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PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[2/7]
"Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint." "Bewußtsein ist immer intentional. Es hat immer etwas  im Sinn und ist auf Objekte gerichtet. Wir können niemals Bewußtsein als solches erreichen, nur Bewußtsein  von etwas - unabhängig davon, ob sein Gegenstand zur äußeren, physischen Welt gehört oder als Element einer inneren, subjektiven Wirklichkeit erlebt wird.


I. Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt

1. Die Wirklichkeit der Alltagswelt

Unsere Abhandlung soll eine soziologische Analyse der Alltagswirklichkeit vorstellen - präziser: eine Analyse jenes Wissens, welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert. Nur am Rande interessieren wir uns dafür, wie sich diese Wirklichkeit in theoretischen Perspektiven von Intellektuellen und für Intellektuelle spiegelt. Wir müssen also mit der Erklärung jener Wirklichkeit anfangen, die dem Verstand des gesellschaftlichen Normalverbrauchers zugänglich ist. Wie weit dessen Allerweltswirklichkeit auch von theoretischen Konstruktionen intellektueller und sonstiger Ideenverkäufer mitbestimmt wird, das ist eine weitere Frage. Unser Vorhaben - obgleich seinem Wesen nach theoretisch - ist auf das Verständnis eben der Wirklichkeit gezielt, die das Forschungsobjekt der Soziologie als einer empirischen Wissenschaft ist. Daß wir keine Philosophie betreiben wollen, ist also einleuchtend.

Und dennoch: wenn wir die Wirklichkeit der Alltagswelt verstehen wollen, so müssen wir uns nach ihrem Wesen als Wirklichkeit fragen, bevor wir zur eigentlich soziologischen Analyse kommen können. Die Alltagswelt breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint. Im Rahmen der Soziologie als empirischer Wissenschaft wäre es durchaus möglich, diese Wirklichkeit als gegeben und ihre speziellen Gegebenheiten ebenfalls als gegeben anzunehmen, ohne nach ihren Grundlagen zu fragen. Dies wäre Sache der Philosophie. Bei unserem speziellen Vorhaben können wir das philosophische Problem jedoch nicht ganz beiseite lassen. Die Alltagswelt wird ja nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen, sondern sie verdankt jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand. So müssen wir also doch, bevor wir unsere Hauptaufgabe vornehmen, die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt herausfinden, das heißt die Objektivationen (1) subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die  intersubjektive Welt entsteht.

Es soll dies nur ein Vorspiel für uns sein. Wir können nicht mehr tun, als in großen Zügen zu skizzieren, was wir für eine adäquate Lösung des philosophischen Problems halten, und beeilen uns hinzuzufügen, daß wir "adäquat" hier im Sinne eines Ausgangspunktes für soziologische Analyse verstehen. Die folgenden Betrachtungen sind also nur philosophische Prolegomena und als solche präsoziologisch. Die geeignete Methode scheint uns die phänomenologische Analyse zu sein, ein rein deskriptives Verfahren und als solches zwar "empirisch", aber nicht "wissenschaftlich" - jedenfalls nur in  dem  Sinne wissenschaftlich, in dem wir auch das Wesen einer empirischen Wissenschaft verstehen (2). Die phänomenologische Analyse der Alltagswelt bzw. der subjektiven Erfahrung der Alltagswelt enthält sich jeder kausalen oder genetischen Hypothese und auch jeder Behauptung über den ontologischen Charakter der analysierten Phänomene. Daran zu erinnern, ist nötig. Der Allerweltsverstand hat unzählige prä- und quasi-wissenschaftliche Interpretationen der Alltagswelt zur Hand, welche er für gewiß hält. Wenn wir jedermanns Interpretationen seiner Wirklichkeit auseinandersetzen und dem Charakter der "Gewißheit" von jedermanns Wirklichkeit Rechnung tragen, wenngleich in phänomenologischen "Klammern".

Bewußtsein ist immer intentional. Es hat immer etwas "im Sinn" und ist auf Objekte gerichtet. Wir können niemals Bewußtsein als solches erreichen, nur Bewußtsein  von etwas - unabhängig davon, ob sein Gegenstand zur äußeren, physischen Welt gehört oder als Element einer inneren, subjektiven Wirklichkeit erlebt wird. Ob ich vom Empire State Building aus (die erste Person Singular steht für das Jedermannsbewußtsein in der Alltagswelt) das Panorama von New York betrachte oder mir einer inneren Beklemmung bewußt werde, die Vorgänge in meinem Bewußtsein sind in beiden Fällen intentional. Daß das, was ich vom Empire State Buildung aus gewahr werde, sich vom Gewahrwerden meiner Beklemmung unterscheidet - wenngleich beides durchaus zusammenfallen kann -, dabei brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Eine detaillierte phänomenologische Analyse würde die verschiedenen Erlebnisschichten und die zu ihnen gehörenden Sinnstrukturen aufdecken, wenn ich, sagen wir einmal, von einem Hund gebissen worden bin oder mich daran erinnere, wie ich von einem Hund gebissen wurde, oder wenn ich Angst vor allen Hunden habe, weil sie beißen könnten. Was uns hier lediglich interessiert, ist der allem Bewußtsein gemeinsame intentionale Charakter.

Verschiedene Objekte stellen sich in meinem Bewußtsein als Komponenten verschiedener Wirklichkeitsbereiche dar. Die Wirklichkeit des Mitmenschen, mit dem ich im Alltagsleben zu tun habe, erlebe ich anders als die der körperlosen Gestalten meiner Träume. Verschiedene Sorten von Objekten verlangen verschiedene Grade der Anspannung und Beachtung von meinem Bewußtsein. Es ist also in der Lage, sich von einer Art Wirklichkeit zur anderen zu bewegen. Anders ausgedrückt: ich bin mir der Welt als einer Vielfalt von Wirklichkeiten bewußt. Wenn ich mich von einer zur andern bewege, so wird mir der Übergang nach Art eines Schocks bewußt. Es ist die Umstellung meines Aufmerkens, als die dieser Schock zu verstehen ist. Das Erwachen aus einem Traum ist das beste Beispiel dafür.

Unter den vielen Wirklichkeiten gibt es eine, die sich als Wirklichkeit  par excellence  darstellt. Das ist die Wirklichkeit der Alltagswelt. Ihre Vorrangstellung berechtigt dazu, sie als die oberste Wirklichkeit zu bezeichnen. In der Alltagswelt ist die Anspannung des Bewußtseins am stärksten, d. h. die Alltagswelt installiert sich im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise. In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen. Ich erlebe die Alltagswelt im Zustand voller Wachheit. Dieser vollwache Zustand des Existierens in und des Erfassens der Wirklichkeit der Alltagswelt wird als normal und selbstverständlich von mir angesehen, das heißt, er bestimmt meine normale, "natürliche" Einstellung.

Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phänomene sind vor-arrangiert nach Muster, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschienen bin. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. Ich lebe an einem Ort, der geographisch festgelegt ist. Ich verwende Werkzeuge, von Büchsenöffnern bis zu Sportwagen, deren Bezeichnungen zum technischen Wortschatz meiner Gesellschaft gehören. Ich lebe in einem Geflecht menschlicher Beziehungen, von meinem Schachklub bis zu den Vereinigten Staaten, Beziehungen, die ebenfalls mit Hilfe eines Vokabulars geregelt werden. Auf diese Weise markiert Sprache das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft und füllt sie mit sinnhaltigen Objekten.

Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist um das "Hier" meines Körpers und das "Jetzt" meiner Gegenwart herum angeordnet. Dieses "Hier" und "Jetzt" ist der Punkt, von dem aus ich die Welt wahrnehme. Was "Hier" und "Jetzt" mir in der Alltagswelt vergegenwärtigen, das ist das "Realissimum" meines Bewußtseins. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erschöpft sich jedoch nicht in so unmittelbaren Gegenwärtigkeiten, sondern umfaßt Phänomene, die "hier und jetzt" nicht gegenwärtig sind. Das heißt, ich erlebe die Alltagswelt in verschiedenen Graden von Nähe und Ferne, räumlich wie zeitlich. Am nächsten ist mir die Zone der Alltagswelt, die meiner direkten körperlichen Handhabung erreichbar ist. Diese Zone ist die Welt in meiner Reichweite, die Welt, in der ich mich betätige, deren Wirklichkeit ich modifizieren kann, die Welt in der ich arbeite. In dieser Welt des Arbeitens ist mein Bewußtsein meistens pragmatisch, das heißt, meine Anteilnahme an dieser Welt ist im wesentlichen dadurch bestimmt, was ich in ihr tue, getan habe oder tun will. Auf diese Weise ist sie  meine  Welt par excellence. Ich weiß dabei natürlich, daß die Wirklichkeit der Alltagswelt Zonen umfaßt, die mir auf diese Weise nicht zugänglich sind. Aber entweder habe ich kein pragmatisches Interesse an diesen Zonen, oder mein Interesse an ihnen ist indirekt pragmatisch, insofern sie potentiell Handhabungszonen für mich sein können. Mein Interesse an den ferneren Zone ist meistens geringer, weniger drängend. Ich bin intensiv interessiert an einem Bündel von Objekten, das mit meiner täglichen Beschäftigung zu tun hat - etwa der Welt der Werkstatt, wenn ich Automechaniker bin. Als solcher bin ich - schon etwas weniger direkt - daran interessiert, was in den Testlaboratorien der Automobilindustrie vor sich geht. Zwar ist es unwahrscheinlich, daß ich je in einem dieser Laboratorien sein werde. Aber die Arbeit, die da getan wird, wirkt sich unter Umständen auf meine Alltagswelt aus. Ich kann auch daran interessiert sein, was in Cape Kennedy oder im Weltraum vor sich geht, aber ein solches Interesse ist eher Privatsache, "Freizeitbeschäftigung" nach Wahl, keine dringende Notwendigkeit meiner Alltagswelt.

