p-4R. WillyM. WalleserE. LaasKierkegaardE. BergmannA. Storch    
 
MAX SCHELER
Über Selbsttäuschungen
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"Es ist ein Irrtum, daß die Ausdrucksphänomene der Erlebnisse eines fremden Individuums: Lachen, Weinen, Erröter, bittende Hände usw. oder besser deren Gehalt an Farbe, Form, Linie, Bewegung die Auffassung als Eigenschaften und Tätigkeiten von Körpern durchlaufen müßten, ehe sie als Symbole seelischer Erlebnisse gefaßt würden.  Gegeben  im Sinne von anschaulich selbstgegeben ist nun aber der fremde Körper so wenig wie die fremde Seele. Auch er ist in den Erscheinungen vermeint und gedacht. Ebenso kann aber auch Scham, Bitte in den Erscheinungen vermeint und wahrgenommen werden - ohne daß ich z. B. die Erscheinung der Schamröte zuerst als Blutzufluß in Kopf und Wange auffasse. Ich nehme  in  ihr die Scham,  im  Lächeln die Freude wahr - ohne eines Schlusses zu bedürfen."

"Die vielfach gemachten Versuche den Unterschied von Psychisch und Physisch auf einen Unterschied der Ordnungsweise derselben Inhalte zurückzuführen, anstelle zweier Arten des  Wahrnehmens  also bloße Unterschiede des  denkenden  Beziehens zu setzen, sind undurchführbar. Der Unterschied von Psychisch und Physisch mag im konkreten Fall zweifelhaft sein, d. h. es mag zweifelhaft sein, ob eine bestimmte Erscheinung eine psychische oder physische ist - keinesfalles wird der Wesensunterschied durch Denken und Urteilen erst geschaffen."

I. Zur Grundlegung der Lehre
von den Selbsttäuschungen

[Forsetzung]

2. Täuschung und innere Wahrnehmung

Man kann den Begriff der Täuschung über psychische Vorgänge nicht genauer bestimmen, ohne zuerst über die Art, in der psychische Inhalte der Erkenntnis zugänglich werden, einiges ausgemacht zu haben. Sehen wir auch hier ab von der gesamten Urteils- und Schlußsphäre, in der ja nur der Irrtum, nicht die Täuschung ihren Sitz hat, so können wir uns beschränken auf diejenigen Funktionen und Akte, durch die uns das Material zugeht für die Denkakte, in denen wir das unmittelbar gegebene Psychische zur Idee eines realen psychischen Kausalzusammenhangs erweitern. Der Inbegriff dieser Akte und Funktionen wird gemeinhin mit "innerer Wahrnehmung", "innerer Anschauung", "innerer Beobachtung", "Bemerken", "Reflexion", von einigen Philosophen auch geradezu als "innerer Sinn" bezeichnet. Es ist selbstverständlich, daß diese Worte sehr verschiedene Dinge bedeuten und daß die ihnen entsprechenden Begriffe einer genaueren Differenzierung bedürften.

Hüten wir uns, bevor wir an die folgenden Probleme:
    1. Dasein einer besonderen "inneren Wahrnehmung",
    2. Scheidung derselben von der "äußeren Wahrnehmung",
    3. Evidenzart der inneren Wahrnehmung
herangehen, zunächst vor sehr gebräuchlichen Äquivokationen. Häufig finden wir Selbstwahrnehmung, Selbstbeobachtung oder auch Selbstbewußtsein mit innerer Wahrnehmung gleichbedeutend gebraucht. Offenbar ohne jedes Recht. Denn soll das "Selbst" hier den Gegenstand der Wahrnehmung bedeuten, so dürfte man nur dann sagen, daß eine innere Wahrnehmung stets mit einer Selbstwahrnehmung zusammenfiele, wenn es gar keine seelischen Tatbestände gäbe, die ohne eine unmittelbar anschauliche Beziehung auf das Ich des Wahrnehmenden gegeben wären. Nun gibt es aber sowohl ich-indifferente Seelenvorgänge, d. h. solche, die ohne jede positive oder negative Beziehung auf ein bestimmtes Ich wahrnehmbar werden, als auch ichfremde Vorgänge, d. h. solche, die an das erlebte Ich in einer ähnlichen Art der Aufdringlichkeit und Zwangsmäßigkeit herantreten wie eine äußere Realität, z. B. Zwangsabtriebe, Zwangsvorstellungen usw. Wir vermögen z. B. einen Gedanken zu denken, ohne darin zu wissen, ob er unser eigener ist oder eine Lesefrucht, und ein Gefühl zu haben, ohne zu wissen, ob es unser Gefühl ist oder dasjenige, das uns nur durch eine psychische Ansteckung gegeben ist. Es ist also keineswegs bloß die äußere Wahrnehmung z. B. einer Farbe, die ja stets ohne bewußte Ichbeziehung, ohne ein Mitgegebensein des Tatbestandes, daß Ich es bin, der sie vollzieht, sich vollzieht, in der eine Selbstwahrnehmung fehlen kann; sondern auch die innere Wahrnehmung oder die Wahrnehmung von Psychischem ist daran nicht notwendig gebunden. Nur wer die ganze Psychologie auf das Ichbewußtsein gründen wollte wie LIPPS z. B., könnte dies bestreiten. Das Ich, bzw. das psychische Selbst ist also nur ein Gegenstand der inneren Wahrnehmung, wenn auch ein solcher eigener Art.

Aber noch in einem anderen Sinn führt jene Gleichsetzung in die Irre. Das eigene Selbst ist uns durchaus nicht nur durch innere Wahrnehmung, sondern ebenso durch äußere Wahrnehmung gegeben. Beschaue ich meine Arme, Beine, Hände, so nehme ich mich in dem allen ebenso selbst wahr, als wenn ich durch Erlebnisse, Gefühle hindurch auf mein Selbst blicke, das sie erlebt. Der Selbstwahrnehmung steht nicht die äußere Wahrnehmung, sondern die Fremdwahrnehmung gegenüber. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß diese notwendig mit äußerer Wahrnehmung zusammenfalle. Denn dies deduzieren meist nur diejenigen, welche die sonderbare Idee haben, daß Fremdseelische, sei es immer nur aus dem allein der Wahrnehmung zugänglichen körperliche Verhalten des anderen erschlossen, sei es in das Bild eines körperlichen Daseins aus dem Schatz des Selbsterlebten hineingelegt, z. B. eingefühlt werde, nie aber wahrgenommen werden könne. (1)

Fragen wir nach der Existenz einer "inneren" Wahrnehmung, so hat die Frage nicht nach der bloß okkasionellen [gelegentlichen - wp] Anwendung des Wortes zu ergehen, ob "ich selbst" oder "ein anderer" es ist, der Psychisches wahrnimmt, sondern ob es eine besondere Art von Akten oder Aktrichtungen gibt, die verdient, "innere" Wahrnehmung im Unterschied von "äußerer" bzw. Wahrnehmung schlechthin zu heißen oder nicht; und in der allein psychischen Tatsache in die Erscheinung und Erkenntnis treten.

Die Existenz einer besonderen Aktrichtung  "innere Wahrnehmung"  ist von vielen Seiten bestritten worden, von denen aber, die sie behaupten, in verschiedenem Sinne behauptet worden. Man hat einmal behauptet, daß Physisches und Psychisches nur gattungsmäßig verschiedene Gegenstände seien, so wie Bäume und Häuser, die aber in derselben Weise gegeben seien, bzw. wahrgenommen würden. Diese gattungsmäßig verschiedenen Einheiten müßten in diesem Fall definierbar sein, d. h. es müßte angebbar sein, in welchen Merkmalen sich psychische und physische Gegenstände unterscheiden. Wir wollen hier diese Definitionsversuche wie z. B. den kartesianischen, der Physisches gleich Ausgedehntem, Psychisches gleich Nichtausgedehntem setzt, oder denjenigen BRENTANOs, wonach Hören, Sehen, Urteilen, Glauben oder als Aktartige usw. psychisch ist, die darin gefaßten Inhalte aber physisch, z. B. Ton, Farbe, hier nicht durchsprechen. Wir meinen aber sagen zu dürfen, daß keiner dieser Definitionsversuche der Kritik standhält. (2) Vielmehr zeigt eine Untersuchung dieser Frage, daß wir die Einheit des "Psychischen" gar nicht anders fassen können, als durch den Hinblick auf die besondere Weise,  wie  wir es wahrnehmen, und die eben "innere Wahrnehmung" genannt wird. Innere Wahrnehmung ist also nicht Wahrnehmung eines unabhängig von ihr durch Definition bereits festgelegten "Psychischen" als einer gattungsmäßigen Einheit von Gegenständen, sondern "Psychisches" ist eine Bedeutung, die sich immer dann erfüllt, wenn wir diese besondere Aktrichtung einer inneren Wahrnehmung einschlagen und ihr gleichsam nachgehen. "Psychisch" ist, was durch innere Wahrnehmung in Erscheinung tritt. Es bestünde auch kein Recht, von einer äußeren und inneren Wahrnehmung zu reden, wenn Psychisches und Physisches definierbare gattungsmäßige, gegenständliche Unterschiede wären. Wir sprechen ja auch nicht von einer Bäume- und Hauswahrnehmung.

