Grade der Toleranz oder gar der Kooperation. Eine derartige Situation, zustande gekommen durch eine Konstellation nicht-theoretischer Faktoren, stellt den Experten der Tradition ernsthafte theoretische Probleme. Als Sachwalter einer Überlieferung mit jahrhundertealtem Monopolanspruch müssen sie neue Wege finden, eine Entmonopolisierung theoretisch zu legitimieren. Manchmal bleiben sie einfach bei der alten totalitären Musik, als ob sich nichts geändert hätte. Aber nur wenige Leute haben noch ein Ohr dafür. Was die Experten auch tun, die pluralistische Situation verändert nicht nur die gesellschaftliche Seite der traditionellen Wirklichkeitsbestimmungen, sondern auch die Weise, in der diese sich im Bewußtsein der einzelnen Menschen halten (105).

Die pluralistische Situation setzt eine städtische Gesellschaft mit hochentwickelter Arbeitsteiligkeit voraus und dementsprechend eine weitgehende Differenziertheit der Gesellschaftsstruktur und einen großen ökonomischen Überschuß. Diese Umstände, die in der modernen industrialisierten Gesellschaft eindeutig die Oberhand gewonnen haben, gab es mindestens auch in gewissen Teilen früherer Gesellschaften. Die Städte der griechisch-römischen Spätzeit sind Beispiele dafür. Die pluralistische Situation wird von einem rapiden sozialen Wandel begleitet, ja, Pluralismus ist selbst ein Beschleunigungsfaktor, weil er dazu beiträgt, die Resistenz der traditionellen Wirklichkeitsbestimmungen gegen Veränderungen zu unterminieren. Pluralismus ermutigt sowohl Skepsis als auch den Willen zu Neuem und wirkt als solcher auf die Wirklichkeitsgewißheit des traditionellen Status quo subversiv. Man empfindet geradezu ein Mitgefühl für die Experten der traditionellen Wirklichkeitsbestimmung, sieht man sie wehmütig der Zeiten gedenken, in denen sie ein Monopol für Wirklichkeit hatten.

Ein wichtiger Typ des Experten in der Geschichte, der im Prinzip in jeder der oben behandelten Situationen eine Rolle spielen kann, ist der Intellektuelle. Wir neigen dazu, ihn als einen Experten zu bezeichnen, dessen Expertise von der Gesellschaft nicht gewünscht wird (106). Darin steckt, daß es ihm um eine Neubestimmung des Wissens im Angesicht seiner offiziellen Version zu tun ist, das heißt um mehr als nur eine abweichende Auslegung der letzteren. Der Intellektuelle wird damit per definitionem zu einem Grenzfall: er ist für die Gesellschaft marginal. Ob er das zuerst war und dann Intellektueller wurde (wie viele jüdische Intellektuelle im modernen Westen) oder ob seine Gegenexistenz das schlüssige Ergebnis seiner intellektuellen Abirrungen war (wie bei einem geächteten Häretiker), das braucht hier nicht zu beschäftigen (107). In jedem Fall bringt seine gesellschaftliche Randexistenz einen Mangel an geistiger Integration in die Sinnwelt seiner Gesellschaft zum Ausdruck. Er wirkt als Gegenexperte beim Handel mit der Bestimmung von Wirklichkeit. Wie der "offizielle" Experte hat er einen Entwurf für die ganze Gesellschaft. Aber während der Plan seines Kontrahenten mit den institutionellen Programmen übereinstimmt und diesen als theoretische Legitimation dient, schwebt der des Intellektuellen in einem institutionellen Vakuum, das gesellschaftlich noch am besten in einer Subgesellschaft intellektueller Leidensgenossen Gestalt annimmt. Wie weit solche Subgesellschaften lebensfähig sind, hängt von den strukturellen Verhältnissen in der größeren Gesellschaft ab. Man kann mit Sicherheit sagen, daß ein gewisses Maß an Pluralismus auch für den Intellektuellen eine Grundnotwendigkeit ist.

