ra-3cr-2ra-2LockeTh. ElsenhansE. BecherE. SprangerR. Kroner    
 
THEODOR LITT
Das Allgemeine im Aufbau der
geisteswissenschaftlichen Erkenntnis

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"Was setze ich voraus, indem ich es dem Menschen zutraue, im Ineinandergreifen von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen ein allgemeines Wissen um Menschliches zu erwerben? Ich setze voraus, daß er eine Vielheit von inhaltlich abweichenden Erlebnissen nicht bloß sukzessive durchläuft, sondern auch die Fähigkeit besitzt, sie in einem verläßlichen Gedächtnis festzuhalten, in Akten der Erinnerung getreulich zu reproduzieren, nach ihrer Bedeutung zu würdigen, nach ihrem Zusammenhang zu begreifen, nach ihren Unterschieden einzuteilen und nach Gruppen zusammenzufassen."

"Weil die Wissenschaft vom Geist nicht einen Schritt tun könnte, ohne mit ihm auch schon das Ganze dieser Voraussetzungen in Kraft zu setzen, darum ist es ihr vordringlichstes Geschäft, das dergestalt Vorausgesetzte bis in den innersten Grund hinein zu erhellen und über sich selbst aufzuklären. Es ist, um in der Sprache des Idealismus zu reden, ihre erste Aufgabe, das in ihr  Vorausgesetzte zu  setzen, d. h. in das denkende Bewußtsein zu erheben, ausdrücklich namhaft zu machen, nach seinem Gehalt, seinem Gewicht und seiner Tragweite zu explizieren."

"Erst wenn sich das Denken der fraglichen Voraussetzungen in ihrem vollen Umfang versichert hat, ist es gegen die Gefahr gefeit, als vermeintliches  Ergebnis empirischer Forschung solche Sätze vorzutragen, in denen das in aller empirischen Forschung Vorausgesetzte und damit die Möglichkeit dieser Forschung selbst verneint wird. Diese Gefahr ist wahrlich nicht klein. Die Forschung könnte sich eine Unmenge von fruchtlosen Anstrengungen und leerlaufenden Bestrebungen ersparen, wenn sie sich entschließen wollte, ihre Arbeit nach Maßgabe des oben aufgestellten Postulats einzurichten."


III. Das Apriori der
Geisteswissenschaften

Nach dem bisher Ausgeführten sieht es so aus, als ob alles, was wir an Allgemeinem über Leben und Aufbau der menschlich-geschichtlichen Welt wissen können, in Generalisationen der analysierten Art besteht. Offenbar ist das auch DILTHEYs Überzeugung gewesen - eine Überzeugung, die aus den angeführten Gründen von der Mehrzahl der geisteswissenschaftlichen Forscher geteilt wird. Sollte sie begründet sein, so müßten wir uns eingestehen, daß unsr allgemeines Wissen über das Gefüge der menschlich-geschichtlichen Welt nur einen sehr relativen Grad von Sicherheit erreichen kann. Denn selbst wenn die allgemeinen Sätze, in denen dieses Wissen niedergelegt ist, sich auf eine große und ständig wachsende Zahl von Einzelerfahrungen stützen sollten, so würde doch ein jeder dieser Sätze vermöge seines logischen Charakters im Schatten der Möglichkeit stehen, daß neue Einzelerfahrungen seine Revision nötig machen. Ein niemals zum Abschluß gelangender Wechselverkehr der dargestellten Art kann nur ein Wissen hervorbringen, daß sich ständig der Berichtigung offenhält und seine Zuverlässigkeit entsprechend vorsichtig einzuschätzen gut tut.

Allein ob eine Bescheidung bei einem solchen Wissen angezeigt, ja auch nur möglich ist, das muß aus Gründen von sehr prinzipieller Art fraglich erscheinen. Und es ist höchst lehrreich, sich davon zu überzeugen, daß derselbe DILTHEY, der diese Bescheidung für geboten hält und in ihrer Notwendigkeit zu begründen versucht, in eben den Ausführungen, die er an diese Begründung wendet, ein Wissen von ganz anderer Art und ganz anderer Sicherheit - zwar nicht ausdrücklich anerkennt, wohl aber stillschweigend voraussetzt. Fragen wir nach dem Wesen desjenigen Wissens, aus dem heraus er Wesen und Grenzen des induktiven Wissens zu bestimmen versucht, so stehen wir im Angesicht desjenigen Wissens, das er im Wortlaut der zu prüfenden Aussagen ignoriert oder gar verleugnet.

DILTHEY legt sich die Frage vor: wie entsteht historische Erfahrung (verstanden als allgemeines Wissen um die Grundzüge des menschlich-geschichtlichen Daseins)? In der Beantwortung dieser Frage geht er mit Recht von den leichter überschaubaren Vorgängen aus, in denen die sogenannte "Lebenserfahrung" des einzelnen Menschen sich bildet (16). Eindringlich weiß er zu schildern, wie das eigene "Erleben", die gedankliche Vergegenwärtigung dieses Erlebens, das Auffassen des "Ausdrucks", in dem fremdes Erleben von sich Kunde gibt, und schließlich das "Verstehen" dieses Ausdrucks zusammenwirken, um generelle Vorstellungen von menschlicher Art und menschlichem Treiben entstehen zu lassen - wie in der Verarbeitung dieser Erfahrungen gewisse "Gleichförmigkeiten" immer klarer hervortreten und in Gestalt von allgemeinen Aussagen festgehalten werden.

Damit ist zutreffend dargestellt, in welcher Weise der Mensch zu Werke geht, wenn es ihm um "Lebenserfahrung" zu tun ist - wie dieses Streben zu seinem Material kommt und was es mit seinem Material anfängt. Allein diese Darstellung will ja gar nicht lediglich gewisse Verfahrensweisen schildern, die sich als zu beobachtender Tatbestand am Menschen vorfinden. Sie würde an diesen Verfahrensweisen kein so lebhaftes Interesse nehmen, wenn sie in ihnen nicht mehr vor sich zu haben glaubte als einen Kreis von faktisch gerade so und nicht anders verlaufenden Operationen, an deren Stelle sie schließlich ebensogut einen anderen zum Gegenstand der Schilderung erwählen könnte. Nein: was ihr diesen Kreis wichtig macht, das ist die  Leistung,  die sie durch ihn vollbracht glaubt. Indem sie den Ertrag der fraglichen Operationen als "Lebenserfahrung" bezeichnet, hebt sie das, was in ihrem Vollzug geschieht, über das Niveau eines beliebigen beobachtbaren Tatbestandes empor: sie werden von ihr als Akte der  Wahrheits findung anerkannt und ausgezeichnet. Es ist das - wie auch immer ergänzungs- und verbesserungsbedürftige -  Wissen  vom menschlichen Leben, das sie aus ihnen hervorgehen sieht. Sobald aber die Erörterung den von ihr ins Auge gefaßten Vorgängen diesen Charakter zuerkennt, bleibt sie nicht bei der bloßen Beobachtung dessen stehen, was sie als Tatbestand vorfindet. Die bloße Beobachtung vermöchte nichts darüber zu sagen, ob das, was bei den fraglichen Operationen herauskommt, Einbildung, Wahn oder Wissen ist. Wer den einschlägigen Vorstellungen diesen bestimmten  Geltungs wert beilegt, der geht über das, was sich beobachten und durch eine Beschreibung festhalten läßt, entscheidend hinaus. Und zwar fügt er nicht bloß zum Beschreibbaren etwas hinzu, was dessen eigenen Bestand unberührt läßt. Seine Beschreibung ist von vornherein und in allen Teilen an dem orientiert, was über das Beschreibbare hinausliegt: sie sieht die Einzelvorgänge im Licht des  Ziels,  dem sie nach ihrer Annahme mit Erfolg zustreben. Deutlicher gesagt: dieses Ziel ist über die ganze Beschreibung hin als Prinzip der Ordnung und Deutung  vorausgesetzt

