ra-3M. SchelerTh. NagelK. MannheimW. JerusalemW. Stark    
 
HANS-JOACHIM LIEBER
Wissen und Gesellschaft
[Die Probleme der Wissenssoziologie]
[2/3]

"Etwas eine  Ideologie nennen, heißt für  Marx: es als die mehr oder weniger bewußte Verhüllung eines Tatbestandes bezeichnen, dessen wahre Erkenntnis nicht den realen Interessen des denkenden Subjekts entspricht. Jedes Denken steht jetzt in dem Verdacht, die Tatsachen und ihre Zusammenhänge zu entstellen, sie bewußt zu fälschen und so zu deuten, daß sie sich in die  Ideologie fügen, die nur dazu erdacht wurde, um die Interessen zu verhüllen, die der  Ideologe eigentlich verfolgt. Ein an eine Ideologie gebundenes Erkennen kann daher auch stets nur zu falschen Urteilen gelangen, und sie sind falsch, weil die Bindungen des denkenden Subjekts an bestimmte Interessen den Durchstoß zur wahren Erkenntnis der Sachverhalte verhindern".

"In der Wissenssoziologie soll das Verhältnis von Wissen und sozialem Leben untersucht und festgestellt werden, welchen bestimmenden Einfluß das Letztgenannte auf die Gestalt, die Struktur und den Inhalt des Erstgenannten ausübt. Damit verfolgen die Vertreter der Wissenssoziologie genau die gleiche Absicht, wie sie auch  Marx verfolgt. Für  Marx ist das ganze Geistesleben, sowohl in seinen Objektivationen wie auch in seiner Lebendigkeit im Subjekt, ein Überbau, der sich über den allein realen gesellschaftlichen Verhältnissen erhebt, sich auf ihnen aufbaut."

"In der Wissenssoziologie ändert sich das Verhältnis von Gegenstand und Erkennen. Der Gegenstand ist nicht mehr als  ansich Seiender dem Erkennen  gegeben, sondern er wird erst im Vollzug des Erkennens zu einem solchen. Erweist sich dieser Erkenntnisvollzug nun als seinsverbunden, dann fehlt jedes  absolute, vom historischen Standort des Erkennenden abgelöste Kriterium der Wahrheit."

"Für  Marx denken nicht  die Proletarier, sondern  das Proletariat. Das Proletariat urteilt, hat eine Weltanschauung usw. Hierin liegen deutlich Nachwirkungen der hegelschen Philosophie. Ein soziales Gebilde, das sich auf bestimmten Beziehungen zwischen Menschen aufbaut, wird zu einem handelnden Wesen erhoben. Das ist auch bei allen anderen noch zu behandelnden Vertretern der Wissenssoziologie der Fall."


I. Kapitel
Wissenssoziologie und Ideologienlehre

Durch die innige Verbundenheit der wissenssoziologischen Fragestellung mit den von MARX aufgestellten Lehren gewinnt auch der Ideologiebegriff für sie eine entscheidende Bedeutung. Was bedeutet der Begriff Ideologie? - Was ist damit gemeint, wenn bestimmte Ideen und Vorstellungen unter dem Begriff "Ideologie" zusammengefaßt werden? -

Der zunächst nur als Bezeichnung für die "science des idées" verwendete Begriff hat schon durch NAPOLEON, stärker noch durch MARX einen ziemlich eindeutigen, die mit dem Wort gemeinte Sache abwertenden und verdächtigen Sinn erhalten. Das wirkt bis auf den heutigen Tag nach und spielt insbesondere in der Auseinandersetzung politischer Parteien eine entscheidende Rolle (23). Für NAPOLEON sind "Ideologen" die Vertreter einer Wissenschaft, die durch Zergliederung und Beschreibung der seelischen Tätigkeiten des Menschen und ihrer Inhalte, der Vorstellungen (idées), praktische Regeln für Erziehung, Recht und Staat zu gewinnen suchten. Er bezeichnet ihre Lehre als Ideologie, weil er sie für wirklichkeitsfern und für die politische Praxis für unbrauchbar erachtet. Diese geringschätzige Bedeutung des Wortes  Idedologie  wird von MARX aufgenommen und noch stärker betont. Etwas eine  Ideologie  nennen, heißt jetzt: es als die mehr oder weniger bewußte Verhüllung eines Tatbestandes bezeichnen, dessen wahre Erkenntnis nicht den realen Interessen des denkenden Subjekts entspricht (24). Jedes Denken steht jetzt in dem Verdacht, die Tatsachen und ihre Zusammenhänge zu entstellen, sie bewußt zu fälschen und so zu deuten, daß sie sich in die "Ideologie" fügen, die nur dazu erdacht wurde, um die Interessen zu verhüllen, die der "Ideologe" eigentlich verfolgt. Ein an eine Ideologie gebundenes Erkennen kann daher für MARX auch stets nur zu falschen Urteilen gelangen, und sie sind falsch, weil die Bindungen des denkenden Subjekts an bestimmte Interessen den Durchstoß zur wahren Erkenntnis der Sachverhalte verhindern (25).

Das Wesen der Ideologie besteht also darin, daß der von ihr ergriffene Mensch zu einem objektadäquaten Erkennen unfähig wird, und der Sinn und Zweck einer  Ideologienlehre  ist es, das nachzuweisen und die Gründe hierfür aufzudecken. Da MARX diese Gründe in der Absicht der Menschen erblickt, die von ihnen in den gesellschaftlichen Verhältnissen verfolgten Interessen zu verdecken und zu verhülen, so könnte man die Ideologienlehre des Marxismus auch eine Soziologie der Verdächtigung, der Aufdeckung dessen, was "hinter den Ideologien steckt" nennen. In der  Wissenssoziologie  und ihrer Forschungsintention dagegen handelt es sich allein um "jene Fälle, bei denen nicht so sehr der bewußte Wille zur Lüge und Verhüllung Aussagen in eine bestimmte Richtung treibt, sondern bei denen sich das gesellschaftliche Gefüge mit allen seinen Phänomenen offenbar notwendigerweise den an verschiedenen Punkten dieses Gefüges verankerten Beobachtern verschieden gibt. Nicht also die Verhüllungsabsicht bestimmt in allen diesen Fällen die "Einseitigkeit" und "Falschheit" der Aussagen, sondern die unvermeidlich verschieden geartete Bewußtseins struktur  der verschieden gelagerten Subjekttypen im historisch-sozialen Raum" (26). Die Fragestellung der Wissenssoziologie ist dementsprechend eine grundsätzlich andere. Sie lautet nicht: Durch welche Bindungen des erkennenden Subjekts an eine Ideologie und an hinter ihr stehende Interessen sind seine Aussagen nicht objektadäquat, also falsch, sondern: wann und wo ragen historisch-soziale Strukturen in die Art des Denkens hinein und in welchem Sinn können sie diese  in concreto  bestimmen. Der Begriff eines "falschen" Bewußtseins, der in der Ideologienlehre so häufig gebraucht wird, wird daher in der Wissenssoziologie bewußt vermieden. Hier spricht man von sozialstandortgebundenen Bewußtseins- oder "Aspektstrukturen" (27). Auf die historischen und systematischen Voraussetzungen einer solchen wissenssoziologischen Fragestellung: den Durchbruch des historischen Bewußtseins einerseits und die kantische Revolution der Denkart und ihre Neubelebung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften andererseits wurde in der Einleitung hingewiesen.

Die Wissenssoziologie hat erst in den Arbeiten KARL MANNHEIMs (28), durch die Besinnung auf ihre Voraussetzungen, ihre scharfe Abgrenzung gegen die Ideologienlehre erreicht. Trotz der hervorgehobenen Differenzen zwischen Ideologienlehre und Wissenssoziologie aber sind auch Gemeinsamkeiten nicht zu verkennen (29). Sie gründen in dem Bestreben, geistige Gebilde, Ideen und Haltungen nicht nur aus sich selbst, durch ein direktes Eingehen auf das in ihnen Gemeinte, aus ihrem Gehalt zu verstehen und zu beurteilen, sondern außertheoretische, geistfremde Faktoren als an ihrem Zustandekommen beteiligt anzuerkennen.

Forscht man nach den ersten Anfängen wissenssoziologischen Denkens, so ist es sachlich kaum zu rechtfertigen, wenn MANNHEIM und im Anschluß an seine Arbeiten auch GRÜNWALD und BARTH (30) glauben, sie in der Philosophie der Aufklärung auffinden zu können. Das trifft allenfalls für die Ideologienlehre und auch da nur unter bestimmten Einschränkungen zu, keinesfalls aber für die eigentliche Wissenssoziologie. MANNHEIM und die anderen genannten Denker dachten bei diesem Rekurs auf die geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung insbesondere an die Lehre von den Täuschungen menschlichen Denkens, die durch bestimmte Vorurteile hervorgerufen werden. Diese Vorurteile haben für den Philosophen der Aufklärung ihren Ursprung teils in bestimmten Idolen, wie bei BACON, teil im Priestertrug. Das durch seine Vernunft zu einem objektadäquaten und daher auch allgemeingültigen und wahren Denken und Erkennen befähigte Subjekt erfährt nach dieser Lehre durch bestimmte teils subjektive teils objektive Mächte Bewußtseinstrübungen, Verbiegungen, Verschleierungen und Verhüllungen. Und es gehört eine geistige Anstrengung, ja nach KANT sogar Mut dazu, sich von diesen verhüllenden und täuschenden Vorurteilen zu befreien (31).

"Der menschliche Geist ist kein reines Licht, sondern erleidet einen Einfluß vom Willen und von den Gefühlen", das ist die Lehre BACONs, auf die sich die genannten Denker vor allem beziehen (32). Eine quasi-soziologische Deutung dieser Täuschungen des Denkens durch willensmäßige und gefühlsmäßige Vorurteile liegt nun da vor, wo etwa in der Idolenlehre BACONs das Zusammenleben von Menschen oder in der Priestertrugtheorie die geistige Beherrschung von Menschen für die Ausbildung und immer erneut erstrebte Durchsetzung jener Vorurteile eine außergewöhnliche Beachtung erfahren. So entsteht die Täuschung und Verschleierung des Denkens nach BACON (33) zu einem sehr großen Teil aus der Herrschaft der "Götzenbilder des Marktes" über die Menschen, wobei das Wort  Markt  hier gerade die "gegenseitige Berührung und Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts" bezeichnen soll. Die zwischen Menschen bestehenden Beziehungen gewinnen also für die Ausbildung der täuschenden Vorurteile hier eine Bedeutung. Ebenso enthält auch die Lehre vom Priestertrug soziologische Motive, denn es ist nach der Meinung der Aufklärer vor allem die Befriedigung des Machttriebes oder rein ökonomischer Interessen, die die Priester veranlaßt, die Masse des Volkes in einer geistigen Abhängigkeit und Unmündigkeit zu erhalten und die Anerkennung der herrschenden, vor allem der religiösen Vorurteile immer erneut und rücksichtslos zu fordern.

Wenn nun auch soziologische Begründungen der das Denken täuschenden und verschleiernden Vorurteile von den Philosophen der Aufklärung gegeben werden, so kann doch in dieser ganzen Lehre ein direkter Vorläufer der Wissenssoziologie nicht gefunden werden. Handelt es sich in der eigentlichen Wissenssoziologie ausschließlich um die Frage, wie und in welcher Weise Denken und Wissen durch die konkrete Gestalt der ihnen zugehörenden sozialen Verhältnisse inhaltlich mitbedingt sind, eine inhaltliche Beeinflussung, Abwandlung, Gestaltung und womöglich auch Geltungseinschränkung erfahren, so richtet sich der Blick der Aufklärer ausschließlich darauf, daß durch das Zusammenleben der Menschen ihr Denken  gestört  wird. Dabei bezeichnet schon der Terminus "Störung" den eigentlichen Unterschied dieser Lehre der Aufklärung von jeder echten Wissenssoziologie (34).

Es sind vor allem zwei Voraussetzungen, die die Lehre der Aufklärer grundsätzlich von jeder Wissenssoziologie unterscheiden:
    1. Die Behauptung, daß der Mensch als vernünftiges Wesen prinzipiell eines allgemeingültigen und wahren Denkens fähig ist, wenn er sich nur auf sein eigentliches Wesen, die Autonomie und Selbständigkeit des Geistes besinnt und aus ihr lebt und alle ihn hieran hindernden äußerlichen Einflüsse überwindet und ausschaltet.

    2. Die einem naiven unkritischen Realismus entstammende Annahme, das Erkennen sei ein Abbilden der in der Außenwelt gegebenen Gegenstände im Bewußtsein, wodurch ein Wissen um die Beschaffenheit der Dinge entsteht, so wie sie ansich sind. Die Wahrheit besteht dann in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Beschaffenheit der Gegenstände und gilt als objektadäquat.
Hiernach sind jene Täuschungen, die die Philosophen der Aufklärung behandeln, nicht etwa dem Denken des Menschen wesenhaft Zugehörendes und mit dem Wesen des menschlichen Lebens unmittelbar Verbundenes, sondern sie kommen nachträglich durch das Verflochtensein des Menschen in verschiedene, auch soziale Lebensbezüge zum Denken hinzu. Sie lenken das Denken vom rechten Weg ab und verfälschen es. Dieses selbst aber bleibt der allgemeingültigen und wahren Erkenntnis fähig, weil der Mensch als Mensch ein Vernunftwesen ist. Zu einer solchen wahren Erkenntnis ist nur erforderlich, daß der Mensch sein Denken von allen äußeren Täuschungen und Irrtümern kraft seiner Vernunft befreit, daß er also selbständig und frei im Geiste wird. Eine solche Befreiung des Denkens von Trugbild, Täuschung, Vorurteil und Jllusion ist nun auch die eigentliche Absicht der Aufklärer. Sie glauben, endlich jenen die Menschen beherrschenden Täuschungen, Irrtümern und "Ideologien" auf den Grund gekommen zu sein, die sie davon abhalten, ein vernünftiges Wesen und damit auch im Denken selbständig, frei und zugleich wahr zu werden. Dadurch, daß gezeigt wird, daß die Ideologien Erfindungen der Machthaber und der Priester sind, die ihrem Interesse an der Begründung und Erhaltung der Macht über die Gemüter der Menschen dienen, sollen die Vorurteile von Grund auf zerstört und die Menschen zur Besinnung auf ihr eigentliches, vernünftiges Wesen veranlaßt werden. Die Absicht und das Ziel all dieser gedanklichen Bemühungen der Aufklärung ist also ein praktisches: den Menschen zu einem geistig autonomen Wesen zu erziehen.