Die Wirklichkeit der Alltagswelt stellt sich mir ferner als eine intersubjektive Welt dar, die ich mit anderen teile. Ihre Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf von anderen Wirklichkeiten, deren ich mir bewußt bin. Ich bin allein in der Welt meiner Träume. Aber ich weiß, daß die Alltagswelt für andere ebenso wirklich ist wie für mich. Tatsächlich kann ich in der Alltagswelt nicht existieren, ohne unaufhörlich mit anderen zu verhandeln und mich mit ihnen zu verständigen. Ich weiß, daß meine natürliche Einstellung zu dieser Welt der natürlichen Einstellung anderer zu ihr entspricht, daß sie wie ich die Objektivationen erfassen, durch die diese Welt reguliert wird, und daß auch sie diese Welt rund um das "Hier und Jetzt" ihres Daseins in ihr anordnen und wie ich Projekte in ihr entwerfen. Ich weiß selbstverständlich auch, daß die anderen diese gemeinsame Welt aus Perspektiven betrachten, die mit der meinen nicht identisch sind. Mein "Hier" ist ihr "Dort". Mein "Jetzt" deckt sich nicht ganz mit dem ihren. Dennoch - ich weiß, daß ich in einer gemeinsamen Welt mit ihnen lebe. Das Wichtigste, was ich weiß, ist, daß es eine fortwährende Korrespondenz meiner und ihrer Auffassungen von und in dieser Welt gibt, daß wir eine gemeinsame Auffassung von ihrer Wirklichkeit haben. Die natürliche Einstellung ist die Einstellung des normalen Jedermannsbewußtseins, eben weil sie sich auf eine Welt bezieht, die für jederman eine gemeinsame ist. Jedermannswissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe.

Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird als Wirklichkeit hingenommen. Über ihre einfache Präsenz hinaus bedarf sie keiner zusätzlichen Verifizierung. Sie ist einfach  da - als selbstverständlich, zwingende Faktizität. Ich  weiß,  daß sie wirklich ist. Obgleich ich in der Lage bin, ihre Wirklichkeit auch in Frage zu stellen, muß ich solche Zweifel doch abwehren, um in meiner Routinewelt existieren zu können. Diese Ausschaltung des Zweifels ist so zweifelsfrei, daß ich, wenn ich den Zweifel einmal brauche - bei theoretischen oder religiösen Fragen zum Beispiel, eine echte Grenze überschreiten muß. Die Alltagswelt behauptet sich von selbst, und wenn ich ihre Selbstbehauptung anfechten will, muß ich mir dazu einen Stoß versetzen. Die Verwandlung der natürlichen Einstellung in die theoretische des Philosophen oder Wissenschaftlers ist ein Beweis dafür.

Nicht alle Wirklichkeitsaspekte sind jedoch gleich unproblematisch. Die Alltagswelt ist in Ausschnitte eingeteilt, deren einige ich routinemäßig begreife, andere stellen mir Problem dieser oder jener Art. Nehmen wir an, ich wäre ein Automechaniker, der bei allen amerikanischen Wagen bestens Bescheid weiß. Alles, was dazu gehört, ist Routine für mich, ein unproblematischer Teil meiner Alltagswelt. Eines Tages aber kommt jemand in die Werkstatt und verlangt, daß ich seinen Volkswagen repariere. Ich bin also gezwungen, in die problematische Welt ausländischer Wagen einzusteigen. Ich kann das mit Widerstreben oder professioneller Neugier tun. Aber in beiden Fällen stehe ich vor einem Problem, das ich noch nicht routinisiert habe. Dabei verlasse ich die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht etwa. Sie wird vielmehr bereichert, wenn ich ihr das Wissen und Können einverleibe, das zum Reparieren ausländischer Autos gehört. Die Wirklichkeit der Alltagswelt umfaßt problematische und unproblematische Ausschnitte, solange das, was als Problem auftaucht, nicht einer ganz anderen Wirklichkeit angehört (der der theoretischen Physik etwa oder der der Alpträume). Solange die Routinewirklichkeit der Alltagswelt nicht zerstört wird, sind ihre Probleme unproblematisch.

Aber sogar der unproblematische Teil der Alltagswelt-Wirklichkeit ist nur solange unproblematisch, wie man ihn nicht problematisiert, das heißt, solange seine Kontinuität nicht durch das Auftauchen eines Problems durchbrochen wird. Wenn das eintritt, macht die Alltagswelt zunächst Anstrengungen, den problematischen Teil in das, was unproblematisch ist, hereinzuholen. Das Alltagswelt-Wissen gibt eine Menge von Instruktionen, wie man das machen kann. Die anderen, mit denen ich arbeite, sind zum Beispiel unproblematisch für mich, solange sie ihre mir vertrauten Routinetätigkeiten ausüben - etwa an ihren Tischen neben dem meinen in meinem Büro tippen. Sie werden problematisch, wenn sie die Routine durchbrechen - meinetwegen zusammen in einer Ecke stehen und flüstern. Wenn ich mich nach der Bedeutung eines so ungewohnten Verhaltens frage, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die ich durch mein Alltagswelt-Wissen in die Routine meines Alltags integrieren kann: sie könnten beispielsweise darüber sprechen, wie man eine Schreibmaschine repariert - oder einer von ihnen hat neue Anweisungen vom Chef und so weiter. Andererseits könnte ich feststellen, daß ein Aufruf der Gewerkschaft zum Streik diskutiert wird, was schon außerhalb meines bisherigen Erfahrungsbereiches läge, aber doch ein Problem ist, mit dem mein Alltagswelt-Wissen fertig werden kann. Es wird damit  als  mit einem Problem fertig. Es weist es nicht etwa dem unproblematischen Sektor der Alltagswelt zu. Komme ich jedoch zu dem Ergebnis, daß meine Kollegen alle auf einmal verrückt geworden sind, so ist das Problem, das sich damit stellt, von gänzlich anderer Art. Es überschreitet die Grenzen der Alltagswelt-Wirklichkeit und weist auf eine total andere Wirklichkeit hin. Meine Entdeckung, daß alle meine Kollegen verrückt geworden sind, impliziert  ipso facto,  daß sie sich von mir fort in eine Welt begeben haben, die nicht mehr unsere gemeinsame Alltagswelt ist.

Verglichen mit der Wirklichkeit der Alltagswelt, erscheinen andere Wirklichkeiten als umgrenzte Sinnprovinzen, als Enklaven in der obersten Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind markiert durch feste umzirkelte Bedeutungs- und Erfahrungsweisen. Die oberste Wirklichkeit umhüllt sie gleichsam von allen Seiten und das Bewußtsein kehrt immer wieder wie von einer Reise zu ihr zurück. Das wurde schon früher an Beispielen deutlich, der Wirklichkeit der Träume etwa oder der der theoretischen Physik. Ein ähnlicher "Verkehr" findet statt zwischen der Alltagswelt und der Welt des Spiels, des der Kinder und, noch ausgesprochener, des Spiels der Erwachsenen. Das Theater ist ein besonders gutes Beispiel für das Spiel der Erwachsenen. Der Übergang von einer Wirklichkeit in die andere wird durch das Auf- und Niedergehen des Vorhangs markiert. Wenn der Vorhang aufgeht, wird der Zuschauer "in eine andere Welt versetzt", eine Welt eigener Sinneinheit und eigener Gesetze, die noch etwas oder auch gar nicht mit den Ordnungen in der Alltagswelt zu tun haben können. Wenn der Vorhang fällt, kehrt der Zuschauer "in die Wirklichkeit" zurück, das heißt in die oberste Wirklichkeit, in die Alltagswelt, mit deren Wirklichkeit verglichen die auf der Bühne jetzt dürftig und ephemer erscheint, wie lebensvoll sie auch wenige Augenblicke früher gewirkt haben mag. Ästhetische und religiöse Erfahrungen stecken voller derartiger Grenzübergänge, in eben dem Maße, in dem Kunst und Religion Provinzen sind, in denen immerwährend "Enklaven" abgegrenzt werden.

Für alle Enklaven, das heißt für alle Bereiche geschlossener Sinnstruktur, ist charakteristisch, daß sie die Aufmerksamkeit von der Alltagswelt ablenken. Selbstverständlich gibt es auch Umstellungen, Umorientierungen unseres Aufmerkens in der Alltagswelt. Aber die Umstellung auf eine Sinnenklave ist von viel radikalerer Art. Für die Anpassung des Bewußtseins findet eine radikale Neueinstellung statt. Bei religiösen Erfahrungen hat man das treffend einen "Sprung" genannt. Die Alltagswelt-Wirklichkeit behält - das muß ausdrücklich betont werden - ihr Übergewicht auch noch nach solchen Sprüngen. Dafür sorgt schon die Sprache. Die Allerwelts- und Umgangssprache, die mir zur Objektivation meiner Erfahrungen zur Verfügung steht, gründet in der Alltagswelt und greift immer auf sie zurück, auch wenn ich mit ihr "Enklavenerlebnisse" "bespreche". Meistens "verzerre" ich deren eigene Wirklichkeit, sobald ich sie in der gewöhnlichen Sprache ausdrücke, das heißt, ich "versetze" nicht-alltägliche Erfahrungen "zurück" in die oberste Wirklichkeit: die der Alltagswelt. Das Erzählen von Träumen beweist das. Aber es gilt auch für Versuche, Rechenschaft über theoretische, ästhetische oder religiöse Bedeutungsgebilde zu geben. Der theoretische Physiker sagt uns, sein Raumbegriff sei sprachlich nicht vermittelbar. Dasselbe sagt der bildende Künstler von der Bedeutung seiner Werke und der Mystiker von seinen Begegnungen mit dem Göttlichen. Aber sie alle - der Träumer, der Physiker, der Künstler und der Mystiker - leben  auch  in der Wirklichkeit der Alltagswelt. Und für sie ist es tatsächlich eines der größten Probleme, die Koexistenz  der  Wirklichkeit und der Wirklichkeitsenklaven ihrer Spekulation zu interpretieren.