Das Wesen des Psychischen wird also  in jedem  Akt innerer Wahrnehmung erschaubar wie das Wesen des Physischen  in jedem  Akt äußerer Wahrnehmung. Es bedarf dazu keines Vergleiches von mehreren Objekten, und andererseits  kann  Physisches nur in äußerer Wahrnehmung, Psychisches nur in innerer Wahrnehmung erscheinen.

Auch die vielfach gemachten Versuche den Unterschied von Psychisch und Physisch auf einen Unterschied der Ordnungsweise derselben Inhalte zurückzuführen, anstelle zweier Arten des  Wahrnehmens  also bloße Unterschiede des  denkenden  Beziehens zu setzen, sind undurchführbar. Der Unterschied von Psychisch und Physisch mag im konkreten Fall zweifelhaft sein, d. h. es mag zweifelhaft sein, ob eine bestimmte Erscheinung eine psychische oder physische ist - keinesfalles wird der Wesensunterschied durch Denken und Urteilen erst geschaffen. Es ist ein Unterschied im  Wesen  der Phänomene und der ihnen entsprechenden Wahrnehmungsarten. Sagt man mit MACH, AVENARIUS u. a.,  psychisch  sei die Umwelt, bezogen auf einen Organismus, und die Umwelterscheinungen, so weit sie sich von einem zentralen Nervensystem als abhängig erweisen, so macht man das "Psychische" zu einer bloßen  Beziehung  zwischen den physischen Phänomenen, aus denen doch auch der "Organismus" oder das "Nervensystem" besteht. Was man hiermit definiert, ist lediglich der Tatsachenkreis der Sinnesphysiologie, und man muß schon der Meinung sein, es lasse sich alles Psychische auf Empfindungsinhalte, auch Streben und Gefühl auf Organempfindungen, Gedächtnis auf mattes Wiedererscheinen von Wahrnehmungsinhalten, zurückführen, um dieser Scheidung zuzustimmen. Aber auch jede andere Theorie der  Anordnung  versagt an der einfachen Tatsache, daß physisch und psychisch keine erst durch das Denken zu kreierenden, sondern vorgefundene Unterschiede sind. An der Ordnungstheorie ist nur das richtig, was sie verneint: daß es sich um  keinen  definierbaren Unterschied gattungsmäßiger Art handelt, nicht aber was sie behauptet.

Es ist auch jeder Versuch, die beiden Wahrnehmungsarten aufeinander zurückzuführen, als mißlungen anzusehen. So machte BERKELEY und seine idealistischen Nachfolger den Versuch, die "Sensation" als Grenzfall der "Reflexion" nachzuweisen. Indem er die "äußere" Wahrnehmung sofort mit der "sinnlichen" Wahrnehmung identifiziert und sie wiederum nur graduell von der Erinnerung und Vorstellung unterschieden sein läßt, - dabei die Erinnerung als Urphänomen festhaltend - dieselbe also nur als starke Erinnerung und "Vorstellung" auffaßt; indem er die von LOCKE sogenannten sekundären Qualitäten, die diesem obgleich relativ auf den Menschen durchaus noch nicht Tatsachen der "Reflexion", sondern der "Sensation" waren, als Tatsachen der Reflexion ansieht und außerdem zu zeigen sucht, daß die primären Qualitäten mit den sekundären untrennbar verbunden seien (eine Tastempfindung z. B. graduell in Schmerz übergeführt werden könne, Ausdehnung nur ein unselbständiges Moment an der Farbe sei, nur in Worten trennbar nach seinem Nominalismus) - meint er gezeigt zu haben, daß es eine ursprüngliche Wahrnehmung der Materie gar nicht gäbe. Es kann hier nicht gezeigt werden, daß die von BERKELEY angeführten Gründe für seine Vorstellung, wonach der Gehalt der äußeren Wahrnehmung nur die peripherste Schicht dessen sei, was er vieldeutig "Bewußtseinsinhalt" nennt, die äußerste Grenze gleichsam der um das "Ich" dessen absolute Existenz er voraussetzt, gruppierten Inhalte, unstichhaltig sind. Immerhin hatte er noch positive Gründe für seinen Satz Esse-Percipi anzugeben gesucht und sich nicht mit der zweideutigen Redensart begnügt, daß alles Wahrgenommene und Gedachte eben schon darum auch "Bewußtseinsinhalt" sei, weil es wahrgenommen und gedacht sei; wie die meisten sogenannten modernen "Idealisten". Nennen wir mit dem Namen "Bewußtseinsinhalt" alles, was überhaupt in einem intentionalen Akt erfaßt und gemeint werden kann, so sind freilich auch Sonne, Mond und Stern "Bewußtseinsinhalt". Nur ist das ein ganz unsinniger Sprachgebrauch. Etwas völlig anderes ist dagegen gemeint, wenn unter "Bewußtseinserscheinung" eine in innerer Wahrnehmung gegegbene Erscheinung, kurz eine psychische Erscheinung gemeint sein soll. Dann aber schließt sie die Behauptung ein, daß alles anschaulich und unmittelbar Gegebene - nicht erst auf Schluß und Urteil Beruhende - eine psychische Erscheinung oder eine Erscheinung der inneren Wahrnehmung sei; und es eine "äußere Wahrnehmung" gar nicht gäbe. Diesem sonderbaren Vorurteil gegenüber aber ist zu behaupten, daß es auch physische  Erscheinungen  gibt, Erscheinungen, die niemals ursprünglich "Bewußtseinsinhalte" oder "psychisch" waren; die in keinem Sinn aus Psychischem abzuleiten oder im Psychischen fundiert sind. Was immer im Außereinander von Raum und Zeit erscheint, ist eine physische Erscheinung; was immer in einer unmittelbaren Ichbeziehung überhaupt, in einem "Zusammen" erscheint, dem dieses räumlich-zeitlich Außereinander fremd ist und das eine auf jene niemals reduzible Mannigfaltigkeit erfüllt, (3) ist eine psychische Erscheinung. Beide Erscheinungsarten sind gleich  unmittelbar  gegeben und im Aufbau der "Gegenstände", die in beiden Bereichen des Erkennens das unmittelbar und mittelbar identifizierende Erkennen und Denken erfaßt, gibt es  dieselben  Stufen der Mittelbarkeit. Es ist daher ein grundlegender Irrtum, das Gebiet des Phänomenalen, überhaupt der unmittelbar und anschaulich gegebenen Erscheinung, mit dem Gebiet der "Bewußtseinserscheiung" oder der "psychischen Erscheinung" gleichzusetzen und das Physische erst auf Denkakten (sei es bloß ein identifizierender Akt oder gar ein Schluß aus seelischen Wahrnehmungen oder der Empfindungen auf eine "Außenwelt") beruhend anzusehen; oder auch - wie es z. B. WUNDT tut - das Physische dem bloß "mittelbar" Gegebenen gleichzusetzen. Physisch überhaupt - als Wesenheit - ist uns in  jedem  Akt äußerer Wahrnehmung gegeben, wie immer es sich mit dessen "Realität" verhalte und wie immer innerhalb der Gesamtheit der physischen Phänomene die weitere Scheidung derjenigen erfolge, die physikalisch und die physiologisch bedingt sind. So ist die Erscheinung des gebrochenen Stabes im Wasser eine physikalisch bedingte, das perspektivische Bild eines Körpers eine geometrisch und physiologisch bedingte physische Erscheinung. (4) Die Abhängigkeit einer Erscheinung äußerer Wahrnehmung vom Leib des Wahrnehmenden macht diese nicht zu einem psychischen Inhalt, sondern nur zu einem (nach Art der Abhängigkeit) mehr oder weniger  relativen  Gegenstand. Aber nicht alle relativen Gegenstände sind darum "psychisch" oder "subjektiv".