Bezeichnet man im Anschluß an MANNHEIM (35) eine Disziplin, die im angegebenen Sinn die  Destruktion  eines Komplexes von Täuschungen, die dem Menschen als solche noch nicht bewußt geworden sind, zum Ziel hat, als Ideologienlehre, so könnten diese Gedankengänge der Aufklärungsphilosophie als Ideologienlehre par excellence angesehen werden (36). Ihre vor allem erkenntnistheoretischen Grundsätze sind dabei, um es noch einmal zusammenzufassen: Der Mensch ist als Vernunftwesen prinzipiell wahrer Erkenntnis und wahren Denkens fähig. Die sein Denken beherrschenden Irrtümer und Täuschungen sind etwas relativ Äußerliches und können daher auch beseitigt werden. Eine solche Beseitigung dieser das Denken überlagernden Täuschungen und Ideologien durch eine Aufdeckung ihrer Motive ist daher auch das Ziel der Aufklärungsphilosophie.

Für den vorliegenden Zusammenhang ist an dieser Lehre folgendes wichtig: Das Motiv, das zur Ausbildung einer Ideologie und zu ihrer Verbreitung führt, ist nach der Meinung der Aufklärer das Interesse der Mächtigen an der Herrschaft über die Gemüter der Menschen und an der Erhaltung des Zustandes ihrer geistigen Unmündigkeit. Die Entstehung und die Verbreitung von Ideologien werden als  psychologisch  aus dem Machttrieb und Geltungsbedürfnis ihrer Erfinder erklärt, so wie es dann von NIETZSCHE und PARETO wieder versucht wurde. Von ihnen aber wurden die Ideologien in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben anders bewertet. Sie erscheinen nicht mehr als Täuschung und Trug, die als solche zu entlarven sind, sondern als lebensfördernde und machtsteigernde Jllusionen, die im Kampf ums Dasein mehr leisten als die Wahrheiten (37).

Die Philosophen der Aufklärung kannten das Wort  Ideologie  bis auf einige Ausnahmen nicht, wohl aber war ihnen der damit bezeichnete Sachverhalt bekannt (38). In der hier nur kurz gekennzeichneten Lehre von den Idolen und von den das Denken beherrschenden und täuschenden Vorurteil fehlen jedoch zwei Gedankengänge, die für die Ideologienlehre des Marxismus wesentlich sind.
    1. Die erkenntnisthemmenden Vorurteile, die die Philosophen der Aufklärung zu zerstören trachten, wie etwa  Bacons  "idola fori" beziehen sich auf  jede  Gesellschaft ohne Rücksicht auf ihre historisch sich wandelnde Struktur. Das historisch Gewordene und Einmalige findet in der Philosophie der Aufklärung noch nicht die starke Beachtung, die es etwa in den Arbeiten  Herders  und des deutschen Idealismus gewinnt. In der Wissenssoziologie und auch im Marxismus wird aber gerade die Abhängigkeit des Wissens von einer  bestimmten  Gesellschaftsstruktur und der Wandel des Wissens mit dieser Struktur erforscht.

    2. Die Gedankengänge der genannten Philosophen der Aufklärung stellen lediglich den schlichten Sachverhalt fest, daß gefühlsmäßige, willensmäßige oder triebhafte Motive das Erkennen beeinflussen. Es fehlt aber noch die aggressive Tendenz, durch die diese erkenntnishemmenden Einflüsse als absichtliche und bewußte Verhüllungen und Verschleierungen des Denkens verdächtigt werden.
Sind die Lehren der Philosophen der Aufklärung nur bei Beachtung dieser Unterschiede von den Absichten von MARX als Ideologienlehre zu bezeichnen, so besteht zur eigentlichen Wissenssoziologie überhaupt keine sachliche Beziehung. Handelt es sich in der Wissenssoziologie vor allem um den Nachweis einer Übereinstimmung von bestimmten geistigen Haltungen, die im Wissen und Denken ihren Niederschlag finden, mit ganz bestimmten Strukturen des ihnen zugeordneten gesellschaftlichen Gefüges, und ist die in ihr verfolgte Absicht insofern eine hermeneutische, als eben der Nachweis der "Seinsverbundenheit" des Wissens zunächst nur ein vertieftes Verstehen von Geistesgebilden und Denkhaltungen bestimmter Art ermöglichen soll, so enthält jede Ideologienlehre eine Tendenz und eine gewisse Aggressivität mit negativer Absicht. Ihre Vertreter wollen durch den Rekurs auf psychologische Motive auf die sich historisch wandelnden Interessen, bestimmte Geistesgebilde destruieren, sie als bewußte Täuschungen enthüllen und somit die eigentlichen Triebfedern für ihren Geltungsanspruch zu Bewußtsein bringen. Ihre Position ist damit fast immer durch eine Gegnerschaft irgendwelcher Art bestimmt.

Die Ideologienlehre verdiente in diesem Zusammenhang vielleicht gar keine so breite Behandlung, wenn sie nicht durch den Marxismus eine stark historische und soziologische Bedeutung erhalten hätte und über ihn bis auf den heutigen Tag auf die Wissenssoziologie und ihre Fragestellung einwirkte (39). MARX hat als Erster, seinem Grundsatz folgend, daß das sozial-ökonomische Sein das Bewußtsein des Menschen bestimmt, bewußt wissenssoziologisch gearbeitet. Und zwar war sein Ausgangspunkt infolge der Verbundenheit mit HEGEL durchaus bestimmt durch das Bemühen um ein Verstehen geschichtlicher Vorgänge: das Bewußtsein - in der weitesten Bedeutung dieses Begriffes - wurde als eingelagert in den realen, von ihm primär als ökonomisch gedeuteten Lebensprozeß und daher auch als mitbedingt durch ihn angesehen. Wie sich der ökonomische Lebensprozeß wandelt, so wandelt sich die Art des Denkens, die Art der geistigen Bewältigung der historischen Wirklichkeit.

Nun ist es aber interessant, daß in den Arbeiten von MARX diese eigentlich wissenssoziologische Konzepton seiner Gedanken durch die Absicht einer Enthüllung von Ideologien, von Täuschungen, die das Denken beeinflussen, immer wieder durchbrochen wird. Wissenssoziologie und Ideologienlehre werden von MARX nicht scharf genug unterschieden. So will er einerseits nachweisen, daß das Denken und das ganze Geistesleben des Menschen in seinen Inhalten wie auch in seiner Struktur eindeutig durch die Struktur der sozial-ökonomischen Verhältnisse determiniert ist, in denen er lebt, und daß es aus dieser Abhängigkeit, dieser "Seinsverbundenheit" nicht herausgelöst werden kann. Andererseits aber verfolgt er die Absicht, und das entspricht den sozialrevolutionären Tendenzen seines Werkes, das Denken der Menschen bestimmter Gesellschaftsgruppen als durch ihre sozial-ökonomische Lage und die dadurch bewirkten Interessen verfälscht zu entlarven. Die "Seinsverbundenheit" des Denkens bestimmter sozialer Gruppen, insbesondere des Bürgertums, wird jetzt zur Ursache der Falschheit ihres Denkens und seiner Ergebnisse. Erst dadurch, daß MARX in dieser Weise die erkenntnishemmenden Ideologien auf sozial bedingte und historisch sich wandelnde Gruppeninteressen zurückführt, gewinnt die Ideologienlehre für die Wissenssoziologie eine Bedeutung. Es ist daher selbstverständlich, daß die Lehren von MARX im Folgenden eine breitere Darstellung erfahren.

Dabei kann es sich nicht um eine Darstellung und Kritik dieser Lehren bis in alle Einzelheiten hinein handeln. Die marxistische Geschichtsphilosophie und der ihr eigentümliche Entwicklungsbegriff, insbesondere die sogenannte dialektische Methode und die Schwierigkeiten, die sich bei ihrer Anwendung ergeben, wenn der metaphysische Untergrund der HEGELschen Philosophie fortfällt, desgleichen der naive  Rousseauismus der MARX alles Heil vom Proletariat erwarten läßt: das alles kann im vorliegenden Zusammenhang nur insofern eine Beachtung und Erwähnung finden, als es für die Klärung der Eigentümlichkeiten der Wissenssoziologie von Belang ist. Die Absicht der folgenden Ausführungen ist also begrenzt. Es gilt eine Antwort auf die Frage zu finden: Wo hat die Wissenssoziologie historisch ihren Ort und welche Eigenarten zeichnen den ersten Versuch wissenssoziologischer Forschung und Deutung geistigen Lebens aus? - Bei der Darstellung wird, um es noch einmal zu sagen, besonders darauf zu achten sein, wo Wissenssoziologie und Ideologienlehre ineinandergreifen.

Da ist zunächst auf den Zusammenhang von MARX und darüber hinaus der gesamten Wissenssoziologie mit HEGEL zu verweisen. In HEGELs System und insbesondere in seiner Geschichtsphilosophie gelangt, nach dem Durchbruch des historischen Bewußtseins bei HERDER, die sogenannte historische Theorie auch in der Philosophie zur vollen Auswirkung. Gerade deshalb gehen auch heute noch die Geisteswissenschaften, deren Vertreter sich dieses "historische" Denken fast durchweg zu eigen gemacht haben, in beinahe allen ihren Grundbegriffen auf HEGEL zurück, und deshalb ist auch die Geschichtsphilosophie HEGELs das eigentliche Fundament der geisteswissenschaftlichen Forschungsmethode, die wir heute als Wissenssoziologie bezeichnen. Mit "historischem Bewußtsein" meinen wir hier nicht nur jenes Verstehen des Historikers, das den Eigenwert des Historisch-Individuellen anerkennt und sich gegen jede verallgemeinernde Beurteilung des Geschichtlichen wendet. In unmittelbarer Verbindung mit dieser Anerkennung des Historisch-Individuellen kommt auch ein neues Lebens- und Weltgefühl auf, das dem Bereich der Kultur und des objektiven Geistes gegenüber ein anderes Verhalten begründet. Der Bereich der Kultur wird jetzt als gebunden an und verbunden mit dem "Leben" der ihn tragenden Völker erlebt, die als Individualitäten höherer Ordnung aufgefaßt werden. Der Begriff des Lebens erhält erst jetzt seine volle Bedeutung. Gerade hierauf ist mit besonderem Nachdruck hinzuweisen. Erst dadurch, daß sich diese Anschauung von der "Lebensverbundenheit" der Kultur und des Geistes durchgesetzt hat, wird die wissenssoziologische Fragestellung überhaupt möglich. Freilich darf dabei nicht unerwähnt bleiben, daß "Leben" in der Wissenssoziologie infolge ihrer Anknüpfung an MARX inhaltlich etwas anderes bedeutet als etwa bei HEGEL der Begriff des  Volkslebens. 

Die Übernahme und weitere Ausbildung der historischen Theorie erfolgt bei HEGEL durch seine Lehre von den Volksgeistern, ihrem geschichtlichen Wechsel und Zusammenhang. Alle einzelnen objektiven Kulturgebiete und -gebilde, wie Staat, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und selbst Denken und sittliche Haltung des Einzelmenschen, sind in ihrer Eigenart von einem Volksgeist bestimmt. "Objektivierter Geist" und subjektiver Geist sind vom "objektiven Geist" eines Volkes in einer bestimmten Weise inhaltlich vorgeprägt (40). Kein Mensch kann für HEGEL aus dem "Pneuma" dieses objektiven Volksgeistes und dem ihm entsprechenden Leben des Volkes heraus. - Lediglich die "welthistorischen Individuen" bilden hier zum Teil eine Ausnahme. - Der umfassendste und adäquateste Ausdruck des Wesens eines Volksgeistes liegt für HEGEL im Staat. Der Staat ist das "Material", in dem ein Volksgeist sein Wesen zur vollen Ausgestaltung und Auswirkung im konkreten Leben eines Volkes bringt (41). Es ist daher nur konsequent, wenn es für HEGEL ein geistiges Leben außerhalb des Staates eigentlich nicht gibt und wenn auch das höchste Prinzip sittlichen Verhaltens von ihm in der Eingliederung des Menschen in den Staat erblickt wird. "Werde Staat!" Diesen nicht nur ethisch gemeinten Imperativ könnte man mit HEGEL als die Richtschnur für das Denken und Handeln der Menschen aufstellen. Staaten aber sind nicht absolute und ewige, sondern historisch sich wandelnde, entstehende und vergehende Gebilde, die einander ablösen und deren Ablösung und Wandlung von einem umfassenden Geschichts- und Kulturprozeß selbst bestimmt ist.

Bliebe HEGEL bei einer bloßen kulturzyklenhaften Auffassung vom Aufgang und Niedergang der Staaten als Kulturträger stehen, dann wäre gerade bei der in seiner Lehre vorliegenden Bindung des einzelmenschlichen Geistes und seiner konkreten Gestalten an den Staat ein ethischer und kultureller Relativismus und Pessimismus eine genau so notwendige Konsequenz, wie er als Ergebnis der SPENGLERschen Kulturmorphologie ausgesprochen wird.