Wir versuchen uns über Umfang und Gewicht dieses Vorausgesetzten Klarheit zu verschaffen. Was setze ich voraus, indem ich es dem Menschen zutraue, im Ineinandergreifen von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen ein allgemeines Wissen um Menschliches zu erwerben? Ich setze voraus, daß er eine Vielheit von inhaltlich abweichenden Erlebnissen nicht bloß sukzessive durchläuft, sondern auch die Fähigkeit besitzt, sie in einem verläßlichen Gedächtnis festzuhalten, in Akten der Erinnerung getreulich zu reproduzieren, nach ihrer Bedeutung zu würdigen, nach ihrem Zusammenhang zu begreifen, nach ihren Unterschieden einzuteilen und nach Gruppen zusammenzufassen. Ich setze voraus, daß er seine Erlebnisse in sinnlich wahrnehmbaren Aktionen unwillkürlicher oder willkürlicher Art so aus sich herauszustellen vermag, daß sie dem Mitwesen zugänglich werden. Ich setze voraus, daß er den Ausdruck mitmenschlicher Erlebnisse richtig zu deuten, das dergestalt Erschlossene oder Mitgeteilte gleichfalls sachgemäß zu ordnen, mit dem eigenen Erfahrungsbestand zu vereinigen und den Ertrag dieser Vereinigung zu stichhaltiger Erkenntnis zu verarbeiten imstande ist. Nur wenn diese Voraussetzungen ohne Abzug zu bejahen sind, besteht die Darstellung zu Recht, die aus dem Zusammenspiel der geschilderten Operationen "Lebenserfahrung", und das heißt: echtes Wissen hervorgehen läßt.

Es kommt nun alles darauf an, von den hier unter dem Titel "Voraussetzung" zusammengefaßten Sätzen jede Deutung fernzuhalten, die darauf hinauslaufen würde, daß ihnen der Charakter wirklicher Voraussetzungen entweder genommen oder zumindest nur in abgeschwächter Form gelassen würde. Das würde ganz sicher dann geschehen, wenn man sich überreden ließe, sie als Teil, Anhang oder Abschluß demjenigen Wissen zuzurechnen, das an ihnen seine Voraussetzung hat, d. h. wenn man in ihnen das Ergebnis desselben induktiven Verfahrens erblicken wollte, das die auf ihnen fußenden Sätze hervorbringt. Wir kennen die Neigungen des durchschnittlichen Denkens, die diese Angleichung begünstigen, wenn nicht fordern. Wer von keinem anderen "Allgemeinen" weiß als von dem durch eine Generalisierung von Einzelerfahrungen gewonnenen, dem muß es selbstverständlich sein, auch die als "Voraussetzungen" ausgezeichneten allgemeinen Sätze aus Induktionen hervorgegangen zu glauben und so mit den Erkenntnissen, denen sie als Voraussetzung vorgelagert sind, in eine Linie zu rücken. Er meint dann, daß auch in Worten wie "Erlebnis", "Ausdruck", "Verstehen" und den um sie sich bildenden Sätzen nur dasjenige zusammengefaßt ist, was sich aus so und so vielen Einzelfällen der so benannten Betätigungen als durchschnittliche Auffassung ihres Wesens herauskristallisiert hat. Allein diese logische Nivellierung verbietet sich aus einem sehr einfachen Grund. Angenommen, es wäre als psychologisches Faktum festzustellen, daß diese Sätze  in concreto,  d. h. von diesem oder jenem, von den meisten oder von allen Menschen auf dem Weg induktiver Verallgemeinerung gewonnen würden, so würde das nichts daran ändern, daß ein jeder der so Verfahrenden das, was er als Ergebnis der Induktion vorlegt, zugleich als Bedingung ihrer Gültigkeit voraussetzt. Denn der im Sinn seiner Aussage liegende Anspruch auf Geltung würde nur unter der Bedingung zu Recht bestehen, daß ihm als denkendem Subjekt diejenigen Leistungsmöglichkeiten zuzusprechen wären, die er durch Induktion ermittelt zu haben glaubt. Zwei Beispiele mögen das damit Gemeinte veranschaulichen. Daß das Erinnerungsvermögen, durch welches ich die Mannigfaltigkeit meiner "Erlebnisse" aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinhole, zuverlässig ist, das glaube ich vielleicht aufgrund einer Induktion, nämlich aufgrund der Erwägung behaupten zu können, daß es doch bereits in so und so vielen Fällen die Probe bestanden hat. Aber ich vergesse dabei, daß diese induktive Feststellung nur unter  der  Voraussetzung eine Zustimmung fordern darf, daß der Erinnerungsakt, in dem ich mir diese Vielzahl von Erprobungen zusammenfassend vergegenwärtige, seinerseits wieder Vertrauen verdient. Dieses Vertrauen darf ich aber dann nicht wieder durch Induktion aus früheren Bewährungen rechtfertigen wollen. Denn an diese früheren Bewährungen darf ich ja nur dann glauben, wenn auf die gegenwärtige Verlaß ist. Weiter! Daß es ein "Verstehen" gibt, welches durch die Deutung von "Ausdruck", unwillkürlichem und willkürlichem, fremdes Seelenleben zutreffend erfaßt, davon glaube ich vielleicht deshalb überzeugt sein zu dürfen, weil dieses Vermögen sowohl mir selbst als auch unzähligen anderen Menschen schon so viele Proben seiner Leistungsfähigkeit abgelegt habe. Abermals eine induktive Verallgemeinerung! Aber dabei entgeht es mir, daß ich jeden einzelnen der Vorgänge, durch welche ich dieses Vermögen bewährt glaube, seinerseits wieder "verstanden" haben muß, um ihn als Beweismaterial heranziehen zu können. Das liegt ohne weiteres zutage, soweit ich mich auf solche Bewährungen des "Verstehens" berufe, die  anderen  Menschen beschieden waren. Denn woher soll ich um deren einschlägige Erfahrungen wissen wenn nicht durch das "Verstehen" sei es von ausdrücklichen Mitteilungen, sei es von deutungsfähigen Verhaltensweisen, die mir vom Erfolg ihrer Verstehensbemühungen Kenntnis gaben! Aber auch wenn ich das ins Feld führe, was  mir selbst  an hierher gehörigen Erfahrungen zuteil geworden ist, bleibt das Grundverhältnis das gleiche. Auch ich, der ich heute ein ganz anderer bin als ich dann und wann einmal war, muß gleichfalls die Verstehensakte meines damaligen Ich (durch ein "Hineinversetzen") "verstehen", um sie mir mit der Gewißheit ihres Gelingens vergegenwärtigen zu können. Auch hier ist es also so, daß ich dem Vermögen, dessen Vertrauenswürdigkeit ich durch Induktion erhärten möchte, im Vollzug der Induktion selbst das Vertrauen schenke, dessen Berechtigung zur Diskussion steht. Wir sehen: man kann sich nicht die Leistungskraft des Erinnerns durch ein abermaliges Erinnern, die Leistungskraft des Verstehens durch ein abermaliges Verstehen garantieren lassen. Man kann nicht die Gültigkeit der Induktion durch eine fortgesetzte Induktion nachweisen. Es ist und bleibt ein innerer Widerspruch, dasjenige, was eine notwendige Bedingung jeder Induktion ist, selbst wieder auf induktivem Weg ermitteln und sicherstellen zu wollen. Wie weit auch das Denken mit seinen induktiven Feststellungen ins Umfassende und Grundsätzliche zurückgehen mag, immer wieder sieht es hinter dem durch Induktion Auszumachenden dasjenige auftauchen, was jeder denkbaren Induktion als Bedingung vorangeht.