So wenig der Gehalt der äußeren Wahrnemung als ein ursprünglicher Teilgehalt der inneren angesehen werden kann, so wenig umgkehrt der Gehalt der inneren Wahrnehmung als durch äußere Wahrnehmung ursprünglich gegeben - etwa so, daß der Gehalt der inneren Wahrnehmung nur ein genetisches Entwicklungsprodukt von "Elementen" wäre, die zunächst im Gehalt der äußeren Wahrnehmung anzutreffen wären. Diese dem Idealismus entgegengesetzte Irrung liegt der sensualistischen Lehre zugrunde, nach der alle seelischen Tatsachen, auch Gefühle, Strebungsakte etc. auf komplizierten Verbindungen von sogenannten "Empfindungen" beruhen sollen (mit Einschluß der Organe und Viszeralempfindungen [Eingeweide - wp], die nach dieser Lehre an der innersten Grenze der äußeren Wahrnehmung liegen und unanalysiert einen besonderen elementaren Tatbestand "seelisch" und eine besondere Wahrnehmung, die "innere Wahrnehmung", vortäuschen sollen. Die Vorstellung wird hier einem abgeblaßten, an Intensität geringerem Sinnesinhalt gleichgesetzt (5), und Gefühle, Streben, Ich, sollen sich gefallen lassen, in Komplexe von Organ- und Viszeralempfindungen und bestimmter "Töne" dieser Elemente aufgelöst zu werden. Es ist dann ziemlich gleichgültig für diese Frage, ob man bei diesen Elementen der äußeren Phänomene stehen bleibt und alle mechanische Reduktion derselben in der Physik als einen bloßen zweckmäßigen Symbolismus ansieht, ihre Abhängigkeitsbeziehungen aufzuzeigen oder ob man die mechanische Reduktion als ein Erfassen des "Realen" ansieht. In beiden Fällen macht man die "seelischen" Tatsachen zu bloßen Komplexen physischer Elementarphänomene und "seelisch" selbst wird eine Kategorie, die eigentlich nur eine künftige ungelöste Aufgabe der Naturwissenschaft bezeichnet. es ist nur der jeweilige Rest des naturwissenschaftlich noch nicht völlig analysierten und erklärten Tatbestandes. Mit jedem Fortschritt der Naturwissenschaft würde dem "Seelischen" der Boden abgegraben und in einer vollkommenen Naturwissenschaft würde diese Kategorie verschwinden.

Ist mithin der Unterschied innerer und äußerer Wahrnehmung weder zu leugnen noch weiter zu reduzieren, so ist die Frage, was abgesehen vom nur erlebbaren Richtungsunterschied der beiden Akte des Wahrnehmens sie scheidet. (6) Da ist für unseren Zweck vor allem wichtig, daß der Unterschied der beiden Richtungen des Wahrnehmens in keiner Hinsicht als relativ auf den Leib und demgemäß auch auf die Sinnesfunktion und Organe anzusehen ist. Die Scheidung ist eine solche, die besteht, wenn wir auch die Existenz des Leibes aufgehoben denken. (7) "Äußere Wahrnehmung" als Aktrichtung hat daher mit "Sinneswahrnehmung" zunächst gar nichts zu tun; mag ihre reale Verwirklichung wie immer an die Mitwirkung der sinnlichen Funktionen gebunden sein, ihr  Wesen  ist davon ganz unabhängig. Von der Fülle dessen, was ein Akt äußerer Wahrnehmung gibt, ist es eine  zweite  Frage, was uns davon durch diese oder jene Sinnesfunktion Sehen, Hören, Riechen und eine  dritte  unter Mitwirkung welcher Organe und Veränderungen in ihnen und ihren Fortsätzen bis zum Gehirn uns der betreffende Inhalt zugeht. (8) Unter den Erscheinungen aber, die uns äußere Wahrnehmung gibt, sind physikalisch und physiologisch  bedingte  Erscheinungen oder die betreffenden so verschieden bedingte Momente an  einer  Erscheinung noch indifferent und scheiden sich erst  innerhalb  des Bereiches der Erscheinungen äußerer Wahrnehmungen oder der physischen Phänomene. Das nur oder überwiegend physiologisch Bedingte mag "menschlich", selbst "subjektiv" heißen (z. B. alle physiologisch bedingten Sinnestäuschungen), es wird dadurch nicht im mindesten "psychisch". Es war ein prinzipieller Irrweg, den zuerst DESCARTES inauguierte, von  allen  äußeren Erscheinungen zuerst eine  physikalische  Erklärung zu fordern und dann erst die stattfindenden  physiologischen  Vorgänge soweit heranzuziehen, als sie durch die den Erscheinungen supponierten physikalischen Reizrealitäten als bewirkt angesehen werden dürfen. In der Sinnesphysiologie hat zuerst HERING (durch Voraussetzung der wohlgeordneten Farben erscheinungen  und nicht ihrer physikalischen Definitionen), in erweitertem Maße erst PAWLOW durch seine Erweiterung der Physiologie mit diesem Irrweg prinzipiell gebrochen. (9) Es ist also auch irrig, alle Erscheinungen zunächst als "psychisch" anzusehen und erst durch einen "Schluß" oder eine "Deutung" in das Gebiet des Physischen überhaupt hineingelangen zu wollen. In  jedem  Akt äußerer Wahrnehmung wird die Existenz des Physischen, einer "Natur" schlechthin evident und nur über die Stufe der "Relativität" des in dieser Erscheinung im Denken zu erfassenden Gegenstandes, d. h. dem Maß seiner Abhängigkeit von den Eigenschaften des auffassenden Wesens (den generellen und individuellen, normalen und abnormen) kann dann noch eine weitere Frage gehen, die man summarisch oft mit  Realität  der Außenwelt bezeichnet. Nicht aber auf einer zuvor angenommenen "Realität" "jenseits des Bewußtseins" (wie der unklare Ausdruck lautet) ist die Außenwelt, sondern auf der evident gegebenen Existenz der Außenwelt schon als  Phänomen  ist die weitere Frage, was daran "real" ist und in welchem Sinne, zu stützen. Es bedarf auch keiner "gesetzlichen Verknüpfung" der Inhalte mehrerer Akte, keine besondere "Ordnung", um uns zu einem Physischen zu führen. Vielmehr ist uns in  jedem  Akt äußerer Wahrnehmung "Natur" als ein unbestimmtes Ganzes gegeben, auf dessen Hintergrund die sinnlichen Inhalte des gegenwärtigen Momentes schärfer hervortreten. Und dabei ist es nicht so, daß uns erst zerstückelte Inhalte verschiedener sinnlicher Funktionen gegeben wären wie  rot  und  hart  und  sauer  und  laut,  die erst durch eine hinzutretende Verknüpfungs- und Ordnungstätigkeit zu verbinden wären; sondern es ist unmittelbar  dieselbe  materielle Einheit, die wir tasten und sehen, wenn wir z. B. eine rote harte Fläche berühren und sehen. (10) Auch die "Materie" oder die dingliche Einheit überhaupt in der Sphäre äußerer Wahrnehmung ist uns in  jedem  Akt äußerer Wahrnehmung als existierend evident gegeben und "Hypothese", Deutung kann nur sein, wie sie beschaffen ist, kontinuierlich oder diskret, bzw. welche Bestimmungen wir je nach Stand der Wissenschaft ihren letzten Elementen zuschreiben. Nicht aber ist sie selbst eine "Hypothese". Und ganz analog ist in innerer Wahrnehmung immer ein Ich überhaupt gegeben und zwar die Totalität eines Ich, auf dessen Hintergrund sich dann dieses und jenes abhebt; auch dessen Existenz ist unmittelbar evident und es bedarf dabei keiner "Hypothese" oder eines Schlusses oder einer metaphysischen Annahme eine "Substanz" usw. Es bedarf auch keiner Zusammenfassung und Synthese einer Mehrheit von Bewußtseinsmomenten durch Erinnerung oder gar durch Reproduktion. Der Akt der inneren Wahrnehmung geht dem Recht und Können nach auf jedes Erlebnis des Ich; er umspannt alle Stufen des Bewußtseins und alle zeitlich wie auch immer getrennten Lebensmomente und nur die  Auswahl  dessen, was in ihm faktisch erscheint, ist durch Leibvorgänge und in zweiter Linie durch psyschische Kausalität bestimmt.

