tb-2T. K. ÖsterreichO. LiebmanK. FischerP. Natorp    
 
FRIEDRICH ÜBERWEG
Neukantianismus
und Neokritizismus

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"Leonard Nelson wendet sich gegen die gesamte Erkenntnistheorie. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis sei überhaupt unlösbar. Um das gestellte Problem lösen zu können, müßten wir ein Kriterium haben, durch dessen Anwendung wir entscheiden können, ob eine Erkenntnis wahr ist oder nicht. Dieses Kriterium würde entweder selbst eine Erkenntnis sein oder nicht. Wäre es eine Erkenntnis, so würde es gerade dem Bereich des Problematischen angehören, über dessen Gültigkeit erst mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Kriteriums entschieden werden soll. Ist aber das erkenntnistheoretische Kriterium keine Erkenntnis, so müßte es doch, um anwendbar zu sein, bekannt sein, d. h. wir müßten erkennen können, daß es ein Kriterium der Wahrheit ist. Um aber diese Erkenntnis des Kriteriums zu gewinnen, müßten wir das Kriterium schon anwenden. Wir kommen also in beiden Fällen auf einen Widerspruch. Ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist also unmöglich, und es kann daher keine Erkenntnistheorie geben."

Der werttheoretische Kritizismus. -  Übergang zu Fichte.  Ungefähr gleichzeitig mit COHEN begründete WINDELBAND die werttheoretische Deutung des Kritizismus. Sie teilt mit der Marburger Schule die Ablehnung des Dings-ansich, entfernt sich von ihr aber, insofern sie die Erkenntnistheorie in noch größere Nähe zur Ethik und Ästhetik bringt und völlig in Werttheorie auflöst. Wie für das Handeln und Fühlen gibt es auch für das Denken ein absolutes Sollen, das Respektierung verlangt und das alein die Urteile zu wahren bzw. falschen macht. Neben dieser Reduktion des Logischen auf Werthaftes war die folgenreichste Anregung die WINDELBAND gab, seine Unterscheidung von nomothetischen (auf Gesetzeserkenntnis gerichteten) und idiographischen (auf Erkenntnis des Individuellen zielenden) Wissenschaften. - Die von WINDELBAND entwickelten Ideen wurden aufgenommen und in teilweise an FICHTEsche Anschauungen sich annähernder Weise fortgebildt von RICKERT. Derselbe führte den Begriff eines transzendentalen Bewußtseins ein und unternahm ausgedehnte Untersuchungen über das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften, die eine große Diskussion hervorgerufen haben. Während die Naturwissenschaft auf Allgemeines gerichtet ist, beschäftigen sich die Kulturwissenschaften mit Einzelnem, aber nur solchen Einzeltatsachen, die zu Kulturwerten Beziehung haben. Direkt an FICHTE, nicht mehr an KANT knüpft der Neokritizismus MÜNSTERBERGs an. Auch er faßt die Gesamtheit der philosophischen Probleme als Wertprobleme auf und hat ein vollständiges  System der Werte  entwickelt. Von der objektivierten Wirklichkeit der Wissenschaft unterscheidet er die Sphäre des Lebens. Während jene ein gesetzmäßiges Zeitgeschehen darstellt, liegen die noch nicht objektivierten Vorgänge des eigentlichen Erlebens außer der Zeit und sind frei.

Aus der WINDELBAND-RICKERTschen Schule ist die Zeitschrift  Logos,  Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Tübingen seit 1910, von der vor dem Krieg auch eine russische und eine italienische Übersetzung erschien. Der Einfluß dieser Bewegung ist im wesentlichen auf Südwestdeutschland beschränkt geblieben.

WILHELM WINDELBAND (geb. 1848 in Potsdam, 1873 Privatdozent in Leipzig, nacheinander Professor in Zürich, Straßburg, Heidelberg, gest. 1915) war neben DILTHEY der bedeutendste und umfassendste deutsche Historiker der Philosophie am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In seinem "Lehrbuch der Geschichte der Philosophie" hat er als erster die Geschichte der Philosophie problemgeschichtlich dargestellt. Er hat aber trotz des verhältnismäßig geringen Umfangs seiner systematischen Arbeiten als Philosoph zu seiner Zeit eine beträchtliche Wirkung geübt. Er war das geistige Haupt der sogenannten  südwestdeutschen oder badischen  Schule, von der auch auf das Ausland (Rußland) Wirkung ausging.

Auch nach WINDELBAND ist die Aufgabe der Philosophie die Theorie des Wissens. Sie fragt nicht nach seiner psychologischen Entstehung, sondern nach ihrem Wahrheitswert.

Die einfachste Konstatierung von Tatsachen hat bereits eine Anzahl von Voraussetzungen, die keiner weiteren Ableitung fähig und ansich evident sind, aber erst mit der allmählichen Entwicklung der menschlichen Erkenntnistätigkeit zu Bewußtsein kommen. Diese letzten allem Erkennbaren immanenten Prinzipien sind aufzusuchen, und zwar auf dem von FICHTE angebahnten teleologischen Weg. Sie sind die Mittel zur Erreichung allgemeingültigen Denkes und unter diesem Zielgesichtspunkt zu ermitteln. Das entscheidenste Moment bei der Durchführung dieser Aufgabe durch WINDELBAND ist die enge Verbindung, in die er die Erkenntnistheorie mit den Wertwissenschaften der Ethik und Ästhetik bringt. Sie geht so weit, daß auch jene ihm zu einer  Wertdisziplin  wird. Die Abbildtheorie des Erkennens wird auch von WINDELBAND perhorresziert [zurückgewiesen - wp], denn nirgends können wir den Bereich unseres Bewußtseins, unserer Vorstellungen überschreiten. Das Wahrsein einer Vorstellung bedeutet nicht, daß sie eine unabhängige, außer uns bestehende Objektivität abbildet. Wahr ist vielmehr eine Vorstellung nach WINDELBAND dann, wenn sie zu denen gehört, die gedacht werden sollen, schlechthin sollen. Über allem Denken schwebt ein absolutes Sollen (KANT: eine "Regel"). Während nach der gewöhnlichen Ansicht bestimmte Vorstellungen gedacht werden sollen weil sie wahr sind, kehrt sich nach WINDELBAND das Verhältnis dahin um, daß Vorstellungen wahr sind, weil sie gedacht werden sollende sind. Die entsprechende Umkehrung vollzieht WINDELBAND auch auf moralischem und ästhetischem Gebiet. Während nach der gewöhnlichen Auffassung Handlungen getan werden sollen, weil sie gut sind, schwebt auch hier nach WINDELBAND über ihnen ein absolutes Sollen. Es gibt Handlungen, die schlechthin getan werden sollen, schlechthin ohne allen weiteren Grund: sie heißen gute. Ebenso gibt es bestimmte ästhetische Verhaltensweisen, die schlechthin eingenommen werden sollen, und andere, die schlechthin verwerflich sind. Nicht irgendeine okkulte Qualität des Kunstwerks macht es schön, sondern auch über dem ästhetischen Erleben seiner schwebt ein Sollen. - Im Leben ist alles durcheinander vorhanden: richtige und falsche Urteile, gute und schlechte Handlungen, Gefallen an Kunst und Nichtkunst. Das Seelische Naturgeschehen bringt alles gleich wahllos hervor. Die Aufgabe der Philosophie ist es, aus diesem Chaos diejenigen Werte herauszufinden, denen der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt, d. h. die dem absoluten Sollen entsprechenden ("kritische Philosophie"). Die notwendigen und allgemeinen, d. h. im vulgären Sinne  richtigen  Urteil und Bewertungen geben sich dem Bewußtsein unmittelbar mit Evidenz als solche kund, und das Einzige, was die Philosophie tun kann, läuft darauf hinaus, "dieses Normalbewußtsein aus den Bewegungen des empirischen Bewußtseins hervorspringen zu lassen". Philosophie ist also die  Wissenschaft  vom Normalbewußtsein' und damit zugleich  Kulturphilosophie Das Normalbewußtsein selbst ist ein System von Normen, die objektiv gelten, aber auch im subjektiven Bewußtsein realisiert werden sollen. Die Überzeugung von der Existenz jenes Normalbewußtseins ist Sache persönlichen Glaubens, ein Postulat des Denkens, beweisbar ist sie nicht. Mit dieser Auffassung tritt WINDELBAND in den schärfsten Gegensatz zum Relativismus, der keine absoluten Werte anerkennt. - Auch in der  Religionsphilosophie  greift WINDELBAND auf das Normalbewußtsein zurück. Das Charakteristische der Religion liegt darin, daß sie das Normalbewußtsein als transzendente überweltliche Wirklichkeit ansieht ("das Heilige"). Das Problem der Existenz des Bösen ist unlösbar. In der Herausarbeitung der absoluten Werte aus der Geistesgeschichte der Menschheit erblickt WINDELBAND zugleich einen Fortgang vom Neukantianismus zu einer Art  Neuhegelianismus,  der sich von den wunderlichen Äußerlichkeiten und metaphysischen Übereilungen HEGELs freizuhalten hat, aber mit ihm die Geschichte als eigentlichstes Organ der Philosophie ansieht.

In seiner Rede "Geschichte und Naturwissenschaft" gab WINDELBAND die Grundzüge einer  Theorie der Historik,  die später von RICKERT weitergeführt worden ist. WINDELBAND teilt die Wissenschaften in  nomothetische  und  idiographische  ein. Die nomothetischen Wissenschaften suchen nach Gesetzen ("Gesetzeswissenschaften"). Die Ereigniswissenschaften" dagegen behandeln Einzelvorgänge. Die beiden Wissenschaftsarten fallen zusammen mit dem Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften. Die Scheidung ist jedoch keine ganz strenge. So ist die Biologie sowohl nomothetisch als auch als Entwicklungsgeschichte der Erde historisch-idiographisch. Auch kann dasselbe Objekt unter Umständen sowohl unter einem nomothetischen wie auch idiographischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Die Bedeutung der idiographischen Wissenschaften beruth darauf, daß alle unsere Wertgefühle in der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln. Aber nicht jedes Faktum ist eine "historische Tatsache". "Es geschieht gar vieles, was keine historische Tatsache ist." Dazu gehört, daß sie irgendeine  Bedeutung  besitzt. Die Auswahl der Fakta hat vom Historiker nach Maßgabe des von der Philosophie ermittelten Systems allgemeingültiger Werte zu erfolgen. Die beiden Momente, Gesetz und Individualität, lassen sich auf keine gemeinsame Quelle zurückführen, denn das Gesetz fordert um anzugreifen immer bereits einen gegebenen individuellen Zustand des Systems, für das es gelten soll. Allein für sich vermag es nichts hervorzubringen. - Ein Aufgehenlassen der Geschichtsphilosophie in Erkenntnistheorie der Geschichte hat WINDELBAND abgelehnt.

In seiner "Einleitung in die Philosophie" ist WINDELBAND auch auf manche Probleme eingegangen, die er in eigenen Arbeiten nicht näher behandelt hat (z. B. Ästhetik). Die Philosophie hat nach dieser seiner späteren Auffassung zwei Bedürfnisse zu befriedigen, ein theoretisches und ein praktisches. Sie muß sowohl Weltanschauung als auch Lebensanschauung sein. Ihre Probleme zerfallen in theoretische Seinsfragen und praktische (axiologische) Wertfragen (Ethik, Ästhetik, Religion).

Schüler Windelbands. Der bedeutendste unter den Heidelberger Schülern WINDELBANDs ist EMIL LASK (geb. 1875 in Wadowice, Österreich, außerordentlicher Professor in Heidelberg, gest. 1915). "Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form", Tübingen 1911. "Die Lehre vom Urteil", Tübingen 1912. LASK erstrebt unter Festhalten an der WINDELBANDschen Werttheorie des Erkennens einen systematischen Ausbau der Logik, bei dem der kantische Grundgedanke der kopernikanischen Drehung sich nicht auf die Sphäre des Seins beschränken, sondern auch auf die des Nichtwirklichen, welches seinerseits in das Übersinnliche und das Geltende zerfällt, übertragen werden soll. Es bedarf einer "Logik der Philosophie", d. h. einer Lehre von den Kategorien der Kategorien ("Form der Form"), was zugleich Ausblicke auf eine neue Metaphysik eröffnet. - In seiner "Lehre vom Urteil" statuiert LASK noch eine höhere Sphäre jenseits von Richtig und Falsch. - GEORG PICK, "Übergegensätzlichkeit der Werte", Tübingen 1921. - HANS EHRENBERG (Privatdozent dann ordentlicher Professor in Heidelberg), Kritik der Psychologie als Wissenschaft, Tübingen 1910, kritisiert die Psychologie vom transzendentalen Standpunkt aus. Sie könne nie reine Naturwissenschaft (Gesetzeswissenschaft) sein, "wohl aber als Phänomenologie (= Transzendentalpsychologie) reine Kulturwissenschaft", sie ist nicht "etwas ausschließlich Empirisches".