Die Alltagswelt ist räumlich und zeitlich strukturiert. Ihre räumliche Struktur ist für unsere Überlegungen ziemlich nebensächlich. Es genügt vollauf zu sagen, daß auch sie eine gesellschaftliche Dimension hat kraft der Tatsache, daß die Zone meiner Handhabung sich mit Zonen der Handhabung anderer überschneidet. Wichtiger für uns ist die Zeitstruktur der Alltagswelt.

Zeitlichkeit ist eine der Domänen des Bewußtseins. Der Strom des Bewußtseins hat immer eine zeitliche Ordnung. Es ist möglich, verschiedene Ebenen dieser Zeitlichkeit zu unterscheiden, soweit sie nämlich intrasubjektiv zugänglich sind. Jedes Individuum ist sich des Flusses  seiner  Zeit bewußt, welcher eng mit den physiologischen Rhythmen seines Organismus verbunden ist, wenngleich er mit diesen nicht etwa identisch ist. Es würde den Rahmen dieser Prolegomena sprengen, sich auf eine detaillierte Analyse der verschiedenen Ebenen intrasubjektiver Zeitlichkeit einlassen zu wollen. Aber - wir deuteten es schon an - auch die Intersubjektivität der Alltagswelt hat eine zeitliche Dimension. Die Alltagswelt hat ihre eigene Standardzeit. Diese ist intersubjektiv zugänglich. Die Standardzeit kann als der Schnittpunkt der kosmischen Zeit mit ihrem gesellschaftlich etablierten Kalender aufgefaßt werden. Hier treffen die zeitlichen Sequenzen der Natur und der inneren Zeit zusammen. Eine völlige Übereinstimmung der verschiedenen Ebenen von Zeitlichkeit kann nicht zustande kommen. Das illustriert am deutlichsten das Phänomen des Wartens. Mein Organismus und meine Gesellschaft erlegen mir und meiner inneren Zeit gewisse Abfolgen von Ereignissen auf, in deren Zwischenräumen ich warten muß. Ich möchte mich zum Beispiel an einer Sportveranstaltung beteiligen, muß aber warten, bis mein verletztes Knie geheilt ist. Ich muß  auch  warten, bis bestimmte Papiere bearbeitet sind, durch die meine sportliche Qualifikation offizielle bestätigt wird. Die Zeitstruktur der Alltagswelt ist deshalb so verwickelt, weil die verschiedenen Ebenen empirisch vorhandener Zeitlichkeit unaufhörlich aufeinander abgestimmt werden müssen.

Die Zeitstruktur der Alltagswelt hat für mich eine Faktizität, mit der ich rechnen, d. h. auf die ich meine eigenen Absichten abstimmen muß. Ich erlebe Zeit in der Alltagswelt sowohl als fortlaufend wie auch in Abschnitten. Meine gesamte Existenz in dieser Welt wird fortwährend durch die Zeit reguliert. Sie ist gleichsam in Zeit verpackt. Mein eigenes Leben ist wie eine Episode in einem regulierten und kanalisierten Strom von Zeit. Er war da, bevor ich geboren wurde, und wird da sein, wenn ich gestorben bin. Das Wissen um die Unausweichlichkeit meines Todes begrenzt die Zeit für mich. Ich verfüge für die Verwirklichung meiner Projekte nur über einen gewissen - und ungewissen - Vorrat an Zeit. Daß ich das weiß, wirkt sich auf meine Einstellung zu meinen Projekten aus. Da ich außerdem nicht sterben will, schmuggelt das Wissen um eine endgültige Grenze meiner Zeit Angst in mein Tun. Ich kann mich eben nicht unabsehbar an Sportveranstaltungen beteiligen. Ich weiß, daß ich älter werde. Ja, dies mag meine letzte Chance für eine Beteiligung an Sportveranstaltungen sein. Mein Warten wird in dem Maße gepreßter, in welchem sich Zeit als Grenze zwischen mich und die Erfüllung meiner Wünsche schiebt.

Wie schon gesagt, ist eben diese Zeitstruktur auch ein Zwang. Ich kann die von ihr gesetzten Sequenzen nicht beliebig umkehren. "First things first", "das Nächstliegende zuerst" - ist ein wesentliches Element meines Alltagsweltwissens. So kann ich ein bestimmtes Examen nicht machen, ehe ich nicht eine bestimmte Ausbildung hinter mich gebracht habe. Ich kann meinen Beruf nicht ausüben, bevor ich dieses Examen nicht bestanden habe und so weiter. Dieselbe Struktur der Zeit setzt auch die Geschichtlichkeit meiner Situation in der Alltagswelt. Ich bin an einem bestimmten Tag, einem  Datum,  geboren, an einem anderen in die Schule gekommen, an wieder einem anderen in den Beruf eingetreten.  Meine  Daten haben jedoch ihren "Ort" in einer umfassenderen Geschichtlichkeit, und ihr "Ort" gibt meiner Situation ein Gesicht. Ich wurde geboren im Jahr des großen Bankkraches, bei dem mein Vater sein Vermögen verloren hat. Ich kam noch eben vor der Revolution in die Schule. Ich trat in den Beruf ein, als gerade der große Krieg ausgebrochen war - und so weiter. Die Zeitstruktur der Alltagswelt mit ihren vorarrangierten Reihenfolgen legt sich nicht nur über die "Tagesordnung" meiner Tage, sondern über meinen gesamten Lebenslauf. Im Koordinatensystem der Zeitstruktur halte ich mich nicht nur an meine Tagesordnung, sondern auch an die meines Lebens. Uhr und Kalender vergewissern mich, daß ich tatsächlich "ein Mensch meiner Zeit" bin. Und nur in dieser ihrer zeitlichen Strukturiertheit erhält die Alltagswelt für mich den Akzent der Wirklichkeit. So fühle ich mich "desorientiert", wenn ich etwa nach einem Autounfall wieder zu Bewußtsein komme. Ich fühle einen instinktiven Drang, mich zu "reorientieren", hinein in die Zeitstruktur der Alltagswelt. Ich sehe auf meine Uhr und versuche mich zu erinnern, was für ein Tag heute ist. Mit diesem Akt kehre ich in die Wirklichkeit der Alltagswelt zurück.


2. Gesellschaftliche Interaktion
in der Alltagswelt

Die Wirklichkeit der Alltagswelt teilen wir mit den Anderen. Aber wie erleben wir die Anderen in der Alltagswelt? Wiederum gibt es verschiedene Arten der Erfahrung.

Die fundamentale Erfahrung des Anderen ist die von Angesicht zu Angesicht. Die Vis-á-vis-Situation ist der Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion. Jede andere Interaktionsform ist von ihr abgeleitet.

Als Vis-á-vis habe ich den Anderen in lebendiger Gegenwart, an der er und ich teilhaben, vor mir. Ich weiß, auch ich habe für ihn dieselbe Gegenwärtigkeit. Mein und sein "Jetzt und hier" fallen zusammen, solange die Situation andauert. Ein ständiger Austausch von Ausdruck findet statt. Ich sehe ihn lächeln, ziehe die Stirn kraus, er lächelt nicht mehr, ich lächle ihn an, er lächelt wieder und so fort. Mein Ausdruck orientiert sich an ihm und umgekehrt, und diese ständige Reziprozität [Wechselseitigkeit - wp] (3) öffnet uns beiden gleichermaßen Zugang zueinander. Das heißt, in der Vis-á-vis-Situation erkenne ich das Subjekt-Sein des Anderen an einer Fülle von Anzeichen. Zwar kann ich diese Anzeichen falsch deuten - etwa glauben, daß er lächelt, wenn er tatsächlich hämisch oder ironisch schmunzelt. Einerlei, keine andere Art des sozialen Kontaktes birgt eine solche Fülle von Symptomen für den Subjekt-Charakter des Anderen als das Vis-á-vis. Nur als solches ist der Andere ausgesprochen "nah". Alle anderen Wechselbeziehungen sind vergleichs- und gradweise "entfernt".

In der Vis-á-vis-Situation ist der Andere völlig wirklich. Diese Wirklichkeit ist Teil der Gesamtwirklichkeit der Alltagswelt und als solcher kompakt und zwingend. Ein Anderer kann freilich auch real für mich sein, ohne mir leibhaftig gegenüber zu stehen - durch seine Reputation, sein "Ansehen" zum Beispiel oder in einer "Korrespondenz". Daß es sich dabei um eine abgeleitete Situation handelt, verrät schon die Sprache. Aber im wahrsten Sinne des Wortes "wirklich" wird er für mich nur von Angesicht zu Angesicht. Es spricht sogar einiges dafür, daß der Andere als Vis-á-vis für mich wirklicher ist, als ich es mir selbst bin. Natürlich kenne ich mich, "weiß" ich mich selbst, besser als ich ihn je kennen kann. Ich bin mir in einer Art als Subjekt vorgegeben, wie er mir nie als Subjekt zugänglich ist, so nahe auch unsere Beziehung sein mag. Meine Vergangenheit steht so vollständig vor meiner Erinnerung, wie ich die seine nie rekonstruieren könnte, auch wenn er mir noch so viel erzählen würde. Aber mein Besserwissen von mir selbst erfordert eine Rückbeziehung. Es ist mir nicht unmittelbar präsent. Der Andere  ist  jedoch präsent als Vis-á-vis. "Was er ist", das nehme ich kontinuierlich wahr. Diese meine Wahrnehmung ist währende Gegenwart, präreflexiv. Dagegen liegt "was ich bin"  nicht  in dem Maße "auf der Hand". Will ich mich erfassen, so muß ich einhalten, der fließenden Spontaneität meiner Wahrnehmung Stillstand gebieten und mein Augenmerk absichtlich rückwärts, nämlich zu mir hin richten. Der typische Anlaß für diese Kehrtwendung zu mir, die "Reflexion" auf mich selbst, ist die Stellung  des Anderen  mir gegenüber. Meine Einstellung auf mich selbst ist ein typischer "Spiegelreflex" auf Einstellungen des Anderen zu mir.