Einer solchen relativistischen Gefahr entgeht HEGEL dadurch, daß in seiner Philosophie neben der historischen Theorie mit gleicher Stärke auch noch Elemente der Aufklärungsphilosophie einerseits und der christlichen Heilsplanlehre in säkularisierter Form andererseits wirksam sind. Schon sein oberstes geschichtsphilosophisches Axiom: "daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist", überwindet grundsätzlich die relativistischen Gefahren einer konsequent vertretenen historischen Theorie. Die einzelnen Individualitäten, die Subjekte, Völker und Staaten, werden bei HEGEL als in einen umfassenden sinnhaften Prozeß aufgenommen angesehen.

Die Grundgedanken der Geschichtsphilosophie HEGELs können hier wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Sie seien nur thesenartig zusammengefaßt: Der Gott der christlichen Heilsplanlehre wird in HEGELs Philosophie zum Weltgeist, zur Weltvernunft. Dieser Weltgeist aber stößt die Welt nicht von außen, sonder er ist, lebt und wirkt in ihr, er durchwebt den Prozeß geschichtlichen Werdens. Dieses Leben des Geistes  in  der Geschichte ist nur möglich, wenn der Weltgeist nicht als eine statische, in sich ruhende und fertige Macht gedeutet, sondern dynamisiert wird. So wird er für HEGEL zu sich entwickelnden Entelechie [Eigenschaft von etwas, sein Ziel in sich selbst zu haben - wp]. Er macht eine in der Geschichte sich vollziehende Entwicklung durch, die eine Einheit bildet, bei der Anfang und Ziel der Bewegung in eins zusammenfallen und sich lediglich in ihren Seinsmodi unterscheiden. Der Weltgeist  ist  die Weltgeschichte. Er ist ein Entwicklungsprozeß, in dem ein Ansich, ein Potentielles zu einem Fürsich, zu sich selbst bewußter Realität gelangt.
    "Das Ziel der Weltgeschichte ist also", sagt  Hegel,  "daß der Geist zum Wissen dessen gelangt, was er wahrhaft ist, und dieses Wissen gegenständlich macht, es zu einer vorhandenen Welt verwirklicht, sich als objektiv hervorbringt." (42)
Diese Entwicklung des Weltgeistes vom Ansich zum Fürsich seines Wesens ist für HEGEL keine geradlinig aufsteigende Bewegung, sondern ein dialektischer Prozeß. Eine Reihe von sinnvoll miteinander verbundenen Stufen bildet die Entwicklung des Geistes, und diese Stufen stehen wie These, Antithese und Synthese zueinander und lösen einander ab. Die einzelnen Volksgeister sind diese Stufen im Entwicklungsgang des Weltgeistes, sie bezeichnen das Bewußtsein, das er sich im Laufe seiner Entwicklung von seinem eigenen Wesen errungen hat. Wenn das Wesen des Weltgeistes von HEGEL dann als die Freiheit bezeichnet wird, so können die einzelnen Volksgeister nichts anderes sein als Stufen oder Stadien des Freiheitsbewußtseins und HEGELs These erhält ihren vollen Sinn: die Weltgeschichte sei ein stufenweiser Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.

Nach dem angeführten Zitat kann das Wesen und die Aufgabe eines Volksgiestes nur darin bestehen, dieses Freiheitsbewußtsein im Bewußtsein der ihm angehörenden Individuen einerseits und in den objektiven Gebieten seines kulturellen und politischen Lebens andererseits in einem so starken Maß auszuprägen und auszugestalten, daß wirklich davon gesprochen werden kann: der Geist habe das Bewußtsein seiner Freiheit realisiert, er habe es als voll erfüllte Realität objektiv vor sich. Der individuelle Geist ist nach HEGEL für den Weltgeist das Mittel und Werkzeug zu dieser Realisierung, durch das er allein wirken und wirklich werden kann. Hat ein Volksgeist seine Aufgabe erfüllt, so stirbt er ab, denn seine Lebenskraft erlahmt und hat keine Nahrung mehr. "Das Volk lebt im Genuß des Erreichten", und eine neue Stufe des Weltgeistes, ein neuer Volksgeist mit einem neuen geistigen Prinzip muß an die Stelle des alten treten. Ein anderes Volk wird der Träger der geschichtlichen Entwicklung.

Bei diesem Übergang, beim Absterben des alten und Aufgang des neuen Prinzips erlangen nun die "welthistorischen Individuen" eine entscheidende Bedeutung. Sie sprechen noch im Schoß des alten Prinzips schon das Neue aus, ergreifen es als ihre Aufgabe und sprengen damit die Grenzen des Alten. Sie bringen seinen latenten Absterbeprozeß nur zum offenen Ausbruch. Gegenüber dem alten Prinzip werden welthistorische Individuen so notwendig zu Rechtsbrechern, die zu verurteilen sind.  Sub specie aeternitatis [im Blick auf die Ewigkeit - wp] jedoch, unter dem Aspekt der weltgeschichtlichen Entwicklung erhalten sie ihre Rechtfertigung (43). - Man denke zur Exemplifizierung des Gesagten etwa an die Deutung, die HEGEL dem Leben und Sterben des SOKRATES im Zusammenhang der griechischen Geistesgeschichte gibt.

Auch die welthistorischen Individuen aber bleiben bei ihrer weltgeschichtlichen Mission Mittel und Werkzeugen eines Höheren. Sie sind nicht Individualitäten im Sinne einer geistigen Autonomie, Selbständigkeit und Selbstverantwortung. Sie bleiben Werkzeuge einer höheren, über sie hinweg und durch sie hindurch wirkenden Macht. Sie sind zwar höchst wichtige, aber eben doch nur "Geschäftsführer" eines allein als autonom zu bezeichnenden, selbstmächtigen Weltzwecks. Damit ist eine der Stellen berührt, an der HEGELs Geschichtsphilosophie für die Wissenssoziologie und ihre Probleme bedeutsam wird.

Neben der Prägung der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Grundbegriffe sind es vor allem drei Dinge, durch die HEGEL für die Wissenssoziologie eine Bedeutung gewinnt:
    1. durch seine Volksgeistlehre,

    2. durch seine Eingliederung des individuellen Bewußtseins in übergreifende und insbesondere volkhafte Zusammenhänge,

    3. durch die Überwindung des Relativismus, der nur allzu leicht als Folgerung aus einer Auffassung vom zyklenhaften Wandel der Kultur und Geschichte gezogen werden mag.
In HEGELs Volksgeistlehre werden zum ersten Mal in einem größeren Zusammenhang gesellschaftliche Gebilde in ihrer für den Geschichts- und Kulturprozeß unbestreitbaren Bedeutung anerkannt und in den Vordergrund der philosophischen Beurteilung dieses Prozesses gerückt. Freilich darf dabei nicht verkannt werden, daß das Wort "Volk" bei HEGEL noch nicht jene soziologische Bedeutung hat, die ihm etwa eine soziologische Gebildelehre beilegen könnte (44). Volk  ist bei HEGEL eine durch und durch geistige und geistesgeschichtliche Einheit. Wenn aber der enge Zusammenhang von Staatsbetrachtung und -beurteilung und Volksgeistlehre beachtet wird, dann kann nicht übersehen werden, daß der über das einzelne Individuum hinausgehende und es in seiner Geistesart bestimmende Volkszusammenhang doch sehr stark soziologisch gewertet wird. Das Denken des Menschen, seine ganze Geistesart und seine Weltanschauung, und um diese handelt es sich in der Wissenssoziologie, bildet sich und entwickelt sich schon für HEGEL nicht isoliert, sondern steht, wie das ganze Leben des Menschen, in den umfassenden Zusammenhängen des Volkslebens und ist in Art und Struktur von ihm bestimmt.

Ja, diese Eingliederung des individuellen menschlichen Denkens in übergreifende geistige und soziale Zusammenhänge geht sogar so weit, daß dem Denken und Handeln des Individuums jeder Eigenwert abgesprochen wird. Individuen sind gerade in ihrer geistigen Existenz Mittel, deren sich der Weltgeist bedient, um sein potentielles Wesen in die Realität zu setzen. Der Glaube, das Denken des Menschen und sein gesamtes Geistesleben seien seine persönliche Leistung, ist nach HEGEL eine Jllusion, und auf den Nachweis und die Stützung dieser Behauptung zielt seine ganze Lehre von der "List der Vernunft" ab. Das Denken ist in seinen Inhalten ursprünglich nichts Persönliches, sondern es wird von umfassenden Mächten - bei den welthistorischen Individuen vom Weltgeist direkt, bei der großen Anzahl der "erhaltenden" Individuen vom Volksgeist - bestimmt. Wenn auch HEGEL diese übergreifenden und bestimmenden Mächte keine gesellschaftlichen im Sinne der heutigen Soziologie, sondern rein geistige Wesen sind, so ist doch allein durch die vorliegende Bindung des Denkens und seiner Inhalte an sie eine Beurteilung dieses Denkens angedeutet, die über die Arbeiten von MARX auf die Wissenssoziologie einwirkt. In der Lehre von MARX wird diese Bindung und "Entwertung" des Denkens des Individuums festgehalten und verstärkt, und nur darin unterscheidet er sich von HEGEL, daß in der konkreten Bestimmung der das Denken beherrschenden Mächte der geistige Wirklichkeitsbereich durch den sozialökonomischen ersetzt wird.

Soll die Lehre HEGELs von der Gebundenheit des menschlichen Geistes an höhere, hintergründige und durch ihn hindurch wirkende Mächte einmal als  seine  Lehre von der Seinsverbundenheit des Denkens bezeichnet werden - was nur unter dem allgemeinen Blickwinkel der vorliegenden Arbeit gestattet sein darf - so kann man sagen: HEGEL kann die historische Relativität allen Denkens voll anerkennen, ohne damit seine eigene Position als ebenfalls relativ zu untergraben. Diese Sicherheit des eigenen geistigen Standorts gründet in der von HEGEL ausgesprochenen, metaphysischen Voraussetzung seiner Philosophie: daß der Geschichtsprozeß in HEGEL selbst zum Abschluß gekommen ist und der Weltgeist in der Philosophie HEGELs das volladäquate Bewußtsein seines eigenen Wesens erlangt hat.

HEGEL hat die Vorstellung, der Weltgeist sei eine sich entwickelnde Entelechie und seine Entwicklung folge dem Wachstumsgesetz der Organismen, die ja auch von Anbeginn ihres Wachsens an "ihr Ziel in sich haben". Er selbst, HEGEL, vermag diese Entwicklung, ihre einzelnen Stufen und ihren Zusammenhang zu überblicken, weil er am Ende des Entwicklungsprozesses steht (45). In diesem Denken vom Ende der Geschichte aus liegt der Schlüssel zum Verständnis der HEGELschen Dialektik. Mittels der Dialektik glaubt HEGEL, den inneren Zusammenhang und die unauflösbare Einheit von Sein, Bewegung und Ziel des Geschichtsprozesses zur Darstellung bringen zu können, und das Wesen der Dialektik ist, wie ERNST TROELTSCH sehr richtig ausführt (46), stets dann gründlich zerstört, wenn diese Einheit aufgehoben und etwa die Abfolge von Thesis, Antithesis und Synthesis kausal-mechanisch gedeutet wird. Dialektisches Denken folgt im Unterschied von der traditionellen Logik dem Denkmodell eines Kreises, weil nur in einem Kreis die Gegensätze "polar" gegenüberliegen und durch den Kreis selbst miteinander verbunden werden (47).

HEGEL ist hierin von MARX keineswegs überwunden worden. Auch MARX denkt vom Ende der Geschichte her. Wenn er selbst auch nicht glaubt, am Ende der Geschichte zu stehen, so prolongiert [verlängert - wp] er doch den Geschichtsprozeß in seiner Lehre um eine  übersehbare  Strecke der Entwicklung. MARX braucht ebenso wie HEGEL diesen festen Punkt, nach dem die Entwicklung hinstrebt und über den hinaus sie nicht weiter verfolgt wird. Nur so kann er dem Denken des Proletariats, das sich auf diesen Endpunkt konzentriert, objektive Wahrheit garantieren, und nur dann braucht er den in naher Zukunft erreichbaren Zustand der "klassenlosen Gesellschaft" gemäß der Dialektik nicht erneut in eine klassenmäßig gestufte Gesellschaftsordnung umschlagen zu lassen. Das wird erst notwendig, wenn die in jedem dialektischen Denken betonte Einheit von Sein, Bewegung und Ziel des Prozesses als eine rein kausal-mechanische Abfolge seiner dialektischen Stufen aufgefaßt wird und der Wechsel und die Ablösung dieser Stufen ziel- und daher auch sinnlos  in infinitum [unendlich - wp] fortlaufen. Eine solche mechanistische Interpretation der Dialektik findet sich gerade bei vielen Marxisten (48).

Die Frage, ob schon MARX selbst die Dialektik mechanisiert hat, ist nicht eindeutig zu beantworten, da, wie SOMBART sehr richtig ausführt, kein Begriff von MARX so salopp behandelt wird wie der der Gesetzlichkeit (49). Einerseits spricht MARX davon, daß die kapitalistische Produktionsordnung ihre eigene Negation mit der Notwendigkeit eines  Naturprozesses  aus sich hervortreiben wird. Hiernach wäre das Ganze des sozialen Lebens der Menschen eine nach mechanischen Gesetzen wissenschaftlich zu begreifende Einheit (50). Andererseits soll das allgemeine Bewegungsgesetz des geschichtlichen Prozesses ein dialektisches sein, eine Gesetzmäßigkeit  sui generis [aus sich selbst heraus - wp], über deren Eigenart man aber aus den Schriften von MARX und ENGELS außer dem Hinweis auf den Dreitakt von Position, Negation und Negation der Negation nichts Genaueres erfährt. Tatsache ist, daß MARX und ENGELS in ihren Schriften immer wieder betont haben, die die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft beherrschenden Gesetze wirkten nach der Art von Naturgesetzen. Sie haben sie selbst auch Naturgesetze genannt und bezeichnen sie nur deshalb im Anschluß an HEGEL gleichzeitig auch als dialektische Gesetze, weil sich bei ihnen die Deutung der Geschichte mit einem Fortschrittsglauben verbindet und ihnen das Ziel dieses Fortschrittes bekannt ist (51). Das letzte Ziel der geschichtlichen Bewegung, die klassenlose Gesellschaft, steht für MARX als oberste Prämisse seines Denkens a priori fest. Eine final bestimmte Richtung des Prozesses und in ihm angelegte Wertsteigerung, diese wesentlichen Merkmale des Ablaufs der geschichtlichen Entwicklung, wie HEGEL ihn sieht, sind auch die Grundlagen der MARXschen Geschichtsphilosophie.

