ra-2 Nicolai HartmannDie Zukunft des KapitalismusWerttheorie und Ethik    
 
MAX SCHELER
Der Formalismus in der Ethik
[2/3]

"Wo immer man  gut  oder  böse  an ein außerhalb des Wertbereichs selbst stehendes  Kennzeichen  gebunden wähnte, seien es aufweisbar leibliche oder seelische Anlagen und Eigenschaften der Menschen, sei es Zugehörigkeit zu einem Stand oder einer Partei und demgemäß von  den Guten und Gerechten  oder  den Bösen und Ungerechten  wie von einer objektiv bestimm- und definierbaren  Klasse  sprach, da verfiel man notwendig irgendeiner Art des Pharisäertums, der mögliche  Träger  des  Guten  und  ihre  gemeinsamen Merkmale (als bloßer Träger) für die betreffenden Werte selbst nahm und für das Wesen der Werte, für die sie doch nur als Träger fungieren. Der Satz Jesu:  Niemand ist gut außer Gott allein  (zu dessen Wesen die Güte gehört) scheint nur den Sinn zu haben, diesen Tatbestand gegen die  Guten und Gerechten  zu erhärten. Er will nicht sagen, daß niemand gut sei in dem Sinne: es könne niemand Eigenschaften haben, die gute Eigenschaften sind. Er will nur sagen, daß  gut selbst  nie in der begrifflich angebbaren Eigenschaft eines Menschen bestehe, wie das all jene anzunehmen scheinen, die die Guten und Bösen wie Böcke und Lämmer nach angebbaren realen, der Vorstellungssphäre angehörigen Merkmalen sondern wollten, was gewissermaßen die ewig kategoriale  Form  des Pharisäismus ausmacht."

"Ob wir Edles oder Gemeines, ob Wohl oder Leid, ob Nutzen oder Schaden zu realisieren suchen, das ist für das Gut- oder Bösesein des Wollens  ganz  gleichgültig; denn die Bedeutung der Worte  gut  und  böse  erschöpfe sich vollständig in der  gesetzmäßigen  oder  gesetzwidrigen Form,  nach der wir die Setzung einer Wertmaterie der anderen angliedern. Lassen wir die Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung, die vergißt, daß die Zwecke des Teufels nicht minder  systematisch  sind wie die Zwecke Gottes, zunächst beiseite."

I. Materiale Wertethik und Güter
bzw. Zweckethik


1. Güter und Werte

So wenig wie die Farbennamen auf bloße Eigenschaften von körperlichen Dingen gehen - wenn auch in der natürliche Weltanschauung die Farbenerscheinungen meist nur so weit genauer beachtet werden, als sie als Unterscheidungsmittel verschiedener körperdinglicher Einheiten fungieren -, so wenig gehen auch die Namen für Werte auf die bloßen Eigenschaften der dinglich gegebenen Einheiten, die wir Güter nennen (1). Wie ich mir ein Rot auch als bloßes extensives Quale z. B. in einer reinen Spektralfarbe zur Gegebenheit bringen kann, ohne es als Belag einer körperlichen Oberfläche, ja nur als Fläche oder als ein Raumartiges überhaupt aufzufassen, so sind mir auch Werte, wie  angenehm, reizend, lieblich,  aber auch  freundlich, vornehm, edel,  prinzipiell zugänglich, ohne daß ich sie mir hierbei als Eigenschaften von Dingen oder Menschen vorstelle. Versuchen wir das zunächst in Bezug auf die einfachsten Werte aus der Sphäre des sinnlich Angenehmen zu erweisen, d. h. da, wo die Bindung der Wertqualität an ihre dinglichen Träger wohl noch die  denkbar  innigste ist. Eine jede wohlschmeckende Frucht hat auch ihre besondere  Art  des Wohlgeschmackes. Es verhält sich also durchaus nicht so, daß ein und derselbe Wohlgeschmack nur mit den mannigfachen Empfindungen verschmölze, die z. B. die Kirsche, die Aprikose, der Pfirsich beim Schmecken oder beim Sehen oder beim Tasten bereitet. Der Wohlgeschmack ist in jedem dieser Fälle vom anderen  qualitativ  verschieden; und weder die mit ihm jeweilig verbundenen Komplexe von Geschmacks-, Tast- und Gesichtsempfindungen, noch auch die mannigfachen in der Wahrnehmung jener Früchte zur Erscheinung kommenden Eigenschaften derselben sind es, die jene qualitative Verschiedenheit des Wohlgeschmacks erst zur Differenzierung bringen. Die Wertqualitäten, die das "sinnlich Angenehme" in diesen Fällen besitzt, sind  echte  Qualitäten des Wertes selbst. Daß wir sie in dem Maße, als wir die Kunst und die Fähigkeit haben, sie zu erfassen, ohne Hinblick auf das optische, taktile oder durch eine andere Sinnesfunktion außer dem Schmecken gegebene  Bild  der Frucht zu unterscheiden vermögen, ist ohne Zweifel; wie schwierig es auch z. B. sein mag, ohne jede Mitwirkung z. B. des Geruches eine solche Unterscheidung dann zu vollziehen, wenn wir an diese Mitwirkung gewöhnt sind. Für den Ungeübten mag es bereits schwierig sein, im Dunkeln Rot- und Weißwein zu unterscheiden. Aber diese und eine Menge ähnlicher Tatsachen, wie z. B. die mangelnde Unterscheidungskraft der Wohlgeschmäcke bei Ausschaltung der Geruchsempfindung, zeigen nur die sehr mannigfach abgestufte Geübtheit der betreffenden Menschen und ihre besondere Gewöhnung an eine Art der Aufnahme und der  Fassung  der betreffenden Wohlgeschmäcke.