Daraus folgt, daß Vis-á-vis-Situationen im höchsten Grad flexibel sind. Negativ ausgedrückt: es ist besonders schwierig, diese Art Wechselwirkung in feste Schablonen zu zwingen. Jedes Modell müßte unaufhörlich abgewandelt werden, sollte es der unbeschreiblichen Buntheit, dem subtilen Hin und Her des subjektiv Gemeinten entsprechen. So halte ich z. B. den Anderen für unfreundlich und verhalte mich nach bewährten Rezepten für "Unfreundlichkeit". Als mein Vis-á-vis kann mir der Andere jedoch in einer solchen Weise entgegenkommen, daß ich den "Vorwurf" Unfreundlichkeit als nicht zutreffend fallenlassen muß. Ich nehme den Anderen als freundlich wahr. Mit anderen Worten: die Schablone hält der kompakten Evidenz der Situation nicht stand. Diese Evidenz, umgekehrt, zu ignorieren, ist viel leichter, solange ich dem Anderen nicht persönlich gegenüberstehe. Sogar in einer so relativ "nahen" Beziehung wie einer "Korrespondenz" kann ich Freundschaftsbeteuerungen des Anderen - als im Widerspruch zu seiner Einstellung - mit mehr Erfolg abwehren, einfach weil ich es nicht mit der unmittelbaren, währenden und kompakt wirklichen Präsenz seines subjektiven Ausdrucks zu tun habe. Selbstverständlich kann ich ihn sogar in der Vis-á-vis-Situation mißverstehen, wie umgekehrt er seine Meinung scheinheilig verbergen kann. Mißdeutungen und Heuchelei sind jedoch im Vis-á-vis-Kontakt schwerer durchzuhalten als in weniger "nahen" Formen der Interaktion.

Andererseits hält sich selbst in der Vis-á-vis-Situation mein Gewahrwerden des Anderen an vorgegebene Typisierungen, die allerdings für Eingriffe seinerseits empfindlicher sind als entferntere Kontakte. Anders gesagt: wenn es auch verhältnismäßig schwierig ist, Vis-á-vis-Wirkungen zu schablonisieren, so sind sie doch ihrerseits, wenn nicht von Schablonen, so doch von Typen vorgeprägt, sobald sie im Normalverlauf der Alltagswelt stattfinden. (Interaktion zwischen ganz Fremden ohne gemeinsamen Alltagswelthorizont lassen wir einstweilen außer acht.) Die Wirklichkeit der Alltagswelt verfügt über Typisierungen, mit deren Hilfe ich den Anderen erfassen und behandeln kann. Ich sehe etwa "einen Kerl" in ihm, "einen typischen Europäer", "eine joviale Type" und so weiter. Solche Typisierungen wirken unausgesetzt auf meine Reaktionen - so, wenn ich zum Beispiel beschließe, ihn zuerst auszuführen, bevor ich ihm mein Geschäftsangebot mache. Mein Vis-á-vis-Verhalten wird von solchen Typisierungen geleitet, solange es nicht dadurch problematisch wird, daß der Andere sie über den Haufen wirft. So kann mich etwa der Augenschein lehren, daß er, obwohl "ein Kerl", "ein typischer Europäer" und "ein Käufer", sich selbst als selbstgerechter Moralist aufspielt und daß, was ich für Jovialität hielt, tatsächlich ein Ausdruck seiner Geringschätzung für Amerikaner und amerikanische Firmenvertreter im besonderen ist. Meine Typisierungen müssen also revidiert und modifiziert werden, das heißt: ich muß den Abend mit ihm anders einrichten. Wenn Typisierungen jedoch nicht auf diese oder ähnliche Weise in Frage gestellt werden, so halten sie sich bis auf weiteres und bestimmen mein Verhalten in der jeweiligen Situation.

Vorgegebene Typisierungen für eine Vis-á-vis-Situation sind natürlich reziprok. Der Andere nimmt auch mich "typisch" wahr, "einen Kerl", "einen typischen Amerikaner", "einen Burschen, der sich beliebt machen will". Seine Typisierungen sind so anfällig für mein Dazwischenkommen wie meine für seines. Mit anderen Worten: unser beider Bestand an Typisierungen tritt in der Vis-á-vis-Situation in eine fortwährende "Verhandlung" ein. Auch für diese Verhandlung hat die Alltagswelt höchstwahrscheinlich eine Schablone bereit - beispielsweise bei Käufer und Verkäufer. Meine Kontakte in der Alltagswelt sind demnach fast immer in einem doppelten Sinn "typisch": Ich erfasse den Anderen als Typus und befinde mich mit ihm in einer Kontaktsituation, die ebenfalls typisch ist.

Die Typen gesellschaftlicher Interaktion werden in steigendem Maß anonymer, je weiter die Interaktion von der Vis-á-vis-Situation entfernt ist. Eine gewisse Anonymität steht natürlich am Anfang jeder Typisierung. Wenn ich meinen Freund  Henry  in die Kategorie  X  einreihe (zum Beispiel Engländer), so sehe ich zumindest gewisse Züge seines Verhaltens als durch seine Typuszugehörigkeit bedingt: seine Vorliebe für gewisse Speisen und ihre Zubereitung ist typisch für Engländer, ebenso seine Manieren und gewisse Gefühlsreaktionen bzw. deren Fehlen. Das bedeutet, daß, was typisch für meinen Freund  Henry  ist, auch auf beliebige Engländer zutrifft. Mit Hilfe "anonymer" Eigenschaften erfasse ich also die entsprechenden meines Freundes. Solange er mir jedoch von Angesicht zu Angesicht in der ganzen Fülle seines Ausdrucksvermögens gegenübersteht, bricht er selbst ständig durch die Gitter des anonymen Engländers und behauptet sich als einzigartiges und daher atypisches Individuum - mein Freund  Henry.  Die Anonymität des Typischen wird durch diese Art der Individualisierung offenbar weniger gefährdet, wenn die Vis-á-vis-Situation der Vergangenheit angehört (mein Freund  Henry,  der Engländer, den ich als Studenten kannte) oder wenn sie oberflächlich und vorübergehend war (der Engländer, mit dem ich mich im Zug unterhalten habe) oder schließlich wenn sie niemals stattgefunden hat (mein Konkurrent in England).

Ein wichtiger Aspekt der Erfahrung von Anderen in der Alltagswelt ist der der Direktheit bzw. Indirektheit. Ich habe jederzeit die Möglichkeit zu unterscheiden zwischen Mitakteuren, das heißt Anderen, die bloße "Zeitgenossen" sind, Leute, von denen ich mit oder ohne Detail "weiß" oder dich nur vom Hörensagen kenne. Die Vis-á-vis-Situation verschafft mir die direkte Evidenz meines Mitmenschen, seiner Handlungen, seiner Eigenschaften. Das gilt nicht für die Zeitgenossen, von denen ich nur mehr oder weniger zuverlässige Kunde habe. Überdies muß ich in Vis-á-vis-Situationen meine Mitmenschen "zur Kenntnis" nehmen, während ich meine Gedanken auf meine Zeitgenossen richten kann, aber nicht muß. Anonymität nimmt vom Mitakteur zum Zeitgenossen zu, weil die Anonymität der Typisierungen, mit deren Hilfe ich Mitmenschen in Vis-á-vis-Situationen erfasse, ständig mit vielfältigen, lebendigen Symptomen "aufgefüllt" wird, in denen sich ein leibhaftiger Mensch anzeigt.

Das ist natürlich nicht alles. Auch in meinem Erleben bloßer "Zeitgenossen" gibt es deutliche Differenzierungen. Manche habe ich wieder und wieder in Vis-á-vis-Situationen erlebt und werde ihnen auch wohl wieder begegnen (meinem Freund  Henry).  Andere habe ich als leibhaftige Menschen im Sinn (die Blonde, die auf der Straße vorüberging), aber die Begegnung war flüchtig und wird sich wahrscheinlich nicht wiederholen. Von noch anderen weiß ich, daß sie leibhaftige Menschen sind, aber ich kann sie mir nur mit Hilfe mehr oder weniger anonymer Typen "vergegenwärtigen" (meine englischen Konkurrenzten, die Königin von England). Bei den letzteren gibt es noch Unterschiede zwischen möglichen Partnern für Vis-á-vis-Situationen (meinen englischen Konkurrenzten) und möglichen, aber dann doch unwahrscheinlichen Partnern (die Königin von England).

Der Grad jener Anonymität, die für die Erfahrung von Anderen bezeichnend ist, hängt jedoch noch von anderen Faktoren ab. Ich sehe den Zeitungsverkäufer an der Ecke ebensooft wie meine Frau. Aber er bedeutet weniger für mich. Ich stehe nicht auf vertrautem Fuß mit ihm. Er kann relativ anonym für mich bleiben. Die Grade des Interesses und der Intimität können zusammenwirken, um die Anonymität meiner Erfahrung des Anderen zu steigern oder abzuschwächen. Sie können aber auch getrennt wirken. Ich kann ziemlich intim und informell mit den Mitgliedern meines Tennisklubs verkehren und höchst förmlich mit meinem Chef. Aber meine Tenniskumpane, wenngleich durchaus nicht anonym, können einfach "die ganze Bande vom Tennisklub" für mich sein, während mein Chef ein leider nur allzu spezifisches Individuum für mich ist. Die Anonymität wird schließlich nahezu total in Typisierungen, die gar nicht individualisiert sein sollen, z. B. "der tyische Times-Leser". Und der "Rahmen" für Typisierungen - und in ihm ihre Anonymität - kann am Ende so weit werden, daß man etwa von der "öffentlichen Meinung in England" oder gar von der "Weltmeinung" spricht.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt wird also ein kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen wahrgenommen, welche umso anonymer werden, je mehr sie sich vom "Jetzt und Hier" der Vis-á-vis-Situation entfernen. An einem Pol dieses Gebildes befinden sich diejenigen Anderen, mit denen ich häufige und enge Kontakte pflege, mein "innerer Kreis" sozusagen. Am anderen Pol stehen höchst anonyme "Abstraktionen", die ihrem Wesen nach niemals für Vis-á-vis-Interaktionen erreichbar sind.