Das bedeutet, daß die MARXsche Geschichtsdeutung genau so von metaphysischen Voraussetzungen ausgeht, wie HEGEL, und daß - von den wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Schriften im einzelnen abgesehen - diese Geschichtsphilosophie ebenso wie diejenige HEGELs nicht den Anspruch erheben kann, als Ergebnis strenger Tatsachenerforschung nicht den Anspruch erheben kann, als Ergebnis strenger Tatsachenforschung gewertet zu werden. Doch diese Fragen liegen hier nur am Rande. Unsere Aufgabe ist es zu zeigen, wie durch eine Aufnahme und Umbildung hegelscher Gedanken durch MARX tatsächlich die Möglichkeit wissenssoziologischer Fragestellungen in einem engeren Sinn entsteht. Dabei liegt der eigentliche Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit MARX aus den Konsequenzen der Sache heraus bei der sogenannten "Überbau-Unterbau-Lehre", wie sie am deutlichsten in der Vorrede zur "Kritik der politischen Ökonomie" formuliert wird:
    "Meine Untersuchung mündet in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse, wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit  Hegel ... unter dem Namen der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei ... In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." (52)
Hiermit ist von MARX grundsätzlich eine  wissenssoziologische  Position eingenommen, da die geistigen Gebilde als bedingt und abhängig vom "gesellschaftlichen Sein" erklärt werden. Der Terminus "gesellschaftliches Sein" erhält hier erstmalig seine volle Bedeutung. Das gesellschaftliche Sein wird zum Determinationsfaktor für das Werden des Geistes erklärt. Darüber hinaus gibt das angeführte Zitat die Quintessenz der ganzen "materialistischen Geschichtsauffassung" wieder.

Der Beginn wissenssoziologischen Fragens und Forschens bei MARX ist aus seiner Geschichtsphilosophie nicht herauszulösen. Diese Geschichtsphilosophie aber gründet in HEGELs Gedanken. Eine "Umstülpung" der Geschichtsphilosophie HEGELs soll geleistet, die HEGELsche Dialektik vom Kopf auf die Füße, oder, wie es auch heißt, die Begriffsdialektik zu einer Realdialektik umgebildet werden.

Daher muß die Frage zunächst lauten: worin besteht die behauptete Umstülpung der Geschichtsphilosophie HEGELs? Sie besteht zunächst darin, daß das, was im geschichtlichen Geschehen als eigentlich real gilt, grundsätzlich anders beurteilt und gedeutet wird. Der "wirkliche" Geschichtsprozeß ist nicht mehr ein sich entwickelnder absoluter Geist, sondern der "wirkliche Lebensprozeß". Die den Geschichtsprozeß vorantreibenden und gestaltenden Kräfte sind die ökonomisch-sozialen Verhältnisse, die "materiellen Zustände", die MARX dann auch als Produktionsverhältnisse bezeichnet. Sie übernehmen in der Geschichtsdeutung von MARX die Rolle, die die Vernunft oder der Weltgeist bei HEGEL spielt. Die Dialektik, als methodisches Verfahren zur Durchdringung des Geschichtsprozesses einerseits und als immanentes Bewegungsgesetz dieses Prozesses andererseits wird damit grundsätzlich entgeistet, naturalisiert und ökonomisiert. Die dialektischen Gegensätze formal-logischer Bestimmtheiten werden in reale, ökonomisch bedingte Klassengegensätze verwandelt (53).

Ein weiterer Unterschied zwischen MARX und HEGEL liegt darin, daß sich, wie TROELTSCH ausführt, die dialektisch-realistische Geschichtskontemplation bei MARX mit einem revolutionären Naturrecht verbindet, und ein Bedürfnis nach vernunftnotwendigen Zunkunftszielen an die Stelle der bloßen Beschauung und kontemplativen Durchdringung des vollendeten Prozesses tritt (54). Diese Aufnahme sozialrevolutionärer Tendenzen in die Geschichtsphilosophie von MARX und ihre Konsequenzen für das Thema der vorliegenden Arbeit können erst später die geforderte Beachtung finden. Wichtig ist zunächst allein die genannte verschiedene Bewertung dessen, was Realität ist, im Erleben der Geschichte. Nicht mehr ein autonomer Geist, sondern rein ökonomisch bedingte Gesellschaftsschichtungen und -strukturen sind  das historisch Reale. (55)

TROELTSCH nimmt als Motiv dieser "Umstülpung" der hegelschen Geschichtsphilosophie durch MARX einen Drang zur Unmittelbarkeit des sinnlich-konkreten Lebens an, der sich der ganz verbegrifflichten Spiritualität von HEGELs System entgegenstellt und es zu überwinden trachtet. (56) Das ist zweifellos richtig, doch wird eine ökonomischen Geschichtsdeutung, wie sie bei MARX vorliegt, wird die Überbewertung des Ökonomischen für das geschichtliche Geschehen und seine geistigen Objektivationen aus dem genannten "Drang zur Unmittelbarkeit des sinnlich-konkreten Lebens" allein nicht verständlich. Sinnlich-konkretes Leben braucht nicht ohne weiteres mit einem ökonomisch-determinierten Leben gleichgesetzt zu werden. Wird diese Identifizierung aber vollzogen, werden die ökonomischen Tatsachen zur Grundlage des Geschichtsprozesses erhoben, dann liegt dieser Verabsolutierung des Ökonomischen ein ganz spezifisches Bild vom Wesen des Menschen zugrunde: Das Menschentier, das in der Nahrungssuche und Nahrungsfindung sein eigentliches Wesensmerkmal hat und sich vom vormenschlichen Tier nur durch "die im Gehirnprozeß herausgebildete Bewußtheit" unterscheidet und fähig ist, in technischen Werkzeugen die Mittel der Produktion und Steigerung der Nahrungsbasis über die physische Organisation hinaus auszubilden (57).

Geschichtliches Geschehen ist menschliches Geschehen, ist Geschehen auf dem Gebiet menschlichen Lebens. Jede Geschichtslehre als Versuch einer philosophischen Deutung geschichtlichen Geschehens hat infolgedessen in einer bestimmten Art von philosophischer Anthropologie ihren Grund und zwar gleichgültig, ob diese dem Historiker oder Geschichtsphilosophen bewußt ist oder nicht. Ein verschiedenes Bild vom Wesen des Menschen, das zugleich immer eine Form der Selbsterfassung und Selbstdeutung ist, bestimmt die verschiedenen Formen und Typen einer philosophischen Deutung der Geschichte. Zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie besteht ein innerer Zusammenhang, der nicht zerstört werden kann. (58) Eine verschiedene Vorstellung dessen, was der Mensch eigentlich ist, begründet auch den tiefgreifenden Unterschied zwischen MARX' und HEGELs Geschichtsmetaphysik, wie ein Zitat aus der "Deutschen Ideologie" beweist. Diese marxistische Anthropologie allein macht verständlich, wieson von MARX die volle Lebendigkeit des Menschen, die Realität des sinnlich-konkreten Lebens gerade im Ökonomischen gefunden werden mußte. (59)
    "Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst ... Diese Weise der Produktion ... ist ... schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren ... Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt. Die Tatsache ist also die: Bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein ... Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor, aber dieser Individuen ... wie sie wirklich sind, das heißt, wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind.

    Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen, sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur Natur oder über ihr Verhältnis untereinander oder über ihre eigene Beschaffenheit. Es ist einleuchtend, daß in allen diesen Fällen diese Vorstellungen der - wirkliche oder illusorische - bewußte Ausdruck ihrer wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres Verkehrs, ihres gesellschaftlichen und politischen Verhaltens sind ... Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen ... Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie sich in der Sprache, in der Politik, den Gesetzen, der Moral, der Religion, der Metaphysik usw. eines Volkes darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs ... Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein, als das bewußte Sein, und das Sein des Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß ...

    Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. Das heißt: es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus und bei dem leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von en wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn des Menschen sind notwendige Supplemente ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und ihnen entsprechende Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man vom Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein." (60)
Diese Sätze zeigen deutlich die dem Denken von MARX zugrunde liegende Anthropologie: Der Mensch ist der Produzent der sein vitales Leben erhaltenden und fördernden Lebensmittel. In gleichem Sinne wird auch gegenüber FEUERBACH immer wieder betont, daß der Mensch nicht nur sinnlicher Gegenstand, sondern vor allem sinnlich-triebhafte Tätigkeit ist (61). Alles, was wir Geist, Verstand oder Bewußtsein nennen mögen, ist nichts Autonomes, sondern steht entweder im Dienste dieser triebhaften Lebenserhaltung und -steigerung, oder es wird zum Produkt dieses materiellen Lebens- und Produktionsprozesses degradiert.

Allein  diese Anthropologie  als philosophische Wesensbestimmung des Menschen begründet den tiefen Gegensatz zwischen MARX und HEGEL, einen Gegensatz, der als ein unüberbrückbarer von MARX und ENGELS auch stets empfunden wurde. Diese Anthropologie begründet die fälschlicherweise als materialistisch bezeichnete, ökonomische Geschichtsdeutung, für die die erste geschichtliche Tat die Erzeugung der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ist und für die der ganze Geschichtsablauf eigentlich auf dem Zweitakt der Befriedigung triebhaft-materieller Lebensbedürfnisse und der Erzeugung neuer Bedürfnisse - der zweiten geschichtlichen Tat - beruth. (62)

Es kann also von einer bestimmten Anthropologie gesprochen werden, die die Grundlage für die spezifisch marxistische Geschichtsphilosophie bildet. In dieser Geschichtsphilosophie selbst erhält der Terminus "Teilung der Arbeit" eine entscheidende Bedeutung, denn diese "Teilung der Arbeit" begründet die Aufgipfelung des Geschichtsprozesses in realen Klassengegensätzen. Dabei soll der Begriff "Teilung der Arbeit" nichts anderes bezeichnen, als die Tatsache, daß mit der steigenden Erzeugung neuer Bedürfnisse der Umfang der zu ihrer Befriedigung notwendigen ökonomischen Leistungen in einem so großen Maße wächst, daß sie vom isolierten Einzelindividuum nicht mehr bewältigt werden können. Die zur Bedürfnisbefriedigung notwendigen Arbeitsvorgänge, wie etwa Planen und Ausführen, werden daher auf verschiedene Menschen oder Menschengruppen verteilt (63). Alle anderen für die marxistische Geschichtskonstruktion grundlegenden Termini und die damit bezeichneten soziologischen Tatbestände, wie "Privateigentum" (64), "Entfremdung" des Menschen von der Arbeit, "Verdinglichung" der Arbeit, "Klassenbildung", "Ausbeutung" der Arbeitskraft, Erzielung von "Mehrwert" werden aus der Tatsache der Arbeitsteilung abgeleitet (65).

Auf die Stellung und Bedeutung dieser Begriffe im Ganzen der marxistischen Geschichtsphilosophie näher einzugehen, ist hier nicht der Ort. Wir verweisen hierzu auf das "Kommunistische Manifest", weil es die kürzeste und philosophisch ergibigst Gesamtdarstellung der Lehre von MARX ist. Auch ist in ihm, beispielsweise in der Bewertung des Bürgertums oder in der Unterabteilung des Geschichtsablaufes in Urkommunismus, Klassengesellschaft und Zukunftskommunismus die Bedeutung der Dialektik am deutlichsten zu erkennen (66). Wichtig ist für unseren Zusammenhang nur das Fazit, das MARX aus der Tatsache der Arbeitsteilung für den gesamten Geschichtsaufbau zieht.
    "Wir erhalten aus diesem ganzen Dreck nur das eine Resultat, daß diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewußtsein in Widerspruch miteinander geraten können und müssen, weil mit der der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige und materielle Tätigkeit, daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, daß sie nicht in Widerspruch geraten, nur darin liegt, daß die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird." (67)
Diese Aufhebung der Arbeitsteilung wird in der klassenlosen Gesellschaft erreicht. Dabei ist aber, wie MARX ausdrücklich hervorhebt,
    "der Kommunismus ... für uns kein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten hat. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus den jetzt bestehenden Voraussetzungen." (68)
Hier wird sichtbar, warum MARX von Realdialektik im Unterschied zu HEGELs Begriffsdialektik spricht. MARX will den Fortgang der bisherigen Geschichte bis zur revolutionären Umgestaltung der bestehenden sozialökonomischen Verhältnisse lediglich aus der realen Lebensbewegung selbst ableiten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier eine sozialrevolutionäre Theorie auf die dialektische Deutung des bisherigen Geschichtsablaufes gleichsam aufgepfropft wird und daß sich dabei die zunächst rein kontemplative Interpretation des Vergangenen mit einem revolutionären Naturrecht verbindet. (69) Dieses naturrechtliche Gedankengut trägt bei MARX durch seinen Glauben an die Güte des Kollektivmenschen, wie er in der Verherrlichung des Proletariats und seiner Erhebung zum Träger der gesellschaftlichen Neuordnung seinen Ausdruck findet, sehr stark die Züge eines naiven Rousseauismus (70). Andererseits ist nicht zu verkennen, daß in der Aufnahme von naturrechtlichem Gedankengut und insbesondere im Ideal der klassenlosen Gesellschaft die Tradition der humanistischen Idee des Menschen stark nachwirkt. Die Empörung gegen die "Ausbeutung" und "Verdinglichung" des arbeitenden Menschen, die ihn zur Sache, zum Objekt ökonomischen Planens und Handelns macht, steht als Motiv hinter der revolutionären Tendenz der ganzen Lehre. Sie kann nur zum Begriff des "entmenschten Menschen" führen, wenn das letzte Ziel menschlichen Lebens in einer geistigen Autonomie, Freiheit und Würde erblickt wird, wie sie etwa in KANTs zweiter Formulierung des kategorischen Imperativs ihren klassischen Ausdruck gefunden hat.