Wir sagen demnach nicht zuviel, wenn wir den Sätzen, in denen diese Voraussetzungen ausgesprochen werden, im Verhältnis zu den durch Induktion gewonnenen Aussagen den Charakter der  "Apriorität"  beilegen. Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß dem Begriff des "Apriori" damit ein Inhalt gegeben ist, der von dem durch KANT kanonisierten abweicht. Wir können, wenn wir KANTs nicht immer ganz eindeutige Ausdrucksweise nach einer bestimmten Richtung hin präzisieren, den Unterschied folgendermaßen bestimmen. "Apriorisch" im Sinne KANTs sind diejenigen Begriffe bzw. Sätze, die davon Rechenschaft geben, in welche logische Formen das vom Subjekt Gedacht gefaßt sein muß, damit ihm der Geltungswert von "Erfahrung" beigemessen werden kann. "Apriorisch" in unserem Sinn sind diejenigen Begriffe bzw. Sätze, die davon Rechenschaft geben, welcher Leistungsformen das Subjekt des Denkens fähig sein muß, damit dem von ihm Gedachten der Geltungswert von "Erfahrung" beigemessen werden kann. Unser Begriff des "Apriori" schließt das mit dem kantischen Apriori Gemeinte insofern in sich, als natürlich, sofern es logische Formen von "apriorischer" Notwendigkeit gibt, zu den "apriorisch" zu bestimmenden Leistungsformen des Subjekts auch das Vermögen gehören muß, diese logischen Formen denkend anzuwenden (17).

Das hiermit aufgedeckte Apriori ist ein im strengsten Sinne des Wortes "Allgemeines". Denn es umfaßt, als "Bedingung der Möglichkeit", nicht nur alle wirklichen, sondern auch alle möglichen Fälle von induktiver Verallgemeinerung. Aber dieses Allgemeine kann aus dem einfachen Grund nicht aus der Vielheit der Fälle, die es umspannt, "abstrahiert" sein, weil ein jeder dieser Fälle überhaupt nur unter der Voraussetzung des in ihm Ausgesagten möglich ist.

Wir haben die Bedingungen, die dieses Apriori in sich zusammenfaßt, durch eine Analyse der "Lebenserfahrung" aufgedeckt. Es erhellt sich ohne weiteres, daß auf diesen Bedingungen auch die Möglichkeit derjenigen "Erfahrung" beruth, die wir in den allgemeinen Sätzen der Geisteswissenschaft niedergelegt finden. Nur daß sich das Apriori auf diesem Feld in eben dem Maß ausweitet und kompliziert, wie das für diese Erfahrung bereitliegende Material den Umfang des einzelmenschlichen Daseins und seines Ertrags an Lebenserfahrung überschreitet. Erlebnis, Ausdruck und Verstehen müssen auch hier einander in die Hände arbeiten, damit eine gültige Erkenntnis zustande kommt - aber ihr Wechselverkehr nimmt nun all die Formen der Übertragung, Vermittlung und Überlieferung in sich auf, die erforderlich sind, auf daß zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander abstehenden Geschlechtern Brücken des Verständnisses geschlagen werden können. Je mehr nun mit der Ausdehnung der Aufgabe die Bemühungen des Denkens an Weitläufigkeit und Kompliziertheit zunehmen, umso stärker macht sich das Gewicht der Voraussetzungen fühlbar, die erfüllt sein müssen, wenn die durch eine Induktion zu gewinnende "Erfahrung" den in diesem Namen liegenden Anspruch erfüllen soll. Man braucht, um sich dessen zu vergewissern, nicht in die Weite zu schweifen. Ein einziger Fall historischer Quellenbenutzung, wirklich bis auf den Grund analysiert, öffnet uns die Augen dafür, wie Vieles der betreffende Forscher bereits an Möglichkeiten der Berührung, Mitteilung, Erschließung, Darstellung voraussetzen muß, um seine Aufgabe auch nur in Angriff nehmen zu können. Das gilt ganz unabhängig davon, ob und wie weit er geneigt und imstande ist, sich von Umfang und Tragweite dieses geisteswissenschaftlichen Apriori Rechenschaft zu geben.

Was dieses Apriori enthält, das ist uns im Verfolgen der Frage offenbar geworden, was in jeder  generalisierenden  Erkenntnis der Geisteswissenschaften als "Bedingung der Möglichkeit" vorausgesetzt ist. Es ist aber leicht einzusehen, daß dieses Apriori nicht nur der generalisierenden, sondern auch der  individualisierenden  geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde liegt. Der Wechselverkehr, der, wie bemerkt, beide Gruppen von Erkenntnissen verbindet, setzt ja ein Gemeinsames voraus, das der Begegnung zur Grundlage dient, und es ist nichts anderes als dieses Gemeinsame, was in der beiderseitigen Geltung des nämlichen Apriori seinen logischen Ausdruck findet. Wenn wir z. B. im "Verstehen" eine Grundfunktion des geisteswissenschaftlichen Denkens anzuerkennen haben, so liegt es auf der Hand, daß diese Funktion so gut im Erfassn des Individuellen wie in der Vergegenwärtigung des dieses Individuelle mitumfassenden Generellen am Werk ist. Die Durchleuchtung dieser Funktion bringt also der individualisierenden nicht weniger als der generalisierenden Geisteswissenschaft ihre notwendigen Voraussetzungen zu Bewußtsein.