Für die Superiorität des Geltens gegenüber dem Sein und seine Unabhängigkeit von diesem im Sinne WINDELBANDs tritt auch FRITZ MÜNCH (1879 - 1920, Privatdozent in Jena), "Erlebnis und Geltung". Der Satz  2 x 2 = 4  west in sich selbst". Der Umstand, daß der Sinn dieses Satzes uns in Objekten realisiert entgegentritt und daß er von Subjekten gedacht wird, sei für ihn selbst ganz irrelevant. Später näherte sich MÜNCH besonders FICHTE und auch HEGEL.

Von WINDELBAND und RICKERT ausgegangen, mit denen er die Philosophie als "Selbstverständigung des Kulturbewußtseins" auffaßt, ist auch BRUNO BAUCH (geb. 1877 in Groß-Nossen, Schlesien, 1903 Privatdozent in Halle, 1911 ordentlicher Professor in Jena. Neben gründlichen historischen Untersuchungen auf dem Gebiet der griechischen Erkenntnistheorie und über das Verhältnis der kantischen Philosophie zum Protestantismus LUTHERs ist seine Arbeit einerseits der Erkenntnistheorie der exakten Wissenschaft, andererseits der Ethik zugewandt gewesen. Er vertritt die erkenntnistheoretische Auffassung der Naturphilosophie: sie mach die Naturwissenschaft zum Gegenstand der Untersuchung.

Sein Hauptwerk "Immanel Kant" vereinigt systematische und historische Interessen. Unter sachlicher Bemühung um historische Objektivität wird gleichzeitig der Ideengehalt der kantischen Philosophie einer systematisch abwägenden und die Wege in die Zukunft weisenden Kritik unterworfen. Eine Ergänzung bildet die Abhandlung "Über den Begriff des Naturgesetzes" (Kant-Studien, Bd. 29).

Das neue an BAUCHs Kantauffassung ist einmal, daß er die vorkritische und die kritische Zeit KANTs näher aneinanderrückt. Der Gegensatz war nur relativ, der Einfluß HUMEs nur ein die bereits selbst vollzogene Entwicklung befördernder. In Bezug auf die kritische Epoche wird eine Neben- und Durcheinander transzendentalpsychologischer und transzendentalkritischer Analyse festgestellt, die, klar geschieden, jede ihr Recht behalten. Bedeutsam ist endlich die Verschiebung des Schwerpunktes auf die Kritik der Urteilskraft. Den tiefsten Gedanken KANTs sieht BAUCH in der Lehre, daß "die Welt als einer Idee entsprungen" aufgefaßt werden muß. Gegenüber der realistischen und der Marburger Interpretation KANTs nimmt BAUCH einen selbstständige Stellung ein, nach der KANT mit seinen am weitesten fortgeschrittenen Gedankensowohl den Realismus wie COHENs Standpunkt überwunden habe, während er zumeist freilich auf dem realistischen Boden stehengeblieben sei. Auch nach BAUCH will aber die  Erfahrung  mehr besagen als etwa: soviel bisher wahrgenommen ist, erleidet diese oder jene Regel keine Ausnahme. Sie ist in ihrem Dasein nicht Problem, sondern als wirklich gegeben. Man hat deshalb nicht zu fragen, ob sie möglich, sondern allein,  wie  sie möglich ist, welcher Art die objektive Gültigkeit ihrer Bedingungen ist (Seite 124). Die transzendentale Methode ist auf die Gründe a priori zur Möglichkeit der Erfahrung gerichtet. Es ist dabei aber nicht von der zeitlichen Entstehung der Erfahrung die Rede, sondern von dem, was in ihr liegt. Es handelt sich auch nicht um die psychologische Faktizität des Erkennens, sondern um seine logische Gültigkeit. Das eigentliche Ziel der Transzendentalphilosophie ist die Ermittlung des Gesetzes der sogenannten Synthesis, die als tiefstes Moment alle Erfahrung bedingt. Raum und Zeit sind a priori notwendige Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung, aber nicht selbst Gegenstände der Anschauung. Die transzendentalen Gesetze, die die Erfahrung möglich machen müssen, wenn diese gegenständliche Gültigkeit haben soll, die Gegenstände und Erfahrung, also die Natur, möglich machen. Die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Erfahrung wird möglich durch die transzendentale Gesetzlichkeit der Synthesis. Das überwiegende Festhalten am realistisch gedachten Ding-ansich hält BAUCH für den "schlimmsten Fehler" KANTs, es ist "der unglücklichste Dogmatismus, den KANT noch in den Kritizismus hineingeschleppt hat". Es steckt darin der "allerfatalste Psychologismus". BAUCH selbst will an die Stelle sowohl der Dinge wie des "Ansich" "die Notwendigkeit der Begriffe" gesetzt wissen. Am Maßstab der Wissenschaft gemessen ist das als Realität gedachte Ding lediglich eine Fiktion im Sinne VAIHINGERs. Der Gegenstand der Erkenntnis ist von dieser selbst verschieden, er ist das, was der bloßen Subjektivität der Synthesis entgegensteht, was, wie KANT sagt, "dawider" ist. Alle Erkenntnis ist Erkenntnis eines  x,  Ausdruck einer Funktion. Verstehen wir die Unabhängigkeit als Argument (im mathematischen Sinn), so ist das übersubjektive "dawider"-Sein als logische Geltung Funktionswert und das Sein des Gegenstandes ist nicht absolut und schlechthin gegeben, auch nicht bloß aufgegeben, sondern Ergebnis. Der Gegenstand ansich ist "jene logische Erkenntnisgesetzlichkeit", die unabhängig von  unserem Verstand  für  unseren Verstand  gilt, und in der der  reine Verstand  für die bestimmte Erscheinung als ihre Bedingung die Einheit von Form und Materie fordert, wobei diese Forderung einer Erfüllung neuer Art bedarf. Die Geltung der Forderung garantiert der  reine Verstand.  In diesem hat sie ihren logischen Ort und Ursprung unabhängig von unserem, aber doch gültig für  unseren Verstand.  Mit der Marburger Schule verbindet BAUCH die Auffassung, daß für KANT sein Dualismus von Anschauung und Kategorien verhängnisvoll war, den er freilich wenn auch unzureichend, bereits durch den Begriff des Schemas zu korrigieren versuchte. In Wahrheit sei die Lösung im reinen Verstand zu suchen, doch ist das Kategoriensystem nicht als abgeschlossen zu behandeln, sondern prinzipiell als unendlich im CANTORschen Sinne des aktual Unendlichen aufzufassen. Die fortschreitende Erkenntnis bedarf immer neuer Kategorien. Die Naturgesetze werden von BAUCH als Begriffe aufgefaßt, wenn auch nicht ohne weiteres und schlechthin alls Begriffe Naturgesetze sind. Es sind allgemeine kategoriale Ordnungen, durch die auch die Erfahrungsmaterialien derart einander einheitlich zugeordnet und selbst bestimmt werden, daß ihnen die einzelnen Erfahrungen unterworfen sind. Die Begriffe besitzen - die gewöhnliche Abstraktionstheorie wird von BAUCH abgelehnt - funktionalen Charakter. Ich kann z. B. sagen: ein Dreieck von der Beschaffenheit  x  (= gleichschenklig, rechtwinklig usw.). Begriffe seien allgemein, nicht aber als "abstrakt", sondern als "abstrahierend"; zugleich sind sie "konkreszent". In Bezug auf die teleologische Struktur der Natur hält BAUCH mit KANT daran fest, daß allein der Mechanismus erklärendes, die Teleologie nur ein heuristisches Prinzip ist. Auf der Verbindung beider beruhten auch die Leistungen der ganzen biologischen Entwicklungslehre. KANT leugne keineswegs die mechanische Erzeugung des Organischen. - Auch Gott erlangt transzendentalkritische Bedeutung als transzendentallogische Bedingung der Möglichkeit, die nicht nur der theoretischen, sondern auch der praktischen Philosophie das letzte Fundament gibt. Denn nur, wenn wir in Gott einen Grund der Ausführbarkeit eines notwendigen moralischen Endzwecks annehmen, ist die im praktischen Leben stets gemachte Annahme der Realisierbarkeit von Werten selbst logisch gerechtfertigt. In der zugleich regulativen und konstitutiven Bedeutung der Gottesidee schließen sich theoretische und praktische Philosophie zu einer Einheit des Systems der Philosophie zusammen.

Neben der Erkenntnistheorie hat sich BAUCH besonders mit  ethischen  Problemen beschäftigt. Auch in der Ethik steht er auf kantischem Boden, führt aber gerade auf diesem Gebiet die Gedankenentwicklung in selbständiger Weise über die von KANT erreichte Stufe hinaus. Er übernimmt von KANT die allgemeine Lehre vom kategorischen Imperativ und verteidigt die kantische Ethik gegen den Vorwurf eines inhaltsleeren Formalismus. Jedenfalls sei die Ethik auch von Boden des Kritizismus aus von diesen Mängeln zu befreien. Es bedarf nur der Erfassung der Bedeutung der hypothetischen Imperative, die KANT freilich nicht erkannt hat. Die Tatsache, daß es auch Irrtümer im Pflichtbewußtsein gibt, zeigt, daß das Pflichtgebot nur die eine Seite, nicht das Ganze des Sittengesetzes ist. Es gibt daneben noch andere sittliche Richtgesetze. Diese resultieren aus dem System der Kulturwerte, die KANT in ihrem Wertcharakter merkwürdigerweise nicht erkannt, sondern als bloße "feinere Freuden und Ergötzungen" mißdeutet hat. Diese Kulturwerte machen den Inhalt der hypothetischen Imperative aus. Die Verpflichtungen des Individuums nach dieser Richtung werden durch seine Individualität bestimmt, darum hat die zweite Art sittlicher Grundgesetzlichkeit im Hinblick auf ihre Erfüllungsmöglichkeit auch an der Individualität des Menschen ihre Grenzen und Bedeutungen. Das "Was" des sittlichen Gebotes ist also subjektiv von Mensch zu Mensch verschieden. Die Realisierung der Kulturwerte ist nur in der historischen Gesellschaft möglich, ihre Voraussetzung ist eine Differenzierung nach Rechten und Pflichten. "Die vollendete Demokratie wäre auch das Ende wahrer Geschichte und Kultur." Das  Recht  ist im tiefsten Grund Recht auf Pflichterfüllung. Seine Realisierung ist nur durch Macht möglich. Politik ist immer Machtpolitik. Diese aber ist nur gerechtfertigt, soweit sie eine Durchsetzung des Rechts ist. In der Gegenwart sei freilich der Politik aller Wert fremd geworden.

Von WINDELBAND stark beeinflußt ist auch FRIEDRICH (früher: Fritz) NEEF, geb. 1887 in Stuttgart, zunächst Botaniker. "Gesetz und Geschichte", Tübingen 1917; "Kausalität und Originalität", Tübingen 1918. NEEF erstrebt in seinem "Prolegoma zu einer Kosmologie" eine Betrachtung der Wirklichkeit, die die gegenseitige "Einpassung" der Dinge aufeinander herausarbeitet. Eine solche bestehe auch in der anorganischen Natur, die der "Organe" entbehrt. Die Kluft zwischen anorganischer und organischer Natur erfährt dadurch eine Überbrückung. Die Uratome sollen unter geeigneten Umständen außer ihrer anorganischen auch eine organische Gesetzmäßigkeit zu entfalten vermögen. In Bezug auf den Begriff der Teleologischen stellt sich NEEF völlig auf den kantischen Standpunkt. Die Zweckmäßigkeit soll keine Eigenschaft eines Dings, sondern nur ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft sein. Er wendet sich deshalb scharf gegen DRIESCH. Im Gegensatz zu RICKERT widerspricht NEEF der Gleichsetzung der Kulturgeschichte mit der Geschichte schlechthin. Auch die Natur hat ihre Geschichte und kennt auch Neues.