Auf die Fragen, die sich aus der Aufnahme sozialrevolutionärer und naturrechtlicher Gedanken in die marxistische Geschichtsphilosophie für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ergeben, wird erst später einzugehen sein. Vorerst ist es notwendig, aus den bisher skizzierten Ansichten von MARX die für die Wissenssoziologie relevanten Gedanken abzuleiten.

In der Wissenssoziologie soll das Verhältnis von Wissen und sozialem Leben untersucht und festgestellt werden, welchen bestimmenden Einfluß das Letztgenannte auf die Gestalt, die Struktur und den Inhalt des Erstgenannten ausübt. Damit verfolgen die Vertreter der Wissenssoziologie genau die gleiche Absicht, wie sie auch MARX verfolgt. (71) Für MARX ist das ganze Geistesleben, sowohl in seinen Objektivationen wie auch in seiner Lebendigkeit im Subjekt, ein Überbau, der sich über den allein realen gesellschaftlichen Verhältnissen erhebt, sich auf ihnen aufbaut. Dabei ist seine Lehre insofern einseitig, als das gesellschaftliche Leben als ausschließlich in ökonomischen Produktionsformen, in Strukturen der Wirtschaft begründet angesehen wird. Die Formen der wirtschaftlichen und materiellen Produktion sind nach der marxistischen Geschichtsphilosophie das eigentlich Reale, und alles Geistige, wie Ideen, Recht, Religion, Metaphysik und das Wissen schlechthin, wird als Produkt aus dieser ökonomischen Produktionsverhältnisse erklärt. (72) Die "geistige Produktion" (73) ist von der Produktionsweise des materiellen Lebens bestimmt und gestaltet sich auch mit ihr um. Das heißt aber: das Verhältnis von Geist und gesellschaftlichem Sein - dieses zentrale Problem der Wissenssoziologie - wird hier bei MARX eindeutig als eine Kausalverhältnis gedeutet und bewertet. Der Geist ist das Kausalprodukt sozialökonomischer Ordnungen. Die ökonomische Produktion und die ihr mit Notwendigkeit folgende Gliederung des gesellschaftlichen Lebens bilden die reale Grundlage für die politische und soziale Geschichte und müssen daher auch die Grundlage für das Verständnis dieser Geschichte bilden. Die Verknüpfung von Überbau und Unterbau ist eine kausale, und alle Ausführungen von ENGELS, in denen er später von einer Wechselwirkung oder möglichen Rückwirkung des Geistes auf das Sein spricht, haben als ein nachträglicher Zusatz zu gelten, der der ursprünglichen Geschichtsauffassung zuwiderläuft und in seinen Konsequenzen diese ganze Lehre auch zu sprengen droht (74).

Was folgt aus den bisherigen Ausführungen für die Wissenssoziologie? - Die Überbau-Unterbau-Lehre ist eindeutig im Sinne des "historischen Bewußtseins" konzipiert. Hierin liegt eine der stärksten Nachwirkungen der HEGELschen Philosophie. Der Geist des Menschen ist nichts Autonomes, von seinem realen Lebensprozeß Abgelöstes, sondern er wächst aus ihm unmittelbar heraus, er wird und gestaltet sich mit ihm. Er ist - um einen Ausdruck der modernen Philosophie zu gebrauchen - "existenzieller" (75) Geist, an die Existenz und zwar die ökonomische Existenz und Lebensweise des Menschen gebundener und durch sie inhaltlich bedingter und bestimmter Geist. Diese Bindung des Geistes an das Sein vollzieht sich gleichsam hinter dem Rücken der betroffenen Einzelindividuen. Sie ist ein  Konstituens  menschlichen Geisteslebens schlechthin. Kein Mensch und auch keine menschliche Gruppe kann diese Seinsverbundenheit des Geistes durchbrechen.

Dabei wird von vornherein das Wissen der exakten und positiven Wissenschaften in diese behauptete Seinsverbundenheit des Geistes nicht mit einbezogen. Es wird nurd as dazu gezählt, was, wie etwa Religion, Metaphysik, Ethos, Moral, schon seinem Ursprung nach in einer engen Verbundenheit mit dem Leben steht und auch gestaltend auf dieses zurückwirken soll und will. Zum seinsverbundenen Bewußtsein gehört also schon bei MARX nur all das, was zum "Weltanschauungswissen" zählt und später als Ideologie im eigentlichen Sinne bezeichnet wird.

Diese Einschränkung der Lehre von der Seinsverbundenheit des Wissens auf dasjenige Wissen, durch das sich der Mensch seiner selbst und seiner Stellung in der Welt bewußt wird, wird besonders sichtbar an der Art, wie MARX und ENGELS das Problem der Wahrheit behandeln (76). In der Einleitung war mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen worden, daß das Problem der Wahrheit gerade auch durch die wissenssoziologische Fragestellung aufgeworfen wird und notwendig eine Bearbeitung und Entscheidung verlangt. Die Wissenssoziologie vereinigt in sich Gedanken der "historischen Schule" einerseits und des philosophischen Kritizismus andererseits. Dadurch ändert sich auch das Verhältnis von Gegenstand und Erkennen. Der Gegenstand ist nicht mehr als ansich Seiender dem Erkennen gegeben, sondern er wird erst im Vollzug des Erkennens zu einem solchen. Erweist sich dieser Erkenntnisvollzug nun als seinsverbunden, dann fehlt jedes absolute, vom historischen Standort des Erkennenden abgelöste Kriterium der Wahrheit.

MARX' Geschichtsdeutung ist, zumindest in seiner ursprünglichen Absicht nach, durch und durch "historisch". Damit gilt auch für seine Lehre, daß sich die Welt verschiedenen Menschen, die sich in einer verschiedenen Lage im Gesellschaftsprozeß befinden, jeweils verschieden darstellt, daß diese Lage eine verschiedene, eben standortbedingte Weltdeutung und Weltauffassung zur Folge hat und haben muß.

Die Frage nach der Wahrheit des in einer Weltanschauung enthaltenen Wissens könnte dann durch die herkömmliche Erkenntnistheorie nicht beantwortet werden, weil das Kriterium des ansich und mit sich identisch gegebenen Gegenstandes fehlt. Als wahr oder "echte" hätte jetzt stets nur das Wissen zu gelten, was dem Standort des erkennenden Subjekts entspricht, was seiner historisch-sozialen Lage gemäß ist und sie adäquat widerspiegelt. Das Kriterium der Wahrheit wäre nicht mehr in einer "Objektadäquatheit", sondern nur noch in einer "Situsadäquatheit" des Denkens zu suchen, und das heißt: in einer vollen Übereinstimmung des Wissens mit der gesellschaftlichen Lage des erkennenden Subjekts (77). Wahr ist ein Wissen und Erkennen nur dann, wenn es dem zugrunde liegenden Leben - bei MARX den ökonomischen Verhältnissen - enstpricht. Falsch ist es, wenn es sich von diesen, sei es durch ein Vorauseilen oder Zurückbleiben, entfernt.

Diese Stellungnahme zum Wahrheitsproblem ist die logische und äußerste Konsequenz einer Wissenssoziologie, die im Sinne der "historischen Theorie" begründet wird. Sie wird, wie noch zu zeigen ist, von keinem ihrer Vertreter wirklich gezogen. Der Grund hierfür mag in den darin zugleich enthaltenen Gefahren des Relativismus liegen. Auch MARX zieht diese Konsequenzen nich. Er kann sie auch nicht ziehen, denn einerseits muß er die Wahrheit seiner eigenen Lehre, andererseits die des "proletarischen Denkens" garantieren. Das Erste wird, wie schon betont, durch die Übernahme der eschatologischen [Hoffnung auf Vollendung - wp] Geschichtskonzeption HEGELs erreicht. Das "Denken des Proletariats" wird ebenfalls durch eine Anlehnung an HEGELs Gedanken als wahr garantiert; denn das Proletariat übernimmt die Rolle eines welthistorischen Individuums. Seine Gedanken werden durch seine Leidenschaften, durch all das, worunter es leidet, bestimmt, und so drückt auch das proletarische Bewußtsein nur das aus, was im realen ökonomischen Prozeß selbst zur Verwirklichung hindrängt. Die Bewegung dieses Realprozesses läuft auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung hinaus, weil die "Selbstentfremdung" und "Verdinglichung" des Menschen im kapitalistischen Wirtschaftssystem einen Gipfel erreicht hat, auf dem das Menschsein selbst aufgehoben ist. Der Umschlag oder Sprung in ein neues Reich der Freiheit und Menschlichkeit muß daher mit Notwendigkeit erfolgen.

Dieser "salto mortale" oder "Sprung in die Freiheit" bleibt durch die Darstellung der Entwicklung des Realprozesses bei MARX unmotiviert und wird nur verständlich, wenn man die metaphysischen Voraussetzungen beachtet, die seine Geschichtsdeutung tragen (78). Nimmt man die auf den Umbau der bestehenden Gesllschaftsordnung gerichtete Entwicklungsgesetzlichkeit des Realprozesses nämlich als erwiesenes Faktum an, so wird die entscheidende Bedeutung des Proletariats sofort verständlich. Das Proletariat und nur das Proletariat ist aufgrund seiner gesellschaftlich-ökonomischen Lage die Klasse, die die revolutionäre Entwicklungstendenz des Geschichtsprozesses erkennt, die Revolution als ihre Aufgabe ergreift und damit zum Träger des Geschichtsprozesses wird. Das aber gerade garantiert seinem Denken und dessen Resultaten die Wahrheit, denn es steht für MARX von vornherein fest,
    "daß alle von der jeweils den Geschichtsprozeß tragenden Klasse behaupteten Sätze wahr sind; die Tatsache allein, daß das Urteil von der fortschrittlichen Klasse gefällt ist, verbürgt seine Wahrheit." (79)
Auch diese Begründung der absoluten Wahrheit der Weltanschauung des Proletariats entspricht noch ohne weiteres der historischen Gesamtkonzeption der MARXschen Wissenssoziologie, wie sie bisher aufgestellt wurde. Das Proletariat vertritt die materialistische Geschichtsauffassung, weil sie seiner Lage im sozial-ökonomischen Prozeß entspricht. Das Proletariat kann gar nicht anders denken. Es ist in seinem Denken seinsgebunden, und seine Gedanken gehen nur insofern über die gegenwärtige "bürgerliche" Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinaus, als es die tieferen Entwicklungstendenzen des Geschichtsprozesses erfaßt, der von selbst zu einer Überwindung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsstruktur hindrängt. Das Denken des Proletariats steht damit aber nicht jenseits der Seinsverbundenheit jedes Erkennens.

Soweit die "historische" Konzeption der marxistischen Wissenssoziologie, wie sie vor allem in den Frühschriften ihren Niederschlag findet. Sie wird in dem Augenblick durchbrochen, in dem der Terminus "gesellschaftliches Sein" durch den Begriff "ökonomisches Interesse" ersetzt wird und die besondere Art des Denkens nicht mehr aus der ökonomischen Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern aus Gruppeninteressen abgeleitet wird, die durch die ökonomische Lage der Menschen verursacht sind. Die Erzeugnisse des Geistes gelten als  verhüllende oder enthüllende Ideologien,  und das heißt, sie werden so gedeutet, als ob sie aus den Absichten einer Selbst- und Fremdtäuschung resultieren, die verschieden sind, je nachdem, ob sie als konservative Ideologien die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung oder als revolutionäre oder fortschrittliche Ideologien ihre Umgestaltung zum Ziel haben (80). Denkgebilde und Ideen, der Geist schlechthin sind kein Produkt mehr bestimmter sozialökonomischer Verhältnisse, das ihnen entspricht und sie widerspiegelt, sondern sie werden als Ideologien entlarvt, das heißt als Mittel des Angriffs und der Verteidigung im Kampf der Klassen um die soziale Macht (81).

Diese inhaltliche Wandlung der Lehre ist immer dort deutlich zu erkennen, wo MARX sich von einer Umkehrung der idealistischen Geschichtsphilosophie HEGELs in eine realistische abwendet und eine Entwertung und Enthüllung der geistigen Position des "kapitalistischen Bürgertums" seine eigentliche Absicht ist. Je stärker die sozialrevolutionären Tendenzen in den Vordergrund der ganzen Lehre rücken, eine umso größere Bedeutung gewinnt der Begriff der Ideologie (82). Damit wird auch die marxistische Geschichtsphilosophie selbst mehr und mehr zu einer Ideologie aufkommender Klassen. Soll in jeder eigentlichen Wissenssoziologie die Eigenart des Denkens und der Geistesstruktur bestimmter Menschen und Menschengruppen durch eine Beachtung ihrer realen und vor allem sozialen Verflochtenheiten und Bedingtheiten vertieft und genauer verstanden werden, so tritt die Ideologienlehre ausschließlich in den Dienst der Verdächtigung, Enthüllung und Entwertung gegnerischer geistiger Positionen (83).

Als Beispiel für seine wissenssoziologische Forschungsabsicht seien einige programmatische Sätze aus dem kommunistischen Manifest hier zitiert (84):
    "Bedarf es tieferer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Wort auch ihr Bewußtsein sich ändert?

    Was beweist die Geschichte der Ideen anderes, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.

    Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, daß sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, daß mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält.