Was aber schon in dieser Sphäre gilt, das gilt in viel höherem Maße in Wertbereichen außerhalb der Sphäre des sinnlich Angenehmen. Denn in dieser Sphäre sind die Werte ohne Zweifel am innigsten an den Wechsel unserer Zustände und gleichzeitig an die besonderen Dinge gebunden, die uns diese Zustände bereiten. Es ist wohl begreiflich, daß auch darum die Sprache meist keine besonderen Namen für diese Wertqualitäten selbst ausgebildet hat, sondern sie entweder nur nach ihren dinglichen Trägern (z. B. das Angenehme des Rosengeruches) oder nach ihrer Empfindungsgrundlage (z. B. das Angenehme des Süßen, das Unangenehme des Bitteren) unterscheidet.

Ganz gewiß sind z. B. die ästhetischen Werte, die den Worten:  lieblich, reizend, erhaben, schön  usw. entsprechen, nicht bloße Begriffsworte, die in den gemeinsamen Eigenschaften von Dingen ihre Erfüllung fänden, die Träger dieser Werte sind. Das zeigt schon die Tatsache, daß uns, suchen wir uns solcher "gemeinsamer Eigenschaften" zu bemächtigen, im Grunde  nichts  in der Hand bleibt. Erst wo wir bereits die Dinge unter einen anderen Begriff stellen, der kein Wertbegriff ist, also etwa nach den gemeinsamen Eigenschaften lieblicher Vasen oder Blumen oder edler Pferde fragen, besteht die Aussicht, solche gemeinsamen Eigenschaften anzugeben. Werte solcher Art sind also nicht definierbar. Trotz ihrer zweifellosen "Gegenständlichkeit" müssen wir sie uns bereits an den Dingen zur Gegebenheit gebracht  haben,  um die betreffenden Dinge als "schön", als "lieblich", als "reizend" zu bezeichnen. Jedes dieser Worte faßt eine qualitativ abgestufte Reihe von Werterscheinungen zur Einheit eines Wertbegriffs zusammen, nicht aber wertindifferente Eigenschaften, die uns nur durch ihr konstantes Zusammensein den Schein eines selbständigen Wertgegenstandes vortäuschen.