Mit dieser Erweiterung der dem geisteswissenschaftlichen Apriori zukommenden Kompetenz sind wir nun auch in der Lage, dasjenige an seinen logischen Ort zu stellen, was wir selbst im Vorausgegangenen über die Funktion der allgemeinen Wortbedeutungen im Aufbau der individualisierenden Erkenntnis dargelegt haben. Auch diese Darlegungen danken ihren Inhalt der induktiven Verallgemeinerung dessen, was die Beobachtung des Wortgebrauchs in so und so vielen "Fällen" geisteswissenschaftlichen Sprechens gelehrt hätte. Was hätte bei einer solchen Beobachtung an logisch brauchbaren Ergebnissen herauskommen können! Wir kamen zu der gesuchten Klarheit in der Verfolgung der Frage: Was  muß  den Ausdrücken der individualisierenden Geisteswissenschaft an Bedeutung innewohnen, wenn es ihnen gelingen soll, das Verstehen des Individuellen zu wecken und zu fördern? Und der im Lauf der Erörterung herangezogene Einzelfall hatte nicht die Bestimmung, für eine induktive Verallgemeinerung das Material herzugeben, sondern nur das, was stets und überall sein "muß", an einem Paradigma anschaulich zu machen. Was uns also über das Wesen des in den Wortbedeutungen präsenten Allgemeinen Aufschluß gab, das war dasjenige Allgemeine, über dessen logische Struktur wir uns in den letzten Überlegungen klar geworden sind.

Wir kehren nunmehr, nachdem wir das Apriori der geisteswissenschaftlichen Erfahrung aufgedeckt haben, zu den Darlegungen DILTHEYs zurück, die den Ausgangspunkt dieses Gedankengangs gebildet haben. Sie sind aufgrund des Ermittelten in das Licht folgender Überlegungen zu rücken.

DILTHEY fragt nach der logischen Struktur der allgemeinen Aussagen in den Geisteswissenschaften. Er glaubt ihren logischen Charakter dahin bestimmen zu sollen, daß sie nur im Wechselverkehr mit den individualisierenden Aussagen der Geisteswissenschaften, also nur auf dem Weg der Induktion zustandekommen können. Was die Geistesgeschichte an gegenteiligen Meinungen und Versuchen kennt, wird von ihm als "konstruktive" Gewaltsamkeit verworfen. Allein er würde in dieser Hinsicht vorsichtiger geurteilt haben, wenn er sich dazu verstanden hätte, diejenigen Aussagen, in denen sich  seine eigene  Auffassung entwickelt und begründet, auf ihre logische Struktur hin zu untersuchen. Denn diese Aussagen haben ohne Zweifel Allgemeines zum Inhalt, und doch hieße es ihren logischen Charakter gründlich mißverstehen, wollte man sie gleichfalls auf eine induktive Verallgemeinerung zurückführen. Ist doch das, was diese Aussagen enthalten, nichts Geringeres als ein grundlegender Beitrag zur Klärung des geisteswissenschaftlichen Apriori, von dem wir gerade erkannt haben, daß es nicht aus einer induktiven Verallgemeinerung hervorgegangen sein kann. In der Trias "Erleben, Ausdruck, Verstehen" haben wir geradezu das Kernstück derjenigen Begriffe vor uns, die, wie es oben ausgedrückt wurde,
    "von den Leistungsformen Rechenschaft geben, deren das Subjekt fähig sein muß, demit dem von ihm Gedachten der Geltungswert von  Erfahrung  beigemessen werden kann".
Wenn wir uns fragen, warum DILTHEY es unterlassen hat, auf die logische Struktur seiner eigenen Aussagen zu reflektieren, so kann darauf nur geantwortet werden, daß er einem Hang des Denkens zum Opfer gefallen ist, der schon mehr als einen Philosophen daran gehindert hat, bis zum letzten vorzustoßen: er ließ sein Denken völlig durch dasjenige in Beschlag nehmen, was ihm als  Gegenstand  der Untersuchung vor Augen stand - in diesem Fall die seelischen Hergänge, in denen die induktiven Aussagen der Geisteswissenschaften entstehen - und versäumte darüber die Rückwendung auf die Aussagen, in denen er selbst diesen seinen Gegenstand aufzuklären beschäftigt war. So mußte dasjenige Allgemeine seiner Aufmerksamkeit entgehen, von dessen Bestehen und Bedeutung er durch den Gehalt seiner eigenen Ausführungen Zeugnis ablegte.

Indessen scheint hier eine Erwiderung am Platz, die den Vorwurf einer Versäumnis gegenstandslos machen würde. Ist denn das Allgemeine, das DILTHEY bei einer Rückwendung auf sein eigenes Tun zu Gesicht bekommen hätte, wirklich ein den  Geisteswissenschaften  zugehöriges Allgemeines? Genauer gesagt: hätte er in den von ihm selbst vorgetragenen Aussagen bei ausdrücklicher Zuwendung Sätze erkannt, denen im Ganzen der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis ein Platz gebührt? Nur in diesem Fall wäre ja der Einwand gerechtfertigt, daß er die allgemeine Erkenntnis der Geisteswissenschaft, deren Aufklärung sein Thema war, nur unvollständig in Betracht gezogen hat.

Es sieht so aus, als ob, wenn die Frage in dieser Klarheit gestellt wird, ihre Verneinung selbstverständlich wäre. Wie sollten Sätze, die über die Bedingungen möglicher Geisteswissenschaft Auskunft geben, selbst ein Stück Geisteswissenschaft sein? Wie sollte das Vorausgesetzte ein Teil dessen sein können, das an ihm seine Voraussetzung hat? Etwas so Ungereimtes anzunehmen scheint umso weniger Anlaß, als die fraglichen Sätze, wie man bei näherem Zusehen zu bemerken glaubt, die Geisteswissenschaft überhaupt nicht in einer so besonderen und ausschließlichen Weise angehen, wie bis zu dieser Stelle angenommen wurde. Der Komplex von Voraussetzungen, den wir für die Geisteswissenschaften als  ihr  Apriori meinten reservieren zu sollen, hat in Wahrheit eine sehr viel größere Verbreitung. Mit diesen Voraussetzungen rechnet  jede  ernsthafte Denkbemühung, was auch ihre Absicht und ihr Gegenstand sein mag. Vertrauen zur Zuverlässigkeit des Gedächtnisses, zur ordnenden Kraft der Vernunft, zur Fähigkeit des Aussprechens, des Mitteilens, des Verstehens muß doch wohl überall vorhanden sein, wo man überhaupt das Wagnis des Denkens auf sich nimmt. Es mag die Pflicht der Philosophie sein, diese Voraussetzungen, die normalerweise gemacht, aber nicht ausdrücklich expliziert werden, in das Licht des denkenden Bewußtseins zu erheben. Aber wenn sie sich dieser Pflicht annimmt, so ist nicht zuzugeben, daß sie damit ein Werk verrichtet, das die Geisteswissenschaften näher berührt als irgendeine andere Bestrebung des geordneten Denkens. Sollte dem so sein, so hätte DILTHEY nichts unterlassen, was er seinem besonderen Thema schuldig war.