    Als die alte Welt im Untergehen begriffen war, wurden die alten Religionen von der christlichen Religion besiegt. Als die christlichen Ideen im 18. Jahrhundert den Aufklärungsideen unterlagen, rang die feudale Gesellschaft ihren Todeskampf mit der  damals  revolutionären Bourgeoisie. Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiet des Wissens aus."
Soweit die programmatischen Ausführungen. In ihnen ist nur von einer Entsprechung der Ideen des Bürgertums im 18. Jahrhundert mit der ökonomischen Struktur ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse die Rede, und zwar noch nicht einmal ausdrücklich von einer kausalen Abhängigkeit, wie an so vielen anderen Stellen von MARX' Schriften. Ganz im Sinne dieser Ausführungen gibt daher MEHRING in seiner "deutschen Geschichte" (85) folgende Deutung KANTs:
    "Handle so, daß Du die Menschheit sowohl in Deiner Person, als auch in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, nie bloß als Mittel gebrauchst. Für den historischen Blick ergibt sich dieser Satz  Kants  sofort als der ideologische Ausdruck der ökonomischen Tatsache, daß die Bourgeoisie, um ein für ihre Zwecke taugliches Ausbeutungsobjekt zu erlangen, die Arbeiterklasse nicht bloß als Mittel gebrauchen, sondern auch als Zweck setzen, das heißt sie im Namen der Menschenfreiheit und Menschenwürde von den feudalen Fesseln der Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft befreien mußte. Anders hat es  Kant  auch gar nicht gemeint, denn er fordert volle Freiheit und Selbständigkeit nur für den Staats bürger,  aber nicht für den Staats genossen,  zu denen er die ganze arbeitende Klasse rechnete."
Ob KANT tatsächlich mit seinem "kategorischen Imperativ" nichts anderes gemeint hat, als MEHRING hier ausführt, ob MEHRINGs Kantdeutung daher sachlich stimmt und ob damit auch nur im Geringsten etwas über den eigentlichen Sinn der Philosophie KANTs ausgesagt ist, kann hier nicht untersucht werden. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist allein die Tatsache: Sowohl in den programmatischen Ausführungen MARX-ENGELS' selbst, als auch in den darin gründenden Gedankengängen MEHRINGs ist nichts über Wahrheit oder Falschheit der Ideen des 18. Jahrhunderts ausgesagt. Sie werden vielmehr nur einer bestimmten Gesellschaftsschicht als ihrem Träger zugeschrieben, und auf diese Weise werden Zusammenhänge zwischen Denken und Gesellschaftsstruktur konstruiert. MEHRING verwendet zwar die Worte "ideologischer Ausdruck", aber sie sollen hier nur soviel wie "geistiger Ausdruck" besagen. Die Ideen werden nicht als Ideologien in einem abwertenden Sinn des Begriffs bezeichnet. Sie erscheinen als der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Bürgertums im 18. Jahrhundert adäquat; von einer durch Gruppeninteressen bedingten Verfälschung und Hemmung des Denkens ist noch keine Rede. Dieses Denken wird noch nicht als "ideologisch" verdächtigt und entlarvt, sondern nur als "seinsverbunden" im Sinne einer streng durchgeführten wissenssoziologischen Untersuchung aufgewiesen.

Wie anders sieht dagegen die Deutung dieser Ideen des 18. Jahrhunderts aus, die MARX in seiner Kritik der Menschenrechte gibt (86).
    "Vor allem konstatieren wir die Tatsache, daß die sogenannten Menschenrechte, die  droits de l'homme  im Unterschied von den  droits du citoyen [Bürgerrechte - wp], nichts anderes sind, als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen."
Im Sinne dieses Gedankens werden nun alle Artikel der Deklaration der Menschenrechte der Jahre 1793 und 1795 und insbesondere die vier Grundrechte: l'égalité, la liberté, la sûreté [Sicherheit - wp],  la proprieté,  als ideologische Verhüllungen egoistischer Gruppeninteressen des Bürgertums verdächtigt.
    "Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet ... Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade ... Das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen vom Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums.

    Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums. Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich, ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigentums. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranken seiner Freiheit finden."
Es bleiben noch die anderen Menschenrechte, die  égalité  und die  sûreté.  Die  égalité,  hier in ihrer nichtpolitischen Bedeutung, ist nichts als die Gleichheit der oben beschriebenen  liberté,  nämlich daß jeder Mensch gleichmäßig als solche auf sich beruhende Monade betrachtet wird.
    Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.

    Durch den Begriff der Sicherheit erhebt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht über ihren Egoismus.

    Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist ...

    Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservierung ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person."
Von der französischen Revolution wird dann im Sinne dieser Ausführungen gesagt:
    "Es ist schon rätselhaft, daß ein Volke, welches eben beginnt, sich zu befreien, alle Barrieren zwischen den verschiedenen Volksgliedern niederzureißen, ein politisches Gemeinwesen zu gründen, daß ein solches Volk die Berechtigung des egoistischen Menschen feierlich deklariert ..., ja diese Proklamation in einem Augenblick wiederholt, wo die heroischste Hingabe allein die Nation retten kann und daher gebieterisch verlangt wird, in einem Augenblick, wo die Aufopferung aller Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zur Tagesordnung erhoben und der Heroismus als ein Verbrechen bestraft werden muß ... Noch rätselhafter wird diese Tatsache, wenn wir sehen, daß das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung der sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, daß also der  citoyen [Bürger - wp] zum Diener des egoistischen  homme [Mensch - wp] erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch als  citoyen,  sondern der Mensch als Bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird ...

    Dieser Mensch, das Mittelglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staates. Er ist von ihm als solcher anerkannt in den Menschenrechten.

    Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden.
Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, sondern er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht vom Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit."

Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist nicht die Richtigkeit der Kritik zu prüfen, ja nicht einmal danach zu fragen, ob diese Kritik von einem gewissenhaften Denker überhaupt ernst genommen werden darf. - Daß sie vom Politiker sehr ernst genommen werden muß, zeigt die politische und rechtliche Entwicklung in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion. - Auch darauf ist nicht näher einzugehen, daß MARX im letzten Abschnitt des Zitates, nur um des sprachlichen Knalleffekts willen, Forderungen nach einer Befreiung von der Religion, dem Eigentum und Gewerbe schlechthin stellt, die ihn als einen der größten von ihm so gern befeindeten Ideologen und Utopisten kennzeichnen. Nicht also der sachliche Gehalt der vorliegenden Kritik an den Menschenrechten und ihre Geltung müssen hier beachtet werden, sondern die Methode, die ihr zugrunde liegt. Und diese Methode ist die der Verdächtigung und Zerstörung von Erzeugnissen des Geistes mittels des Begriffs der  Ideologie  und des durch Soziallagen des Subjekts verursachten und bedingten Interesses. Eine der höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes, um deren Verwirklichung sich durch Jahrhunderte hindurch Generationen von Menschen bemüht haben, wird in einer Art und Weise als niedrigsten egoistischen und ökonomischen Interessen einer Gesellschaftsklasse entstammend bewertet, die man nur noch als Erzeugnis einer jedes klare Urteil trübenden politischen Besessenheit erklären kann. Die Methode der Verdächtigung und Ideologie-Enthüllung ist hier so weit übersteigert, daß sie jeden berechtigten Sinn verliert, den man einer "Ideologienlehre", wie sie etwa die Denker der Aufklärung vertreten, ohne weiteres zugestehen kann. -

Eine abschließende Gegenüberstellung der Ideologienlehre und der Wissenssoziologie ist jetzt möglich. Nach der Ideologienlehre ist die Gebundenheit des Denkens und Erkennens an das Leben  nicht  etwas, was für den menschlichen Geist schlechthin konstitutiv ist, sondern sie ist eine das Vordringen zu wahrer Erkenntnis hemmende Verflochtenheit des menschlichen Geistes, die aufgedeckt und ausgeschaltet werden kann und muß. Das Enthüllen und Aufdecken der erkenntnishemmenden Einflüsse und Motive ist daher auch die in jeder Ideologienforschung verfolgte Absicht. Das gilt insbesondere von der Ideologienlehre, die MARX vertritt. Die von MARX vertretene Ideologienlehre ist eine Lehre vom falschen Denken, und zwar vom falschen Denken des Bürgertums.

Allein das Denken des Proletariats ist wahr. Diese Behauptung gilt gerade auch in der MARXschen Ideologienlehre. Aber die Begründung der Wahrheit des Denkens des Proletariats ist jetzt eine andere, als oben erwähnt. Das Denken des Proletariats ist wahr, weil sein Klassen interesse,  nicht mehr seine soziale Lage, weil seine egoistische und daher partikulare Interessiertheit der allgemeinen Richtung der gesellschaftlichen Bewegung entspricht und daher eine wahre Erkenntnis dieser Bewegung auch allein ermöglicht. (87) Das Bürgertum hingegen kann zur Wahrheit des Denkens gar nicht gelangen, weil sein Gruppeninteresse einer Erkenntnis dieser Bewegung des Realprozesses entgegensteht. Sein Denken und dessen objektive Niederschläge sind falsch, weil sie seinem gesellschaftlichen Leben nicht entsprechen, und sie entsprechen ihm nicht, weil das Gruppeninteresse des "kapitalistischen Bürgertums" - die Ausbeutung des Arbeiters und die Steigerung des Privateigentums aufgrund des erzielten Mehrwertes - den Zugang zur Erkenntnis des Realprozesses, seiner Bewegungsrichtung und seiner Struktur grundsätzlich versperrt. Das Denken des Bürgertums ist durch diese Gebundenheit an seine ökonomischen Interessen verfälscht, und es ist die Aufgabe des Proletariats, der fortschrittlichen Klasse, diese ideologischen Verfälschungen durch die Aufdeckung ihrer Bedingungen zu beseitigen. Fast immer geht in der von MARX vertretenen Lehre die eigentliche wissenssoziologische Untersuchung in eine Ideologienlehre als Lehre vom falschen Denken des politischen Gegners und seinen Motivationen über.

Überall dort, wo in der von MARX vertretenen Lehre dieser Angriff gegen den Geist des Bürgertums für die ganze Gedankenführung bestimmend ist, wird die eigentliche Wissenssoziologie durch eine Ideologienlehre als Lehre vom falschen Denken des Gegners und seinen Ursachen verdrängt.

Ein Unterschied zwischen Ideologienlehre und Wissenssoziologie besteht also in zweifacher Hinsicht: Einmal ist die Fragestellung in beiden Theorien verschieden, zum andern unterscheiden sie sich durch die Methoden, die in ihnen zur Anwendung gelangen. In der Ideologienlehre wird behauptet, daß ein Mensch, dessen Denken von einer Ideologie beherrscht wird, zu einer wahren Erkenntnis von Sachverhalten nicht mehr fähig ist. Nach den Ursachen einer solchen Störung oder Hemmung des Denkens und Erkennens, und das heißt: nach den Motiven für die Ausbildung von Ideologien, wird daher auch in jeder Ideologienlehre geforscht. In der Wissenssoziologie dagegen wird behauptet, daß zwischen dem Denken des Menschen und der Gesellschaftsordnung, in der er lebt, ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis besteht. Die Vertreter der Wissenssoziologie forschen daher nach der gesellschaftlichen Seinsverbundenheit des Denkens, die keineswegs immer als Störungsfaktor für das Denken bewertet zu werden braucht. Da nach der Ideologienlehre die Motive zur Ausbildung von Ideologien in bestimmten  Interessen  wurzeln, also psychisch verursacht sind, bedient man sich bei der Entlarvung dieser Ideologien der  Psychologie Dem gegenüber soll durch die Wissenssoziologie nur das Korrelations- oder Abhängigkeitsverhältnis zwischen einer bestimmten Gesellschaftsstruktur und der besonderen Art des Denkens der in ihr lebenden Menschen festgestellt werden, ohne daß damit zugleich etwas über den Wahrheitsgehalt dieses Denkens ausgesagt wird. Die in der Wissenssoziologie angewendete Methode ist daher allein als  soziologisch  im engeren Sinne zu bezeichnen. Die Wissenssoziologie ist keine  Psychologie  des  gestörten Denkens  mehr, wie die Ideologienlehre, sondern eine  Soziologie des Erkennens  im strengen Sinne des Wortes.

Diesen Unterschied zwischen Ideologienlehre und Wissenssoziologie, sowohl in der Fragestellung als auch in der angewandten Methode, hat MARX nicht gesehen. Er ist daher in seinen Arbeiten immer verwischt und nicht deutlich genug erkennbar. Der Grund hierfür liegt darin, daß die das Denken hemmenden Interessen für MARX Gruppeninteressen sind, die durch die Lage der Erkenntnissubjekte im Gesellschaftsprozeß und seiner ökonomischen Struktur verursacht werden. Sozial bedingtes  Interesse  und soziale  Lage  des Menschen sind in seinem Denken so eng miteinander verbunden, daß es schwer ist, jeweils zu entscheiden, ob die Eigenart des Denkens auf die soziale Lage des Menschen oder auf die Interessen der Klasse, der er angehört, zurückgeführt wird. Und doch ist eine solche Entscheidung anhand der Aussagen über das Denken des Bürgertums und seine Wahrheit möglich.