In einem ähnlichen engen Verhältnis wie NATORP zu COHEN steht RICKERT zu WINDELBAND. Geboren in Danzig als Sohn des Politikers RICKERT, 1891 Privatdozent in Freiburg, dort 1894 außerordentlicher Professo, 1915 ordentlicher Professor, 1915 nach Heidelberg berufen. In seiner Jugend wirkten auf ihn neben WINDELBAND, BERGMANN, RIEHL, SCHUPPE, SIGWART, VOLKELT, in reiferen Jahren EUCKEN, HUSSERL (Noesis und Noema), MEINONG (Objektiv), MÜNSTERBERG (Philosophie der Werte), NATORP, REHMKE, SIMMEL. Eine volle Deckung der Anschauungen mit WINDELBAND besteht nicht. RICKERT selbst bezeichnet den Unterschied so, daß WINDELBAND ihm zu psychologisch und metaphysisch sei. Gegenüber ihm ist RICKERT der viel systematischer veranlagte Geist. Sein "System der Philosophie" ist eine der systematischen Hauptleistungen der Gegenwart.

Seinen allgemeinen  erkenntnistheoretischen  Standpunkt hat RICKERT in der scharfsinnigen Schrift "Der Gegenstand der Erkenntnis" entwickelt. Das Grundproblem der Erkenntnistheorie ist das  Transzendenzproblem,  d. h. die Frage nach einer vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit. Das Transzendenzproblem bezieht sich nach RICKERT aber nicht auf das Einzelindividuum, sondern auf das, was er mit einem kantischen Ausdruck als "Bewußtsein überhaupt" bezeichnet. Dieses Bewußtsein überhaupt ist das, was übrigbleibt, wenn man von allem Inhalt des Bewußtseins absieht. Es ist "ein namenloses, allgemeines, unpersönliches Bewußtsein", "das Einzige, was niemals Objekt, Bewußtseinsinhalt werden kann". Jenseits dieses Bewußtseins überhaupt gibt es nach RICKERT kein Seiendes, alles Seiende liegt innerhalb des Bewußtseins. Den naiven Realismus, der die räumlich-zeitliche Welt als vom Individuum unabhängig ansieht, verwirft RICKERT damit nicht. "Wer glaubt, daß der erkenntnistheoretische Idealismus die Existenz der uns räumlich umgebenden Außenwelt bezweifelt, hat noch nicht das Geringste von dieser Lehre verstanden" (Seite 30f). Nur darin verlangt der naive Realismus eine Korrektur, daß hinzugefügt werden muß, daß alles Sein ein Sein im Bewußtsein ist. Die Auffassung, daß die Sinnenwelt nur die Erscheinung einer anderen Welt ist, wird von RICKERT abgelehnt. Das Problem des Wesens der Erkenntnis wird von ihm ganz wie von WINDELBAND durch einen Rekurs auf den Begriff des  Wertes (Sollens)  gelöst.

Alles Erkennen sei als Urteilen nicht ein teilnahmsloses Betrachten, sondern ein Bejahen oder Verneinen. Dies aber bedeutet ein Billigen oder Mißbilligen, d. h. ein Stellungnehmen zu einem Wert, denn nur Werten gegenüber hat Billigung und Mißbilligung einen Sinn: Das Leugnen, daß Wahrheit ein Wert sei, zu dem wir wartend Stellung nehmen, erscheint RICKERT als "unbegreiflich" ("Philosophie des Lebens, Seite 187). Und zwar ist der bestimmende Faktor dabei stets ein Gefühl von Lust und Unlust. Durch diese veränderte Auffassung des Erkennens tritt an die Stelle der Frage nach der Übereinstimmung von Denken und Sein das Problem, nicht was vorgestellt, sondern was im Urteil anerkannt oder verworfen wird. Die Allgemeingültigkeit des Urteils setzt auf dieser Basis die Existenz zeitlos gültiger Werte voraus. Diese sind das einzige Bewußtseinstranszendente, das RICKERT anerkennt. Der Glaube an dieselben unterscheidet die logische Beurteilung vom bloß hedonischen Beifallen oder Mißfallen. Beim Urteil fühlen wir uns gebunden, in bestimmter Weise zu billigen oder zu mißbilligen. Diese Urteilsnotwendigkeit darf aber nicht mit dem psychologischen Zwang, der die Bejahung hervorbringt, verwechselt werden. Es ist vielmehr ein Sollen, das uns gegenübertritt. Richtig heißt ein Urteil, das so urteilt, wie geurteilt werden soll, "das Urteil soll also gefällt werden, weil es gefällt werden soll, nicht weil es sagt, was wirklich ist" (Seite 178). Dementsprechend kehrt auch RICKERT den Begriff des Wirklichen um. Urteile sind nicht deswegen wahr, weil sie aussagen, was wirklich ist, sondern wirklich nennen wir das, was von Urteilen als wirklich anerkannt werden soll. "Der Begriff des Wirklichen stellt sich schließlich als ein Wertbegriff dar." RICKERT nennt seinen Standpunkt  transzendentalen Idealismus;  Idealismus: weil er nur ein in der Vorstellung gegebenes Sein annimmt; transzendental: im Gegensatz zum subjektiven Idealismus und wegen der logischen Priorität des Sollens vor dem Sein.

In der Abhandlung "Zwei Wege der Erkenntnistheorie" unternahm RICKERT ohne eine eigentliche Standpunktsveränderung eine Klärung und präzisierende Weiterbildung seiner Erkenntnislehre, unter Verarbeitung der von HUSSERL, MEINONG wie auch LIPPS empfangenen Anregungen. Das wichtigste Moment ist die schärfere Unterscheidung von Sollen und Wert. Der Wert gilt (er existiert eigentlich nicht, er ist ein "Nichtseiendes") an und für sich. Er ruht in sich selbst. Im Sollen ist er dann auf ein Subjekt bezogen, von dem er Gehorsam verlangt. Die Abhandlung "Vom Begriff der Philosophie" entwarf dann von dem neu präzisierten Standpunkt aus ein zusammenfassendes Bild von der Aufgabe der Philosophie. RICKERT stellt dabei ein dreifaches Seinsgebiet fest: 1. die Welt der Wirklichkeiten; 2. das Reich der Werte. Dieselben sind keine eigentlichen Wirklichkeiten. Der Werte eines Kunstwerkes z. B. ist nicht etwas Wirkliches wie die Leinwand und Farbe. Ebensowenig fällt der Wert mit dem psychischen Akt des Wertens zusammen. Die Seinsweise der Werte ist die des  Geltens  (vgl. LOTZE). Die Wirklichkeitsseiten der Welt, die körperliche wie die seelische, sind das Gebiet der positiven Einzelwissenschaften, die sie vollständig unter sich aufgeteilt haben. Die Aufgabe der Philosophie ist die Untersuchung des Reiches der Werte, wodurch sie in Beziehung zu den Kulturwisssenschaften tritt, die das empirisch vorhandene menschliche Wertleben behandeln. Die Leistung der Philosophie hat in der Feststellung der absoluten Kulturwerte selbst zu bestehen. Dabei hat sie in gleicher Weise die Gefahren des Psychologismus wie des Historismus zu vermeiden. Die Philosophie hat aber noch eine andere Aufgabe: sie soll die beiden Reiche der Wirklichkeit und der Werte in Beziehung zueinander setzen. Das verbindende Mittelglied findet RICKERT in den  Akten des Wertens.  Die Akte des Wertens sind nur Stellungnahmen zu den absoluten Werten, das unterscheidet sie prinzipiell von allem anderen Geschehen. RICKERT nennt dieses Wesen des Wertens seinen "Sinn". Es entsteht dadurch ein drittes neues Reich neben den Reichen der Wirklichkeit und des Wertes: das  "Reich des Sinnes".  Es ist das gesuchte Bindeglied, das die beiden ersten Reiche vereinigt. "Der Sinn, den der Akt des Wertens hat, ist einerseits kein psychisches Sein, sondern weist über dieses hinaus auf die Werte hin. Er ist andererseits aber auch kein Wert, weil er nur auf Werte hinweist. Er verknüpft als ein drittes Reich gerade durch seine Mittelstellung die beiden anderen getrennten Reiche miteinander. Die Sinndeutung (so nennt RICKERT die Beschäftigung mit Werten) ist dementsprechend weder eine Seinsfeststellung noch ein bloßes Wertverständnis, sondern das Erfassen eines Subjekts mit Rücksicht auf seine Bedeutung für den Wert, seine Auffassung als Stellungnahme zu dem, was gilt."

Hatte schon WINDELBAND versucht, die Grundsätze der neukantischen Erkenntnistheorie auf die historischen Wissenschaften zu übertragen, so setzt RICKERT das Unternehmen im größten Stil fort. Die gewöhnliche Teilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften wird von ihm abgelehnt. Nicht der Gegenstand, sondern die Methode muß den Einteilungsgrun abgeben. Die  Naturwissenschaft  geht auf das  Allgemeine, das Gesetz.  Der Einzelfall interessiert sie nur als Mittel, das allgemeine Gesetz zu finden, unter dem er steht. Die  Geschichte  dagegen beschäftigt sich gerade mit dem Einzelfall als solchem, z. B. mit NAPOLEON I., dem Renaissancezeitalter usw. Ein materialer Gegensatz zwischen den beiden Wissensgebieten besteht nur insofern "als sich aus der Gesamtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und Vorgängen heraushebt, die für uns eine besondere  Bedeutung  oder Wichtigkeit haben", und diese es sind, die der Historiker zum Gegenstand von Untersuchungen macht. Denn nicht mit jedem Gegenstand geschieht das, sondern nur mit solchen, die es verdienen, d. h. die, welche selbst Kulturwerte sind oder zu ihnen in Beziehung stehen. Der Historiker trifft unter den historischen Tatsachen eine Auswahl. Das Auswahlprinzip ist der Begriff der Kultur. "Durch die Werte, die an der Kultur haften, wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität erst konstituiert." So ist also das Verfahren des Historikers ein  wertbeziehendes.  Ereignisse ohne eine solche Wertbeziehung sind unwichtig und werden vernachlässigt. Der Historiker darf gleichwohl selbst keine Werturteile fällen. "Niemals ist für die Geschichte die Geltung eines Wertes ein Problem, sondern die Werte kommen nur insofern in Betracht, als sie faktisch von Subjekten gewertet und daher faktisch gewisse Objekte als Güter betrachtet werden." "So kann der Historiker als Historiker nicht entscheiden, ob die französische Revolution Frankreich oder Europa gefördert oder geschädigt hat. Dagegen wird kein Historiker im Zweifel darüber sein, daß die unter diesem Namen zusammengefaßten Ereignis für die Kulturentwicklung Frankreichs und Europas bedeutsam und wichtig gewesen sind, und daß sie daher in ihrer Individualität als wesentlich in die Darstellung der europäischen Geschichte aufgenommen werden müssen." Die Geschichte ist somit überall vom Begriff der Kultur abhängig, und so führt sie von sich aus zu der Forderung der gleichen allgemeinen Normwissenschaft hin, die die Zentralaufgabe der Philosophie darstellt. Die Durchführung dieser Ansichten durch RICKERT geschieht mit der äußersten Konsequenz, so daß er ausgedehnten positiven Disziplinen den Charakter als wirklicher Wissenschaften bestreitet und sie nur als vorwissenschaftliche Materialsammlungen gelten läßt, so z. B. die Erforschung der einzelnen Himmelskörper als Individuen und einzelne Gebiete der Geographie. Eine individuelle Erforschung z. B. des Mondes "ist entweder auf ein Interesse an unserem  guten Mond  zurückzuführen, der als Individuum im Leben der meisten Menschen eine Rolle spielt, und dann ist dieses Interesse und die daraus entstehende Wertbeziehung gar nicht wissenschaftlich, oder es liegt, wie in den detaillierten Mondkarten, ebenso wie in gewissen geographischen Darstellungen lediglich ein wissenschaftliches Material vor, das noch der weiteren begrifflichen Verarbeitung harrt und nur der Gedanke an diese Verarbeitung hat die Individualität des Mondes wichtig gemacht". "Solange den geographischen Tatsachen jede Beziehung zur Geschichte im weitesten Sinn des Wortes oder jede Beziehung zu generalisierenden Theorien fehlt, wird man in ihnen nur Materialsammlungen erblicken dürfen, die gemacht sind, weil die Feststellung dieser Tatsachen einmal geschichtlich oder naturwissenschaftlich wichtig werden kann."