An diesem Einwand ist so viel richtig, daß das in Frage stehende Apriori in der Tat die Bedingungen fixiert, die überall gelten müssen, wo überhaupt "Erfahrung" gleichviel welchen Inhalts angestrebt wird. Allein das schließt nicht aus, daß es trotzdem mit den Wissenschaften vom Geist in einem besonders engen, ja einem einzigartig verpflichtenden Verhältnis steht. Wann immer das in einem Apriori Ausgesprochene als Voraussetzung einer Erkenntnisbemühung in Kraft tritt, die sich auf die  "geistige  Welt" richtet, gewinnt es eine Bedeutung, die ihm zweifellos nicht zukommt, solange es einem  nicht  auf den Geist bezüglichen Erkenntnisstreben zugrunde liegt. In dieser letzteren Funktion wird es uns besonders durch die Erkenntnisarbeit der Naturwissenschaft vor Augen geführt. Der Erforscher der "Natur" kann es sich gestatten, auf die ausdrückliche Vergegenwärtigung des Apriori, das er nicht weniger als der Erforscher des Geistes voraussetzt, Verzicht zu leisten, denn das, was in diesem Apriorie ausgesagt wird, trägt nichts zur Bestimmung dessen bei, was er erforschen will. Es kann unbeleuchtet in seinem Rücken liegenbleiben, ohne daß der Bestimmung seines Gegenstandes dadurch Abbruch geschähe. Wollte der Erforscher des Geistes dem Apriori ebensowenig Beachtung schenken, dann würde er dem seine Aufmerksamkeit versagen, was dem von ihm zu Erforschenden - zumindest  als notwendiger Teil angehört.  Was er in seinem Rücken liegen läßt, das kann nicht unbeachtet bleiben, ohne daß die Bestimmung seines Gegenstandes zu kurz käme. Denn darüber ist doch kein Zweifel möglich: jene "Leistungsformen", von denen das Apriori Rechenschaft ablegt, sind Betätigungen eben des Geistes, dessen Wesen zu bestimmen sie eingesetzt werden, und damit ein Teil desjenigen, was durch sie bestimmt  werden  soll. Jene Grundfunktionen, durch welche die Erhellung der geistigen Welt möglich wird, haben  innerhalb  der Welt, die zu erhellen sie eingesetzt werden, ihre wohlbestimmte Stelle. Das Bild dieser Welt würde unvollständig sein, wenn sie nur  an  ihm tätig, nicht  in  ihm vertreten wären. Man sieht: nur hier ist die Lage die, daß das Apriori, indem es die Bedingungen der Gegenstandsbestimmung ausspricht, auch schon mit der Gegenstandsbestimmung ausspricht, auch schon mit der Gegenstandsbestimmung selbst den Anfang gemacht hat. Die Erforschung dessen, was selbst nicht Geist ist, weiß nichts von einer solchen Verschränkung.

Nun aber ist die vorläufig zugelassene Redewendung, die das im Apriori Aufgedeckte einen "Teil" dessen nannte, was zu erforschen der Wissenschaft vom Geist obliegt, durch eine angemessenere Kennzeichnung zu ersetzen. Denn sie wird der wirklichen Bedeutung des im Apriori beschlossenen Wissens nicht im Entferntesten gerecht. Bedenken wir doch, daß die in der Begriffstrias "Erlebnis, Ausdruck, Verstehen" erfaßten Betätigungen des Geistes nicht erst in der Arbeit der Wissenschaft auftreten, nicht nur in der Arbeit der Wissenschaft eine Sendung erfüllt haben. Sie durchziehen als notwendige Grundverrichtungen das menschlich-geistige Dasein in all seinen Dimensionen und Provinzen. Die Aufklärung der Dienste, die die allgemeinen Wortbedeutungen der Wissenschaft vom Geist leisten, war nicht zum wenigsten deshalb so aufschlußreich, weil sie zeigte, daß die Wortbedeutungen dieser Wissenschaft gerade durch diejenigen Eigenschaften unentbehrlich sind, die ihnen schon im vor- und außerwissenschaftlichen Leben der Sprache zukommen. Entsprechendes gilt von all den Leistungsmöglichkeiten, von denen das geisteswissenschaftliche Apriori Rechenschaft gibt. Sie alle führen in der Erfüllung der Obliegenheit, die ihnen in der Erkenntnis des Geistes zufällt, nur solche Funktionsweisen zu einer gewissen Vollendung, die im außerwissenschaftlichen Bereich erwachsen und großgezogen sind. Daraus erhellt sich, daß die im Apriori liegende Aufklärung nicht nur einen "Teil" der geistigen Welt ins Licht rückt, sondern  das ganze Grundgerüst des geistig-menschlichen Seins  und zwar mit Einschluß seiner sinnlich-leiblichen Seite (Ausdruck, Sprache!),  in Begriff faßt.  Genauer gesagt: die Begriffe, die zunächst dasjenige festzulegen bestimmt sind, was die Wissenschaft vom Geist möglich macht, erhellen von hier aus auch das ganze Gefüge des Lebens, das sich in dieser Wissenschaft auf sich selbst besinnt, und damit das Gefüge derjenigen Wirklichkeit, an der diese Wissenschaft ihren Gegenstand hat. Oben haben wir das Insgesamt der Voraussetzungen entwickelt, die in den Begriffen "Erlebnis, Ausdruck, Verstehen" enthalten sind. Wer dieses Insgesamt überschaut, dem kann es nicht zweifelhaft sein, daß in ihm in der Tat die Grundstruktur alles wahrhaft menschlichen Daseins aufgedeckt ist.

Unfraglich verrichtet also die Wissenschaft von der "geistigen Welt" ihr Werk unter Bedingungen, die im Gesamtbereich der wissenschaftlichen Forschung nicht ihresgleichen haben. Sie allein ist darauf angewiesen, die Grundzüge des von ihr zu Erforschenden nicht in der Weise ausfindig zu machen, daß sie ihrer, geradeaus blickend, als der am Gegenstand hervortretenden Bestimmungen ansichtig würde, sondern so, daß sie sie, rückwärts blickend, als die schon im Visieren des Gegenstandes enthaltenen Voraussetzungen ans Licht bringt. Man lese aus diesem Satz nicht mehr heraus, als in ihm enthalten ist! Nicht so ist er zu verstehen, als ob das Denken,  ehe  es sich dem Geist als seinem Gegenstand überhaupt zugewandt hat, sich des mit dieser Zuwendung Vorausgesetzten vorweg in einer abgeschlossenen Überlegung zu versichern auch nur die Möglichkeit hätte. So wenig sich ein Verhalten begreifen läßt ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen, durch die es möglich wird, so wenig sind diese Voraussetzungen ohne Rücksicht auf das Verhalten zu begreifen, das durch sie möglich wird. "Voraussetzungen" sind eben immer Voraussetzungen  von  etwas. Was feststeht, ist nur dies, daß, ist dieses unzerteilbare Grundverhältnis als solches einmal erkannt und anerkannt, die Klärung der Voraussetzungen aus dem einfachen Grund die  logische  Prärogative [Vorrecht - wp] haben muß, weil jede einzelne der durch sie ermöglichten Leistungen, deren Zahl unbegrenzt ist, schon mit ihrem Bestehen rechnet. Weil die Wissenschaft vom Geist nicht einen Schritt tun könnte, ohne mit ihm auch schon das Ganze dieser Voraussetzungen in Kraft zu setzen, darum ist es ihr vordringlichstes Geschäft, das dergestalt Vorausgesetzte bis in den innersten Grund hinein zu erhellen und über sich selbst aufzuklären. Es ist, um in der Sprache des Idealismus zu reden, ihre erste Aufgabe, das in ihr "Vorausgesetzte" zu  "setzen",  d. h. in das denkende Bewußtsein zu erheben, ausdrücklich namhaft zu machen, nach seinem Gehalt, seinem Gewicht, seiner Tragweite zu explizieren und damit gleichsam in aller Form auf sich zu nehmen (18).