Entsprechend der Behauptung, daß es das gesellschaftliche Sein ist, das das Bewußtsein der Menschen bestimmt, müßte MARX etwa folgendermaßen argumentieren: Die geistige Welt des Bürgertums und sein Denken sind ein Produkt seiner Gesellschaftsordnung, der kapitalistischen Wirtschaft, und spiegeln sie wider. Werden die Ergebnisse dieses Denkens auf ihre Wahrheit hin untersucht, so könnte Wahrheit jetzt nur noch die Übereinstimmung des Denkens mit der gesellschaftlichen Lage des Menschen bedeuten. Das Denken des Bürgertums wäre dann wahr, wenn und insofern es seiner Gesellschaftsordnung entspricht. Diese Argumentationsweise entspräche einer wissenssoziologischen Untersuchung im strengen Sinne, wobei hier noch unerörtert bleiben muß, ob die Frage nach der Wahrheit des Erkennens im Rahmen wissenssoziologischer Forschung überhaupt beantwortet werden kann (88). Die Ausführungen im "kommunistischen Manifest" entsprechen zum Teil einer solchen Argumentationsweise. Sie passen sich aber der sozialrevolutionären Absicht der Arbeiten von Marx nicht recht ein. Er argumentiert daher meistens anders. Das Denken des Bürgertums entspricht seinem kapitalistischen Interesse. Dieses aber bleibt hinter der Gesellschaftsordnung zurück, die der reale Geschichtsprozeß jetzt aus sich heraus entwickelt, denn sie ist keine kapitalistische mehr, sondern auf dem Weg zu einer kommunistischen. Das Denken des Bürgertums ist daher gestört und somit falsch, und nur die Proletarier sind zu wahrem Denken fähig, weil ihre kollektiven Interessen dieser kommunistischen Gesellschaftsordnung entsprechen.

Offenbar ist hier mit dem "gesellschaftlichen Sein", auf das in der Wissenssoziologie und in der Ideologienlehre das Demlem zurückgeführt wird und von dem aus eine Entscheidung über seine Wahrheit oder Falschheit gefällt wird, jedesmal etwas ganz anderes gemeint. In der wissenssoziologischen Forschung ist es die sozialökonomische Ordnung, in der der Bürger lebt, in der Ideologienlehre ist es die Gesellschaftsordnung, die das Proletariat erhofft und die nach der von MARX vertretenen Lehre auch mit innerer Konsequenz auf das Zeitalter des Kapitalismus folgen muß und in ihm schon vorgebildet ist. Es ist jedesmal ein anderes "Sein", an dem das Denken gemessen und auf seine Wahrheit untersucht wird. In zugespitzter Formulierung kann man geradezu sagen: Ideologisches Denken ist nicht seinsverbunden im Sinne der Wissenssoziologie. Als Ideologien werden Geistesgebilde und geistige Haltungen gerade deshalb bezeichnet, weil sie sich im Gegensatz zur untergründigen sozialen Wirklichkeit befinden. Daher ist ein solches Denken für jede Ideologienlehre falsch (89).

Ganz generell läßt sich sagen: Das Denken und seine objektiven Niederschläge sind für eine Ideologienlehre nicht mehr Ausdruck oder Produkt eines sie bedingenden sozialen Seins, sondern sie gelten als im Dienste des politischen Willens bestimmter Gesellschaftsklassen und ihrer ökonomischen Kollektivinteressen stehend. Ideologien sind geistige Waffen im Klassenkampf. Sie werden von der herrschenden Klasse ausgebildet, um ihre Interessen hinter ihnen zu verbergen und den Widerstand gegen heraufdrängende Klassen wirksamer zu gestalten. Die heraufdrängende Klasse dagegen kämpft desillusionierend und somit "nicht-idelogisch" (90). Der nicht-ideologische Charakter des Denkens der fortschrittlichen Klasse ist dabei nach der von MARX vertretenen Lehre nur durch die seiner Metaphysik entsprechende Annahme zu erklären, daß sich das Klasseninteresse des Proletariats mit der Bewegungsrichtung des Realprozesses deckt. Fällt diese Voraussetzung fort, so gerät auch die ganze Sicherheit der MARXschen Ideologienlehre ins Wanken und seine Lehre wird ebenfalls zur Ideologie, zum geistien Kampfmittel einer "fortschrittlichen", revolutionären Klasse.

In summa: "Ideologisches Denken" ist falsches Denken. Das Kriterium der Falschheit ist die Nicht-Übereinstimmung mit der sozialen Wirklichkeit, die als solche dem Erkennen gegeben ist. Das Verfehlen dieser Wirklichkeit durch das Erkennen ist durch eine Gebundenheit des erkennenden Subjekts an bestimmte Interessen bedingt, die nach MARX sozial verursacht sind. Die Vertreter der Wissenssoziologie aber nehmen gerade diese historische und soziale Wirklichkeit, und um diese handelt es sich hier allein, im Sinne des Kritizismus nicht als etwas Fertiges und objektiv Gegebenes an. Das auch von der wissenssoziologischen Fragestellung aufgeworfene Problem des Verhältnisses von Sein und Erkennen betrifft nicht das Verhältnis von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnissubjekt, sondern das Verhältnis von existentiell gebundener Art des Denkens und existentiellem Sein des denkenden Subjekts. Dieses Verhältnis findet in der Formel vom Überbau und Unterbau seine vielleicht nicht ganzu glückliche begriffliche Formulierung. Es ist daher nur konsequent, wenn in der Wissenssoziologie im Gegensatz zu jeder Ideologienlehre nicht mehr von wahrem und falschem Erkennen gesprochen wird, sondern nur noch von existentiellem und seinsverbundendem Denken. Das schließt nicht aus, daß diese zwischen dem Wissen und der Lebensweise des Subjekts bestehende Relation nur für bestimmte Gebiete des Wissens und Erkennens gilt, und daß auch für diese das Problem der Relativität eine gedankliche Bewältigung fordert. (91)

Blicken wir von hier aus zurück auf MARX, so ergibt sich abschließend folgendes Bild: Mit dem Einbau einer Psychologie der Interessen und ihrer Ursachen in die marxistische Geschichtsphilosophie, die gewisse Analogien zur weiter oben beschriebenen "Ideologienlehre" der Aufklärung zeigt und auch eine gewisse Verwandtschaft mit den späteren Gedanken NIETZSCHEs aufweist, wird der fruchtbare Frageansatz dieser Geschichtsphilosophie gründlich verfälscht (92). Das seinsverbundene Denken - in den ursprünglich von MARX vertretenen Gedanken eine nicht eliminierbare, das Wesen des menschlichen Geisteslebens mitkonstituierende gesellschaftliche Gebundenheit - wird als zu einer Ideologie gehörend gedeutet. Ideologien sind die eine wahre Erkenntnis von Sachverhalten verhüllenden und enthüllenden Geistesgebilde, mit denen die gegensätzlichen sozialen Klassen ihre realen Machtkämpfe auf dem Gebiet des Geistes austragen. Es ist nur eine Konsequenz dieser Umdeutung der ursprünglichen Geschichtsphilosophie, wenn MARX, statt Wissenssoziologie zu bleiben, immer stärker zu einer Lehre vom falschen Denken des Bürgertums übergeht. Wissenssoziologische Fragestellungen im eigentlichen Sinne und Ideologienlehre sind aber, wenn auch die Ideologienlehre in den späteren Schriften von MARX' und ENGELS immer wichtiger wird, nicht ohne weiteres als zeitliche Entwicklungsstadien ihrer Geschichtsphilosophie zu bezeichnen. Vielmehr sind beide von vornherein in so inniger Weise miteinander verflochten, daß es oft schwer ist, die Verschiedenheit der beiden Betrachtungsweisen des Geistes genau zu trennen und zu unterscheiden. Es ist daher nur zu verständlich, wenn die Denker des ganzen nachfolgenden Marxismus entweder die eine oder die andere Seite an der von MARX begründeten Lehre besonders betonen und darauf aufbauen. Die Vertreter beider Formen einer Weiterbildung seiner Gedanken können sich auf die Originalschriften als Quelle berufen.