Das gilt aber auch für Werte, die der ethischen Sphäre angehören. Daß ein Mensch oder eine Handlung "vornehm" ist oder "gemein", "mutig" oder "feige", "rein" oder "schuldig", "gut" oder "böse", das wird uns nicht erst durch konstante Merkmale an diesen Dingen und Vorgängen, die wir angeben könnten, gewiß, noch  besteht  es gar in solchen. Es genügt unter Umständen eine  einzige  Handlung oder ein  einziger  Mensch, damit wir in ihm das  Wesen  dieser Werte erfassen können. Dagegen führt ein jeder Versuch, ein gemeinsames Merkmal außerhalb der Sphäre der Werte selbst z. B. für die Guten und Bösen aufzustellen, nicht nur in einen Irrtum der Erkenntnis im theoretischen Sinne, sondern auch in eine sittliche Täuschung schwerster Art. Wo immer man  gut  oder  böse  an ein solches, außerhalb des Wertbereichs selbst stehendes  Kennzeichen  gebunden wähnte, seien es aufweisbar leibliche oder seelische Anlagen und Eigenschaften der Menschen, sei es Zugehörigkeit zu einem Stand oder einer Partei und demgemäß von "den Guten und Gerechten" oder "den Bösen und Ungerechten" wie von einer objektiv bestimm- und definierbaren  Klasse  sprach, da verfiel man notwendig irgendeiner Art des "Pharisäertums", der mögliche  Träger  des "Guten" und  ihre  gemeinsamen Merkmale (als bloßer Träger) für die betreffenden Werte selbst nahm und für das Wesen der Werte, für die sie doch nur als Träger fungieren. Der Satz JESU: "Niemand ist gut außer Gott allein" (zu dessen Wesen die Güte gehört) scheint nur den Sinn zu haben, diesen Tatbestand gegen die "Guten und Gerechten" zu erhärten. Er will nicht sagen, daß niemand gut sei in dem Sinne: es könne niemand Eigenschaften haben, die gute Eigenschaften sind. Er will nur sagen, daß "gut" selbst nie in der begrifflich angebbaren Eigenschaft eines Menschen bestehe, wie das all jene anzunehmen scheinen, die die Guten und Bösen wie Böcke und Lämmer nach angebbaren realen, der Vorstellungssphäre angehörigen Merkmalen sondern wollten, was gewissermaßen die ewig kategoriale  Form  des Pharisäismus ausmacht. Wo wir einen Wert mit Recht aussagen, da genügt es nie, ihn aus Merkmalen und Eigenschaften, die nicht selbst der Sphäre der Werterscheinungen angehören, erst erschließen zu wollen (2); er muß immer selbst anschaulich gegeben sein oder auf eine solche Art der Gegebenheit zurückgehen. So sinnlos es ist, nach den gemeinsamen Eigenschaften aller blauen oder roten Dinge zu fragen, da ja nur die einzige Antwort möglich wäre: sie besteht darin, daß sie eben blau und rot sind, so sinnlos ist es auch, nach den gemeinsamen Eigenschaften guter oder böser Handlungen, Gesinnungen, Menschen usw. zu fragen.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß es  echte  und  wahre  Wertqualitäten gibt, die einen eigenen Bereich von  Gegenständen  darstellen, die ihre  besonderen  Verhältnisse und Zusammenhänge haben und schon als Wert qualitäten  z. B. höher und niedriger usw. sein können. Ist das aber der Fall, so kann zwischen ihnen auch eine  Ordnung  und eine  Rangordnung  obwalten, die vom Dasein einer  Güterwelt,  in der sie zur Erscheinung kommen, desgleichen von der Bewegung und Veränderung dieser Güterwelt in der Geschichte ganz unabhängig und für deren Erfahrung "a priori" ist.

Aber man könnte einwenden: Was wir zeigten, ist nur, daß die Werte keine Eigenschaften der Dinge sind, oder wenigstens usprünglich keine solchen; wohl aber müßte man sie als  Kräfte  ansehen oder als  Fähigkeiten  oder als in den Dingen gelegene  Dispositionen,  durch in fühlenden und begehrenden Subjekten sie es gewisse Gefühlszustände, sei es Begehrungen  kausiert  werden. Auch bei KANT finden sich Stellen, wo er dieser zuerst von JOHN LOCKE vertretenen Theorie zuzuneigen scheint; wäre sie richtig, so müßte allerdings alle Erfahrung von den Werten von solcher Wirkung dieser "Kräfte", von der Aktualisierung dieser "Fähigkeiten", von der Erregung dieser "Dispositionen" abhängen (3); Verhältnisse zwischen den Werten z. B. nach hoch und niedrig müßten dann aus den realen Verknüpfungen dieser Kräfte und Fähigkeiten, bzw. realen Dispositionen folgen. In diesem Falle hätte KANT jedenfalls darin recht, daß jede materiale Ethik notwendig empirisch induktiv sein müßte; hingen doch alle Urteile über Werte von jenen Wirkungen ab, welche die Dinge vermöge dieser Kräfte, Fähigkeiten, Dispositionen auf uns als Wesen einer bestimmten realen Naturorganisation ausüben; und erst recht alle Urteile über die Verhältnisse der Werte. Denn da man kaum geneigt sein dürfte, auch "höhere" und "niedrigere" Kräfte und Fähigkeiten anzunehmen, müßte man diesen Unterschied entweder auf die jeweilige Größe dieser Kräfte (etwa einer besonderen Wertenergie oder auf die Summe irgendwelcher in einem Ding gelegenen Elementarkräfte) zurückführen oder ihn ganz ins Subjekt verlegen, so daß z. B. die höheren Werte diejenigen wären, die Begehrungen von einem stärkeren Grad der Dringlichkeit erregen. (4)