Wie notwendig es ist, diese Ordnung des Vorgehens einzuhalten, das lehren die Irrungen, denen das Denken nur allzu leicht zum Opfer fällt, sobald es gegen sie verstößt. Erst wenn es sich der fraglichen Voraussetzungen in ihrem vollen Umfang versichert hat, ist es gegen die Gefahr gefeit, als vermeintliches "Ergebnis" empirischer Forschung solche Sätze vorzutragen, in denen das in aller empirischen Forschung Vorausgesetzte und damit die Möglichkeit dieser Forschung selbst verneint wird. Diese Gefahr ist wahrlich nicht klein. Es gibt keine Geisteswissenschaft, deren Geschichte nicht von den Irrtümern berichtet hätte, die sich einzig und allein aus der Vernachlässigung der genannten Forderung ergeben haben und immer von Neuem ergeben. Die Forschung könnte sich eine Unmenge von fruchtlosen Anstrengungen und leerlaufenden Bestrebungen ersparen, wenn sie sich entschließen wollte, ihre Arbeit nach Maßgabe des oben aufgestellten Postulats einzurichten. Drei Wissenschaften mögen das Recht dieses Satzes illustrieren: die Wissenschaft von der Seele, die Wissenschaft von der Gemeinschaft, die Wissenschaft von der Sprache. Kein  Psychologe  sollte es versäumen, sich die Frage vorzulegen, was er an Leistungsmöglichkeiten der Seele bereits voraussetzung, indem er eine psychologische Theorie, deren Erzeugung doch wohl auch den seelischen Tatbeständen angehört, aufzustellen und als "wahr" auszugeben den Mut aufbringt. Wäre diese Rechenschaftsablage niemals unterblieben, so wäre keine der psychologischen Lehren ans Licht getreten, deren Widerlegung die psychologische "Ganzheits"theorie so viel Mühe gekostet hat. Kein  Soziologe  sollte darüber hinwegsehen, daß er selbst, indem er eine Lehre von der Gemeinschaft ausdenkt, ausspricht, niederschreibt, veröffentlicht, verbreitet und verteidigt, das mit dem Namen "Gemeinschaft" bezeichnete Lebensgefüge mitsamt den in ihm beschlossenen Möglichkeiten, Anreizen, Förderungen, Notwendigkeiten als das Medium dieses seines eigenen Tuns voraussetzt und sich zunutze macht. Wäre diese Rechenschaftsablage niemals unterblieben, so würden weder Doktrinen vom Typus der "atomistischen" noch solche vom Typus der "kollektivistischen" Gesellschaftsauffassung Verwirrung gestiftet haben. Kein  Sprachforscher  sollte vergessen, daß er seine Theorie nur im engsten Bund mit einer Sprache entwickeln, festhalten und kundtun kann, deren Leistungskraft er nicht nur im Zug seiner Forschungsarbeit erst entdeckt und nachweist, sondern vielmehr mit dem ersten Schritt dieser Arbeit bereits voraussetzt und in seinen Dienst stellt. Wäre diese Rechenschaftsablage niemals unterblieben, so würden die sprachlichen Bedeutungen niemals das Schicksal der Entleerung und Verflüchtigung erfahren haben, das ihnen durch positivistische, psychologistische, naturalistische Sprachtheorien so oft bereitet worden ist.

Wir können das Fazi aus all dem in dem Satz zusammenfassen: keine empirische Geisteswissenschaft, zumal keine systematische Geisteswissenschaft kann es ohne die zugehörige Philosophie geben - und das bedeutet: ohne das  Ganze  der Philosophie! Und zwar hat sich die damit geforderte Kooperation der Regel zu unterstellen, daß denjenigen Sätzen, in denen die Philosophie die notwendigen Voraussetzungen jeder emprischen Wissenschaft vom Geist ausspricht, vor allen Sätzen dieser Wissenschaft der Vorrang gebührt.

Wer es wagt, die Philosophie der empirischen Forschung dergestalt voranzustellen, der darf gewiß sein, daß er bei der Mehrzahl der auf diesem Feld Tätigen lebhaftem Widerspruch begegnen wird. Sie erblicken in der Proklamation dieser Forderung den Versuch, das Rad der Entwicklung wieder einmal kräftig rückwärts zu drehen. Die Wissenschaft vom Geist - so heißt es auf dieser Seite - sei erst dann zu unbehinderter Entwicklung gelangt, als sie die Vormundschaft der Philosophie abgeschüttelt hat. Jetzt werde ihr aufs Neue zugemutet, das "furchtbare Bathos [Tiefpunkt - wp] der Erfahrung" zu verlassen und sich in die Botmäßigkeit einer Disziplin zu begeben, durch deren konstruktive Machtsprüche sie sich lange genug in der Verfolgung ihres eigenen Weges habe beirren lassen.

Allein diese Verwahrung, so starken Widerhall sie auch bei den Beteiligten finden würde, beruth auf einer radikalen Verkennung dessen, was hier für die Philosophie an Vorrechten in Anspruch genommen wird. Wenn dieser Philosophie ausdrücklich und allein die Aufgabe gestellt wird, diejenigen Voraussetzungen ins Licht des denkenden Bewußtseins zu erheben, die der fachwissenschaftliche Forscher, ob wissend oder nichtwissend, jeder einzelnen seiner Aufstellungen zugrunde legt - wie dürfte ihr dann der Ehrgeiz nachgesagt werden, durch konstruktive Festsetzungen in das Geschäft der emprischen Forschung hineinzureden! Gewiß darf die Philosophie, auch wenn sie sich streng in den Schranken dieses ihres Auftrags hält, sich vor der Anklage der Kompetenzüberschreitung nicht sicher fühlen. Denn allzu groß ist die Zahl der empirischen Forscher, die immer noch im größeren Teil von dem, was sie in Erfüllung dieses Auftrages ausspricht, nur die usurpatorische [widerrechtliche - wp] Vorwegnahme von dem erblicken können, was zuverlässig zu ermitteln und durch tragfähige Gründe zu stützen einzig und allein der empirischen Wissenschaft gelingen kann. Und wie oft glauben nicht die "reinen" Empiriker die Aussagen dieser Philosophie durch das Gegenzeugnis feststehender "Tatsachen" zu Fall bringen zu können! Der alte und niemals durch einen Friedensschluß zu beendende Krieg der Ideen- und Erfahrungsgläubigen hat immer wieder Behauptungen dieses Inhalts gezeitigt. Aber immer wieder ist es auch diesen Behauptungen so ergangen, daß ihre Spitze vom Angegriffenen auf den Angreifer zurückgebogen wurde. Denn im einen, dem milderen Fall, lassen sie erkennen, daß ihr Verfechter es entweder nicht fertig gebracht oder überhaupt nicht versucht hat, sich die Voraussetzungen, auf denen sein eigenes Tun tatsächlich beruth, in vollem Umfang zu Bewußtsein zu bringen. Im anderen Fall wird durch sie geradezu bewiesen, daß der Anwalt der empirischen Forschung sich mit seiner eigenen Forschung auf Irrwege verloren hat. Denn es gibt keine Tatsachen, durch deren empirische Feststellung die Möglichkeit einer empirischen Tatsachenfeststellung verneint würde. Alle Einwände dieser Art zeigen nur, wie sehr derjenige, der sie vorbringt, es nötig hat, von der Philosophie über das in seinen eigenen Denkbemühungen Vorausgesetzte aufgeklärt zu werden.