Auf einen Punkt soll zumindest kurz hingewiesen werden, wenngleich wir ihn hier nicht näher erörtern können. Meine Beziehungen zu Anderen beschränken sich nicht auf Mitakteure und Zeitgenossen. Ich stehe auch zwischen Vorfahren und Nachfahren - Anderen, die vor mir gestorben sind und nach mir kommen werden in der allumfassenden Geschichte meiner Gesellschaft. Mit Ausnahme einstiger Mitakteure (meines verstorbenen Freundes  Henry)  gedenke ich der Verblichenen in recht anonymen Typisierungen - "meine Einwanderer-Vorfahren" oder, noch ferner: "die Gründer der Nation". Meine Nachfahren werden aus begreiflichen Gründen mit noch anonymeren Kategorien bedacht - "meine Kindeskinder" oder "künftige Generationen". Derartig substanzarme Projektionen sind nahezu völlig jedes individualisierenden Inhaltes bar, während die Kategorien für Vorfahren zumindest einige, allerdings in hohem Grad mythische, inhaltliche Substanz haben. Die Anonymität dieser beiden "Sorten" von Typisierungen hindert sie jedoch nicht daran, als Elemente in die Wirklichkeit der Alltagswelt einzudringen - gelegentlich sogar recht nachdrücklich. Schließlich kann ich im Gedenken an die Gründer der Nation oder, wem das besser klingt, zum Wohle künftiger Generationen sogar mein Leben lassen.


3. Sprache und Wissen in der Alltagswelt

Das menschliche Ausdrucksvermögen besitzt die Kraft der Objektivation, das heißt, es manifestiert sich in Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit, welche sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt "begreiflich" sind. Objektivationen durch Ausdruck sind mehr oder weniger dauerhafte Indikatoren subjektiver Empfindungen. Sie ermöglichen deren "Begreifbarkeit" über die Vis-á-vis-Situation, in welcher sie unmittelbar erfaßt werden können, hinaus. Zum Beispiel kommt das subjektive Gefühl von Zorn in der Vis-á-vis-Situation direkt in mancherlei physischen Merkmale zum Ausdruck: Mienenspiel, Ausfallstellung des Körpers, bestimmte Bewegungen der Arme und Füße und so weiter. Diese Anzeichen für Zorn sind faßbar, "während" die Vis-á-vis-Situation andauert. Deshalb bietet sie die optimale Möglichkeit, zum Anderen als Subjekt Zugang zu erlangen. Solche Ausdrucksbewegungen sind allerdings nicht fähig, die leibhaftige Gegenwärtigkeit der Vis-á-vis-Situation zu "überdauern". Zorn kann jedoch mittels einer Waffe vergegenständlicht, bzw. objektiviert werden. Nehmen wir an, ich hatte Streit mit einem Mann, der mir recht "ausdrücklich" einen Augenschein von seinem Zorn gab. In der folgenden Nacht erwache ich und entdecke ein Messer in der Wand über meinem Bett. Das Messer  als  Objekt drückt den Zorn meines Feindes aus. Es verschafft mir zu ihm als Subjekt Zugang, obwohl ich schlief, als er es warf, und obwohl ich ihn nicht sah, denn er floch nach diesem "Schein"-Treffer. Wenn ich das Objekt nun lasse, wo es ist, kann ich es am Morgen wieder anschauen, und wieder bringt es den Zorn des Mannes, der es geworfen hat, zum Ausdruck. Andere Leute können es besichtigen und denselben Eindruck bekommen. Mit anderen Worten: das Messer in meiner Wand ist ein objektiv "vorhandener" Bestandteil der Wirklichkeit geworden, die ich mit meinem Feind und anderen Leuten teile. Es ist anzunehmen, daß das Messer nicht ausschließlich zu dem Zweck, auf mich geworfen zu werden, gemacht worden ist. Aber es drückt eine subjektive Intention zur Gewalt aus, deren Motiv Zorn, aber auch Nutzen aus einer Gewaltanwendung sein kann, Töten zum Zweck von Nahrungsgewinn etwa, bei der Jagd oder auf dem Schlachthof. Die Waffe  als  Objekt ist also sowohl ein menschliches Erzeugnis als auch eine Objektivation menschlicher Subjektivität.

Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich. Ich bin dauernd umgeben von Objekten, welche subjektive Intentionen meiner Mitmenschen "proklamieren", obgleich ich manchmal nicht sicher bin, was ein bestimmter Gegenstand eigentlich "proklamiert". Das gilt besonders dann, wenn er von Menschen stammt, die ich kaum oder gar nicht in Vis-á-vis-Situationen erlebt habe. Jeder Ethnologe oder Archäologe kennt solche Schwierigkeiten. Aber die einfache Tatsache, daß er sie überwinden und aus einem Artefakt [künstlich Gemachtes - wp] auf eine subjektive Intention von Menschen schließen kann, deren Gesellschaft seit Millennien erloschen ist, beweist die Macht und Hartnäckigkeit menschlicher Objektivationen.

Ein besonderer, aber auch besonders wichtiger Fall von Objektivation ist die Zeichengebung. Das Zeichen kann von anderen Objektivationen dadurch unterschieden werden, daß es "ausdrücklich" ein Hinweis auf subjektiv Gemeintes sein soll. Selbstverständlich lassen sich alle Objektivationen als Zeichen verwenden, auch wenn sie ursprünglich nicht dazu bestimmt waren. Eine Waffe beispielsweise mag ursprünglich für die Jagd bestimmt sein. Aber in einem Zeremoniell etwa wird sie schlechthin zum Zeichen für Aggressivität und Gewalt. Doch gibt es gewisse Objektivationen, die von vornherein als Zeichen gemeint sind. Mein Feind könnte zum Beispiel, anstatt ein Messer zu werfen - es es, um mich zu töten oder um auf das Töten als Möglichkeit hinzuweisen -, ein schwarzes  X  als Zeichen dafür an meine Tür malen, daß wir uns offiziell im Stand der Feindschaft befinden. Ein solches Zeichen, das keinen anderen Sinn hat, als die subjektive Einstellung dessen anzuzeigen, der es gibt, ist in meiner seiner und anderer Leute Wirklichkeit auch objektiv erfaßbar. Ich erkenne seinen Sinn, wie andere ihn erkennen. Und auch für den Zeichengeber selbst ist es ein objektives "Andenken" an die eigene ursprüngliche Absicht. Aus all dem wird ersichtlich, daß die Grenzen zwischen instrumentaler und zeichenhafter Verwendung gewisser Objektivationen fließend sind. Mit dem interessanten Sonderfall der Magie, in der sie geradezu verschmelzen, können wir uns hier nicht beschäftigen.

Der Mensch bündelt gleichsam seine Zeichen zu ganzen Systemen. So gibt es gestische und mimische Zeichensysteme, Systeme von Körperbewegungen und Systeme von Artefakten "zum Zeichen" und "im Zeichen". Zeichen und Zeichensysteme sind objektiv eingängige Objektivationen, die über subjektive Intentionen im "Hier und Jetz" hinausreichen. Diese Ablösbarkeit vom unmittelbar subjektiven Mich- bzw. Sich-Ausdrücken können auch Zeichen haben, welche der vermittelnden Gegenwart eines Körpers bedürfen. So ist ein zeremonieller Tanz, der Angriffsbereitschaft ausdrückt, etwas anderes als ein wütendes Knurren und die im Zorn geballte Faust. Die Reflexe des Zorns drücken mich "Hier und Jetzt" aus, während der Tanz von meiner subjektiven Stimmung ganz abgelöst sein kann. Ich brauche persönlich gar nicht zornig oder angriffslustig zu sein, beteilige mich aber an einem Tanz, weil ich dafür bezahlt werden: ich tanze im Auftrag eines anderen, der zornig ist. Knurren und Tanzen sind beide ein körperlicher Ausdruck, aber nur der Tanz ist eine verbindliche zeichenhafte Objektivation, ist tatsächlich objektiviert. Ablösbarkeit ist allen Zeichen und Zeichensystemen eigen. Differenzieren aber kann man sie nach Graden ihrer Ablösbarkeit von der Vis-á-vis-Situation.

Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft. Ihre Grundlage ist natürlich die dem menschlichen Organismus innewohnende Fähigkeit zum vokalen Ausdruck. Aber Sprache beginnt erst, wo der vokale Ausdruck vom unmittelbaren "Hier und Jetzt" isolierter subjektiver Befindlichkeit ablösbar geworden ist. Knurren, Grunzen, Heulen, Zischen sind noch nicht Sprache, wenngleich sie, in verbindliche Zeichensysteme integriert, versprachlicht werden können. Die allgemeinen und gemeinsamen Objektivationen der Alltagswelt behaupten sich im wesentlichen durch ihre Versprachlichung. Vor allem anderen ist die Alltagswelt Leben mit und mittels der Sprache, die ich mit den Mitmenschen gemein habe. Das Verständnis des Phänomens Sprache ist also entscheidend für das Verständnis der Wirklichkeit der Alltagswelt.