Der Intellektuelle hat in seiner Lage einer Reihe historisch interessanter Optionsmöglichkeiten. Er kann sich in eine intellektuelle Subgesellschaft zurückziehen, die dann ein Refugium für sein Gefühl und - wichtiger noch - die gesellschaftliche Grundlage für die Objektivation seiner abweichenden Wirklichkeitsbestimmungen ist. Mit anderen Worten: Der Intellektuelle kann sich in der Subgesellschaft "zu Hause" fühlen, was ihm in der größeren Gesellschaft nicht vergönnt ist. Und er bleibt zugleich fähig, sich subjektiv seine abweichlerischen Konzeptionen zu erhalten, die, wenngleich die größere Gesellschaft sie nihiliert, von anderen Mitgliedern der Subgesellschaft als Wirklichkeit angesehen werden. Der Intellektuelle ergreift dann verschiedene Maßnahmen, um die gefährdete Wirklichkeit der Subgesellschaft vor der Vernichtungsdrohung von außen zu schützen. Auf theoretischer Ebene gehören die therapeutischen Verteidigungsmechanismen dazu, von denen schon die Rede war. Das wichtigste praktische Unternehmen muß die Beschränkung aller einschlägigen Beziehungen auf Angehörige der Subgesellschaft sein. Ein Außenseiter wird gemieden, weil er immer die drohende Vernichtung verkörpert. Die religiöse Sekte ist der Prototyp für Subgesellschaften dieser Art (108). In ihrer schützenden Gemeinschaft nehmen noch die ausgefallensten Abweichungen den Charakter objektiver Wirklichkeit an. Umgekehrt ist der Rückzug in die Sekte typisch für Situationen, in denen ehedem objektivierte Wirklichkeitsbestimmungen auseinanderfallen, das heißt aus der größeren Gesellschaft desintegriert und damit entobjektiviert werden. Die Einzelheiten solcher Prozesse gehören in eine historische Religionssoziologie. Allerdings ist hinzuzufügen, daß Sektierertum in verschiedenen säkularisierten Formen geradezu der Schlüssel zum Verständnis von Intellektuellen in modernen pluralistischen Gesellschaften ist.

Wann immer in der Geschichte die Option des Intellektuellen für die Revolution ausfiel, ging er aus, seinen Entwurf der Gesellschaft selbst zu verwirklichen. Die vielen historischen Varianten dieser Entscheidung können wir unmöglich erörtern (109), aber einen entscheidenden Punkt möchten wir zumindest erwähnen. Genauso, wie der Intellektuelle, der sich, um seine abweichende Wirklichkeitsbestimmung zu erhalten, in eine Subgesellschaft flüchtet, braucht auch der revolutionäre Intellektuelle für seine abweichende Konzeption die Bestätigung durch andere. Dieses Bedürfnis ist primär gegenüber der Selbstverständlichkeit, daß keine Verschwörung ohne Organisation Erfolg haben kann. Der revolutionäre Intellektuelle muß andere haben, die ihm die Wirklichkeit der revolutionären Ideologie erhalten, das heißt ihre subjektive Einsichtigkeit für sein Bewußtsein. Alle gesellschaftlich sinnhaften Wirklichkeitsbestimmungen müssen durch gesellschaftliche Prozesse objektiviert werden. Sub-Sinnwelten brauchen deshalb als Basis für ihre Objektivation Subgesellschaften, und Kontrast-Bestimmungen von Wirklichkeit brauchen Kontrast-Gesellschaften. Daß jeder praktische Erfolg einer revolutionären Ideologie ihre Wirklichkeit innerhalb der Subgesellschaft und für das Bewußtsein der Zugehörigen befestigt, braucht nicht eigens belegt zu werden. Diese Wirklichkeit nimmt massive Ausmaße an, wenn ganze gesellschaftliche Schichten ihre "Träger" werden. Die Geschichte moderner revolutionärer Bewegungen kennt viele Fälle von Transformation revolutionärer Intellektueller in "offizielle" Legitimatoren: eine Folge des Sieges der Bewegungen selbst (110). Das führt nicht nur zum Verständnis der großen historischen Unterschiede in der gesellschaftlichen Laufbahn revolutionärer Intellektueller, sondern erklärt auch, daß der einzelne Revolutionär im Lauf seines Lebens sehr unterschiedlich optieren und kombinieren kann.