Wenn er aber dann doch noch dieser Aufklärung deshalb mit Mißtrauen begegnet, weil sie sich nicht gleich seiner eigenen Erkenntnis durch empirische Befunde bewahrheiten läßt, dann ist ihm folgendes zu erwidern. Einmal ist es ein sinnwidriges Verlangen, dasjenige empirisch bewahrheitet zu sehen, was jeder möglichen empirischen Bewahrheitung als notwendige Bedingung voraufliegt. Sodann aber steht es mißlicherweise so, daß man unmöglich die Wahrheit derjenigen Sätze, die von den notwendigen Bedingungen aller induktiven Feststellungen Rechenschaft geben, anzweifeln oder verneinen kann, ohne daß diese Anzweiflung bzw. Verneinung sich auch auf die Gesamtheit derjenigen Sätze erstreckt, in den induktive Feststellungen erfolgen. Denn diesen kommt genau und nur das Maß an Vertrauen zu wie den Funktionen des Denkens, durchwelche sie hervorgebracht werden. Diese Funktionen des Denkens aber sind es ja gerade, von deren Leistungskraft die angefochtenen Sätze der Philosophie Zeugnis ablegen. Diese Sätze bestreiten heißt diese Funktionen anzweifeln, diese Funktionen anzweifeln heißt ihren Früchten, d. h. aber den induktiven Feststellungen mißtrauen.

Es ist wirklich nicht anders: die induktiven Ergebnisse der Forschung stehen und fallen mit den nicht-induktiven Sätzen der Philosophie, gegen welche die angebliche Überlegenheit der reinen Induktion ausgespielt wird. Aber nicht genug, daß die philosophische Aufklärung des Apriori, was die Sicherheit ihrer Geltung angeht, hinter den empirisch gewonnenen Wahrheiten nicht um Haaresbreite zurücksteht, hat sie ihnen ein logisch Entscheidendes voraus. Kein auf induktivem Weg gewonnener Satz kann einen solchen Grad von Sicherheit erreichen, daß seine Berichtigung oder Widerlegung durch neue Erfahrungen schlechthin ausgeschlossen wäre. Es liegt in seinem unablegbaren logischen Charakter, daß er sich die Revision ständig offenhalten muß. Wie aber steht es mit den auf die Induktion bezüglichen Sätzen der Philosophie (denen auch diese zuletzt vorgetragenen Sätze zuzurechnen sind?) Kann auch ihnen Geltung nur unter dem Vorbehalt zuerkannt werden, daß sie durch neue Erfahrungen abgewandelt oder gar umgestoßen werden könnten? Wollte man eine solche Berichtigung auch nur als ferne Möglichkeit offenlassen, so würde man diejenigen Sätze, die über die Bedingungen  jeder möglichen  Induktion Auskunft geben, selbst auf das Niveau induktiver Wahrheiten herabdrücken. Und man würde vergessen, daß der neue Befund, der der Annahme gemäß die Revision veranlassen soll, als Beitrag zur "Erfahrung" nur bei einer Erfüllung der Bedingungen gelten kann, die in den angeblich zu revidierenden Sätzen formuliert sind. Von beiden Seiten her zeigt sich also: es liegt im unveräußerlichen logischen Charakter der philosophischen Sätze, daß sie, in denen die Bedingungen jeder möglichen Erfahrung ausgesprochen sind, durch keine neue Erfahrung erschüttert oder gar umgestoßen werden können.

Natürlich darf der Hinweis auf dieses logische Prae [Vor - wp] nicht so verstanden werden, als solle mit ihm nun doch dem Apriori etwas von der Festigkeit eines "Grundes" zugesprochen werden, der auch dann bestehen bleibt, wenn das auf ihm Gegründete nicht die Probe hält. Nur als Zug am aufgedeckten logischen Gefüge, nur unter der Voraussetzung der in ihm obwaltenden Relationen gibt es diesen logischen Rangunterschied. Aber  innerhalb  dieses Rahmens hält er dann auch jedem Zweifel stand.

Nachdem an den in Frage stehenden Sätzen der Philosophie nun auch noch diese Überlegenheit des Geltungscharakters hervorgetreten ist, ist es vollends offenbar, daß die empirische Geisteswissenschaft, was ihr Verhältnis zur Philosophie angeht, zwischen zwei und  nur  zwei Möglichkeiten zu wählen hat: entweder Erfahrungswissen anstreben, dann aber auch die Sätze bejahen, in denen die Bedingungen möglichen Erfahrungswissens niedergelegt sind, oder diese Sätze verneinen, dann auch aber das Streben nach Erfahrungswissen als unerfüllbar fallen lassen!