Sprache gründet in der Vis-á-vis-Situation, kann aber leicht von ihr abgelöst werden, uns zwar nicht nur, weil ich im Dunkel oder aus der Ferne rufen kann, am Telefon und im Radio zu sprechen und Sprache in Schrift zu übertragen vermag ( wobei die Schrift ein Zeichensystem zweiter Ordnung ist). Die Ablösbarkeit der Sprache gründet tiefer, nämlich in der Fähigkeit, Sinn, Bedeutung, Meinung zu vermitteln, die kein direkter Ausdruck des Subjekts "hier und jetzt" sind. Diese Fähigkeit haben auch andere Zeichensysteme. Aber die enorme Vielfalt und Kompliziertheit der Sprache macht sie von der Vis-á-vis-Situation leichter ablösbar als jedes andere - beispielsweise ein Gesten-System. Ich kann über Unzähliges sprechen, was in einer Vis-á-vis-Situation gar nicht zugegen ist, auch von etwas, was ich nie erlebt habe oder erleben werde. Sprache ist der Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen, die sie zur rechten Zeit aufbewahrt, um sie kommenden Generationen zu übermitteln.

In der Vis-á-vis-Situation verfügt Sprache über eine Art der Reziprozität, die sie von jedem anderen Zeichensystem unterscheidet. Die ständige Hervorbringung vokaler Zeichen im Gespräch vollzieht sich synchron zu den jeweiligen subjektiven Intentionen der Sprechenden. Ich spreche und denke in einem. Und mein Partner ebenso. Wir beide hören im selben Augenblick, was jeder von uns sagt. Das "gewährt" uns "fortwährend" gleichzeitig und wechselseitig Zugang zueinander als Subjekte - eine intersubjektive Nähe, welche von keinem anderen Zeichensystem übertroffen werden kann. Zudem höre ich  mich selbst,  indem ich spreche. Ich "äußere" mein eigenes subjektives "Meinen", wodurch es mir selber zugänglich und dadurch "wirklicher" wird. Erinnern wir uns jetzt an das, was wir früher über die Möglichkeit sagten, den anderen in einer Vis-á-vis-Situation unter Umständen besser, "wirklicher", wahrzunehmen als sich selbst - so eröffnet sich hier ein neuer Gesichtspunkt. Wir hatten die scheinbar paradoxe Tatsache mit der kompakten, fortdauernden, präreflexiven Wahrnehmbarkeit des anderen in der Vis-á-vis-Situation begründet, im Gegensatz zur Umkehrung, zur "Reflexion" auf mich selbst. So wie ich jedoch mein eigenes "Da"-Sein mittels der Sprache objektiviere, wird es mir selbst konkret und in seiner Kontinuität zugänglich - zur gleichen Zeit und im gleichen Zug, wie es dem Andern zugänglich wird. Ich kann nun spontan auf mich reagieren, antworten, ohne die "Unterbrechung" einer  absichtlichen  Reflexion auf mich. Darum kann man sagen, daß Sprache mein Subjekt-Sein "wirklicher" macht, nicht nur für mein Vis-á-vis im Gespräch, sondern auch für mich selbst. Die Kraft der Sprache, Subjektivität zu erhellen, zu kristallisieren und zu stabilisieren, bleibt ihr, wenngleich modifiziert, auch wenn sie von der Vis-á-vis-Situation abgelöst ist.

Die Sprache hat ihren Ursprung in der Alltagswelt und bezieht sich primär auch diese, und zwar vor allem auf jene Wirklichkeit, welche ich in vollwachem Zustand erlebe. Wir erinnern uns: diese vollwach erlebte Wirklichkeit wird von pragmatischen Motiven bestimmt, jenem Bündel von Bedeutungen, das direkt zu gegenwärtigen oder zukünftigen Tätigkeiten gehört. Ich teile diese Wirklichkeit mit anderen und halte sie mit ihnen für gewiß. Obwohl Sprache auch für andere Wirklichkeiten zuständig ist - wir kommen bald darauf zurück -, bleiben ihre Wurzeln immer in der Alltagswelt. Als Zeichensystem hat sie Objektcharakter. Ich treffe auf sie als auf einen Tatbestand außerhalb meiner selbst, und ihre Wirkung auf mich ist zwingend. Sprache zwingt mich in ihre vorgeprägten Muster. Ich kann deutsche Syntax nicht gebrauchen, wenn ich englisch spreche. Ich kann Wörter, die mein dreijähriger Sohn erfindet, nicht außerhalb meiner Familie verwenden. Ich muß mich an passende Sprachregelungen für bestimmte Gelegenheiten halten, auch wenn mir meine eigenen "unpassenden" lieber wären. Sprache versorgt mich mit Vorfabrikationen für die ständige Objektivation meiner zunehmenden Erfahrung. Sprache ist dehnbar und geschmeidig genug, mir die Objektivation der ganzen Fülle von Erfahrungen möglich zu machen, die meinen Lebensweg kreuzen. Sprache typisiert die Erfahrungen auch, indem sie erlaubt, sie Kategorien zuzuteilen, mittels deren sie nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen Sinn haben. So wie Sprache typisiert, so entpersönlicht sie auch. Denn die typisierte Erfahrung kann prinzipiell von jedem, der in die entsprechende Kategorie fällt, erfahren werden. Ich habe zum Beispiel Ärger mit meiner Schwiegermutter. Diese konkrete, persönliche Erfahrung findet in der Sprache die Typisierung "die böse Schwiegermutter" vor. So allgemein formuliert, ist mein Ärger ganz normal für mich, für andere Leute, ja, vielleicht sogar für meine Schwiegermutter. Die Allerweltsredensart enthält aber auch das Moment der Anonymität. Denn nicht nur ich, sondern jedermann (genauer jeder, der zur Kategorie "Schwiegersohn" gehört), kann eine böse Schwiegermutter haben oder auch nicht. So subsumiert die Sprache spezielle Erlebnisse ständig unter allgemeine Sinnordnungen, die objektiv und subjektiv wirklich sind.

Weil Sprache die Kraft hat, das "Hier und Jetzt" zu transzendieren, überbrückt sie die verschiedenen Zonen der Alltagswelt und integriert sie zu einem sinnhaften Ganzen. Sie bewegt sich dabei in räumlichen, zeitlichen und gesellschaftlichen Dimensionen. Durch Sprache kann ich die Kluft zwischen der Zone meiner Handhabung und der des Anderen überbrücken. Ich kann die Sequenzen meiner Lebenszeit mit denen der seinen abstimmen. Ich kann schließlich mit ihm über Individuen und Gruppen reden, mit denen wir keinerlei Vis-á-vis-Interaktion haben. Weil Sprache das "Hier und Jetzt" überspringen kann, ist sie fähig, eine Fülle von Phänomenen zu "vergegenwärtigen", die räumlich, zeitlich und gsellschaftlich vom "Hier und Jetzt" abwesend sind. Genauso kann sie weite Bereiche subjektiver Erfahrung und subjektiv gemeinten Sinnes objektivieren im "Hier und Jetzt". Kurz gesagt, durch die Sprache kann eine ganze Welt in einem Augenblick "vorhanden" sein. Die transzendierende und integrierende Macht der Sprache hat Bestand, auch wenn ich tatsächlich mit keinem andern spreche. Dank sprachlicher Objektivation kann mir in einem einsamen Selbstgespräch eine ganze Welt in einem Nu erstehen. Im gesellschaftlichen Bereich "vergegenwärtigt" mir Sprache nicht nur Mitakteure und Zeitgenossen, die zur Zeit abwesend sind, sondern auch Mitmenschen aus der Vergangenheit, sei sie Erinnerung oder Rekonstruktion, und imaginäre Projektionen von Mitmenschen in die Zukunft hinaus. Alle diese "Präsenzen" können natürlich für die fortwährende Wirklichkeit der Alltagswelt von großer Bedeutung sein.

Über all das hinaus ist Sprache fähig, die Wirklichkeit der Alltagswelt gänzlich zu transzendieren. Ich kann mittels ihrer der Erlebnsse aus geschlossenen Sinnprovinzen habhaft werden, und ich kann den "Sinn" eines Traumes "deuten", indem ich ihn sprachlich in die Ordnungen der Alltagswelt integriere. Dadurch entsteht eine Enklave in der obersten Wirklichkeit. Der Traum hat nun Sinn "im Sinn" der Wirklichkeit der Alltagswelt - mehr als in seiner eigenen geschlossenen Wirklichkeit. Enklaven haben in gewisser Weise teil an zwei Wirklichkeitssphären. Sie haben ihren Ort in der einen und "verweisen" auf eine andere.

Jede sprachliche "Verweisung", kraft deren voneinander abgesonderte Wirklichkeitssphären überspannt werden, kann als Symbol bezeichnet werden. Und die "Weise" der "verweisend" transzendierenden Sprache können wir symbolische Sprache nennen. Sprachliche Zeichengebung erreicht als symbolische Sprache die weiteste Entfernung vom "Hier und Jetzt" der Alltagswelt. Sie schwingt sich empor in Regionen, die nicht nur  de facto,  sondern  a priori  für die Allerweltserfahrung nicht mehr erreichbar sind. Sie errichtet riesige Gebäude symbolischer Vorstellung, welche sich über der Wirklichkeit der Alltagswelt zu türmen scheinen wie gigantische Präsenzen von einem fernen Stern. Religion, Kunst, Wissenschaft sind die größten Symbolsysteme der bisherigen Geschichte des Menschen. Aber trotz der Ferne  von  der Allerweltserfahrung, aus der sie stammen, erinnert ihre bloße Erwähnung daran, welch wichtige Rolle sie  für  die Allerweltserfahrung spielen können. Sprache nämlich hat die Kraft, nicht nur fern der Allerweltserfahrung Symbole zu bilden, sondern sie auch umgekehrt wieder in die Alltagswelt "zurückzuholen" und dort als objektiv wirkliche Faktoren zu "präsentieren". Symbole und symbolische Sprache werden so tragende Säulen der Alltagswelt und der "natürlichen" Erfahrung ihrer Wirklichkeit. "Täglich" und "alle Tage" bzw. "alltags" lebe ich in eine Welt der Zeichen  und  Symbole.