Diese Weiterbildung der MARXschen Lehre durch die vielen Vertreter des Marxismus kann außerhalb des Rahmens der vorliegenden Arbeit bleiben, da neue Gesichtspunkte für das zentrale Problem von gesellschaftlichem SEin und Erkennen nicht gewonnen werden (93). In eine echte Auseinandersetzung mit dem von MARX aufgeworfenen Problem von Denken und sozialem Sein treten erst die "bürgerlichen" Philosophen ein.
LITERATUR: Hans-Joachim Lieber, Wissen und Gesellschaft, Tübingen 1952
    Anmerkungen
    23) Zur Geschichte des Ideologiebegriffs verweise ich auf das Buch von HANS BARTH, Wahrheit und Ideologie, Zürich 1945, und auf KARL MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Seite 7f. Dort auch weitere Literatur.
    24) Vgl. KARL MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Seite 8. Vgl. auch PAUL SZENDE, Verhüllung und Enthüllung, Leipzig 1922, und GEORG ADLER, Bedeutung der Jllusion für Politik und soziales Leben, Jena 1904.
    25) Die Vertreter des Marxismus sprechen in diesem Zusammenhang von "ideologischem" oder "falschem Bewußtsein". Der Ausdruck stammt von ENGELS und wird in einem Brief an MEHRING vom 14. 7. 1889 gebraucht. Er wurde hier bewußt vermieden, weil er logisch unsinnig ist. Ein Bewußtsein kann nicht falsch sein, sondern ein Denken kann nur zu falschen Urteilen kommen. Und die Aufgabe der Ideologienlehre ist es ja auch, den Grund für die falschen Urteile aufzudecken. Offenbar wird hier von den Marxisten unter Bewußtsein die Geistesart eines Menschen verstanden, deren Falschheit darin liegt, daß sie der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit nicht angepaßt ist. Vgl. das Folgende.
    26) Handwörterbuch der Soziologie, Seite 660. Eine ausführliche Darstellung der Differenzen zwischen Ideologienlehre und Wissenssoziologie erfolgt erst im Verlauf dieses Kapitels und in Kapitel III dieser Arbeit.
    27) Zum Begriff der Aspektstruktur vgl. Kapitel III dieser Arbeit.
    28) Vgl. Kapitel III dieser Arbeit.
    29) Diese kurze Kennzeichnung der systematischen und methodischen Differenzen zwischen Ideologienlehre und Wissenssoziologie muß hier genügen. Sie kann erst im Verlauf der Untersuchungen eingehender begründet werden.
    30) Vgl. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Seite 14f, sowie das genannte Buch von BARTH und ERNST GRÜNWALD, Das Problem der Soziologie des Wissens, Wien 1934.
    31) Vgl. KANTs kleine Schrift "Was ist Aufklärung?" und seine Übersetzung des  sapere aude  durch: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Die ganze Schrift KANTs kann überhaupt als ein Beispiel für die Priestertrugtheorie der Aufklärung gelten, worauf GRÜNWALD mit Recht hinweist.
    32) FRANCIS BACON, Novum Organon, Edition Kirchmann, Philosophische Bibliothek, Berlin 1870, Buch I, Artikel 49.
    33) Vgl. Novum Organon, a. a. O., Artikel 43 über die "Idola fores": "Es gibt auch Götzenbilder infolge der gegenseitigen Berührung und Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts, welche ich wegen des Verkehrs und der Verbindung der Menschen die Götzenbilder des Marktes nenne."
    34) Vgl. GRÜNWALD, a. a. O., Seite 2f.
    35) MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Seite 32.
    36) Vgl. GRÜNWALD, a. a. O., Seite 3f.
    37) Vgl. HANS BARTH, Wahrheit und Ideologie, Seite 207f.
    38) Vgl. HANS BARTHs Ausführungen über BACON, HELVETIUS und HOLBACH in dem genannten Buch.
    39) BARTH weist in seinem genannten Buch anhand der Quellen nach, daß sich MARX direkt auf HELVETIUS und seine Lehre von den Vorurteilen, die ihrerseits wieder auf BACON zurückgeht, als auf einen Vorgänger seiner Ideologienlehre bezieht. "Was  Helvetius  für  Marx  bemerkenswert macht, ist die Ansicht, daß der Mensch in seinem praktischen und theoretischen Verhalten, sofern es sich auf Gegenstände des öffentlichen Lebens bezieht, ein Produkt der sozialen Umwelt ist." So sagt  Marx  in der "Heiligen Familie", historisch-kritische Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. III, Seite 306: "In  Helvetius ... empfängt der Materialismus den eigentlichen französischen Charakter. Er faßt ihn sogleich in Bezug auf das gesellschaftliche Leben. Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohlverstandene persönliche Interesse, sind die Grundlagen aller Moral." Vgl. zum Ganzen HANS BARTH, a. a. O., Seite 54f. Dort auch, auf Seite 87, der Nachweis, daß MARX während seiner Emigration 1844-45 die "Eléments d'Ideologie" von DESTUTT de TRACY gelesen und teilweise exzerpiert hat.
    40) Der Begriff "objektivierter Geist" wird von NICOLAI HARTMANN in seinem Buch "Das Problem des geistigen Seins", Berlin 1932, gebraucht, um die festen geistigen Gebilde vom hegelschen Begriff des "objektiven Geistes" zu unterscheiden. Vgl. auch HANS FREYER, Theorie des objektiven Geistes, dritte Auflage, Leipzig/Berlin 1934.
    41) Vgl. "Die Vernunft in der Geschichte", hg. von GEORG LASSON, dritte Auflage, Leipzig 1930, Seite 89-128.
    42) Die Vernunft in der Weltgeschichte, a. a. O. Seite 51.
    43) Auf die hier entstehende Gefahr einer Forderung der verschiedenen Beurteilung menschlicher Handlungen, auf die Gefahr der Lehre von einer zweifachen Ethik, die in diesen Gedanken HEGELs vorgebildet scheint, hat mit besonderem Nachdruck FRIEDRICH MEINECKE in seinem Buch "Die Idee der Staatsraison" hingewiesen. (vgl. dritte Auflage, München 1929, Seite 427f.
    44) Ich verweise hier auf LEOPOLD von WIESE, Allgemeine Soziologie, Teil II, Gebildelehre, München und Leipzig, 1924 und 1929.
    45) Vgl. hierzu die guten Ausführungen von KARL LÖWITH in seinem Buch: Von Hegel bis Nietzsche, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Zürich/New York, o. J. Seite 53f.
    46) ERNST TROELTSCH, Der Historismus und seine Probleme, Gesammelte Schriften, Bd. III, Tübingen 1922, Seite 305.
    47) Zur Kennzeichnung der hegelschen Dialektik als einer besonderen Denkform vgl. HANS LEISEGANG, "Denkformen", Berlin 1928, Seite 136f.
    48) TROELTSCH, a. a. O., Seite 314f.
    49) Vgl. WERNER SOMBART, Proletarischer Sozialismus, Bd. I, Seite 196f. Dort auch einschlägige Zitate aus den Originalschriften von MARX und ENGELS.
    50) Vgl. RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, erste Auflage, Seite 72.
    51) Vgl. MAX ADLER, Kausalität und Teleologie, Seite 1904.
    52) Zur Kritik der politischen Ökonomie, hg. von KARL KAUTSKY, neunte Auflage, Stuttgart/Berlin 1922, Seite LX.
    53) Vgl. GRÜNWALD a. a. O., Seite 35f und TROELTSCH, a. a. O., Seite 333. SOMBART hat mit der ihm eigenen Ironie darauf hingewiesen, daß durch diese Umwandlung der hegelschen Dialektik der Begriff der Dialektik selbst jeden Sinn verliert. So sagt er in seinem Buch "Proletarischer Sozialismus", Bd. I, Seie 214-15: "Wirklich erstaunlichlich ist es, daß es immer noch Leute gibt, die dieses schnurrige Verfahren, das sich materialistische Dialektik nennt, in eine innere Beziehung zur hegelschen Dialektik bringen. Man sollte doch begreifen, daß es etwas anderes ist, den dialektischen Widerspruch - wirklich: Widerspruch - im Denken und in dem diesem Denken adäquaten Geist zu finden (und etwas anderes hat HEGEL nie gewollt) als in der empirischen Welt - keine Widersprüche, sondern - Antagonismen, Gegensätze zu entdecken. Es ist ein ungeheuerlicher Gedanke, die hegelsche Dialektik auf die empirische Welt anwenden zu wollen. Sie ist durchaus logogenetisch, emanatistisch und verliert jeden, aber auch jeden Sinn, wenn man auf einem empirischen Standpunkt steht. Die Gleichsetzung der hegelschen und der marxschen Dialektik beruth ganz einfach auf der schülerhaften Verwechslung von Widerspruch und Gegensatz, von kontradiktorisch und konträr. Es ist schierer Unsinn, vom Standpunkt der hegelschen Dialektik aus, beispielsweise das Proletariat einen "Widerspruch" zur Bourgeoisie zu nennen, oder die Puppe einen "Widerspruch" zur Raupe". Bis zu welchem Unsinn die materialistische Dialektik infolge der Verwechslung von Widerspruch und Gegensatz führen kann, zeigen neben den von SOMBART auf Seite 213 seines Buches gegebenen Zitaten aus MARX auch die Versuche von LENIN, die Dialektik auf alle Wissenschaften anwenden zu wollen. Dialektik bedeutet nach ihm eine Identität der Gegensätze und das heißt, Einheit der widerspruchsvollen, einander ausschließenden, entgegengesetzten Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (Geist und Gesellschaft einbegriffen). Solche einander ausschließenden, aber dialektisch aufeinander bezogenen Gegensätze sind nach LENIN in der Mathematik: + und -, Differential und Integral. In der Mechanik: Wirkung und Gegenwirkung. In der Physik: positive und negative Elektrizität. In der Chemie: Verbindung und Assoziation der Atome. In der Gesellschaftswissenschaft: Klassenkampf. Vgl. LENIN, "Sämtliche Erke", hg. vom Lenin-Institut in Moskau, Wien und Berlin 1927, Bd. XIII, Seite 375f.
    54) TROELTSCH, a. a. O., Seite 319 und 333.
    55) Zur Beantwortung der Frage, welchen Einfluß etwa FEUERBACHs "Selbstentfremdungstheorie" für diese Umdeutung gehabt hat, desgleichen, ob es berechtigt ist, die ökonomische Geschichtsdeutung von MARX als "materialistische Geschichtsphilosophie" zu bezeichnen, muß ich auf BARTH a. a. O., Seite 98f, GRÜNWALD a. a. O., Seite 32f und TROELTSCH, a. a. O., Seite 314f, hinweisen, weil ihre Beantwortung den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würde. Eine Stelle aus BARTH, a. a. O., Seite 110, mag auf den Zusammenhang von MARX und FEUERBACH zumindest hinweisen.  "Marx  kann bei der Anthropologie  Feuerbachs  nicht stehen bleiben. Er faßt, schärfer als  Feuerbach  es getan hatte, den Ursprung der Religion ins Auge. Von jenen Einsichten der Religionskritik  Feuerbachs,  denen grundsätzliche Bedeutung zukommt, hält  Marx  fest: Der Mensch produziert unter bestimmten Umständen Jllusionen und eine verkehrte Welt. Die Ursache dafür ist diese verkehrte Welt selbst. In der Religionskritik  Marxens  zeigt sich bereits das Verhältnis von Sein und Bewußtsein, das seinem Ideologiebegriff zugrunde liegt." (vgl. auch die folgenden Ausführungen)
    56) TROELTSCH, a. a. O., Seite 319.
    57) TROELTSCH, a. a. O., Seite 345.
    58) Vgl. MAX SCHELER, Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, Seite 15f.
    59) Zur marxistischen Anthropologie vgl. HANS BARTH, a. a. O., Seite 98f und HELMUT TIELECKE, Das Menschenbild des Marxismus, in "Universitas", hg. von SERGIU MAIWALD, Jahrgang 4, Heft 3/4, Stuttgart 1949.
    60) "Die deutsche Ideologie" in  Der historische Materialismus,  die Frühschriften von Karl Marx, Kröners Taschenbibliothek, 2 Bde., Stuttgart o. J. Seite 11-13.
    61) Deutsche Ideologie, Seite 17
    62) Deutsche Ideologie, Seite 18/19.
    63) Teilung der Arbeit in diesem Sinne sieht MARX schon in jeder Familie (Deutsche Ideologie, Seite 23).
    64) MARX sagt selbst, daß Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Begriffe seien (Deutsche Ideologie, Seite 23).
    65) Vgl. zum Ganzen: Deutsche Ideologie, Seite 22f.
    66) Vgl. TROELTSCH, a. a. O., Seite 329.
    67) Deutsche Ideologie, Seite 22/23.
    68) Deutsche Ideologie, Seite 25
    69) TROELTSCH, a. a. O., Seite 333f.
    70) Vgl. GOTTFRIED SALOMON, Historischer Materialismus und Ideologienlehre, in "Jahrbuch für Soziologie", hg. von von SALOMON, Bd. II, Karlsruhe 1926, Seite 415. Auf die psychologischen Wurzeln dieses Glaubens an die Güte des Natur- und Kollektivmenschen gehen besonders ein: HENDRYK de MAN, Zur Psychologie des Sozialismus, 1926 und WERNER SOMBART, Proletarischer Sozialismus, a. a. O., Bd. I, Seite 176f.
    71) Die eigentlichen Unterschiede zwischen Wissenssoziologie und Marxismus werden erst im 2. und 3. Kapitel dieser Arbeit herauszuarbeiten sein.
    72) Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1945, Seite 20.
    73) Manifest, Seite 23
    74) Vgl. ENGELS in einem Brief über die materialistische Geschichtsauffassung aus dem Jahre 1890, der im "Sozialistischen Akademiker" vom Oktober 1895 abgedruckt ist. Dort heißt es: "Nach marxistischer Geschichtsauffassung ist das  in letzter Instanz  bestimmende Moment der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens ... Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus ... üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung all dieser Momente." - In diesen und ähnlichen Ausführungen von ENGELS glauben viele Marxisten einen Beweis dafür finden zu können, daß auch von MARX das Verhältnis von ökonomischer Lage und "ideologischem Überbau" nicht als Kausalverhältnis verstanden, sondern die Aktivität des Menschen, seine Gebundenheit an bestimmte Vorstellungen und Ideen als Antriebskräfte seines Handelns und die Bedeutung dieses Tatbestandes für den Geschichtsablauf anerkannt worden seien. Alle Bemühungen, aus der von MARX anerkannten Bedeutung des menschlichen Handelns für den Geschichtsprozeß eine nicht-kausale Deutung des Verhältnisses von Unterbau und Überhau ableiten zu wollen, vermögen aber nur darzutun, daß dieses Verhältnis kein automatisches und unmittelbares Kausalverhältnis ist, sondern daß die Kausalkette durch Zwischenglieder aufgelockert ist, die die Funktion des Übersetzens ausüben. Diese Zwischenglieder sind die Ideen des Menschen und das von ihnen geleitete Handeln. Eine Behauptung aber läßt sich aus der Lehre von MARX nicht herausnehmen, wenn sie nicht in sich selbst zusammenstürzen soll: Diese das Handeln des Menschen motivierenden Ideen sind Reflexe und Wirkungen seiner ökonomischen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Der Geist des Menschen, seine Vorstellungen und Ideen, sind nichts Autonomes, sondern sie sind immer an die besondere Art der Bedürfnisbefriedigung, an die ökonomische Struktur der Gesellschaft gebunden. Sie sind daher nur Zwischenglieder in einer Kausalreihe, die von der ökonomischen Basis als Ursache zum wirklichen und tatsächlichen Geschichtsablauf als Wirkung führt. Vgl. als Beispiel für die genannten Versuche des Marxismus: HEINRICH CUNOW, Die Marx'sche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, 2 Bde., Berlin 1920/21, Bd. 2, Seite 180f, insbesondere die Seiten 187 bis 191 und 197-210.
    75) Auf die Möglichkeiten, MARX als "existentiellen" Denker zu verstehen, hat neuerdings HANS LEISEGANG hingewiesen ("Hegel, Marx, Kierkegaard" in  Blick in die Wissenschaft,  Berlin 1948, Heft 3, Seite 128f.
    76) Vgl. insbesondere FRIEDRICH ENGELS, Herrn Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Berlin 1948, Seite 109: "Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben nur für ein äußerst beschränktes Gebiet": für das Gebiet der exakten Wissenschaften. "Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum außerhalb jenes oben bezeichneten engen Geistes anwenden, wird er relativ und damit für eine genaue wissenschaftliche Ausdrucksweise unbrauchbar."
    77) Vgl. GRÜNWALD, a. a. O., Seite 121, 134, 205, 213.
    78) Vgl. TROELTSCH, a. a. O., Seite 335.
    79) GRÜNWALD, a. a. O., Seite 37. Hier ist besonders zu beachten, daß für MARX nicht "die Proletarier" denken, sondern "das Proletariat". "Das Proletariat" urteilt, hat eine Weltanschauung usw. Hierin liegen deutlich Nachwirkungen der hegelschen Philosophie. Ein soziales Gebilde, das sich auf bestimmten Beziehungen zwischen Menschen aufbaut, wird zu einem handelnden Wesen erhoben. Das ist auch bei allen anderen noch zu behandelnden Vertretern der Wissenssoziologie der Fall. Auf die hierin gründenden Einseitigkeiten jeder Wissenssoziologie wird im 4. Kapitel dieser Arbeit näher einzugehen sein.
    80) Vgl. PAUL SZENDE, Verhüllung und Enthüllung, Leipzig 1922.
    81) Vgl. zum Folgenden den genannten Aufsatz von G. SALOMON im Jahrbuch für Soziologie, Bd. 2, Seite 386f.
    82) Man vgl. etwa die verschiedene Bedeutung, die das Bürgertum im kommunistischen Manifest und im Anti-Dühring erfährt.
    83) BARTH gibt in seinem schon oft genannten Buch eine ausführliche Geschichte des Ideologiebegriffs. Er weist dabei insbesondere die Zusammenhänge zwischen MARX und den Philosophen der Aufklärung nach. Hierbei kommt er im Hinblick auf den Ideologiebegriff bei MARX zu gleichen Schlußfolgerungen, wie die vorliegende Arbeit. Sein Buch kann daher als eine breiter angelegte Ausführung des Ideologieproblems bei MARX hier herangezogen werden. Die hier vorherrschende Blickrichtung auf die philosophische Problematik der Wissenssoziologie gebot eine wesentlich kürzere Darstellung von MARX.
    84) a. a. O., Seite 22/23
    85) FRANZ MEHRING, Deutsche Geschichte, Berlin 1922, Seite 81.
    86) Deutsche Ideologie, Bd. I, Seite 248f.
    87) Vgl. SALOMON, a. a. O., Seite 394.
    88) Vgl. zu dieser Frage die folgenden Kapitel der Arbeit, insbesondere Kapitel IV.
    89) Diese Auffassung des Wesens der Ideologie geht bis auf NAPOLEONs Auseinandersetzung mit den sogenannten Ideologen zurück. (vgl. BARTH, a. a. O., Seite 15)
    90) SALOMON, a. a. O., Seite 412.
    91) Zur erkenntniskritischen Bedeutung des Ideologiebegriffs hat neben dem noch näher zu beachtenden Aufsatz von MANNHEIM über ideologische und soziologische Interpretation geistiger Gebilde (vgl. Kapitel III der Arbeit) in letzter Zeit THEODOR GEIGER einen fruchtbaren Beitrag geliefert: Kritische Bemerkungen zum Begriff der Ideologie, in der Festschrift für ALFRED VIERKANDT, Gegenwartsprobleme der Soziolgie, hg. von GOTTFRIED EISERMANN, Potsdam 1949. Zum näheren Verständnis des Ideologiebegriffs verweise ich auf diesen Aufsatz,, der seine volle Gültigkeit in der Charakterisierung der Einseitigkeiten einer Ideologienlehre behält, auch wenn GEIGER die Möglichkeit einer wissenssoziologischen Forschung überhaupt leugnet.
    92) Ich möchte hier den Ausführungen von SOMBART anschließen, daß der Revolutionismus MARX den Blick trübt und viele Unstimmigkeiten seiner Lehre begründet. (Sozialismus und soziale Bewegung, sechste Auflage, Jena 1908, Seite 74.
    93) Zur marxistischen Wissenssoziologie, ihren Vertretern und deren Theorie, vgl. GRÜNWALD, a. a. O., Seite 107-158.