Aber so grundirrig diese Theorie für die Farben und ihre Ordnung ist - für die sie LOCKE gleichfalls annahm -, so irrig auch für die Werte. Vergebens frägt man sich, worin in aller Welt denn jene "Kräfte", "Fähigkeiten", "Dispositionen" bestehen sollen. Sind damit besondere "Wertkräfte" gemeint oder sollen diese Kräfte dieselben sein, die auch die Naturwissenschaft den Dingen zuschreibt, wie Adhäsionskraft, Kohäsion, Gewicht usw. ? Es ist klar, daß im ersten Fall eine pure qualitas occulta eingeführt wäre, ein  X,  das seine ganze Bedeutung erst durch die "Wirkung" erhielte, die es vermeintlich "erklären" soll - etwa wie die vis dormitiva [Einschläferungsmacht - wp] des MOLIÉRE. Fassen wir die Werte aber als bloße spezielle Fälle und Wirkungen, welche irgendwelche Naturkräfte auf begehrende und fühlende reale Wesen haben - denn im Wirken der Dinge aufeinander sheinen doch jene Kräfte  nicht  zu bestehen, da die Naturwissenschaft ohne sie auskommt -, so ist auch die These verlassen. Dann  sind  die Werte nicht solche Kräfte, sondern sie sind eben jene Wirkungen, die Begehrungen und Gefühle  selbst.  Das aber führt zu einem ganz anderen Typus der Werttheorien. (5) Für die Annahme dunkler "Fähigkeiten" und "Dispositionen" gilt dasselbe. Werte sind  klare fühlbare Phänomene,  nicht dunkle  Xe,  die selbst nur ihren Sinn durch jene wohlbekannten Phänomene finden. Wohl können wir vorläufig, wenn wir den Wert des Prozesses auf ein fühlbares Wertdatum hin, das wir an jenem Prozeß vorfinden,  voraussetzen,  die noch nicht völlig analysierte Ursache dieses  Prozesses - nicht  seines Wertes - sprachlich ungenau als "Wert" bezeichnen. So reden wir etwa von einem verschiedenen "Nährwert" der Speisen, der Kohlenhydrate, der Fette, des Eiweiß usw. Aber hier handelt es sich nicht um besondere dunkle "Fähigkeiten", "Kräfte", "Dispositionen", sondern um chemisch bestimmte Stoffe und Energien (im Sinne der Chemie und Physik); den Wert der Ernährung setzen wir dabei voraus, desgleichen den Wert der "Nahrung", der uns  in  der Befriedigung des Hungers unmittelbar gegeben ist - und sich vom Wert der Befriedigung des Hungers selbst und erst recht von der damit etwa (nicht immer) verbundenen Lust scharf scheidet. Erst dann mag die weitere Frage ergehen, durch welche chemische Eigenschaften ein bestimmter Körper für ein bestimmtes Lebewesen, z. B. den Menschen, normaler Beschaffenheit hinsichtlich Verdauung und Stoffwechsel usw. diesen Wert der Nahrung (für andere Tiere ist vielleicht derselbe Körper "Gift") und durch welche Quanten dieses Stoffes er welche Größe dieses Wertes trägt. Völlig irrig und verwirrend aber ist es, zu sagen, der Nährwert  bestehe  in jenen besonderen chemischen Substanzen, bzw. in der Anwesenheit solcher Substanzen in verschiedenen Größenverhältnissen in einer Speise. Man verwechsle doch nicht die Tatsache, daß es Dispositionen  zu  Werten, schärfer zu  Trägern  von Werten, z. B. zu Trägern des Wertes "Nahrung", in den Dingen und Körpern gibt, mit der ganz anderen Behauptung, der Wert dieser Dinge  sei  selbst nichts als eine bestimmte Disposition oder Fähigkeit!