Wesentlich polemischer Art ist RICKERTs Buch über "Die Philosophie des Lebens". Es wendet sich mit großer Schärfe, ja Sarkasmen, gegen die von BERGSON - den er übrigens mit Recht gegen den Vorwurf des Plagiats in Schutz nmmt -, NIETZSCHE, JAMES, SIMMEL, DILTHEY, SCHELER und anderen inaugurierte antisystematische, irrationalistische Philosophie. Er sieht in ihr die ihm als die verbreitetste philosophische Bewegung der Gegenwart erscheint, eine bloße "Modeströmung". Es fehle der Lebensphilosophie an jedem klaren Prinzip, weshalb sie sich für eine wissenschaftliche Darstellung der Wirklichkeit nicht eignet. Es mischen sich in ihr intuitionistische und biologistische Momente. Philosophie sei nicht Leben, sondern Denken über das Leben. Die Lebensphilosophie "bleibt entweder bei dem zwar umfassenden, aber nichtssagenden Begriff des Erlebnisses, oder sie beschränkt sich auf einen Teil der Welt, den sie nicht so zu denken vermag, daß er sich an die Stelle des Weltalls setzen läßt". (Seite 143). "Die Modephilosophie des Lebens wird bisweilen zum Lebenssumpf, und darin gibt es dann nur noch Froschperspektiven." (Seite 155) Der Metaphysik ist RICKERT dauernd abgeneigt geblieben. Solange nicht ein Genie eine neue "kritische Metaphysik" schaffe, halte er sie für Epigonentum.

Neuerdings hat RICKERT seine Philosophie in der Gestalt eines umfassenden  Systems  darzustellen begonnen. Im Gegensatz zu den älteren Systemen, die auf ein Gesamtbild der Wirklichkeit ausgehen, hat nach ihm die Philosophie es nicht mit der konkreten Wirklichkeit zu tun, da dieselbe an die Einzelwissenschaften aufgeteilt ist. Ihre Aufgabe ist die umfassende Betrachtung des Verhältnisses der drei Reiche und der konkreten Wirklichkeit, des Wertes als des transzendenten Sinnes und des immanenten Sinnes, denen auf der Seite des Menschen drei Arten, wie wir uns ihrer bemächtigen, entsprechen: das Erklären, das Verstehen und das Deuten. Das dritte Reich nennt RICKERT die "Vorderwelt", die Wissenschaft davon die "Prophysik". Der Vitalismus ist ihm ein "abschreckendes Beispiel subjektivierender Wirklichkeitsauffassung". Bemerkenswert ist, daß RICKERT sich NATORPs Standpunkt insofern genähert hat, als auch er jetzt von der Erkenntniswirklichkeit einen ihr zugrunde liegenden, vom Denken zu ihr verarbeiteten Erlebnisinhalt unterscheidet, den er "das absolut Reale", "Erlebniswirklichkeit", bloßes "Material" des Erkennens nennt, ohne jedoch auf dieses "Reale" und seine Seinsweise näher einzugehen. Wie MÜNSTERBERG verlegt auch RICKERT in diese Sphäre die Freiheit. Die Wirklichkeit wird von RICKERT als unendlich betrachtet. Die Eigenart des neukantischen Standpunktes veranlaßt folgende Deduktion: "Die Wirklichkeitstotalität ist etwas Unwirkliches, erst zu Verwirklichendes in dem Sinn, daß sie als Totalität zum Geltenden gehört, d. h. sie bildet einen Wert." "Das Wirkliche ist vom Unwirklichen oder Geltenden bedingt." "Kurz, ohne Unwirkliches gibt es kein Wirkliches, ohne Geltendes kein real Seiendes, als Ganzes. Das ist das Ergebnis der Erörterung über den Begriff der Wirklichkeitstotalität als Problem." Auf das durch EINSTEIN jetzt wichtig gewordene Problem, ob die Welt nicht endlich ist, geht RICKERT nicht ein.

Für das  System der Werte  bringt RICKERT einen wesentlichen Fortschritt durch den Hinweis auf die Existenz einer nicht in den Bereich der Pflichtwerte hineingehörigen Wertsphäre im menschlichen Zusammenleben, zumal in der Familie. Das Gebiet der religiösen Werte wird von RICKERT in zwei Sphären zerlegt. In jeder Sphäre liegt ein spezifischer "Wert" vor, dessen Realisierung ein bestimmtes "Gut"darstellt. Auch das "Subjektverhalten" zum Wert verschieden. Von jedem Wert aus führt der Weg zu einer bestimmten Weltanschauung. Es ergeben sich sechs Wertgebiete. 1. Logik (Wert: Wahrheit - Gut: Wissenschaft - Subjektverhalten: Urteilen - Weltanschauung: Intellektualismus); 2. Ästhetik (Wert: Schönheit - Gut: Kunst - Subjektverhalten: Anschauen - Weltanschauung: Ästhetizismus); 3. Mystik: (unpersönliche Heiligkeit - das All-Eine - Vergottung - Mystizismus); 4. Ethik (Sittlichkeit - Gemeinschaft freier Personen - autonomes Handeln - Moralismus); 5. Erotik (Glück - Liebesgemeinschaft - Zuneigung bzw. Hingabe - Eudämonismus); 6. Religionsphilosophie (persönliche Heiligkeit - die Götterwelt - Frommsein - Theismus oder Polytheismus).

JONAS COHN, geb. 1869 in Görlitz, 1897 Privatdozent, 1901 außerordentlicher Professor in Freiburg, der von der Botanik ausging, steht ebenfalls RICKERT nahe. Auch er nimmt ein überindividuelles Ich an, dem keine metaphysische Existenz zukommt, sondern das nur ein für die Logik notwendiger Begriff ist. Das individuelle Ich strebt im Erkennen danach, sich von seiner Individualität zu befreien und jenem überindividuellen Ich anzunähern. Diesem gehören alle Formen an, ohne die kein Erkenntnisinhalt bestehen kann. Der Begriff der Wahrheit wird auch von RICKERT auf ein Sollen reduziert. Von Wichtigkeit ist COHNs Lehre vom "Utraquismus": jede Urteilsevidenz enthält zwei Arten von Evidenzmomenten, die nur noch einfach aufweisbar und nicht aufeinander reduzierbar sind. Das eine Evidenzmoment ist "denkerzeugt", das andere "denkfremd", womit COHN sagen will, daß nicht der ganze Inhalt des Erkennens vom Denken erzeugt wird, sondern ein irreduzibles selbständiges Moment der "Gegebenheit" daneben bestehen bleibt. - Besondere Beachtung hat COHNs  Ästhetik  gefunden, die der erste und einzige größere Versuch einer Ästhetik vom WINDELBAND -RICKERTschen Standpunkt aus ist. COHN steht im Gegensatz zur psychologischen Ästhetik. Ästhetik ist nach ihm kritische Wertwissenschaft, d. h. sie fragt nicht nach der Entstehung, sondern nach dem Recht der ästhetischen Wertungen und seinen Voraussetzungen. Der Unterschied des Ästhetischen vom bloß Angenehmen besteht im "Forderungscharakter" des Ästhetischen. Über KANTs rein formale Ästhetik hinausgehend will COHN die kritische Ästhetik inhaltlich ergänzen. - In seiner  Kulturphilosophie  bekennt er, am stärksten durch FICHTE angeregt zu sein. COHN gibt eine vortreffliche Selbstbesinnung über die Lebenszusammenhänge und -tendenzen der Gegenwart bei vollem Verständnis für die allgemeinen geistigen Lebnsschwierigkeiten derselben. Die Überwindung der wertelosen mechanischen Weltauffassung wird durch die kritizistische Erkenntnistheorie geleistet, welche den Werten Raum schafft. Die Lösung des religiösen Problems der Vereinigung von religiöser Lebensgesinnung mit unerbittlicher erkennender Kritik ist in vollem Umfang erst von einem religiösen Genie zu erwarten, sie wird aber vorbereitet durch die Religionsphilosophie. COHNs Kulturphilosophie ist eine der bedeutendsten Leistungen der Gegenwart auf diesem Gebiet. Auf der Grundlage derselben derselben hat er sic hweiterhin der  Pädagogik  zugewandt und auch auf diesem Gebiet eine bedeutende Leistung hervorgebracht. Er geht bis zu konkreten Einzelvorschlägen, die volles Sachverständnis auch für die Praxis bekunden. Das Ziel der Erziehung von seiten des Individuums aus gesehen ist "die durch Teilnahme am geschichtlich kulturellen Gemeinschaftsleben erfüllte autonome Persönlichkeit". Vom Standpunkt der Gemeinschaft aus lautet das Ziel: Heranbildung des Zöglings "zu einem Glied der historischen Kulturgemeinschaften, denen er angehören wird."

Schüler Rickerts. RICHARD KRONER (Privatdozent in Freiburg), Zweck und Gesetz in der Biologie, Tübingen 1913, "Kants Weltanschauung", Tübingen 1914 u. a. Die logische Eigenart der Biologie liegt in der teleologischen Betrachtung der Organismen. Der Vitalismus wird von KRONER abgelehnt, aber auch die physikalisch-chemische Erklärung werde immer auf Widerstände stoßen, die "aus der kategorischen Beschaffenheit des biologischen Denkens" stammen. - SERGIUS HESSEN (Petersburg), Individuelle Kausalität, Berlin 1909. - LENORE RIPKE-KÜHN, "Kant contra Einstein", Erfurt 1920 u. a. - GEORG MEHLIS (Privatdozent in Freiburg), "Lehrbuch der Geschichtsphilosophie, Berlin 1915; "Probleme der Ethik", Tübingen 1918. In der Ethik basiert MEHLIS auf den Anschauungen von KANT, FICHTE und SCHLEIERMACHER. Das Wesen der Religion wird von ihm unter Bezugnahme auf die mystischen Erlebnisse charakterisiert, die Frage ihrer Gültigkeit dagegen vom geschichtsphilosophischen Standpunkt - der Auffassung der Geschichte als Selbsterschließung des Göttlichen - aus behandelt. - Auf geschichtsphilosophischem Gebiet hat MEHLIS, in der Grunfauffassung sich eng an RICKERT anschließend, den Versuch gemacht, der Erkenntnistheorie der Geschichte auch eine inhaltliche Philosophie der Geschichte zur Seite zu stellen. Die Hochflut des historischen Geschehens beruth auf dem Wertgegensatz der verschiedenen Kulturgebiete. Der Sinn der Geschichte liegt in der Versöhnung dieser Antinomie. Religion, Wissenschaft, Kunst sollen frei voneinander werden und sich selbständig entfalten ("irdische Glückseligkeit") - MEHLIS gibt gleichzeitig eine Geschichte der Geschichtsphilosophie. - WILHELM METZGER (1879 - 1916, Privatdozent in Leipzig) begann mit historischen Untersuchungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, wandte sich dann aber systematischen Problemen zu. "Untersuchungen zur Sitten- und Geschichte der sozialen Werte", Heidelberg. - Von RICKERT beeinflußt sind auch die Autoren: GUSTAV RADBRUCH (früher Privatdozent der Rechte in Kiel), Einführung in die Rechtswissenschaft, Leipzig 1910; Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, u. a. Die erste Aufgabe der Rechtsphilosophie ist es, Theorie der Rechtswissenschaft zu sein, außerdem obliegt ihr noch die Aufgabe, eine Rechtsbewertungswissenschaft zu sein. Ideale hat sie nicht aufzustellen, wohl aber die der Rechtswirklichkeit zugrunde liegenden Rechtszwecke zu ermitteln und dann zu fragen, wie dieselben möglich sind, d. h. welche Voraussetzungen anerkannt werden müssen, um diese Rechtszwecke anerkennen zu können. - REINHARD KYNAST (Privatdozent in Breslau), der von der Physik ausging. Seine Habilitationsschrift, Intuitive Erkenntnis, Breslau 1919. KYNAST zieht Verbindungslinien zwischen RICKERT und LASK, HUSSERL und BERGSON. Eine Auseinandersetzung zwischen Kritizismus und Phänomenologie gibt er in: "Das Problem der Phänomenologie", Breslau 1917. Die Phänomenologie kann mittels Wesenserschauung und Einklammerung nur Urteile von empirischer Geltung liefern. Ihre Aufgabe ist, den Wissenschaften ihr Material in evidenter Gegebenheit zu liefern. Sie ist nicht identisch mit Psychologie. - OLIVER HAZAY, Struktur des logischen Gegenstandes, Berlin 1915, beeinflußt von RICKERT und LASK.