Die Sprache stellt semantische Felder oder Sinnzonen her, die wiederum durch Sprache abgegrenzt werden. Vokabular, Grammatik und Syntax sorgen für Gliederung und Ordnung im Zuständigkeitsbereich der Semantik. Mittels sprachlicher Klassifizierungen können Objekte nach Geschlecht (Genus, nicht Sex) oder Anzahl unterschieden werden, Aussagen über das Tun im Gegensatz zu Aussagen über das Sein gestellt und Grade gesellschaftlicher Intimität differenziert werden. In Sprachen zum Beispiel, welche privaten und öffentlichen gesellschaftlichen Verkehr mit Hilfe von Pronomen scheiden ("tu" und "vous" im Französischen, "du" und "Sie" im Deutschen), steckt Sprache die Koordinaten eines semantischen Feldes ab, das die Zone der Privatheit oder der Intimität genannt werden kann. Hier liegt die Welt des "tutoiement" bzw. der "Duz-Brüderschaft" mit vielerlei Sinnverhalten, die mir ständig zur Ordnung meiner gesellschaftlichen Beziehungen und Erfahrungen zur Verfügung stehen. Auch für den, der englisch spricht, gibt es natürlich ein entsprechendes semantisches Feld, wenngleich es enger und anders abgegrenzt ist.

Ein anderes Beispiel: Die Summe sprachlicher Objektivationen, welche zu meinem Beruf gehört, ist ein semantisches Feld, das alle Routineereignisse meiner täglichen Arbeit sinnhaft ordnet. Im Rahmen semantischer Felder können biographische und historische Erfahrungen objektiviert, bewahrt und angehäuft werden. Die Anhäufung erfolgt selbstverständlich selektiv. Was an totaler Erfahrung des Einzelnen und der Gesellschaft zu "behalten" uns was zu "vergessen" ist, das wird in semantischen Feldern entschieden. Der auf diese Weise gespeicherte Wissensvorrat wird von Generation zu Generation weitergegeben, und das Individuum kann sich seiner in der Alltagswelt bedienen. Für die Alltagswelt des Normalverbrauchers bin ich mit gewissen Normalrationen an Wissen ausgerüstet. Zudem weiß ich, daß andere mindestens partiell auch wissen, was ich weiß. Sie umgekehrt wissen wiederum, daß ich das weiß. Unsere Interaktionen in der Alltagswelt werden daher immer auch davon mitbestimmt, daß wir - der Andere und ich - Nutznießer und Teilhaber desselben Wissensvorrates sind oder zumindest sein können.

Zum allgemeinen Wissensvorrat über die Gesellschaft gehört, daß ich über meine Situation und ihre Grenzen Bescheid weiß. So weiß ich etwa, daß ich arm bin und daher nicht in einem eleganten Vorort wohnen kann. Selbstverständlich wissen das andere, die arm sind, auch - aber auch die, denen ein besseres Los zuteil geworden ist. Der gesellschaftliche Wissensvorrat ermöglicht somit die "Ortsbestimmung" des Individuums in der Gesellschaft und seine entsprechende "Behandlung". Das ist niemandem möglich, der nicht an diesem Wissensvorrat teilhat. Ein Fremder hält mich vielleicht gar nicht für arm, weil die Merkmale der Armut in seiner Gesellschaft ganz andere sind. Wieso bin ich arm, wenn ich Schuhe anhabe und nicht hungrig scheine?

Da Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt, im gesellschaftlichen Wissensvorrat an hervorragender Stelle. Ich benütze zum Beispiel täglich das Telefon. Ich weiß, wie ich mit ihm umgehen muß. Ich weiß auch, was ich zu tun habe, wenn es nicht funktioniert. Das heißt jedoch nicht, daß ich es reparieren könnte. Doch weiß ich, an wen ich mich wenden muß. Mein Telefonwissen enthält also auch Informationen über Möglichkeiten im Bereich des Fernsprechwesens. So weiß ich, daß manche Leute Geheimnummern haben oder daß ich unter Umständen bei einem Gespräch nach außerhalb in eine Simultanschaltung mit zwei anderen, die gleichzeitig telefonieren, hineingerate. Ich weiß, daß ich die Zeitdifferenz berücksichtigen muß, wenn ich jemanden in Hongkong anrufen will und so weiter. Diese ganze "Telefonkunde" ist Rezeptwissen, nur auf das gerichtet, was ich für praktische Zwecke heute und morgen wissen muß. Ich interessiere mich weder dafür, warum das Telefon funktioniert, noch für die gewaltige Anhäufung von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen, welches das Zustandekommen von Telefonapparaten und -netzen  überhaupt ermöglicht hat. Auch bin ich nicht an Telefonwissen interessiert, das außerhalb meines Zweckbereiches liegt, sagen wir, am drahtlosen Verkehr bei der Marine.

Auch vom Funktionieren menschlicher Beziehungen habe ich mein Rezeptwissen. Wenn ich zum Beispiel einen Paß brauche, weiß ich, daß ich ihn beantragen und dann eine Weile auf ihn warten muß. Was mich interessiert, ist nur, daß ich meinen Paß nach der Wartezeit bekomme. Ich weiß nicht, wie mein Antrag bearbeitet wird, wer schließlich die Genehmigung erteilt und wer den Paß mit welchem Stempel versieht. Ich mache keine Studie über Verwaltungsbürokratie. Ich möchte nur in den Ferien ins Ausland reisen. Mein Interesse am geheimnisvollen Wirken der Paßbehörden wird erst wach, wenn ich meinen Paß nicht bekomme. So, wie ich einen Telefonsachverständigen "verständige", wenn mein Telefon nicht funktioniert, so wende ich mich an einen Sachverständigen für Paßbeschaffung - einen Rechtsanwalt etwa oder gar an meinen Kongreßabgeordneten, ja, so gar an die amerikanische "Civil Liberties Union". So oder ähnlich besteht ein großer Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrates aus Rezepten zur Lösung von Routineproblemen. Solange ich Probleme mit ihrer Hilfe noch bewältigen kann, habe ich meistens kaum Interesse, über pragmatisches Wissen hinauszugehen.

Im gesellschaftlichen Wissensvorrat ist die Wirklichkeit nach Graden der Vertrautheit differenziert. Ich bin gründlich und eingehend über diejenigen Ausschnitte der Alltagswelt informiert, mit denen ich oft zu tun habe, viel allgemeiner und ungenauer dagegen über die, welche mir fernliegen. Mein Wissen über meinen Beruf und meine Berufswelt ist reich und spezialisiert, während ich nur skizzenhaft von der Berufswelt anderer weiß. Der gesellschaftliche Wissensvorrat liefert mir ferner die Typisierungen, die für die Hauptroutinen der Alltagswelt nötig sind - nicht nur die der anderen, was schon erörtert wurde, sondern Typisierungen für alle Sorten von Ereignissen und Erfahrungen: gesellschaftlichen und persönlichen. Ich lebe in einer Welt mit Verwandten, Mitarbeitern und Organen der Öffentlichkeit. Infolgedessen erlebe ich "Familientage", "Arbeitstagungen" und Auseinandersetzungen mit der Verkehrspolizei. Die natürliche Kulisse meiner Erlebnisse ist auch im Wissensvorrat vorfabriziert. Meine Welt hält zusammen aufgrund von Routinen für gutes und schlechtes Wetter, für die Heufiebersaison und für irritierende Situationen, zum Beispiel wenn mir etwas ins Auge fliegt. Ich weiß, "was man tut" in Bezug auf all die anderen und alle die Ereignisse in meiner Alltagswelt. So wie sich der gesellschaftliche Wissensvorrat mir als ein integriertes Ganzes darstellt, so versorgt er mich auch mit den Mitteln, ihm meinerseits mein Sonderwissen zu integrieren. Mit anderen Worten: "Was jedermann weiß", hat seine eigene Logik. Und mit Hilfe dieser eigenen Logik wird mir, was ich weiß, sinnhaft im Sinne dieser Logik. Ich kann sie benützen, um verschiedene Dinge zu ordnen, die ich weiß. Zum Beispiel: Ich weiß, daß mein Freund  Henry  Engländer ist. Ich weiß, daß er bei Verabredungen immer pünktlich ist. Da "jedermann weiß", daß Pünktlichkeit eine typisch englische Tugend ist, kann ich zwei Elemente meines Wissens über  Henry  einem Typus integrieren, der im Sinne des gesellschaftlichen Wissensvorrates sinnhaft ist.

Die Gültigkeit meines Wissens in der und über die Alltagswelt garantiere ich selbst, und garantieren andere sich und mir nur bis auf weiteres, das heißt bis zu dem Augenblick, in dem ein Problem auftaucht, welches nicht ein einem "gültigen" Sinn gelöst werden kann. Solange mein Wissen befriedigend funktioniert, bin ich im allgemeinen nicht bereit, Zweifel an ihm aufkommen zu lassem. Zu gewissen Gelegenheiten - im Theater oder in der Kirche, bei einem Witz oder einer philosophischen Betrachtung - mag ich zwar einzelne Bestandteile meines Wissens in Frage stellen. Aber solche Zweifel sind "nicht ernst zu nehmen". Ich weiß zum Beispiel, daß ich als Geschäftsmann rücksichtslos vorgehen muß. Das gehört in meiner Gesellschaft nun einmal zum Jedermannswissen. Natürlich lache ich über einen Witz, in dem gerade diese schöne Tugend zum Mißerfolg führt. Ein Schauspieler oder ein Prediger, die die Tugenden der Rücksichtnahme preisen, rühren mich zu Tränen. Und in philosophischer Stimmung gestehe ich mir ein, daß gesellschaftliche Beziehungen durch das Gebot der Nächstenliebe bestimmt sein sollten. Nachdem ich gelacht, geweint und philosophiert habe, kehre ich in die "ernste" Geschäftswelt zurück, sehe einmal mehr den Sinn ihrer Maximen ein und verhalte mich ihnen gemäß. Nur wenn sie versagen, wenn sie in der Welt, aus der und auf die sie bezogen sind, nicht halten, was sie versprechen, komme ich vielleicht so weit, sie "im Ernst" zu bezweifeln.