Alle Werte (auch die Werte "gut" und "böse") sind materiale Qualitäten, die eine bestimmte Ordnung nach "hoch" und "nieder" zu einander haben; und dies unabhängig von der Seinsform, in die sie eingehen, ob sie z. B. als pure gegenständliche Qualitäten oder als Glieder von Wertverhalten (z. B. Angenehm- oder Schönsein von etwas) oder als Teilmomente in Gütern oder als Wert, den "ein Ding hat", vor uns stehen.

Die damit statuierte letzte Unabhängigkeit des Seins der Werte von Dingen, Gütern, Sachverhalten kommt in einer Reiche von Tatsachen scharf zur Erscheinung. Wir kennen ein Stadium der Werterfassung, wo uns der Wert einer Sache bereits sehr klar und evident gegeben ist,  ohne  daß uns die  Träger  dieses Wertes gegeben sind. So ist uns z. B. ein Mensch peinlich und abstoßend oder angenehm und sympathisch, ohne daß wir noch anzugeben vermögen,  woran  das liegt; so erfassen wir ein Gedicht oder ein anderes Kunstwerk längst als "schön", als "häßlich", als "vornehm" oder "gemein", ohne im entferntesten zu wissen, an welchen Eigenschaften des betreffenden Bildinhaltes das liegt; so ist auch eine Gegend, ein Zimmer "freundlich" und "peinlich", ebenso der Aufenthalt in einem Raum, ohne daß uns die  Träger  dieser Werte bekannt sind. Das gilt gleichmäßig für physisch und psychisch Reales. Weder die Erfahrung des Wertes noch der Grad der Adäquation und die Evidenz (Adäquation im vollen Sinn plus Evidenz ist die "Selbstgegebenheit" seiner) erweist sich von der Erfahrung der Träger dieser Werte irgendwie abhängig. Auch die  Bedeutung  des Gegenstandes, "was" er in dieser Hinsicht ist (ob z. B. ein Mensch mehr "Künstler" oder "Philosoph" ist), mag beliebig  schwanken,  ohne daß uns dabei sein Wert mitschwankt. In solchen Fällen offenbart sich sehr klar, wie  unabhängig im Sein  die Werte von ihren Trägern sind. Es gilt dies sowohl für die Dinge, wie für die Sachverhalte. Die Werte der Weine unterscheiden setzt eine Kenntnis (etwa nach Zusammensetzung, Herkunft von dieser oder jener Traube, Kelterungsart) in  keinem  Sinn voraus. Aber auch die "Wertverhalte" sind nicht etwa bloße Werte  von  Sachverhalten. Die Erfassung der Sachverhalte ist nicht die Bedingung, unter der sie uns gegeben werden. Daß ein bestimmter Tag im August des vorigen Jahres "herrlich war", das kann mir gegeben sein, ohne daß mir mitgegeben ist, daß mich damals ein Freund besuchte, der mir besonders teuer ist. Ja, es ist uns, als sei sogar die  Wertnuance  eines Gegenstandes (sei es, daß er erinnert, erwartet, vorgestellt oder wahrgenommen ist) sowohl das  Primärste,  was uns von ihm zugeht, als auch der Wert des jeweiligen Ganzen, dessen Glied oder Teil er ist, gleichsam das  "Medium",  in dem er erst seinen Bildinhalt oder seine (begriffliche) Bedeutung voll entwickelt. Sein Wert schreitet ihm gleichsam voran; er ist der erste "Bote" seiner besonderen Natur. Wo er selbst noch undeutlich und unklar ist, kann jener bereits deutlich und klar sein. Bei jeder Milieuerfassung erfassen wir z. B. zugleich zunächst das unanalysierte Ganze und an diesem Ganzen seinen Wert; im Wert des Ganzen aber wieder Teilwerte, in die sich dann die einzelnen Bildgegenstände "hineinstellen".