Wie irrig es ist, äußere und innere Wahrnehmungen auf den Leib relativ zu setzen, das zeigt am besten die unumstößliche Tatsache, daß der "Leib" - ein Begriff, den man doch vom "Körper" scharf scheiden möge - uns sowohl in innerer  wie  äußerer Wahrnehmung gegeben und unmittelbar - nicht durch Zuordnung - uns als "derselbe" gegeben ist; es ist "dieselbe Hand" die ich hier sehe und in der ich diesen Schmerz vorfinde; (11) Täuschungen in dieser Richtung gelten nur für die Zuordnung der besonderen Inhalte in der realen Sphäre wirklicher Erlebnisse und wirklicher Körperteile; sie setzen aber diese unmittelbare Identifizierung voraus.  Derselbe  Leib ist uns also in äußerer Wahrnehmung als "Körperleib" und innerer als "Leibseele" gegeben, in deren einheitlicher Totalität, die stets Bestandteil unseres Bewußtseinsinhalts ist, sich erst die Empfindungsgruppen der einzelnen Organe und Eingeweide (Organ- und Viszeralempfindung) heraussondern.

Die  äußere Wahrnehmung  ist durch Sinnesfunktionen hindurch erfolgend, deren einheitliche durch alle Modi hindurchgreifende Grundfunktion das pure "Empfinden" ist; sie erfolgt durch äußere Sinnlichkeit, die zunächst funktionell und erst in zweiter Linie durch die Sinnesorgane bei Lebewesen verschiedener Art eigentümlich bestimmt ist. (12) Die Sinnesfunktion also schiebt sich sozusagen zwischen den Akt der äußeren Wahrnehmung und deren möglichen Gehalt in die Mitte und schneidet nur die für die Aktionsrichtungen des Lebewesens wichtigen Elemente aus diesem Gesamtbereich heraus. Die Sinnesfunktion hat also lediglich den Charakter eines für das Lebewesen bedeutsamen Analysators; keinerlei produktive Bedeutung für den Gehalt der äußeren Anschauung kommt ihr zu. (13)

Nun scheint es mir aber von grundlegender Bedeutung für die Psychologie und ihren weiteren Fortgang, daß anerkannt werde, daß auch die innere Wahrnehmung nicht unmittelbar auf das Ich und seine Erlebnisse geht, sondern vermittelt durch einen "inneren Sinn". Es ist ein gewaltiger Irrtum, wenn man gemeint hat, seelische Existenz habe nur: einmal das jeweilig gegenwärtig im Bewußtsein Vorgefundene und alles vergangene Erleben sei nur in physiologischen Dispositionen oder auch in Dispositionen einer metaphysischen Seelensubstanz und dgl. vorhanden; sodann nur das, wovon das Individuum sich so im Erleben bewußt sei,  daß  es dies und  was  es erlebt. Genauso sinnlos wie es wäre, den uns eben gegenwärtigen Ausschnitt der Natur für allein "wirklich" zu halten und alles andere nur in "Dispositionen", "Möglichkeiten der Wahrnehmung", genauso falsch ist diese Vorstellung für die seelische Realität. (14) Nicht das Erlebnis selbst, sondern nur seine Erscheinung für den inneren Sinn ist uns in dem gegeben, was uns momentan gegenwärtig ist (von aller besonderen Aufmerksamkeit, Bemerken, Beobachten noch abgesehen). Und so wenig Sonne, Mond und Sterne von "Gehirn" und "Sinnen" abhängig sind, so wenig das psychische Erlebnis selbst. In beiden Fällen aber ist die äußere und innere Sinneserscheinung der Tatsache vom Leib und an erster Stelle vom Nervensystem abhängig. Es ist eben ein prinzipieller Irrtum, der Biologie, Physik und Psychologie gleichmäßig schädigt, das Psychische vom Leib irgendwie abhängiger zu denken als das Physische. In beiden Gegenstandsbereichen gibt es vielmehr prinzipiell davon abhängige und davon unabhängige Erscheinungen und Erscheinungsmomente; und in beiden eine ganz bestimmte  Ordnung  unter den auf den Leib und bestimmte Beschaffenheiten seiner relativen Gegenstände. Und so sinnlos sich ein Mensch verhielte, der Physik zu treiben wähnte, wenn er nur äußere sinnliche Erscheinungen konstatierte und sie nach Abhängigkeit vom Leib erforschte (denn er treibt doch Physiologie der Sinne), so falsch ist es auch, die Tatsachen und Erscheinungen des "inneren Sinnes" mit der seelischen Realität gleichzusetzen. Freilich gibt es eine Physiologie des inneren Sinnes so gut wie eine solche des äußeren Sinnes. Zu ihr gehört der Hauptinhalt der sogenannten "Physiologischen Psychologie". Aber von Psychologie ist diese Wissenschaft grundverschieden, da es sich in ihr um das reale seelische Erleben handelt und nicht um das, was das Individuum davon in seinem "inneren Sinn" erfaßt. Was abhängig ist vom Leib, das ist nicht das reale seelische Erlebnis, sondern seine Auffassung durch den inneren Sinn. Diese auch allein kann "gestört", pertubiert [verwirrt - wp] werden und nicht psychische Störungen, sondern Störungen der Auffassung durch den "inneren Sinn" sind es, die alle Psychopathologie behandelt. Hierbei ist nicht das unsere Meinung (wie es KANTs Lehre vom "inneren Sinn" in sich schließt), daß nun das Psychische, wie es unabhängig vom inneren Sinn und seiner Erscheinung "wirklich" ist, transzendent wäre in einem metaphysischen Sinn. (15) Wir scheiden innere Wahrnehmung von "innerem Sinn"; auch der innere Sinn ist wie der äußere Sinn nur ein Analysator des Wahrnehmens, nicht etwas, was positiv den Gehalt der Anschauung gibt; das leistet allein die innere Wahrnehmung, in deren Gehalt durch den inneren Sinn nur das herausgeschnitten und abgestuft hell beleuchtet wird, was am psychischen Erlebnis für die Tätigkeits- und Interessensphäre des  Leibes  von entsprechend abgestufter Bedeutung ist. Wie wir uns aber durch Anschauung und Denken hinsichtlich der Außenwelt von der momentanen Sinneserscheinung frei machen können, so vermögen wir das auch in der Sphäre der inneren Wahrnehmung, in der Psychologie, - und zwar in jedem denkbaren Grad; prinzipiell bis zur Anschauung des absoluten Gegenstandes - wenn wir so den Gegenstand nennen, der nur durch den Akt äußerer und innerer Wahrnehmung und sonst durch nichts bedingt ist.

Der innere Sinn in unserem Verstand ist hier keine Hypothese, geschweige gar eine metaphysische. Er ist ein Tatbestand. Er enthält nichts weiter als die Anerkennung, daß jedes psychische Erlebnis, das einem Lebewesen zur inneren Wahrnehmung kommen soll, in dessen Leibzustand irgendeine charakteristische Variation setzen muß, die zu den Bewegungsimpulsen eine bestimmte Gesetzmäßigkeit aufweist. (16) So wenig die psychischen Erlebnisse auf Leibzustände, Komplexe von Empfindungen zurückzuführen sind, so ist doch mit jeder  Wahrnehmung  eines psychischen Erlebnisses ein charakteristischer Leibzustand und eine mit ihm zusammenhängende Bewegungsintention verbunden, ohne die es die Schwelle des inneren Sinnes nicht zu überschreiten vermag. Insofern bleibt auch demnach jedes Erlebnis, sofern es wahrgenommen wird, von Zuständen des Leibes, des Seelen- und Körperleibes, in irgendeinem Maße abhängig; niemals aber - wie der psycho-physiologische Parallelismus meint - das Erlebnis selbst.