Von RICKERT ausgehend sucht dennoch zu einer Neubegründung der Metaphysik fortzuschreiten BRODER CHRISTIANSEN: Erkenntnistheorie und Psychologie des Erkennens, Hanau 1902; Philosophie der Kunst, Hanau 1909; Selbstbewußtsein, Berlin 1912. CHRISTIANSEN, der an KANT wie dem Neukantianismus scharfe Kritik übt, hält eine Erkenntnis des Metaphysischen nicht für ausgeschlossen. Es ist zwar der Natur transzendent, aber dem erkennenden Subjekt immanent und darum erfaßbar. Eine unmiittelbare psychische Selbstanschauung leugnet CHRISTIANSEN. - Ausgegangen von RICKERT ist FRIEDRICH KUNTZE (geb. 1881, Privatdozent in Berlin), doch hat er sich an entscheidenden Punkten, so in der Wissenschaftsgliederung, von ihm entfernt, sich HUSSERL, CANTOR und FREGE annähernd. "Die kritische Lehre von der Objektivität", Heidelberg 1906. - Nähere Beziehungen zur Badischen Kantschule wies auch der Nationalökonom und Politiker MAX WEBER auf (1864 - 1921, lange Jahre Professor in Heidelberg, zuletzt in München), den die Methodologie der Nationalökonomie näher beschäftigt hat. Unter Ablehnung normativer Tendenzen faßte er die Sozialwissenschaften als rein beschreibender Natur auf. "Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre", Tübingen 1922 u. a.

HUGO MÜNSTERBERG, geb. 1863 in Danzig, studierte 1882 - 87 Philosophie und Naturwissenschaften in Genf, Leipzig und Heidelberg; Privatdozent in Freiburg 1887, außerordentlicher Professor daselbst 1891. Seit 1892 ordentlicher Professor der Psychologie und Direkor des Psychologischen Laboratoriums der Harvard Universität in Cambridge, Massachusets, Amerika. - MÜNSTERBERGs Philosophie will eine "Synthese von FICHTEs Idealismus mit der physiologischen Psychologie unserer Zeit sein". Auf erkenntnistheoretischem Gebiet verbindet er in selbständiger Weise Tendenzen der Badischen und der Marburger Schule, auch wohl solche DILTHEYs, sie mit Konsequenz durchführend. Schon die "Grundzüge der Psychologie" offenbaren den Standpunkt MÜNSTERBERGs deutlich. Auch er teilt die Auffassung, daß die Wirklichkeit nicht außerhalb unseres Erkennens besteht, sondern nur durch dieses. Das Erkennen ist kein Abbilden, vielmehr ein Wertsetzen (Setzen von Seins- und Zusammenhangswerten). In Bezug auf die Natur vertritt MÜNSTERBERG die mechanische Weltansicht. Der Vitalismus ist Mystik. Auch die Willenshandlungen sind rein mechanische Vorgänge. Der Natur steht zur Seite die psychische Welt. Beide finden sich im Verhältnis des Parallelismus. Das Ideal der Psychologie wäre eine ähnlich geschlossene Atomistik des Bewußtseins, wie die Physik Atomistik der Natur ist. Das Psychische ist zu diesem Zweck in Sinneselemente zu zerlegen. MÜNSTERBERG vertritt einen ausgesprochen sensualistischen Standpunkt. Doch sind ihm die Sinneselemente nicht die letzten Elemente des Psychischen, hinter ihnen stehen noch einfachere  Urelemente,  die in ihrer Verschmelzung und Kombination miteinander erst die scheinbar einfachen Sinnesphänomene ergeben. Die gesamte  physikalische  und  psychologische  Welt sind  sekundärer  Art. Sie stellen eine intellektuelle Bearbeitung ("Objektivierung") der unmittelbaren Erlebniswelt dar; auch Raum und Zeit gehören zu ihnen. Diese Abspaltung des Objekts vom Subjekt bringt noch keine Zweiheit mit sich. Das Objekt ist zunächst nur von  einer  Art, weder physisch, noch psychisch. Das Physische und Psychische unterscheiden sich negativ dadurch, daß jenes räumlich, dieses unräumlich ist. Das Psychische ist das dem individuellen Bewußtsein, das physische das dem Bewußtsein überhaupt Gegebene: nur in ihm ist es vorfindbar, nicht im individuellen Bewußtsein. Die Welt der Natur, die so in der Erkenntnis entsteht, ist durchaus überindividuell. Es ist das Ziel der Wissenschaft, alles Subjektive (so die Sinnesqualitäten) von ihr völlig zu eliminieren.

Von der Welt der Natur und der Psychologie durchaus verschieden ist die Welt des  unmittelbaren Erlebens.  Diese kennt keine Naturobjekte und Sinnesphänomene. Sie ist eine Welt von Wert- und Willensbeziehungen der Subjekte. Die Realität der fremden Personen wird im eigentlichen Leben nicht erschlossen, auch nicht eigentlich wahrgenommen, sondern unmittelbar erlebt. Die Gewißheit von der Wirklichkeit der anderen Subjekte geht logisch dem Gedanken existierender Objekte voraus. Das erste ist gar nicht die "Wahrnehmung" der andern Subjekte, sie ist bereits eine Objektivierung, das erste ist vielmehr ihre  Anerkennung.  Und zwar besteht keine absolute Scheidewand zwischen den Personen. Wo ich einen anderen wirklich verstehe, werde ich nach MÜNSTERBERG teilweise im wörtlichen Sinne eins mit ihm. Diese Erlebniswelt ist nicht in die Grenzen der Zeit eingeschlossen. Die Willensakte sind außer- oder vorzeitlich, da die Zeit erst innerhalb der eigentlichen Wahrnehmung entsteht. Ebenso bedeutet das Außensein der Welt dem Subjekt gegenüber nur, daß die Welt Objekt des Willens ist. Auch unsere Willensakte und die an uns gerichteten Zumutungen zu solchen nehmen wir nicht eigentlich zunächst wahr, sondern wir erleben sie. "Wir finden sie nicht vor wie Objekte, sondern wir bejahen sie oder verneinen sie, und wissenvon uns eben gerade dadurch, daß wir sie durchleben." Die Subjektakte sind das Gebiet der  Geschichte,  diese hat es also mit dem  Zeitlosen  zu tun, da Zeit und Raum ja nur die Formen der Objekte sind. "Sofern wir den wirklichen Subjekten die zeitlich und räumlich bestimmten psychophysischen Individuen substituieren, sind sie nicht mehr eigentliche historische Persönlichkeiten, so notwendig diese Unterschiebung auch für die Beschreibung die subjektivierende Einfühlung treten und damit die wirklich historische Betrachtung einsetzen". Das Ziel des Historikers ist die Herstellung eines systematischen Zusammenhangs der Wollungen, so wie sich die erfahrenen Objekte in die erfahrbare Natur einordnen. Sie wählt zu dem Zweck aus der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit von Wollungen die bedeutsamen, die von allgemeiner Tragweite aus. Im Gegensatz zum Psychologen sucht der Historiker nicht nach einem Kausalzusammenhang. Die Subjekte gehören zur Welt der Freiheit. - Neben die bisher erwähnten Disziplinen der Physik, Psychologie und Geschichte tritt als vierte die vom Gesollten, die  normative  Wissenschaft. Wie die Natur überindividuell ist, sind es auch die ethischen und ästhetischen Werte. MÜNSTERBERG bekämpft die Auflösung der Werte in bloßes Sollen. Zwar stellen sie auch ein solches dar, aber es ist ein Sollen, das auch ein Wollen ist, jedoch ein Wollen von überindividueller Tendenz, das den Anspruch erhebt, das Wollen jeglichen Subjekts zu sein. Waren die "Grundzüge der Psychologie" darauf gerichtet, eine erkenntnistheoretische Grundlage der empirischen Psychologie zu gewinnen, so versucht die "Philosophie der Werte" ein gescholossenes philosophisches  System  zu geben. Ihr Gegenstand ist nicht nur die Welt der Werte im gewöhnlichen Sinn (Ethik, Ästhetik), sondern sie umfaßt auch die sonst Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik genannten Gebiete. Das von WINDELBAND aufgestellte Programm, sie alle in eine Theorie der Werte aufzulösen, ist hier in großem Maßstab realisiert. Die nicht weiter ableitbare Basis ist eine mit Lust nichts zu tun habende "ursprüngliche  Tathandlung,  die unserem Dasein ewigen Sinn gibt und ohne die das Leben ein schaler Traum, ein Chaos, ein Nichts ist", nämlich "der Wille, daß es eine Welt gibt, daß unser Erlebnisinhalt also uns nicht nur als ein Erlebnis zu gelten habe, sondern sich in sich selbst unabhängig behaupte". Dieser Wille ist eine Tat der Freiheit, zu der niemand genötigt werden kann. Einmal geschehen schließt dieser Akt der Bejahung einer unabhängigen Welt alle übrigen Werte als Konsequenz in sich. Diese Werte gelten absolut ("reine Werte"), sie sind von Lust und Unlust unabhängig. Die Befriedigung, die sie mit sich bringen, ist reine Willensbefriedigung, nicht Lust. Die Werte sind sämtlich eine Konsequenz der Forderung, daß die Wirklichkeit bestehen soll; sie stellen die  Selbstbehauptung  der Welt dar. MÜNSTERBERG unterscheidet zwei große Klassen der Werte: unmittelbar gesetzte Werte oder  Lebenswerte  und zielbewußt geschaffene Werte oder  Kulturwerte.  Die Sphäre, in denen diese Werte auftreten, ist eine dreifache: die Außenwelt (die Objekte, die Dinge), die Mitwelt (die Welt der Subjekte) und die Innenwelt (das Einzelsubjekt). In jeder der beiden Hauptklassen fixiert MÜNSTERBERG wiederum vier Gruppen von Werten. Auf dem Gebiet der Lebenswerte sind es die folgenden: die erste Gruppe ergibt sich aus der  Selbsterhaltung  der Welt: es sind die  logischen  Werte, die Daseinswerte - sie sind Gegenstand der Anerkennung. Es sind die Dinge (Objekte), die Wesen (Subjekte) und die Bewertungen. Die zweiten Werte ergeben sich aus der Forderung der  Übereinstimmung  der Welt mit sich selbst: die  ästhetischen  Werte - sie sind Gegenstand der Freude. Die Übereinstimmung der Dinge ergibt die ästhetische Harmonie, die Übereinstimmung der Subjekte ist die Liebe, die Übereinstimmung des Subjekts mit sich selbst ist das Glück. Die  Selbstbestätigung  der Welt ergibt die  ethischen  Werte, die Entwicklungswerte, - sie sind Gegenstand der Erhebung. In Bezug auf die Dinge ergibt sich das Wachstum, in Bezug auf die Subjektswelt der Fortschritt, in Bezug auf das Einzelsubjekt die Selbstentwicklung. Die vierte Gruppe der Werte ist die aus der  Selbstvollendung  der Welt resultierende: die  metaphysischen  Werte, die Gotteswerte, - sie sind Gegenstand des Glaubens. Für die Dingwelt resultiert der Wert der Schöpfung, für die Subjektwelt der der Offenbarung, für die Innenwelt des Subjekts der der Erlösung. Die bisher genannten Werte waren die unmittelbar gesetzten Werte. Neben diesen gibt es nun genau entsprechende zielbewußt geschaffene Werte. Auf dem Gebiet der logischen Werte sind es die Zusammenhangswerte, sie sind Gegenstand der Erkenntnis. Für die Welt der Dinge ergibt das die Natur, für die Subjektwelt die Geschichte, für die Innenwelt die Vernunft oder das zusammenhängende System der Bewerungen. Die zielbewußt geschaffenen ästhetischen Werte sind die Schönheitswerte; sie sind Gegenstand der Hingebung. Die Dingwelt führt zu den bildenden Künsten, die Subjektwelt zur Dichtung, die Innenwelt zur Musik. Die zielbewußt gesetzten ethischen Werte sind die Leistungswerte, sie sind Gegenstand der Würdigung. Auf dem Gebiet der Dinge resultiert so die Wirtschaft (deren absoluten Wert MÜNSTERBERG lebhaft betont, hier dem amerikanischen Geist den Vorrang zugestehend), in der Subjektwelt das Recht, in der Innenwelt die Sittlichkeit. Die zielbewußt geschaffenen metaphysischen Werte endlich sind die Grundwerte; sie sind Gegenstand der Überzeugung. Auf dem Gebiet der Dingwelt ergibt sich das Weltall, in der Subjektwelt die Menschheit, in der Innenwelt das Über-Ich. Die metaphysischen Werte stellen die vereinigung der übrigen drei Wertgruppen dar: "der Lebenswert, der diese Aufgabe erfüllt, ist in der Religion gegeben, der Kulturwert in der Philosophie". Beide verlangen ein Weiterschreiten über die Grenze des Erfahrbaren. Die verschiedenen Wertgruppen sind einander gleichberechtigt nebengeordnet, sie sind nicht voneinander abhängig, der Urgrund liegt also hinter ihnen. Dieser vereinheitlichende Wert ist das Heilige. Alle Werte sind Ausdrucksformen, Betätiungen dieses letzten. Es ist ein Über-Ich, eine Tat. Jedes Einzel-Ich ist Teil dieses Urstrebens. "Die Welt ist eine Tat. Die Tat in der Ganzheit umfaßt Zusammenhang und Einheit und Leistung". - Auf psychologischem Gebiet sind außer den oben hervorgehobenen Punkten von besonderem Belang MÜNSTERBERGs sensualistische Willenstheorie, die den Willen in bloße Empfindungen aufzulösen strebt, sodann sein Versuch, die Psychologie auf das wirtschaftliche Leben anzuweden der  angewandten  Psychologie (Psychotechnik). Von kultureller Bedeutung sind ferner seine Arbeiten über Amerika.