Wir haben bisher die strukturellen Aspekte der gesellschaftlichen Existenz von Personenkreisen hervorgehoben, die eine Sinnwelt erhalten. Keine redliche soziologische Arbeit hätte anders vorgehen können. Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft. Eine "Ideengeschichte", abgetrennt vom Fleisch und Blut der allgemeinen Geschichte, gibt es nicht. Aber wir betonen nochmals: solche Theorien sind keineswegs nur Reflexe  unterschwelliger"  institutioneller Prozesse. Die Beziehung zwischen den Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen ist immer dialektisch. Gewiß kann man sagen, daß Theorien zusammengebraut werden, um schon vorhandene gesellschaftlichen Institutionen nachträglich zu legitimieren. Aber es kommt auch vor, daß gesellschaftliche Institutionen verändert werden, damit sie mit schon vorhandenen Theorien übereinstimmen und so "legitimer" werden. Legitimationsexperten können als Theoretiker des Status quo und als revolutionäre Ideologen operieren. Wirklichkeitsbestimmungen haben die Kraft der Selbstverwirklichung. Theorien können in der Geschichte realisiert werden - sogar Theorien, die höchst verworren und abwegig waren, als ihre Erfinder sie in die Welt setzten. Der in der Bibliothek des Britischen Museums brütende KARL MARX ist zum exemplarischen Fall dieser Möglichkeit der Geschichte geworden. Sozialer Wandel muß also immer in einer dialektischen Beziehung zur Ideengeschichte gesehen werden. "Idealistische" wie "materialistische" Formulierungen dieser Beziehung übersehen ihre Dialektik und verfälschen dadurch die Geschichte. Eben diese Dialektik bewirkt, daß symbolische Sinnwelten sich wandeln. Soziologisch wesentlich ist, daß jede symbolische Sinnwelt und jede Legitimation ein Produkt des Menschen ist. Die Grundlage ihres Daseins ist das Leben lebendiger Menschen. Abgetrennt von dieser ihrer Grundlage besitzen sie keinen empirischen Status.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
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    Anmerkungen
    67) Die Termini "Legitimation" und "Legitimierung" stammen von MAX WEBER, der sie insbesondere im Kontext seiner politischen Soziologie entwickelt hat, vgl. MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., §§ 5, 6, 7, Seite 22f und Seite 157f. Wir haben die beiden Begriffe hier viel weiter gefaßt.
    68) Zu Legitimationen als "Erklärungen" vgl. PARETOs Analyse der "Dérivation".
    69) Sowohl MARX wie auch PARETO waren sich der Möglichkeit der Autonomie dessen, was wir "Legitimationen" genannt haben, sehr wohl bewußt ("Ideologie" bei MARX, "Dérivation" bei PARETO).
    70) Was wir "symbolische Sinnwelt" nennen, steht der DURKHEIMschen "réligion" nahe. SCHÜTZ' Analyse der "begrenzten Sinnprovinzen" (finite provinces of meaning) und ihrer Beziehung untereinander sowie SARTREs "totalisation" waren für unsere Überlegungen von großer Bedeutung.
    71) Der Terminus "Grenzsituation" stammt von JASPERS, wird jedoch bei uns in ganz anderer Art gebraucht.
    72) Wir stehen unter dem Eindruck von DURKHEIMs Analyse der Anomie [Widerspruch - wp].
    73) Den Status der "alltäglichen Wirklichkeit" als oberster Wirklichkeit hat SCHÜTZ expliziert (vgl. besonders seinen Aufsatz "On Multiple Realities", Collected Papers, Bd. 1, Seite 207f).
    74) Der gefährdete Charakter der subjektiven Identität wird schon bei MEAD in seiner Analyse der Genes des Selbst impliziert. Weiter gehen dann ANSELM STRAUSS, Mirrors and Masks, New York 1959 und ERVING GOFFMAN, The Presentation of Self in Everyday-Life, Garden City 1959.
    75) Bei Heidegger ist die Grenzsituation par excellence der Tod. In der modernen Philosophie hat HEIDEGGER sich am ausführlichsten damit auseinandergesetzt. SCHÜTZ' Begriff der "fundamentalen Angst" bezieht sich auf dasselbe Phänomen. Vgl. auch MALINOWSKIs Ausführungen über die gesellschaftliche Funktion des Beerdigungszeremoniells:  Baloma: The Spirits of the Dead in the Trobriand Islands,  in: BRONISLAW MALINOWSKI, Magic Science and Religion and other Essays, Garden City 1954.