Auf der Tatsache, daß zwischen die Erlebnisse und ihrer Wahrnehmung also ein "innerer Sinn", ein Analysator eingeschaltet ist, beruth es nun, daß es so etwas wie "Täuschungen der inneren Wahrnehmung" gibt, daß es auch hier "Schein" und "Wirklichkeit" gibt, ja eine ganze Reihe von  Schichten  der psychischen Gegenständlichkeit desselben Erlebnisses, die in ganz verschiedenem Maße von der Beschaffenheit des "inneren Sinnes" abhängig und darum in verschiedenem Maß zum auffassenden Individuum "relativ" sind. Es ist ja leider eine der beliebtesten Lehren der gegenwärtigen Modephilosophie geworden, daß es "Schein" und "Wirklichkeit" in der psychischen Welt gar nicht gäbe, daß hier nur alles da sei oder nicht da sei, daß Psychisches so sei, wie es scheine; daß es also ein wahrhaftes "Ding ansich" sei. Wäre das richtig, so gäbe es freilich keine Täuschung der inneren Wahrnehmung. (17)

Nun ist es aber schon eine Unterscheidung innerhalb der Gemeinsprache, das Neuhinzutreten von Erlebnissen von neuer oder anderer  Auffassung  der Erlebnisse bei deren Wiedererleben oder in der Erinnerung zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob Liebe und Haß zu einer Person aufhört, oder ob sich der Betreffende "getäuscht" hat und etwas für Liebe und Haß genommen hat, was gar nicht Liebe und Haß war (18); ob eine Liebe nicht da ist oder ob der Mensch sie zeitweise nicht fühlen kann oder sich dieselbe nicht "eingesteht". Es ist ausgeschlossen, in solchen Fällen zu sagen: alle Gemütsbewegungen (vgl. was diese Qualität hat) sind gleich wirklich und der Mensch hat den anderen eben fünf Minuten oder drei Wochen geliebt und gehaßt und seine Angabe, er habe "sich getäuscht", drücke nur aus, daß seine Erwartung einer längeren Dauer oder bestimmter Wirkungen seiner Gemütsbewegungen auf das Handeln nicht erfüllt worden sei. Vielmehr unterscheiden wir schon im Leben  scharf  zwischen diesem Tatbestand und einer Täuschung. Desgleichen zwischen einer bloß irrigen Subsumtion eines Erlebnisses unter einen Begriff, unter den es nicht gehört, und dem anschaulichen Vermeinen, das Erlebnis sei real vorhanden. So halten wir in der Sentimentalität bloß vorstellig gefühlte Gefühle für wirkliche und reale; oder die angelesenen Gefühle der Personen eines Romans für wirkliche und eigene. In solchen Fällen liegt nicht nur ein "Irrtum" vor, eine falsche Subsumtion z. B., sondern eine Täuschung im früher bestimmten Sinn. Es ist - wie sich noch schärfer zeigen wird (19) - nicht richtig, daß der Zorn, die Trauer, ja der Schmerz eines hysterischen Patienten als Erlebnis mit einem Zorn, einer Trauer, einem Schmerz des Normalen ganz gleich ist und nur die objektiven Ursachen und Wirkungen (z. B. Ausdrucksbewegungen) verschieden sind; vielmehr sieht dieser Kranke sehr wohl noch jene tiefere Schicht seiner seelischen Person, auf der z. B. während de stärksten Äußerungen des vermeinten Zornes ein Gefühl der Ruhe liegt; nur diese Ruhe selbst sieht er nicht und verlegt darum seinen bloß vorstellig gefühlten Zorn in diese tiefere Seinsschicht seines Ich.

Aber noch mehr; es ist ein Irrtum zu sagen, innerhalb des seelischen Gebietes komme der Unterschied von Ding oder Vorgang und seinen "Erscheinungsweisen" gar nicht zur Verwendung. Der Psychologe, der von einer "Vorstellung" redet, dieselbe dieses oder jenes wirken läßt, sie verblassen läßt oder sie reproduzieren läßt, kann gar nicht umhin, sie unter der Kategorie eines realen Dinges oder Vorgangs zu fassen und ihr Bestimmtheiten, Wirkungsweisen zuzuschreiben, Beziehungen, die da sind, ob sie dem Vorstellenden erscheinen oder nicht. Ein "Körper" freilich ist die Vorstellung nicht; aber man scheide doch scharf die für die äußere und innere Wahrnehmung indifferente Dingidee und die Körperidee. Auch die Begriffe Charakter, Seele, reales Ich sind Dingbegriffe, ihre Gegenstände echte Dinge - ohne darum transzendente Substanzen zu sein. Ein und dasselbe reale Erlebnis kann einmal genauer, einmal weniger genau wahrgenommen werden, z. B. ein Leid, das in mir steckt; ja wir können uns in der äußersten Schicht unseres Lebens so "verlieren", daß es unserem Blick ganz entschwindet oder nur als ganz "allgemeiner Druck" gegenwärtig ist, während wir lachen und scherzen und auch diese Gefühle der "Freude" auf jener äußersten Schicht fühlen. Trotzdem ist es ein ganz bestimmtes Leid mit einer Fülle aussagbarer Merkmale. - Ein Erlebnis vermag uns abwechselnd auch verschiedene Seiten darzubieten, wobei man unter "Seiten" nur nicht räumliche Seiten verstehen muß, wie sie das Körperding oder der physische Vorgang hat. Das ist etwas anderes als eine Veränderung des Erlebnisses selbst. Ein und derselbe Schmerz sieht anders aus, wenn wir ihn in verschiedenen Modis sehen, z. B. leidend, duldend, genießend, uns ihm hingebend, ihm Widerstand leistend usw. und er bietet dabei immer neue "Erscheinungen" usw.

Die realen Erlebnisse und ihr kausaler Zusammenhang sind also im Phänomen der inneren Wahrnehmung so wenig gegenwärtig wie der reale Zusammenhang der Natur im Phänomen der äußeren Wahrnehmung. Die Seinsstufen dort alle gekennzeichnet durch das Maß der Abhängigkeit des wahrgenommenen Gegenstandes vom auffassenden Subjekt und seinen generellen und individuellen Eigenschaften, entsprechen ebensoviele Bewußtseinsstufen hier. Ein Krankheitsgefühl z. B. kann da sein, aber der inneren  Sinnsphäre  entrückt sein; aber auch nur der Sphäre des Bemerkens; es kann in dieser liegen, aber der Sphäre des Beachtens entrückt sein; es kann hier liegen, ohne doch beachtet zu werden; es kann beobachtet werden, ohne daß ein Urteil, eine subsumierende Feststellung darüber ergeht. Wie weit liegt also voneinander ab, was jemand erlebt und was er sagen kann, das er erlebt!

Wir können den Erlebniszusammenhang, der jeweils auch in symbolisch fungierenden Erscheinungen der Sphäre des inneren Sinnes entrückt ist, den "unterbewußten Teil" des Ich nennen. Aber es muß dann klar sein, daß dies mit dem sogenannten "Unbewußten", d. h. einer bloßen Konstruktion zu kausaler Erklärung des Seelenlebens, z. B. als Ort "psychischer Dispositionen" genommen, gar nichts zu tun hat. Schon darum nicht, da ja das unterbewußte Erlebnis durchaus nicht einfach in der inneren Anschauung fehlt oder erst erschlossen wäre, sondern sein Dasein und Fehlen, sein Sosein und Anderssein sehr wohl den jeweiligen  Gesamt gehalt innerer Anschauung modifizieren würde, wenn auch diese Modifikation nicht ohne weiteres durch den Erlebenden sprachlich angebbar wäre. Das "Unterbewußte" ist also noch ein Bewußtes, so gut wie das "Oberbewußte", wogegen ja das sogenannte Unterbewußte in keinem Sinn für das Bewußtsein da sein soll, sondern erst erschlossen ist. Das  unterbewußte Erlebnis  ist also innerer Wahrnehmung prinzipiell zugänglich und was es unterbewußt macht, ist nur, daß es jeweilig nicht auf den inneren Sinn einwirkt, durch dessen Reizung die Erlebnisse erst jene bestimmte Lebhaftigkeitsgröße erhalten, durch die sie aktuell als gegenwärtige Vorkommnisse gewahr werden.

In der bisherigen Auffassung und Erklärung der Täuschungen überhaupt (der inneren und äußeren) finde ich eine irrige methodische Voraussetzung, von der es mir zweckmäßig erscheint, sie nicht nur von Fall zu Fall immer aufs Neue aufzuweisen, sondern ihr anhand von Beispielen einmal prinzipiell die fernere Verwirrung dieser Fragen abzuschneiden. Sie besteht darin, daß man den für jede Täuschung als Korrelat dienenden Fall der "richtigen" Einsicht nicht voraussetzt, um die Täuschung verständlich zu machen, sondern umgekehrt von den Täuschungen ausgehend auch den Fall der richtigen Einsicht genau so erklärt, wie man die Täuschung erklären zu müssen glaubt; daß man, wie wir kürzer sagen können, das Normale aus dem Anormalen, als einen Spezialfall derselben Gesetzmäßigkeit, die im Anormalen herrscht, zu erreichen sucht - nur mit der Anmerkung, daß dem normalen Gebilde eben ein objektiv Reales entspreche.