Die relativistische Umbildung des Krizismus. Eine außerordentlich komplizierte und sublimierte Gestalt hat der Neokritizismus bei GEORG SIMMEL angenommen. Nach dem überwiegenden Grundzug seines Denkens kann er als Vertreter eines extremen  Relativismus  bezeichnet werden, ohne daß er damit jedoch vollständig und in Bezug auf seinen späteren Standpunkt völlig richtig charakterisiert wäre. Mit einer vorwiegend psychologischen Deutung des Apriori bei KANT verband SIMMEL schon früh (1895) die darwinistische Selektionslehre zu einer pragmatischen Wahrheitstheorie, für deren Aufstellung ihm die Priorität vor JAMES zukommt. Von besonderer Wirkung ist seine Übertragung der Aprioritätslehre auf das Gebiet der Historik gewesen, in welcher er dem historischen naiven Realismus entgegentritt. Auf dem Gebiet der Ethik wollte die "Einleitung in die Moralwissenschaft" unter völligem Absehen von jeder Normgebung als außerwissenschaftlichem Unternehmen eine reine deskriptive Moralwissenschaft begründen. Von Bedeutung sind ferner die ausgedehnten Untersuchungen SIMMELs auf soziologischem und sozialpsychologischem Gebiet. In seiner Spätzeit drangen HUSSERLs Ideen auch in seine Philosophie ein.

GEORG SIMMEL, geb. 1858 im Zentrum Berlins, Ecke Leipziger und Friedrichstraße, war infolge jüdischer Herkunft und persönlicher Konfessionslosigkeit bis zu seinem 56. Lebensjahr Privatdozent, zuletzt nichtetatmäßiger außerordentlicher Professor an der Universität Berlin. 1914 wurde er als ordentlicher Professor nach Straßburg berufen. Er starb 1918 an einem Krebsleiden mit der Ruhe eines antiken Philosophen, nachdem er mit vollem Bewußtsein des nahenden Endes seine Arbeitgen abgeschlossen hatte. Er ging aus von einem Stanpunkt, der KANT ausgesprochen psychologisch verstand. Ohne den Begriff der Wahrheit im Sinne eines Abbildens von objektiv Bestehendem völlig abzulehen, verliert er doch für SIMMEL alle Bedeutung, da er es als gesichertes Resultat der Erkenntniskritik ansieht, daß unser Erkennen in keiner Weise die Gegenstände abzubilden vermag. Das Weltbild der einzelnen Organismen ist ein subjektives, je nach ihren Sinnesorganen ein völlig verschiedenes. Es verändert sich, sobald sich die psychophysische Organisation ändert. Und zwar findet überall ein Prozeß der Auslese statt. Die Individuen, deren Vorstellungen für ihre Erhaltung besonders geeignet sind, überholen die übrigen. Die wahren Vorstellungen sind im Wege der biologischen Selektion entstanden, ja, Wahrheit und Gattunszweckmäßigkeit sind ein und dasselbe. Bereits 1895 hat SIMMEL im "Archiv für systematische Philosophie" (festgehalten in der Philosophie des Geldes, 1. Auflage, Seite 651f). Mit dieser pragmatischen Lehre verbindet SIMMEL den Hinweis, daß, sofern wir nicht an bestimmten Stellen dogmatisch an Unbewiesenem Halt machen wollen, unser ganzes Erkennen "ein freischwebender Prozeß ist, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen".

Das Bild, das wir uns von der Welt machen, ist, wie KANT gezeigt hat, völlig durch  apriorische  psychologische Funktionen bestimmt - ein Begriff des Apriori, von dem SIMMEL indessen noch einen anderen unpsychologischen, erkenntnistheoretischen" scheidet. (Dieser erkenntnistheoretische Begriff des Apriori ist von SIMMEL besonders in den KANT-Vorlesungen näher bestimmt worden. Das Apriori wird dort streng geschieden vom psychologischen Ich.) Die Natur ist vom Geist geschaffen. Diese Aprioritätslehre nun hat SIMMEL auch auf die Forschungsarbeit des  Historikers  übertragen. Es bedeutet das einen entschiedenen Bruch mit der gewöhnlichen realistischen Auffassung der Historik, nach welcher sie die Vergangenheit unverzerrt widerspiegelt, so wie sie gewesen ist. Gegenüber dieser Auffassung macht SIMMEL geltend, daß auch im hhistorischen Erkennen von vornherein apriorische Faktoren wirksam sind; genauso wie im naturwissenschaftlicher Erkennen. Die  Geschichtsphilosophie  wird bei SIMMEL zur  Erkenntnistheorie der Historik.  Ihr Problem ist: "wie aus dem Stoff der unmittelbar gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde wird, das wir Geschichte nennen". Dieses Gebilde ist nach SIMMEL etwas prinzipiell anderes als eine Nachbildung der erlebten Wirklichkeit, es ist eine Schöpfung des Geistes, wie die Natur eine solche ist. Mit großem Scharfsinn und eindringlicher Kenntnis der historischen Arbeit zeigt SIMMEL im einzelnen, wie sich diese Schöpfung mittels der formenden Funktionen des Geistes ("historisches Apriori") aus dem isolierten historischen Tatsachenmaterial vollzieht. Auch das Problem der historischen Gesetze findet seine Erledigung. SIMMEL lehnt die Annahme solcher Gesetze ab.

Auf  ethischem  Gebiet unterscheidet SIMMEL zwischen normativer und deskriptiver Ethik, die erstere stellt Ideale auf, die zweite, die SIMMEL  Moralwissenschaft  nennt, beschreibt nur das vorhandene ethische Leben, ohne ihrerseits dazu eine wertende Stellung zu nehmen. Mit seiner "Einleitung in die Moralwissenschaft", in der Begriffe wie Altruismus und Egoismus, sittliches Verdienst und sittliche Schuld, Glückseligkeit, kategorischer Imperativ, Zweck, Freiheit psychologisch sehr scharf analysiert werden, wollte SIMMEL eine solche rein deskriptive Behandlung der Ethik geben. Normierung des Lebens erschien ihm als ein der Wissenschaft überhaupt völlig entzogener Akt des Lebens.

Um das Jahr 1900, das auch sonst einen so bedeutenden Etappenpunkt in der modernen deutschen Philosophie bezeichnet, hat dann aber auch SIMMEL inn wichtigen Punkten wenigstens prinzipiell dem Relativismus den Rücken gewandt, indem auch er seitdem logische wie werthafte Absolutheiten anerkennt. Neben den gewöhnlich anerkannten Existenzarten des  Physischen  und des  Psychischen  gibt es noch eine andere, die der Begriffe, der logischen Normen, der Naturgesetze, das "Reich der ideellen Inhalte". Ihre Seinsweise ist die des "Geltens". Hierher gehört auch die Sphäre des  objektiven Geistes,  dessen Entdecker HEGEL gewesen sei. Neben diesen drei Reichen gibt es aber noch ein viertes, das SIMMEL als "die idealen Forderungen" bezeichnet. "Forderung" ist hierbei nicht verstanden im Sinne des bloß subjektiven Verlangens oder des Sichbeanspruchtfühlens, sondern als ein mit der Sache selbst gegebenes, im Verhältnis von Seele und Welt präformiertes Sollen, das einer besonderen, aber nicht weniger übersubjektiven Logik unterliegt wie das Sein. Gewisse Forderungen sind von dem Gefühl begleitet, daß der, welcher eine solche Forderung ausspricht, damit nur der Träger einer überpersönlichen, dem bloßen Sein von ihm und un überlegenen Ordnung ist. Wie das Naturgesetz gilt, bevor es entdeckt wird, so die Pflicht, bevor sie erfüllt wird und auch wenn sie nicht erfüllt wird.

Unter diesen Umständen erscheint auch die normative Ethik SIMMELs jetzt als eigentlich wissenschaftliche Disziplin. Und zwar nimmt SIMMEL auf ethisch-normativem Gebiet eine selbständige Stellung ein. Die tiefste sittliche Forderung sei nicht auf das einzelne Tun gerichtet, wie KANT wollte, sondern auf das Sein des Menschen. Das Handeln folgt erst auf das Sein. Vom Sein, insoweit es im Willen zum Ausdruck kommt, wird die Quantität des "Guten" verlangt, für die es vielleicht eine Analyse und Definition gibt, sondern die eine nur zu erlebende Rhythmik des Willens, eine Form des Funktionierens, bedeutet.

Eine größere systematische Gesamtdarstellung seines neueren Standpunktes hat SIMMEL nicht gegeben, ersichtlich ist er aus den "Grundproblemen". Vielfach haben auch seine neueren Arbeiten, wenn nicht das relativistische Prinzip, so doch die relativistische Weise des Denkens beibehalten. Wie sich DILTHEY unter dem Einfluß der Geschichte zu einem allgemeinen Skeptizismus bekannte, so ist es bei SIMMEL höchstgesteigerte Intellektualität, die ihn mehr zu allseitiger gedankenmäßiger Durchdringung logischern Möglichkeiten als zu einer abschließenden personalen Stellungnahme drängt. Seine eigene Stellung bleibt oft unausgesprochen. Insbesondere bleibt der Relativismus SIMMELs bestehen gegenüber der Philosophie. Der Wahrheitsbegriff der Philosophie weiche von dem der übrigen Wissenschaften ab. Die Philosophie "zeichnet nicht die Objektivität der Dinge nach - das tun die  Wissenschaften  im engeren Sinne -, sondern die Typen der menschlichen Geistigkeit, wie sie sich je an einer bestimmten Auffassung der Dinge offenbaren". Jede Weltanschauung ist "der adäquate Ausdruck für das Sein des Philosophen selbst, für den in ihm lebenden Menschheitstypus". Auch SIMMELs Arbeiten über KANT, GOETHE, SCHOPENHAUER und NIETZSCHE stehen sämtlich unter diesem systematischen Gesichtspunkt. Sie sind nicht historische Untersuchungen im gewöhnlichen Sinn, sondern Versuche, den typischen überzeitlichen Gehalt der behandelten System und Persönlichkeiten darzustellen. In KANTs Philosophie erblickte SIMMEL den Höhepunkt der intellektualistischen Weltanschauung. "Die Welt wird mit all ihren Fremdheiten, ihr Inhalt durch die Tatsache bestimmt, daß wir sie wissen." "Nicht die Dinge, sondern das Wissen umd die Dinge wird für KANT das Problem schlechthin." Demgegenüber suchte GOETHE die Einheit des objektiven und des subjektiven Prinzips, der Natur und des Geistes, innerhalb ihrer Erscheinung selbst. "Sein ganzes inneres Verhältnis zur Welt ruht, theoretisch ausgedrückt, auf der Geistigkeit der Natur und die Natürlichkeit des Geistes." Beiden gemeinsam ist, daß sie gegenüber der älteren Philosophie, die entweder von der Natur oder dem Geist ausging, eine höhere, übergreifende einigende Basis zu gewinnen suchten. Auch in seinem Buch über REMBRANDT zielt SIMMEL auf die Herausarbeitung des weltanschaulichen Gehalts in den Werken des Künstlers, nicht auf das ästhetische Moment im engeren Sinn.