    76) Vgl. hier den kantischen Ausdruck "ungesellige Geselligkeit des Menschen"  (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.)  KANT vermutet, daß zur ungeselligen Geselligkeit "die Anlage offenbar in der menschlichen Natur" liegt. PLESSNER begründet diese Vermutung anthropologisch, vgl. seinen Aufsatz "Ungesselige Geselligkeit", Anmerkungen zu einem kantischen Begriff, in: Die Moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für GERHARD LEIBHOLZ zum 65. Geburtstag, hg. von KARL DIETRICH BRACHER, CHRISTOPHER DAWSON, WILLI GEIGER, RUDOLF SMEND, Tübingen 1966.
    77) Die Untersuchung der "Angst" von verschiedenen Aspekten her, wie sie die Existenzphilosophie vorgenommen hat, ermöglicht es, DURKHEIMs Analyse über Anomie auf eine breitere anthropologische Grundlage zu stellen.
    78) Vgl. LÉVI-STRAUSS, a. a. O.
    79) Über das "kollektive" Gedächtnis vgl. MAURICE HALBWACHS, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1952. HALBWACHS entwickelt seine soziologische Theorie des Gedächtnisses auch in:  La mémoire collective,  Paris 1950 (dt.: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967) und in  La Topographie légendaire des Evangiles en Terre Sainte,  Paris 1941.
    80) Die Begriffe "Vorfahren" und "Nachfahren" in diesem Zusammenhang stammen von SCHÜTZ.
    81) Auf den transzendierenden Charakter der Gesellschaft hat DURKHEIM besonders aufmerksam gemacht.
    82) Diese "Projektions-These" stammt ursprünglich von FEUERBACH und wurde dann - wenngleich in sehr unterschiedlicher Richtung - von MARX, NIETZSCHE und FREUD weiterentwickelt.
    83) Vgl. wieder MAX WEBERs Begriff des "Trägers".
    84) Hierhin gehören die Untersuchungen der "Kulturkontakte", wie sie die moderne amerikanische Kulturanthropologie vorgenommen hat.
    85) Vgl. den Begriff "Kulturschock", den die amerikanische Kulturanthropolige eingeführt hat.
    86) Die Verknüpfung von materieller Macht und den jeweils "herrschenden Gedanken" hat MARX sehr ausführlich behandelt. Man denke an seine bekannte Formulierung in  Die deutsche Ideologie:  Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende  materielle  Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende  geistige  Macht." (vgl. KARL MARX, Die Frühschriften, a. a. O., Seite 373.
    87) Einer Geschichte des Denkens im soziologischen Sinne kommt PARETO am nächsten. Ungeachtet gewisser Reserven seinem theoretischen System gegenüber, ist er daher wichtig für die Wissenssoziologie. Vgl. BRIGITTE BERGER, Vilfredo Pareto and the Sociology of Knowledge (Doktorarbeit, New School für Social Research, New York 1964).
    88) Wir erinnern an COMTEs Drei-Stadien-Gesetz. Wenngleich wir es nicht akzeptieren, halten wir es doch für nützlich, da es die Entwicklung des Bewußtseins in historisch erkennbaren Etappen voraussetzt. Diese können heute nicht mehr im Sinne von COMTE gesehen werden. Mit unserer Auffassung stehen wir den Gedanken von HEGEL und MARX über die Historizität des menschlichen Denkens näher.
    89) LÈVY-BRUHL und PIAGET halten Mythologie für eine wichtige Etappe in der Entwicklung des Denkens. Eine überzeugende Darstellung des mythisch-magischen Denkens siehe bei ARNOLD GEHLEN, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, Seite 79f.
    90) Mit unserer Auffassung von Mythologie stehen wir hier unter dem Eindruck von GERARDUS van der LEEUW, MIRCEA ELIADE und RUDOLF BULTMANN.
    91) Zur Kontinuität von gesellschaftlichen und kosmischen Ordnungen vgl. die Arbeiten von ELIADE und VOEGELIN, a. a. O.
    92) Hier können wir nicht einer verlockenden Wortbildung widerstehen.
    93) Unser theoretischer Ansatz läßt hier kein weiteres Eingehen auf die Frage einer Soziologie der Intellektuellen zu. Abgesehen von MANNHEIMs grundlegenden Arbeiten auf diesem Gebiet (besonders in  Ideologie und Utopie,  a. a. O. und  Essays on the Sociology of Culture,  a. a. O.), vgl. FLORIAN ZNANIECKI, The Social Role of the Man of Knowledge, New York 1940; THEODOR GEIGER, Aufgaben und Stellund der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949; RAYMOND ARON, L'opium des intellectuels, Paris 1955 (dt. Opium für Intellektuelle oder: Die Sucht nach Weltanschauung, Köln 1957; GEORGE B. de HUSZAR (Hg), The Intellectuals, New York 1960.