Dies ist z. B. der Fall, wo die normale Sinneswahrnehmung als eine "halluzination vraie" [reale Halluzination - wp] aufgefaßt wird (TAINE), als ein Gebilde also, das sich in nichts von der Halluzination unterscheidet als darin, daß ihr ein Wirkliches entspricht, daß sie in diesem Sinne "wahr" ist, während jener nichts entspricht, bzw. daß zur Erklärung dieser ein objektiver Reiz angenommen wird, zu jener entweder nur eine rein zentrale Reizung oder eine zentrifugal bedingte Reizung der peripheren Sinnesflächen. Ein phänomenologisch ausgezeichnetes Merkmal der natürlichen Wahrnehmung soll es hier nicht geben. Man schließt: da auch die natürliche Wahrnehmung in ihrem gesamten Gehalt durch die Intaktheit gewisser Zellen und Fasern der Großhirnrinde und eine Reizung dieser bedingt ist, die Halluzination aber nur durch eine solche (sehen wir hier von zentrifugaler Reizung ab), so ist in der unmittelbaren Ursache der Erscheinungen kein Unterschied; eben darum könne man auch die entfernteren Ursachen, die Glieder der Kausalkette, die in jener unmittelbaren Ursache enden, aufgeoben oder so weit variiert denken, als es nur möglich ist, sofern sie nur in diesem Glied der unmittelbaren Ursache enden sollen - ohne hierdurch den Gehalt der Erfahrung zu verändern. Eine solche oder ähnliche Schlußweise ist nun ganz ungerechtfertigt. Es ist ganz unberechtigt, die natürliche Wahrnehmung in Analogie mit einer Halluzination zu beurteilen. Einmal besteht erst unter der Voraussetzung, daß uns die natürliche Wahrnehmung ein wirklich Bestehendes gibt, dessen Gehalt nicht durch unseren Leib, also auch durch unser Gehirn bedingt ist, das Recht, auch von sonst ähnlichen Erscheinungen zu reden, die dies nicht tun, die zur Sphäre der Täuschungen - hier der Halluzinationen - gehören. Auch was wir von Leib, Gehirn, Reizung usw. aussagen, das tun wir nur eben unter dieser Voraussetzung der Dignität der natürlichen Wahrnehmung, uns Wirkliches und nach seinem Gehalt von unserem Leib Unabhängiges zu geben. Und nur, weil wir aus der natürlichen Wahrnehmung gelernt haben, was "Wirkliches", was "Außenwelt", was ein von uns unabhängig dem Wirklichen zukommender Gehalt ist, darum kann es vorkommen, daß auch Inhalte, die nicht tatsächlich so, d. h. real außer uns bedingt sind wie die der natürlichen Wahrnehmung - sondern nur zentral bedingt - gleichwohl mit jenem "Bewußtsein" der Wirklichkeit, der Außenweltlichkeit, der Unabhängigkeit von unserem Gehirn verbunden auftreten, wie es bei der Halluzination der Fall ist; oder kürzer: daß dieser Inhalt mit dem Aktcharakter und seinen Wesensbestandstücken des "Wahrnehmens" behaftet auftritt. Und wollen wir jene Schlußweise der Ersparnis von Ursachen machen, so müßten wir sagen: da die Aufhebung der Kausalglieder bis zur unmittelbaren Ursache im Großhirn die Tatsachen der Erfahrung nicht verändern kann, so muß bei der zweifellosen Verschiedenheit von natürlicher Wahrnehmung, die uns Wirkliches und nicht durch unser Gehirn bedingte Inhalte gibt - was die Halluzination eben nicht tut - der Sinn dieser kausalen Bedingung hier und dort ganz verschieden sein. Bei der natürlichen Wahrnehmung ist gehirnbedingt eben nur das Wahrnehmen dieses  bestimmten  Inhalts der Wirklichkeit im  Unterschied  zu anderen Inhalten. Einmal also das Wahrnehmen als der reale Vollzug gerade dieses Aktcharakters im Unterschied von Vorstellen, Urteilen usw. und sodann die Wahl, daß gerade dieser Inhalt vom betreffenden Individuum, das dieses Gehirn hat, wahrgenommen wird. Dagegen ist im Falle der Halluzination der Inhalt selbst (und nicht die  Wahl  aus möglichen anderen) und in zweiter Linie die Reproduktion der mit einer natürlichen Wahrnehmung wesenhaft verknüpften Momente gehirnbedingt; das heißt, die Halluzination ist eine Täuschung, in der wir wahrzunehmen bloß meinen, ohne faktisch wahrzunehmen; und ihr Inhalt ist relativ auf das Gehirn des Halluzinanten, wogegen der Gehalt der natürlichen Wahrnehmung dies nicht ist; er ist relativ auf die Dinge, die da sind und wirklich.

Dasselbe gilt für die Jllusionstheorie der Wahrnehmung. Hiernach soll "Jllusion darin beruhen, daß die durch simultane Assoziation bzw. durch Assimilation mit den reinen Empfindungselemten Verbindungen eingehenden Gedächtniselemente ein quantitativ zu starkes Übergewicht über die Empfindungselemente erhalten. Nun ist aber auch jede natürliche Wahrnehmung nach dieser Lehre bereits mehr oder weniger reicht mit solchen Gedächtniselementen durchsetzt - und dies offenbar umso mehr, je reicher und entwickelter das geistige Leben des Wahrnehmenden ist. Nicht nur ist hiernach kein Wesensunterschied zwischen Wahrnehmung und Jllusion, sondern nur ein solcher des Grades; es ergibt sich auch die merkwürdige Folge, daß, je reiner unsere Erfahrung wird, die Wahrnehmung immer weniger mit den vorhandenen Sachen übereinstimmt und immer mehr mit den Jllusionen des Kranken auf ein und dieselbe Stufe gerät. Der Naturforscher, dem bei einer einfachen Beobachtung z. B. der Färbung einer Linie eine gewaltige Fülle von "Gedächtniselementen" herbeieilen, um das bloße Datum der Beobachtung zum Glied eines reichen anschaulichen Tatsachenzusammenhangs z. B. einer bestimmten Beschaffenheit der Sonne zu machen, wäre hiernach am meisten dem illusionierenden Irren ähnlich, der im blinkenden Knopf seiner Bettstelle alle möglichen Gesichter und Fratzen erblickt. Es geht ja nicht an, nach dieser Theorie zu sagen, daß der Unterschied eben  darin  bestehe, daß bei der Jllusion eben Gedächtniselemente hinzutreten, die gar nicht Reproduktionen von Merkmalen derselben Sache sind, die da jetzt empfunden wird und die früher andere Empfindungen gab; daß bei der Wahrnehmung aber dies der Fall sei. Denn der Gehalt der Wahrnehmung, sofern er ein bestimmtes  Ding  gibt und eben damit den Empfindungsinhalt überragt, der auch bei anderen und wieder anderen Dingwahrnehmungen derselbe sein kann, z. B. weiß das Weiß des Schnees oder das eines weißen Pulvers usw., soll sich ja erst aus den hinzutretenden Gedächtniselementen aufbauen! Es hat also gar keinen Sinn zu sagen, es seien bei der Wahrnehmung Reproduktionen von früheren Empfindungen derselben Sache, bei der Jllusion nicht. Denn diese "dieselbe" Sache soll ja im Bewußtsein nur durch das Hinzutreten jener reproduktiven Elemente vertreten sein. Dieses letztere ist aber auch bei der Jllusion der Fall. Auch ist, so lange man die Assimilation und Assoziatioin nicht zwischen den fertigen Wahrnehmungs und Vorstellungsgebilden, sondern zwischen deren  Elementen  sich abspielen läßt, noch gar kein Kriterium gegeben, nach dem zu entscheiden wäre, ob es sich um Reproduktionen von Elementen derselben Sache handelt oder nicht. Denn es können die Empfindungselemente der Sache  A  den dispositionell bereitliegenden Gedächtniselementen der Sache  B  beliebig ähnlich sein oder mit ihnen gemeinsame Bestandteile haben, die sich stärken, und umgekehrt können Dispositionen von Vorstellungselementen der Sache  A  da sein, die den Empfindungselementen der Sache  A  durchaus nicht gleichen, sich also abschwächen müßten. Erst wo es sich um die fertigen Gebilde der Wahrnehmung und Erinnerung handelt - die auch  als  Erinnerungen gegeben sind - kann von einer Prüfung die Rede sein, ob das Reproduzierte auf die Wahrnehmung derselben Sache zurückgeht. Davon ist aber hier gar nicht die Rede.