In den letzten Jahren beschäftigten SIMMEL neben den Kulturproblemen, die der Krieg wachrief, welcher durch seine Kulturzerstörungen auf ihn einen weit erschütternden Eindruck machte als auf viele andere, - besonders  metaphysische  Fragen. Auch auf diesem Gebiet bewegen sich seine feinsinnigen Ideen im Zwielicht zwischen psychologischer Analyse und systematischer Forschung, ohne daß es zu einer letzten entschiedenen Stellungnahme kommt. Doch wird deutlich, daß in ihm eine religiös-mystische Ader lebte. Auch der vorsichtigste Versuch einer positiven Bestimmung des Wesens Gottes erschien ihm als Überschreitung unserer Denkrechte und die negative Theologie der Mystik als freier und tiefer als alle frühere oder spätere Dogmatik und Religionsphilosophie. Auch der Unsterblichkeitsgedanke bewegte ihn. Es schien ihm nicht unmöglich, daß das Leben nicht die einzige Existenzform der Seele ausmacht. Bei Ablehnung der Substantialität der Seele bleibe ferner die Möglichkeit bestehen, daß das "Wesensgesetz", die "gesetzlich-funktionale Vorstellungsweise", die an ihre Stelle trete, sich bald in diesem, bald in jenem Wirklichkeitskomplex darstellt. Die sogenannte Wirklichkeit der Wissenschaft faßte SIMMEL auch zuletzt als biologisches Zweckgebilde des Vorstellens auf, neben der Kunst, Religion, Recht u. a. als vollkommen gleichwertige, andersartige "Welten" stehen.

Allgemein anerkannt sind die  soziologischen  und  sozialpsychologischen  Forschungen SIMMELs. Er verteidigt die Selbständigkeit der  Soziologie Dieselbe ist nach ihm eine rein formale Disziplin, die Wissenschaft "von den  Formen  der Vergesellschaftung, von den Beziehungsformen der Menschen zueinander". Vom Inhalt des gesellschaftlichen Lebens sieht sie völlig ab. Unter diesem Gesichtspunkt hat SIMMEL selbst in seiner "Soziologie" dieselbe entwickelt. Die Schrift "Grundfragen der Soziologie" beschäftigt sich vornehmlich mit der Frage, welches eigentlich die Aufgabe der Soziologie und welches ihr Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften ist. - Auch die "Philosophie des Geldes" gibt nicht eine nationalökonomische Darstellung, sondern such einmal die faktisch-geschichtlichen Phänomene, die das Geld bietet, "aus den Wertgefühlen, der Praxis den Dingen gegenüber und den Gegenseitigkeitsverhältnissen der Menschen als ihren Voraussetzungen" verständlich zu machen und sodann ihre Wirkungen auf die innere Welt, auf das Lebensgefühl der Individuen, die Verkettung ihrer Schicksale, die allgemeine Kultur zu verfolgen.

Die psychologistische Umgestaltung des Kritizismus. Während die Hauptströmungen des modernen Neukantianismus sich ausgesprochen antipsychologisch und ostentativ logisch orientieren, betonen mehrere andere Denker die Unabweislichkeit einer mehr psychologischen Deutung und Fortbildung. Es sind das einerseits CORNELIUS, der in seiner Denkweise dem Empirismus nahesteht, und andererseits NELSON, der die FRIES'sche Deutung KANTs weitergebildet hat. Er begründete die sogenannte Neufriesische Schule. In jüngster Zeit hat er sich besonders der Ethik und Rechtsphilosophie zugewandt, auch auf diesem Gebiet FRIES folgend.

HANS CORNELIUS ist, von KIRCHHOFF ausgegangen, weiterhin auch von MACH, AVENARIUS, KANT und HEINRICH HERTZ beeinflußt. Geboren 1863 in München, war CORNELIUS zunächst Naturwissenschaftler, 2 Jahre chemischer Assistent, wandte sich dann aber der Philosophie, speziell der Erkenntnistheorie und der Kunst zu. 1894 Privatdozen in München, 1903 ebenda außerordentlicher Professor, 1910 ordentlicher Professor in Frankfurt. Alle Begriffe sind auf Erfahrungen zurückzuführen. Das Fundament der Philosophie ist die Psychologie, weil unsere Erlebnisse das letzte Fundament aller Erkenntnisse sind. CORNELIUS teilt MACHs Auffassung der Wissenschaft als metaphysikfreier, möglichst ökonomischer Deskription der Erscheinungen. Den Begriff des Dings sieht er, in Anlehnung an KANT, als Regel für die Erscheinungen an, der drückt die gesetzmäßige Verknüpfung von Erscheinungen aus und dient lediglich zu ihrer zusammenfassenden Beschreibung. Das Ding-ansich lehnt CORNELIUS ab, ebenso aber auch die objektive Existenz der Empfindungsinhalte außerhalb des Bewußtseins; dieser Begriff ist für CORNELIUS nur eine Ausdrucksabbreviatur für die Erwartung der Möglihkeit bestimmter Wahrnehmungen. Einen ursprünglichen Unterschied zwischen Außenwelt und Innenwelt erkennt CORNELIUS wie auch MACH nicht an; das Ich ist der, wesentlich durch das Gedächtnis bedingte Zusammenhang der unmittelbaren Bewußtseinsinhalte. In seinem neuesten Werk "Transzendentale Systematik" hat sich CORNELIUS ungeachtet sehr scharfer Kritik an KANT doch dem Neukantianismus in seiner das Ding-ansich ablehnenden Gestalt nicht unbeträchtlich genähert, und zwar schlägt er eine Richtung ein, die als psychologisch-genetische Deutung des Kritizismus angesprochen werden darf. CORNELIUS nimmt sonach eine Art Mittelstellung zwischen dem Positivismus und dem Neukantianismus ein. KANT beging nach ihm den Fehler, daß er alle empirische Erkenntnis als minderwertig voraussetzte. Einmal liefere das naturwisschaftliche exakte Experiment für alle Zukunft gültige Erkenntnis, und sodann gründet sich KANTs Philosophie selbst auf psychologische Analysen. Ferner führt seine Annahme der affizierenden Dinge-ansich zu lauter Ungereimtheiten usw. Den wirklichen Ausgangspunkt der transzendentalen Methoden dürfen nicht mathematische Erkenntnis oder in den Sätzen der reinen Naturwissenschaft vorhandene sogenannte synthetische Urteile a priori bilden, sondern nur die allgemeinsten Bestimmungen unseres Erkennens innerhalb der Einheit des Zusammenhangs unserer Erfahrung. Dieser Zusammenhang des Gegebenen ist die letzte Voraussetzung des transzendentalen Verfahrens. Die Einheit des persönlichen Bewußtseins ist selbst eine unmittelbar gegebene Tatsache. Die Bedingungen dieser Einheit sind in psychologischen Analysen zu ermitteln. Es ergibt sich dabei nach CORNELIUS, daß überhaupt keine Mannigfaltigkeit von Erlebnissen im Zusammenhang des Bewußtseins gedacht werden kann, ohne daß sich in diesem Verlauf auch die Begriffsbildung vollziehen müßte, die wir als die Erkenntnis einer Welt von unserer Wahrnehmung unabhängiger Dinge zu bezeichnen pflegen. Diese Dinge sind aber nich unerkennbare Dinge-ansich, sondern sie sind identisch mit den empirischen Dingen unserer Umgebung, mit den Dingen der Naturwissenschaft. Eine unbegreifliche Erscheinung, die außerhalb der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten stände, kommt für uns nicht in Betracht, da alles was dem Zusammenhang unseres Bewußtseins überhaupt angehören wird, jenen Bedingungen der Einheit des Bewußtseins unterworfen ist. - In der  Psychologie  bekämpft CORNELIUS die assoziative und die atomistische Konstruktion des Seelenlebens aus Elementen; er näher sich teilweise HUME und JAMES. - Die Werte reduzieren sich nach CORNELIUS sämtlich auf Lustgefühle. Wir schreiben einem Ding oder einer Person Wert zu, wenn wir erfahrungsmäßig einen bestimmten lustvollen Gefühlseindruck von ihnen erwarten. Die ethische Befriedigung ist ein Spezialfall der ästhetischen. Besonders hervorgetreten ist CORNELIUS als  Ästhetiker  der optischen Künste. Ästhetisch ist ein Gegenstand, wenn das Auge sein Dasein einheitlich und ohne Beschwerde, vielmehr mit mühelosem Genuß auffassen kann.

Stark genähert hat sich CORNELIUS' Ansichten eines Schülers von THEODOR LIPPS, ERNST von ASTER (außerordentlicher Professor in München, 1920 ordentlicher Professor in Gießen. "Versuch zu einer Neubegründung des Nominalismus", Leipzig 1913, "Einführung in die Psychologie", Leipzig 1915 u. a.

LEONARD NELSON (geb 1882 in Berlin, seit 1909 zuerst Privatdozent, später außerordentlicher Professor in Göttingen), der Führer und Begründer der sogenannten  Neufries'schen Schule,  tritt im Gegensatz zu fast allen übrigen Neukantianern der Gegenwart für eine  psychologische Interpretation  KANTs in einem engen Anschluß an FRIES und APELT ein.

NELSON wendet sich gegen die gesamte Erkenntnistheorie. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis sei überhaupt unlösbar. "Um das gestellte Problem lösen zu können, müßten wir ein Kriterium haben, durch dessen Anwendung wir entscheiden können, ob eine Erkenntnis wahr ist oder nicht (erkenntnistheoretisches Kriterium) ... Dieses Kriterium würde entweder selbst eine Erkenntnis sein oder nicht. Wäre es eine Erkenntnis, so würde es gerade dem Bereich des Problematischen angehören, über dessen Gültigkeit erst mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Kriteriums entschieden werden soll ... Ist aber das erkenntnistheoretische Kriterium keine Erkenntnis, so müßte es doch, um anwendbar zu sein, bekannt sein, d. h. wir müßten erkennen können, daß es ein Kriterium der Wahrheit ist. Um aber diese Erkenntnis des Kriteriums zu gewinnen, müßten wir das Kriterium schon anwenden. Wir kommen also in beiden Fällen auf einen Widerspruch. Ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist also unmöglich, und es kann daher keine Erkenntnistheorie geben." Den tiefsten Fehler aller bisherigen Wissenschaftslehre findet NELSON darin, für jede Erkenntnis eine Begründung zu fordern, und anzunehmen, daß jede Erkenntnis in Urteilen bestehen müsse. Es gibt nach NELSON Erkenntnisse, die keine Urteile sind, so z. B. die Sinneswahrnehmungen. Sie sind "unmittelbare Erkenntnis", so daß die Möglichkeit des Erkennens gar kein Problem, sondern ein Faktum sei. Urteile sind Erkenntnisse nur, soweit sie derartige unmittelbare Erkenntnis wiederholen. Nur durch Rekurrierung auf diese ist die Forderung auf Begründung des Urteils erfüllbar, ohne einem unendlichen Regressus anheimzufallen. Nicht alle unmittelbare Erkenntnis muß auch unmittelbar bewußt sein, sie kann uns auch erst durch eine psychologische "Reflexion" zu Bewußtsein kommen. Dazu gehören nach NELSON vor allem metaphysische Sätze, wie der Satz der Kausalität. Der Weg zur Lösung des HUME-KANT'schen Problems ist darum die Psychologie, die Selbstbeobachtung, welche jene Sätze im Bewußtsein vorfindet.