    94) Über die Unterstützung der institutionelle "inertia" [Trägheit - wp] (SIMMELs "Treue", siehe Anmerkung 50) durch definitive Legitimationen vgl. DURKHEIM und PARETO.
    95) Dies ist der schwächste Punkt jeder funktionalistischen Interpretation, die nach Tatsächlichkeiten, welche gar nicht vorhanden sind, sucht.
    96) Vgl. dazu MAX WEBERs Arbeiten zur Soziologie der Religion in Indien (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2, Tübingen 1920).
    97) Vgl. dazu LEON FESTINGER, A Theory of Cognitive Dissonance, Evanston / Illinois 1957.
    98) Wir denken bei dem Terminus "Affinität" an SCHELERs und MAX WEBERs Terminus "Wahlverwandtschaft".
    99) Über monopolistische Wirklichkeitsbestimmungen in primitiven und archaischen Gesellschaften vgl. DURKHEIM und VOEGELIN, a. a. O.
    100) Daß ein Skeptizismus auch in monopolistischen Situationen möglich ist, zeigen die Arbeiten von PAUL RADIN (vgl. "Primitive Man as Philosopher", New York 1927).
    101) Der Terminus "Gastvölker" stammt von MAX WEBER.
    102) Zur Affinität zwischen konservativen politischen Kräften und religiösen Monopolen ("Kirchen") vgl. MAX WEBERs Analysen der Hierokratie in "Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., Seite 874f.
    103) Das Wort "Ideologie" ist in so verschiedenem Sinn gebraucht worden, daß man schier an ihm verzweifeln könnte. Dennoch haben wir uns entschlossen, es beizubehalten, wenngleich in dem eng umschriebenen Sinn, in dem wir es für brauchbar halten. Wir haben daher von einer Neubildung abgesehen. Hier ist nicht der Ort, den Begriffswandel in der Geschichte des Marxismus und in der Wissenssoziologie zu verfolgen. Eine gute Übersicht findet sich bei KURT LENK (Hg.) a. a. O.
    104) Zur Beziehung zwischen Christentum und bürgerlicher Ideologie vgl. MARX und VEBLEN. Bei VEBLEN vor allem "Christian Morals and the Competitive System" und "Salesmanship and the Churches", bei in: MAX LERNER (Hg.) "The Portabel Veblen", New York 1948, Seite 480f. Über MARX' Verhältnis zur Religion vgl. die (vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU herausgegebene) Anthologie: KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS, Über Religion, Berlin 1958.
    105) Vgl. THOMAS LUCKMANN, The Invisible Religion, a. a. O.
    106) Wir stehen mit unserer Auffassung vom Intellektuellen als dem "unerwünschten Experten" MANNHEIMs Betonung von dessen Außenseitertum nicht allzu fern. Für eine Definition des Intellektuellen, mit der man soziologisch arbeiten kann, scheint es uns wichtig, daß sie ihn deutlich vom "Gebildeten" unterscheidet.
    107) Zur Außenseiterstellung des Intellektuellen vgl. SIMMELs Analyse der "Objektivität des Fremden" (Soziologie, a. a. O., Seite 509-512) und VEBLEN über die intellektuelle Rolle der Juden. ("The Intellectual Pre-Eminence of Jews in Modern Europe", in MAX LERNER, Hg., a. a. O., Seite 467f.)
    108) Vgl. PETER BERGERs "The Sociological Study of Sectarianism", in:  Social Research,  Winter 1954, Seite 467f
    109) Vgl. hierzu MANNHEIMs Beschreibung revolutionärer Intellektueller. Für den russischen Prototyp vgl. E. LAMPERT, Studies in Rebellion, New York 1957.
    110) Man kann die Transformation vom revolutionären Intellektuellen in den Legitimator des Status quo in "reiner" Form an der Entwicklung des Kommunismus in Rußland studieren. Eine scharfe Kritik an diesem Prozeß übt LESZEK KOLAKOWSKI, "Der Mensch ohne Alternative", München 1960.