Ganz analog diesen Fehlerklärungen sind folgende Fälle. Die Anschauung eines Reliefs meinen Einige erklärt zu haben, wenn sie auf die Licht- und Schattenverteilung auf einer (z. B. gemalten) Fläche hinweisen, die in der Tat ein Relief vortäuschen kann. Aber wer sähe nicht, daß man das ursprüngliche Phänomen eines Reliefs schon besitzen muß, um es in die Licht- und Schattenverteilung hineinzusehen? Es ist dies prinzipiell, anders wie im Fall, wo wir in Vexierbildern plötzlich eine Katze sehen. Die zusammenfassende Tätigkeit der Linien, Farben, Formen des Gegebenen, die wir ja auch bei der Wahrnehmung einer wirklichen Katze vollziehen müssen, genügt nicht, um dieses plötzliche Sehen verständlich zu machen. Denn sollen diese Tätigkeiten so stattfinden, daß sie zum Bild einer Katze führen, so muß die Bedeutungseinheit "Katze" irgendwie bereits vorschreiben, nach welchen Elementen des Gegebenen die zusammenfassende Tätigkeit greifen soll und welche vernachlässigen. Wir dürfen das Bedeutungsmäßige, das in der Wahrnehmung einer Katze steckt, nicht "erklären" wollen in der Art, wie wir die Katze im Vexierbild erklären.

Oder: wir täuschen uns über den seelischen Vorgang eines Menschen. Die Grundform dieser Täuschung ist, daß wir die Wirkung seiner Ausdrucksbewegung auf uns auf unser seelisches Leben in die fremde Person einfühlen; sei es die direkte Wirkung auf unser Gefühl z. B:, sei es die durch Auslösung einer Nachahmungstendenz der gesehenen Bewegung hervorgerufene Reproduktion von Erlebnissen, die gemeinhin auch bei uns zu einem solchen Ausdruck führten. In dem Maße, wie so etwas geschieht,  täuschen  wir uns über den Seelenvorgang des anderen, indem wir Erlebnisse, die unsere sind, für seine halten. So bei aller Gefühlsansteckung durch Mitlachen, Mitweinen, Mitdrohen (z. B. bei Massenerregungen). Das ist offenbar das Gegenteil von verständnisvollem Mitgefühl, wo sich erst auf das intentionale Fühlen eben der fremden Trauer usw., auf das fühlende Verstehen dieses Gefühls des anderen das eigene Trauern, Sichfreuen usw. aufbaut. Eben dieses fremde Gefühl kommt uns im Falle der Nachahmung fundierten Gefühlsansteckung durch den anderen gar nicht zu Gesicht. Wir irrig nun z. B. der Versuch NIETZSCHEs und anderer, auch das echte Mitleid in der Gefühlsansteckung zu erklären! Was wir so erklären, ist doch nur die Täuschung darüber, daß wir mit - dem - anderen leiden. Gewiß: viele Leute halten eine solche Ansteckung durch fremdes Klagen, Weinen oder auch bloß die momentane Schwäche ihrer Nerven, einen Schock von ästhetischer Ablehnung usw. für "echtes" Mitleid. Das Motiv mag Eitelkeit sein, die so gerne einen Vorgang, der einem positiv wertvollen Vorgang ähnlich ist, mit dem Namen des positiv wertvollen Vorgangs benennen läßt. Aber es ist eine Täuschung! Und sie setzt voraus, daß wir den Tatbestand echten Mitleidens usw. kennen; wie sollten wir ihn sonst in den Tatbestand der Gefühlsansteckung hineinzusehen vermögen? Ganz Analoges gilt von Täuschungen wie z. B., daß man etwas bereue, während man nur die kausalen Unlustfolgen einer Handlung in den erinnerten Tatbestand dieser Handlung hineinträgt, z. B. die Angst und Furcht vor sozialen Folgen, welche das Bekanntwerden dieser Handlung haben kann. Die echte Reue läßt sich nicht nach Maßgabe dieser Täuschung erklären. Das Phänomen ist dazu vorausgesetzt. Dasselbe gilt, wenn z. B. jemand eine Wirkung einer ursprünglich krankhaften Tendenz, sich selbst zu quälen, sich weh zu tun, sich zu züchtigen, für Reue, Sündenbewußtsein, schlechtes Gewissen hält. Dann kann man doch niemals diese  echten  Erscheinungen selbst mit solchen Mitteln erklären!

So ist es auch eine prinzipielle Fehlerklärung, wenn man das Verstehen fremdpsychischer Vorgänge, z. B. historischer seelischer Tatbestände durch Einfühlung verständlich machen will. Ich weise die wesentlichste Täuschungsquelle über fremdes Seelenleben auf, wenn ich zeige, daß  A  seiner Erlebnisse in  B  hineinträgt, daß die "Herren ihren eigenen Geist für den Geist der Zeiten halten", nicht aber den normalen Hergang der psychischen Fremdwahrnehmung. Fremdes Verständnis beruth ja gerade darin, daß ich die sich mir darbietenden eigenen Erlebnisse, die mir bei der Erzählung z. B. eines fremden Erlebnisses einfallen,  zurückhalte,  um das Fremde rein zu hören; weshalb z. B. auch die analogische Heranziehung von Sitten, Begriffen usw. der eigenen Epoche zwecks historischen Verständnisses nie zur Klärung, sondern zu Täuschungen über das historisch Gegebene führt; gerade so wie Menschen sofort in Täuschung verfallen über das Erlebte, das ein anderer erzählt, wenn sie in die Richtung kommen, die sich mit den Worten einführt: "Ja, ähnliches ist mir auch schon passiert", und dann nur mehr in den Schematas dieses Selbsterlebten das Fremde aufzunehmen vermögen.