Dieselben Gründe, die der empirischen Forschung die Geltung des apriorischen Wissens anzuzweifeln verbieten, entziehen auch einer anderen Bemängelung den Boden, die ihm nicht selten von dieser Seite her widerfährt. Hat sich die Wahrheit der fraglichen Einsichten als unangreifbar erwiesen, dann wird der  Wert  der durch sie gewonnenen Erleuchtung angefochten. Es geschieht mit der Begründung, sie seien zu "formal", zu "abstrakt", als daß dem Wissen an ihnen sonderlich gelegen sein kann. Das ist im Grunde nichts anderes als der soeben kritisch beleuchtete Einwand, nur so umgewendet, daß er nicht mehr die Geltung, sondern die Wissenswürdigkeit des in den apriorischen Sätzen Ausgesagten betrifft. Es ist wieder die inhaltliche Bestimmtheit, die Handgreiflichkeit des empirisch Aufzeigbaren, die gegen die angebliche Leere und Verblasenheit des apriorisch Begriffenen ausgespielt wird. Aber dieser Angriff wird nicht weniger an sich selbst zunichte als sein logisches Seitenstück. Sein Recht wäre ja überhaupt nur unter der Voraussetzung diskutabel, daß empirische und apriorische Erkenntnis wie zwei säuberlich geschiedene Provinzen des Wissens nebeneinander liegen und so miteinander verglichen werden könnten wie zwei Objekte, von denen ein jedes auch ohne das andere das sein würde, was es ist. Genau das Gegenteil ist der Fall. Folglich kann man nicht die Wissenswürdigkeit des apriorisch Aussagbaren bestreiten, ohne das mit ihm in strengster Verschränkung stehende empirische Wissen dieser Mißachtung auszuliefern. Beide sind, sowohl was ihre Geltung als auch was ihren Wert angeht, durch die vollkommenste Solidarität verbunden. Statt das apriorische Wissen durch den Vorwurf der Abstraktheit aus dieser Gemeinschaft herauszureißen, sollten die Angreifer sich lieber klarmachen, daß dieser Vorwurf, wenn überhaupt, nur gegen dasjenige Wissen erhoben werden kann, das ihnen, weil in der Empirie gegründet, vollkommen vor ihm gesichert scheint. "Abstrakt" dürfen allenfalls diejenigen Erkenntnisse heißen, die durch empirische Generalisation gewonnen sind. Denn sie können ja, wie wir wissen, nicht zustande kommen, ohne am Bestand des Konkreten die logisch geforderten Abstriche vorzunehmen. Das apriorische Wissen ist zu ähnlichen Eingriffen weder genötigt noch versucht.

Aber auch abgesehen von der aufgedeckten Selbstwiderlegung muß sich der Zweifler einer nicht zu duldenden Kurzsichtigkeit bezichtigen lassen. Denn es heißt doch wirklich vor dem Wesentlichsten die Augen verschließen, wenn man sich nicht eingestehen will oder kann, von welchem Gewicht dasjenige ist, was erst durch die apriorischen Sätze in die Helligkeit des Wissens emporgehoben wird. Merkt denn die empirische Forschung nicht, wie ungeheuerlich, wie kaum glaublich die Kraft des Sehens und Erschließens ist, die sie mit der unbefangen-selbstverständlichen Ausübung seines Amtes sich selbst und damit dem Menschen überhaupt beilegt? Daß das individuelle Subjekt, dieses äußerlich gesehen so unsagbar vergängliche Geschöpf, die Fähigkeit besitzen soll, durch die erinnernde Aufbewahrung, durch eine mitteilende Kundgabe, durch das deutende Verständnis, durch eine begriffliche Sichtung und Ordnung die Schranken seiner Sonderexistenz zu durchbrechen und sich über das Universum des geistigen Daseins auszubreiten - wer dies alles anzunehmen wagt, der hebt damit den Menschen zum Rang einer irdischen Gottheit empor. Denn er gibt ihm etwas von der Allgegenwart und Allwissenheit, die der Fromme dem Ewigen glaubt vorbehalten zu sollen. Und er läßt die durch ein solches Wissen erleuchteten Monaden in einem Geisterreich vereinigt sein, in dessen Unendlichkeit alle Enge der räumlich-zeitlichen Existenz, alle Beschränktheit des leiblichen Daseins zu einer untergeordneten Äußerlichkeit herabsinkt. Ist es nicht so, daß dieses naiv Vorausgesetzte an grundsätzlicher Tragweite alles durch die Empirie Auffindbare hinter sich läßt? Wenn die Philosophie es als ihre Sache ansieht, das Ganze dieser Annahmen ans Licht zu ziehen und in Form des Begriffs zu explizieren, so verliert sie sich in keine Scheinwelt von leeren und unfruchtbaren Abstraktionen, sondern sie lehrt den Forscher sich von einem unerhörten Anspruch Rechenschaft geben, den er mit jedem Schritt seines Vorgehens erhebt, und sich die Verantwortlichkeit des Beginnens eingestehen, dessen er sich als Vollstrecker dieses Anspruchs erkühnt. Und sie öffnet dem Menschen die Augen für die unsichtbare Welt, aus der heraus und in die hinein er unaufhörlich sinn, redet und handelt, ohne ihre Gegenwart recht wahrhaben zu wollen.

Wir erkennen so in dem, was die empirische Geisteswissenschaft in der ganzen Breite ihrer Arbeit voraussetzt, nichts Geringeres als eine in ihren Grundzügen eindeutig festliegende  Metaphysik.  Es ist die vorherrschende Meinung, daß das metaphyische Denken erst dort einsetzt, wo die empirische Forschung nicht mehr weiter kann, wo sie an ihre "Grenzen" stößt. Und aufgrund dieser säuberlichen Aufgabenteilung glaubt man dann die Forschung in der Lage oder gar verpflichtet, gegenüber den großen Gegensätzen einer metaphysischen Weltdeutung die Neutralität zu wahren. Es ist hier nicht der richtige Ort, darüber nachzusinnen, ob das für die Naturwissenschaft zutrifft. Für die Geisteswissenschaft steht und fällt mit einer bestimmten Metaphysik - mit derjenigen Metaphysik, in deren Sätzen das ausgesprochen ist, was sie unausgesprochen voraussetzt.
LITERATUR: Theodor Litt, Das Allgemeine imAufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 93, Heft 1, Leipzig 1941
    Anmerkungen
    16) DILTHEY, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Seite 132f.
    17) KANTs Theorie des Apriori hat darin ihre Grenze, daß sie das Apriori nur als Form des vom Subjekt gedachten  "Gegenstandes"  aufsucht und dann auch noch diesen Gegenstand in seinen wesentlichen Zügen mit dem Gegenstand der mathematischen Naturwissenschaft zusammenfallen läßt. Das hat zur Folge, daß die  Selbst erkenntnis des Geistes, zu dessen Leistungen das Denken dieses Gegenstandes gehört, zwar in Angriff genommen wird - denn de Transzendentalphilosophie will ja die Besinnung des Geistes auf eine Grundfunktionen sein - aber doch hinsichtlich ihres logischen Charakters, d. h. hinsichtlich  ihres  Apriori unerforscht bleibt.
    18) Dies sind die logischen Zusammenhänge, die meines Erachtens einer  phänomenologischen  Grundlegung der Wissenschaft vom Geist im Weg stehen, wie ich sie früher selbst für möglich gehalten und versucht habe. Die Phänomenologie hat den Durchbruch zu wesentlichen Einsichten dadurch vorbereitet, daß sie die Grenzen des durch Induktion zu gewinnenden Wissens aufzeigte und die Notwendigkeit einer nicht-induktiven Grundlegung erkannt. Aber in der Durchführung bliebt sie insofern auf halbem Weg stehen, als ihr das in nicht-induktiver Denkhaltung zu Erfassende doch wieder zu einem "Gegenstand" ("Wesen") wurde, den man bei einer entsprechenden Einstellung zu "schauen" vermag. Auf diese Weise widerfuhr es auch ihr, daß sie, mit dem Blick an dem zu "schauenden" Gegenüber haftend, die Voraussetzungen aufzuklären unterließ, die sie machte, indem sie für die aus dieser Schau resultierenden Aussagen den Charakter einer unbedingten Geltung in Anspruch nahm.