Die Methode der  Ethik,  die NELSON einschlägt, bezeichnet er als  "regressiv".  Das Verfahren der Mathematik ist nicht möglich. Die Mathematik schafft sich ihre Begriffe erst durch Definition, während die ethischen Begriffe uns von vornherein bereits gegeben sind. Ferner gibt es in der Ethik im Gegensatz zur Mathematik keine Axiome. Auch eine erkenntnistheoretische Begründung der Ethik ist nicht möglich, denn, wenn man wie diese nach einem Kriterium der Gültigkeit der ethischen Erkenntnis sucht, so käme man nie ans Ende, da wir immer wieder nach der Gültigkeit des Kriteriums fragen könnten. Vielmehr ist auszugehen vom "Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft auf die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis". Gäbe es keine unmittelbare rationale ethische Erkenntnis, so wäre keine wissenschaftliche Begründung der Ethik möglich. Diese ursprüngliche Erkenntnis soll aber "dunkel" sein. Sie sei weder Urteil noch Anschauung. Auf sie müssen die ethischen Prinzipien zurückgeführt werden. Während die mathematische Begründung durch Anschauung "Demonstration" heißt, nennt NELSON die ethische Begründungsweise "Deduktion" [Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere - wp] Sie hat lediglich die "unmittelbare rationale ethische Erkenntnis" aufzuweisen und ist "psychologischer Natur". Gegenstand ethischer Urteile "können nur Handlungen sein". Es kommt nicht nur auf die Entschlüsse selbst, sondern auf die Motive an. Eine schlechthin gebotene Handlung heißt Pflicht. Moralisch ist eine Handlung nur, wenn durch sie die Pflicht erfüllt wird. NELSON steht also ganz auf kantischem Boden. Auch in der Anerkennung des Prinzips der Autonomie des Sittlichen schließt er sich ihm an. "Eine heteronome Ethik gelangt nicht bloß über hypothetische Imperative und als versteckte Klugheitsregeln hinaus. Der Anspruch auf Verbindlichkeit, den sie für ihre Gebote erhebt, ist daher allemal nur erschlichen." Doch besteht insofern ein Unterschied gegenüber KANT, als NELSON nicht eine dauernde Motiviertheit des Handelns aus Pflicht fordert, sondern lediglich eine dauernde "Bereitschaft", der Pflicht zu folgen. Gerade die am höchsten stehenden Menschen handelten am seltensten moralisch, da ihre Neigung sie nur selten in Konflikt mit der Pflicht bringt. Auch lehnt NELSON eine Gleichförmigkeit des pflichtmäßigen Handelns für alle Individuen ab, es gibt individuelle Pflichten. Der Inhalt des Sittengesetzes ist nicht positiver Natur, es werden nicht bestimmte Zwecke vorgeschrieben, - vielmehr handelt es sich nur um eine "Regel der Beschränkung unserer positiven Zwecke", um eine "Beschränkung unserer Interessen durch die kollidierenden Interessen anderer". Diese Regel lautet nach NELSON: "Jede Person hat als solche mit jeder anderen die gleiche Würde." Wir sollen unsere Handlungen nicht nur von unserem eigenen Standpunkt aus beurteilen, sondern vom Standpunkt aller anderen, auf deren Interesse sie einwirken. Wir dürfen unser Interesse nur vorziehen, wenn es das überwiegende ist, sind aber dazu nicht verpflichtet; verpflichtet sind wir nu, unser Interesse dem überwiegenden anderer hintanzusetzen. Es gilt dabei ein Abwägungs- und ein Vergeltungsgesetz. Sie lauten: "Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären" und "Du sollst in eine gleiche Nichtachtung deiner Interessen einwilligen, wie du sie anderen gegenüber bewiesen hast". Alle Pflichten entspringen zuletzt dem "Gebot der Gerechtigkeit". Das Wort "Interesse" wird von NELSON im allerweitesten Sinne verstanden, etwa im Sinne von "Interesse an etwas nehmen".

Von der Ethik wandte sich NELSON der  Rechtsphilosophie  zu. Die Rechtsphilosophie der letzten Zeit hat sich nach der Auffassung NELSONs als eine "feile Priesterin des Rechts" erwiesen und sich den vorrevolutionären Machthabern gefällig erwiesen, indem sie "im Schwindel des Tanzes um das goldene Kalb der Souveränität (des Staates) selber vor diesem Götzen in den Staub sank" und den Begriff des Rechts überhaupt fallen ließ. Dem kritischen Buch "Die Rechtswissenschaft ohne Recht" ließ NELSON dann ein "System der theoretischen Rechtslehre" nachfolgen, das in möglichst engem Anschluß an die von ihm für auch in dieser Hinsicht vorbildlich angesehene FRIES'sche Darstellung vorgeht. "Denn einen anderen geschichtlichen Anknüpfungspunkt hatte ich nicht." Neben der schärferen Unterscheidung der Rechtslehre von der Tugendlehre und der strengeren und vollständigeren Ableitung der "Subsumtionsformeln" sowie seiner neuen Lehre vom Naturrecht sieht er sein Verdienst z. B. in "axiomatisch strenger Durchführung" und in der "Abspaltung des Systems der analytischen von dem der synthetischen". Die Methode will der der Mathematik an Strenge nichts nachgeben. NELSON bezeichnet seinen Standpunkt der Gegenwart, die er juristischen Empirismus, Mystizismus, Ästhetizismus und Logizismus nennt. Der juristische Kritizismus ist dadurch charakterisiert, daß er die Rechtslehre auf ein unabhängig von aller Erfahrung feststehendes Prinzip a priori gründet, das "nicht durch irgendeine höhere Offenbarung, eine nur den Eingeweihten zuteil werdende übersinnliche Anschauung vom Wesen des Rechts, sondern allein durch das eigene Nachdenken" gefunden wird. Das ist nicht durch eine bloße Zerglieerung von Begriffen möglich, sondern es bedarf synthetischer Urteile a priori, d. h. eine "Metaphysik des Rechts". Während die Ethik es mit den Pflichten des Individuums zu tun hat, entwickelt die Rechtslehre die Anforderungen, die an den Zustand der Gesellschaft zu stellen sind, damit er ein Rechtszustand zu heißen verdient ("Rechtsideal"). Die Rechtslehre zerfällt in einen formalen und einen materialen Teil. Der formale Teil abstrahhiert von allem Inhalt und fragt nach den Erfordernissen des Rechtszustandes, die sich aus seinem bloßen Begriff ableiten müssen. Die materiale Rechtslehre geht auf den Inhalt und basiert auf dem von NELSON sogenannten "Rechtsgesetz". Das Recht wird von NELSON in nicht weiter begründeter Weise definiert als "die praktische Notwendigkeit der gegenseitigen Beschränkung der Freiheitssphären in der Wechselwirkung der Personen". "Rechte sind daher nur durch Pflichten definiert." Das Rechtsgesetz wieder wird definiert als ein "praktisches Gesetz, durch das jene Beschränkung, die wir im Begriff des Rechts denken, praktisch notwendig wird". Die vier Postulate der materialen Rechtslehre sind: 1. das Vertragsrecht: Vernünftige Wesen sollen die Form ihres Verkehrs durch Verträge ordnen; 2. das positive Gesetz: Die Gesellschaft soll sich einem positiven Gesetz unterwerfen, durch das in ihr die Verteilung des Eigentums geregelt wird; 3. die Verteilung des Eigentums nach dem Prinzip der persönlichen Gleichheit: Durch das öffentliche Gesetz soll in der Gesellschaft das Eigentum nach dem Prinzip der persönlichen Gleichheit verteilt werden; 4. das Strafrecht: Das öffentliche Gesetz soll mit einem Strafgesetz verbunden sein, dessen Prinzip das Recht der Wiedervergeltung ist. Mit diesen Postulaten ist der Bereich der philosophischen Rechtslehre erschöpft, denn zur Ableitung konkreter Rechtssätze, eines "Rechtskodex", reicht das Rechtsgesetz nicht hin. Diese Postulate sind lediglich Kriterien zur Beurteilung des positiven Rechts. - Unter den weiteren von NELSON aufgestellten Sätzen verdienten noch die naturrechtlichen Sätze eine Erwähnung: "Alle vernünftigen Wesen haben das Recht auf die gleiche äußere Möglichkeit, zur Selbstbestimmung zu gelangen" und "Durch das öffentliche Gesetz soll die gleiche äußere Möglichkeit für alle, zur Bildung zu gelangen, gesichert und die geistige Freihei eines jeden gegen künstliche Bevormundung geschützt werden". Mit anderen Worten: Die Forderungen, die NELSON an die Gesellschaft stellt, um ihre Ordnung als eine Rechtsordnung anzuerkennen, sind so radikaler Art, daß ihnen überhaupt kein Staat auch nur einigermaßen Genüge tut. - Den Überzeugungen NELSONs stehen der Mathematiker GERHARD HESSENBERG, KURT GRELLING, OTTO MEYERHOF u. a. nahe.

Das Organ der neuen FRIES'schen Schule ist "Abhandlungen der Fries'schen Schule", Neue Folge.

Die neufries'sche Schule übt jetzt auch auf die Psychiatrie einen gewissen Einfluß, nachdem bereits OTTO MEYERHOF Probleme der Psychiatrie erörter hatte: "Beiträge zur psychologischen Theorie der Geistesstörungen", Göttingen 1910. Vor allem aber hat sich ARTHUR KRONFELD an NELSON-FRIES angeschlossen. In seinem (bedeutenden) Werk: "Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis", Bd. 1, Berlin 1920, erstrebt er eine theoretische Grundlegung der Psychiatrie, "die Logik der Psychiatrie und ihre Wissenschafts- und Erkenntnislehre". Es soll mit allem Dogmatismus der Schubfacheinteilung, aber auch mit der kritiklosen Sammlung von Beobachtungsfällen in der Psychiatrie gebrochen werden. Ferner ist dieselbe von ihrer "fast sklavischen Abhängigkeit" von ihren heterologischen Hilfswissenschaften zu befreien und völlig auf eigene Füße zu stellen.

Unter den Theologen stehen der neufries'schen Schule nahe: WILHELM BOUSSET (geb. 1865 in Lübeck, Professor in Göttingen, "Das Wesen der Religion", Halle 1903 u. a. und RUDOLF OTTO (geb. 1869 in Peine, Professor der Theologie in Marburg) "Das Heilige", Breslau 1917. OTTO gibt eine auf gesteigerter Nachfühlungsfähigkeit ruhende feinsinnige psychologische Analyse religiöser Erlebnisse und sucht eine Reihe neuer Qualitäten in ihnen zu fixieren, z. B. das Numinosum, das Tremendum, das Faszinosum u. a. OTTO übernimmt die FRIES'sche Lehre von der  Ahnung. 

Eingehend mit FRIES hat sich auch THEODOR ELSENHANS beschäftigt. ELSENHANS (geb. 1862 in Stuttgart, anfangs Pfarrer, dann Privatdozen in Heidelberg, zuletzt ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Dresden) vertritt einen ethischen Idealismus. Die Philosophie prüft die Voraussetzungen der Einzelwissenschaften - keine Wissenschaft ist völlig voraussetzungslos - und sucht durch eine Verarbeitung der Resultate der Einzelwissenschaften den Zusammenhang der gesamten Erfahrungswelt zu erforschen. ELSENHANS selbst vertritt einen realistischen Standpunkt, der eine Wechselwirkung zwischen Leib und Seele annimmt. Er steht durch die Ablehnung der aktualistischen Auffassung dem monadologischen Standpunkt nahe. Der mechanische Kausalitätsbegriff ist auf die Kausalität der Persönlichkeit ("relativer Indeterminismus") nicht anwendbar. Die Grundlage des Selbstbewußtseins besteht im Ichgefühl. Den psychischen Vorgängen können alle Stufen des Bewußtseins zukommen, vom völligen Unbemerktsein (Unbewußtes) bis zum klaren Bewußtsein. - ELSENHANS weist manche Verwandtschaft mit FRIES auf. Die Psychologie des Erkennens ist eine unerläßliche Vorarbeit der Erkenntnistheorie. Die eigentliche Erkenntnistheorie beginnt mit dem Problem des Transzendenten. Sie ist nicht, wie FRIES wollte, eine psychologische Untersuchung, vielmehr ist sie eine "wissenschaftliche Untersuchung der tatsächlich vorliegenden Erkenntnis". Dieselbe schließt unbeweisbare Voraussetzungen in sich, so den Glauben an die Allgemeingültigkeit der Denkformen. ELSENHANS hat sich mit dem Ausbau der dem Experiment nicht unterworfenen Gebiete der Psychologie beschäftigt. Außer der Theorie der geisteswissenschaftlichen Interpretation hat er unter Bekämpfung jedes Naturalismus besonders die Psychologie des Gewissens gefördert. Den Kern des Gewissens bilden "eigentümliche Gefühle der Lust und Unlust, deren eigentümlichstes Merkmal der Anspruch auf eine unbedingte Berücksichtigung ist, mit welchem sie sich an den Willen wenden". Und zwar müssen gewisse primäre Anlagen vorausgesetzt werden. - Die Unabhängigkeit der Phänomenologie von der Psychologie bestreitet er.
LITERATUR: Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Vierter Teil, Berlin 1923