Demselben Typus gehören weitverbreitete Theorien an, die das Bewußtsein von "Kraft" in der äußeren Natur, von "belebten" Wesen, von "Werten" durch die Hineintragung von Gefühlen, Begehrungen usw. in die sinnlich wahrgenommenen Inhalte verständlich machen wollen. Sie gehen alle so vor, daß sie die besonderen Anlässe, die zu  Täuschungen  über diese Tatsachen führen können, z. B. eine mythologische Verlebendigung des Toten auch zur Grundlage des Verstehens der normalen Wahrnehmung dieser Dinge machen wollen.
LITERATUR: Max Scheler, Über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Pathopsychologie, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Es ist ein Irrtum, daß die Ausdrucksphänomene der Erlebnisse eines fremden Individuums: Lachen, Weinen, Erröter, bittende Hände usw. oder besser deren Gehalt an Farbe, Form, Linie, Bewegung die Auffassung als Eigenschaften und Tätigkeiten von Körpern durchlaufen müßten, ehe sie als Symbole seelischer Erlebnisse gefaßt würden. "Gegeben" im Sinne von anschaulich selbstgegeben ist nun aber der fremde Körper so wenig wie die fremde Seele. Auch er ist in den Erscheinungen vermeint und gedacht. Ebenso kann aber auch Scham, Bitte in den Erscheinungen vermeint und wahrgenommen werden - ohne daß ich z. B. die Erscheinung der Schamröte zuerst als Blutzufluß in Kopf und Wange auffasse. Ich nehme  in  ihr die Scham,  im  Lächeln die Freude  wahr  - ohne eines Schlusses zu bedürfen. Genauer auf das schwierige Problem einzugehen, ist hier nicht der Ort.
    2) Die Sphäre des Psychischen ist sicher weiter wie diejenige der intentionalen Akte. Sie umfaßt auch Empfindungen und zuständliche Gefühle. Auch wird man nicht leugnen können, daß der Inhalt einer Phantasievorstellung psychisch ist - was immer auch darin vermeint wird, ein physisches Ding oder ein psychisches. Andererseits dürfen die Akte, in denen Psychisches gegeben wird, also der Akt der inneren Wahrnehmung selbst und alle seine Modi nicht wieder psychisch heißen, sofern der unendliche Regreß vermieden werden soll. Von den drei Bewußtseinsbegriffen:
      1. Bewußtsein = jedes  Bewußtsein von,  jedes intentionales Meinen und Gerichtetsein,
      2. Bewußtsein = Inbegriff der Erscheinungen innerer Wahrnehmung,
      3. Bewußtsein = Inbegriff der realen Erlebnisse eines Individuums
    ist der zweite eine Art des ersten; und der dritte aus dem zweiten abgeleitet.
    3) Siehe hierzu Abschnitt 4.
    4) Alle Spiegelbilder, virtuelle Bilder, Regenbogen z. B., sind obgleich nicht physisch real, so doch echt physische Erscheinungen.
    5) Wie widersprechend allen Tatsachen dies ist, ist schon zu häufig gezeigt worden, als daß es hier wiederholt werden müßte.
    6) Vgl. hierzu Abschnitt 4. Eine eingehende Untersuchung dieser Frage kann hier nicht gegeben werden.
    7) Daß "innere Wahrnehmung" mit Wahrnehmung des "in" den Leib lokalisierten nichts zu tun hat, braucht nicht gesagt zu werden.
    8) Dies finden wir erst durch eine Reflexion auf das Sehen, Hören, Schmecken usw. und durch einen Hinblick darauf, was am wahrgenommenen Ganzen hierdurch herausgehoben wird.
    9) Eine kurze Belehrung über PAWLOWs erweiterte Physiologie gibt sein auf der Königsberger Naturforscherversammlung gehaltener Vortrag.
    10) Alle "Entwicklung" und alles "Lernen" betrifft nur die Zuordnung der gegebenen Inhalte zu  bestimmten  realen Dingen; nicht aber ist jene Identität selbst eine erlernte oder entwickelte.
    11) Daß der Schmerz unausgedehnt sei oder erst vom Zentrum aus projiziert werde, ist eine ganz willkürliche Behauptung, die gleichfalls zu jenen Irrungen gehört, die ich im 3. Absatz bespreche und in denen der normale Fall nach Analogie mit anormalen Täuschungen (z. B. Schmerz im amputierten Glied) verständlich gemacht werden soll.
    12) Gesetzmäßigkeiten der Funktionen, des "Sehens", "Hörens" können bestimmt werden unabhängig von der bestimmten Reizung und Beschaffenheit der Sinnesorgane und sind beim sogenannten inneren Sehen, inneren Hören (eines etwa in der Erinnerung gegebenen Tatbestandes) dieselben wie bei wirklichem Sehen und Hören (z. B. Umfang der an die bestimmten Funktionen gebundenen sog. "Aufmerksamkeit", perspektivische Veränderungen der Inhalte mit Nah- und Fernlokalisation usw.). Diese Funktionsgesetze sind auch bei verschiedener Ausstattung des Apparates der Sinnesorgane bei verschiedenen Tieren weithin dieselben und haben in ihrer  Eigen gesetzmäßigkeit erforscht zu werden.
    13) Eine interessante Zusammenstimmung in diesem Gedanken zeigen neuerdings die Forschungen von BERGSON und PAWLOW.
    14) JOHN STUART MILL und andere haben ja auch dieses behauptet.
    15) Überhaupt hat unser Begriff des "inneren Sinnes" mit jenen KANTs nicht das mindeste zu tun. KANT setzt innere Wahrnehmung und inneren Sinn gleich, was wir gerade zurückweisen. Auch seine Lehre, daß die Zeit die Form des "inneren Sinnes" sei, ist ganz unstichhaltig.
    16) Eine genauere Begründung dieses Satzes soll eine selbständige der Lehre vom "inneren Sinn" gewidmete Arbeit geben. Eine Anregung zur Wiederaufnahme des Begriffs "innerer Sinn" ist neuerdings von OSWALD KÜLPE in seinen Arbeiten zur Psychologie der Abstraktion (siehe auch Einleitung in die Philosophie der Gegenwart) ausgegangen; eine andere (ziemlich abstruse) von FREUD (Traumdeutung). Vgl. auch HENRI BERGSON, Gedächtnis und Materie.
    17) Neuerdings hat auch EDMUND HUSSERL, dessen Werken wir uns so tief verpflichtet und dankbar fühlen, sich dieser Lehre angeschlossen. Er sagt: "das psychische Sein, das Sein als "Phänomen", ist prinzipiell keine Einheit, die in mehreren gesonderten Wahrnehmungen als individuell identische erfahrbar wäre, nicht einmal in Wahrnehmungen desselben Subjekts. In der psychischen Sphäre gibt es mit anderen Worten keinen Unterschied zwischen Erscheinung und Sein usw. (siehe auch das folgende). Wir sehen erstlich nicht, wie diese Behauptung mit den tiefdringenden Ausführungen in den "logischen Untersuchungen" über "innere und äußere Wahrnehmung" (Seite 694), in denen nicht nur der Vorzug der Evidenz der inneren Wahrnehmung vor der äußeren (wie sie DESCARTES und BRENTANO lehren) bestritten wird, sondern ausdrücklich gesagt wird: "Demgegenüber will es mir erscheinen, daß innere und äußere Wahrnehmung von ganz gleichem erkenntnistheoretischem Charakter sind usw." (Seite 703, 704) übereinzubringen sei. Oder hat HUSSERL hier seine Meinung geändert? - - - - Sachlich aber scheint mir HUSSERL hier das Wesen des "Phänomens" mit dem des "Psychischen", Phänomenologie mit Psychologie zu verwechseln, obgleich an einer anderen Stelle (Seite 302 des Aufsatzes) die "Phänomenologie des Bewußtseins", die es mit dem "reinen Bewußtsein" zu tun habe, von der "Psychologie", die es mit dem "empirischen Bewußtsein" zu tun habe oder mit dem Bewußtsein als "Natur" scharf getrennt wird. - - - - Natürlich hat HUSSERL recht, wenn er sagt: "Ein Phänoen ist keine substantielle Einheit, es hat keine "realen Eigenschaften", es kennt keine realen Teile und keine Kausalität ... Phänomenen eine reale Natur beimessen, nach ihren realen Bestimmungsstücken, nach ihren kausalen Zusammenhängen forschen - das ist reiner Widersinn ..." - - - Gewiß, darum ist ein "Phänomen" auch nicht "beobachtbar", sondern nur "erschaubar". Aber eben aus diesem sicheren Tatbestand schließe ich, daß - da  jeder  Satz eines Lehrbuchs der Psychologie eine Empfindung, eine Vorstellung wie eine substantielle Einheit behandelt, ihr "reale Eigenschaften" zuweist (die sie hat, ob sie dem Erlebenden gegeben oder nicht gegeben sind), auch "reale Teile" und Kausalität zwischen den behandelten Gegenständen annimmt, daß es Psychologie  niemals,  selbst die beschreibende Psychologie (die doch auch auf "Beobachtung" beruth) mit Phänomenen zu tun hat. Die Phänomenologie des Psychischen, die Lehre von den wesenhaften Konstituentien des Psychischen und seinen Gegebenheitsweisen hat mit "Psychologie" so wenig zu tun wie die Phänomenologie der Zahl mit Arithmetik. Andererseits gilt alles, was HUSSERL vom "Phänomen" sagt, auch vom  physischen  Phänomen. "Phänomen" besagt doch nur das im lebendigen Akt unmittelbar Gegebene, das was in Selbstgegebenheit vor mir steht, so ist, wie es gemeint ist. Diese Gegebenheit aber kann ich an  jedem  beliebigen Gegenstand aufsuchen, an nichtpsychischen wie an psychischen; auch wieder an "Dingheit" und "Wirklichkeit". - - - - Völlig recht hat HUSSERL darin, daß der  naturwissenschaftliche  Ding-, Vorgangs-, Kausalbegriff usw. auf die Sphären der psychischen Tatsachen  nicht  übertragen werden darf und daß die "Einheit" des Psychischen ihre ganz "eigenen Formen" hat. Aber hieraus ist nicht zu schließen, daß diese Begriffe in der psychischen Sphäre überhaupt keinen Sinn haben, sondern nur daß sie von den spezifischen Modalitäten, die sie in der Sphäre der äußeren Wahrnehmung und der besonderen Mannigfaltigkeit des Naturseins annehmen, zu befreien sind - dem raumzeitlichen Außereinander. Zwischen "Ding", "Materie", "Körper" gibt es eben scharfe Unterschiede und so sicher das reale Ich, der Charakter keine Stück Materie oder Körper ist, so sind sind sie  Dinge.  Eine "Vorstellung", die eine andere hervorruft, weil sie zum Teil identische Elemente mit jener hat, ist ein "Ding" und hat reale Teile. Ein Motiv eines Willensaktes ist ein realer Vorgang und kann bestehen, während der Handelnde es nicht kennt oder sich ein ganz anderes Motiv zu haben einbildet, und ist die  Ursache  dieses Willensaktes. Freilich kann eine Beobachtungstatsache und eine kausale Lehre der Psychologie der Phänomenologie des Psychischen nie widersprechen und nie ihre Aufstellungen beweisen, da die Lehre von den Wesenheiten des Psychischen und deren Wesenszusammenhängen - wie HUSSERL so treffen einschärft - die  Voraussetzung  aller Psychologie ist. Daß die aber für die Naturwissenschaft, auch für die Mathematik  weniger  gälte, scheint uns HUSSERL nicht gezeigt zu haben.
    18) Sondern z. B. eine Interessensolidarität, die sich unter "Liebe" versteckte; oder ein Angezogensein durch einen äußeren Ausdruck, der einem früher Geliebten glich; oder Selbstflucht; oder Gewohnheit; oder Überzeugungsgemeinschaft usw.
    19) Genaueres hierüber im zweiten Teil dieser Abhandlung.