Obgleich der gesellschaftliche Wissensvorrat die Alltagswelt integriert und nach Zonen der Vertrautheit und Fremdheit differenziert darbietet, macht er sie als Ganzes doch nicht durchsichtig. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint uns immer als eine Zone der Helligkeit vor einem dunklen Hintergrund. Einige Zonen der Wirklichkeit sind hell, andere liegen im Schatten. Ich kann einfach nicht alles Wissen, was über sie und von ihr gewußt werden muß. Angenommen zum Beispiel, ich wäre ein Haustyrann, der das auch weiß. Aber ich kenne keineswegs alle Faktoren, die zu meiner Alleinherrschaft beitragen. Gewiß, meine Befehle werden immer befolgt. Aber was zwischen ihrer Ausgabe und ihrer Ausführung an Beweggründen und Teilbefolgungen liegt, dessen bin ich gar nicht so sicher. Es geht immer etwas "hinter meinem Rücken" vor. Für kompliziertere gesellschaftliche Beziehungen gilt das noch mehr - ein Grund übrigens für die bei Despoten häufige Nervosität. Mein Alltagswissen ist wie ein Instrument, mit dem ich mir einen Pfad durch den Urwald schneide. Er wirft einen schmalen Lichtkegel auf das, was gerade vor mir liegt und mich unmittelbar umgibt. Überall sonst herrscht weiter Dunkelheit. Das Bild entspricht fast noch mehr all den anderen Wirklichkeiten, in welche die Alltagswelt immerfort übergeht. Was damit gemeint ist, läßt sich wohl am besten poetisch umschreiben: wie Wolken liegen über der Alltagswelt die Halbschatten unserer Träume.

Mein Alltagsweltwissen ist nach Relevanzen gegliedert. Einige ergeben sich durch unmittelbare praktische Zwecke, andere durch meine gesellschaftliche Situation. Es ist irrelevant für mich, wie mir meine Frau mein Lieblingsgulasch kocht, solange es mir schmeckt. Es ist mir gleichgültig, ob Aktien fallen, die ich nicht habe, ob Katholiken ihre Lehre modernisieren, wenn ich Atheist bin. Und daß man jetzt ohne Halt nach Afrika fliegen kann, ist belanglos für mich, wenn ich gar nicht dort hinreisen will. Meine Relevanzstrukturen überschneiden sich jedoch an vielen Punkten mit denen anderer. Daher kommt es, daß wir uns "etwas Interessantes zu sagen haben". Ein wichtiger Bestandteil meines Alltagswissenss ist das Wissen um die Relevanzstrukturen von anderen. So "weiß ich etwas Besseres", als mit meinem Arzt über meine Geldanlagen, mit meinem Anwalt über mein Magengeschwür, mit meinem Buchhalter über meine Suche nach religiöser Wahrheit zu reden. Die Grundstruktur der Relevanz in der Alltagswelt liefert mir der gesellschaftliche Wissensvorrat als Fertigware. Ich weiß, daß "Weibergeschwätz" mich als Mann nichts angeht, daß "müßige Spekulationen" für mich als einen Mann der Tat ohne Belang sind und so weiter. Schließlich und endlich hat auch der gesellschaftliche Wissensvorrat als Ganzes seine eigene Relevanzstruktur. So ist es etwa - im Sinne eines gesellschaftlichen Wissensvorrates der amerikanischen Gesellschaft - belanglos, ob jemand die Bewegungen der Gestirne verfolgt, um die der Börse vorauszusagen. Aber man untersucht den Zungenschlag einer Person, um etwas über ihr Liebesleben zu erfahren. In anderen Gesellschaften kann dagegen Astrologie für Volksvwirtschaft höchst relevant und eine Sprachanalyse für Erotik völlig irrelevant sein.

Der letzte Punkt, den wir noch kurz erwähnen wollen, ist die Distribution des Wissens, das heißt sowohl seine Auf- als auch seine Zuteilung. Wissen in der Alltagswelt begegnet mir distribuiert, das heißt, verschiedene Individuen sind seiner zu verschiedenen Teilen und auf verschiedene Weise inne. Ich teile mein Wissen nicht zu gleichen Teilen mit allen Mitmenschen. Und es mag sogar ein Wissen geben, das ich mit niemandem teile. Mein Berufswissen habe ich mit meinen Berufskollegen gemein, nicht aber mit meiner Famile. Mein Wissen über Mogeln beim Kartenspiel teile ich hoffentlich mit niemandem. Für den Außenseiter kann die gesellschaftliche Distribution des Wissens über einzelne Bestandteile der Alltagsweltwirklichkeit höchst kompliziert und verwirrend werden. So weiß ich nicht nur nicht, was gewußt werden muß, um mich von einem Leiden zu heilen. Ich weiß sogar nicht, wer aus einer verwirrenden Vielzahl von Spezialisten rechtens entscheiden kann, was mir fehlt. In solchen Fällen brauche ich nicht nur den Experten, sondern den Experten für den Experten. Die gesellschaftliche Distribution von Wissen beginnt also bei der schlichten Tatsache, daß ich nicht alles weiß, was meine Mitmenschen wissen, und sie kulminiert in höchst komplizierten und geheimnisvollen Zusammenhängen der Expertenschaft. Zumindest in großen Zügen zu wissen,  wie  der gesellschaftlich zugängliche Wissensvorrat verteilt ist, gehört zu den wichtigsten Bestandteilen eben dieses Wissensvorrates. Ich weiß in der Alltagswelt mit einiger Gewißheit, was ich vor wem geheimhalte, an wen ich mich wenden muß, um zu erfahren, was ich nicht weiß. Und ich weiß auch im allgemeinen, welche Typen von Menschen über welche Typen von Wissen verfügen sollten.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
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    Anmerkungen
    1) Wir ziehen es vor, auch in der deutschen Übersetzung das Wort  Objektivation  beizubehalten. Es ist jedoch klar, daß es aus dem Begriffspaar  Entäußerung / Vergegenständlichung  der HEGEL-MARXschen Tradition stammt. Wir wollen den Begriff freier verwenden, als es innerhalb der streng fixierten Grenzen des Begriffspaars in dieser Tradition möglich wäre, obwohl er in einer Reihe der späteren Verwendungen im Text genau dem Begriff der Vergegenständlichung entspricht.
    2) Dieser ganze Teil stützt sich auf ALFRED SCHÜTZ und THOMAS LUCKMANN, Die Strukturen der Lebenswelt. Da unsere Argumentation hier auf dem Gesamtwerk von Schütz basiert und dieser Zusammenhang von LUCKMANN in der genannten Arbeit ausführlich entwickelt wird, haben wir im Text darauf verzichtet, einzelne Hinweise auf die einschlägigen Stellen im bereits veröffentlichten Werk von SCHÜTZ zu geben. Leser, die sich mit den bisher publizierten Werken von SCHÜTZ vertraut machen wollen, seien hingewiesen auf: ALFRED SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1960; derselbe, Collected Papers, 1, 2 und 3, Den Haag 1962, 1964 und 1966. Leser, die sich dafür interessieren, wie SCHÜTZ die phänomenologische Methode der Analyse für die soziale Welt übernommen hat, mögen nachschlagen in: Collected Papers, Bd. 1, Seite 99f und bei MAURICE NATANSON (Hg), Philosophy of the Social Sciences, New York 1963, Seite 183f; derselbe, "The Phenomenology of Alfred Schütz", in: Sozial Research, Spring 1962, Seite 50f; dieser Aufsatz liegt jetzt auch als Vorwort zu "Collected Papers", Bd. 3 vor. - Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß SCHÜTZ' Denken tief in der Phänomenologie HUSSERLs verwurzelt ist. Schon in seinem Erstlingswerk "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt" versucht er, MAX WEBERs Programm einer verstehenden Soziologie durch eine phänomenologische Analyse der Sinnkonstitution zu begründen. Das Lebenswerk von SCHÜTZ könnte zutreffend als ein Versuch der Ausführung des von HUSSERL aufgestellten Programms bezeichnet werden: "... daß doch diese Lebenswelt in allen ihren Relativitäten ihre  allgemeine Struktur  hat. Diese allgemeine Struktur, an die alles relativ Seiende gebunden ist, ist nicht selbst relativ. Wir können sie in ihrer Allgemeinheit beachten und mit entsprechender Vorsicht ein für allemal und für jedermann gleich zugänglich feststellen." - Es ist nicht nötig, hier eine detaillierte Bibliographie von HUSSERLs Schriften vorzulegen. Es seien nur die für den vorliegenden Zusammenhang wichtigsten Werke genannt: "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hg W. BIEMEL), Den Haag 1962; "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie", Bd. 1 und 2, Den Haag 1952; "Zum Problem der Intersubjektivität", insbesondere  Cartesianische Meditationen,  Kap. V. Zum letzten vgl. auch SCHÜTZ,  Das Problem der Intersubjektivität bei Husserl,  in "Philosophische Rundschau, Bd. 5, 1957; RENÉ TOULEMONT, L'essence de la société selon Husserl, Paris 1962; und HERMANN ZELTNER, Das Ich und die Anderen - Husserl Beitrag zur Grundlegung der Sozialphilosophie, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 13, 1959, Seite 288-316.
    3) Der Ausdruck  Reziprozität der Perspektiven  findet sich in der dritten, abermals durchgearbeiteten und erweiterten Auflage von THEODOR LITT, "Individuum und Gemeinschaft", Berlin 1926, Seite 109f.