Doch sehen wir hiervon ab; es bedarf noch eingehender Untersuchungen, wie sich z. B. bei einfachen Farben, Tönen und Kombinationen solcher, der sogenannte Gefühlswert in der  Fundierung  der Gegebenheit zu den übrigen Eigenschaften oder besser Merkmalen der betreffenden Inhalte stellt. Hier ist uns nur von Wichtigkeit die mögliche Unabhängigkeit der Werterfassung von den Wertträgern. Dasselbe gilt natürlich auch von den Wertrelationen. Das Höhersein an Wert einer Sache vor der anderen, können wir erfassen,  ohne  eine der Genauigkeit und dem Deutlichkeitsgrade dieser Erfassung entsprechende Kenntnis der Sachen selbst zu haben; und ohne dabei die Sache, mit der wir die gegenwärtige vergleichen, anders als bloß "gemeint" im Bewußtsein zu haben. (6)

Es ist damit auch klar, daß die  Wertqualitäten  sich nicht mit den  Sachen  verändern. So wenig die Farbe Blau rot wird, wen sich eine blaue Kugel rot färbt, so wenig werden die Werte und ihre Ordnung dadurch tangiert, daß sich ihre Träger im Wert ändern. Nahrung bleibt Nahrung, Gift bleibt Gift, welche  Körper  auch für diese oder jene Organisation vielleicht zugleich giftig und nahrhaft sind. Der Wert der Freundschaft wird nicht angefochten dadurch, daß sich mein Freund als falsch erweist und mich verrät. Auch die scharfe qualitative Verschiedenheit der Wertqualitäten wird nicht angefochten dadurch, daß es häufig sehr schwierig ist, zu entscheiden, welcher der qualitativ verschiedenen Werte einer Sache zukommt. (7)

Wie verhalten sich nun aber die Wertqualitäten und Wertverhalte zu den Dingen und Gütern?

Die Werte sind durchaus nicht erst als  Güter  verschieden von den Gefühlszuständen und Begehrungen, die wir angesichts ihrer erleben. Sie sind es bereits als einfachste  Qualitäten.  Abgesehen von ihrer völlig irrigen Lehre vom "Ding" als einer bloßen "Ordnung der Abfolge der Erscheinungen" irren die positivistischen Philosophen auch gegenüber unserer Frage, wenn sie den Wert in dasselbe Verhältnis zu den aktuellen Begehrungen und Gefühlen stellen, wie das Ding zu seinen Erscheinungen. Werte sind schon als Wertphänomene (gleichgültig, ob "Erscheinung" oder "wirklich")  echte Gegenstände,  die von allen Gefühls zuständen  verschieden sind; auch ein völlig beziehungsloses "angenehm" ist von der Lust an ihm verschieden, und schon in einem einzigen Fall. In einem einzigen einfachen Fall einer Lust am Angenehmen - nicht erst in einer Folge von Fällen - vermögen wir die Lust und das Angenehmsein zu scheiden. Es wäre auch wohl schwer zu sagen, worin sich  Güter  von den  Werten  noch unterscheiden sollten, wenn bereits die Werte Analoga zu den "Dingen" darstellen sollen, wie z. B. CORNELIUS annimmt. (8) Sind sie dann Dinge zweiten Grades? Und was bedeutet das?

Und andererseits ist gegen diese Auffassung zu sagen: so wenig uns in der Wahrnehmung der natürlichen Weltanschauung "zunächst" Inhalten von Empfindungen "gegeben" sind, sondern vielmehr Dinge, diese "Inhalte" aber nur so weit und sofern, als sie das Ding als solches als Träger dieser Bedeutung und in den besonderen Erscheinungsweisen, die zur Struktur der  dinglichen  Einheit wesensnotwendig gehören, kenntlich machen, so wenig ist uns in der natürlichen Werterfahrung "zunächst" die pure Wertqualität gegeben, sondern diese auch nur sofern und soweit, als sie das  Gut  als ein Gut dieser bestimmten Art kenntlich macht un in den besonderen Nuancen, die zur Struktur des Gutes als eines Ganzen gehören. Ein jedes "Gut" stellt bereits eine kleine "Hierarchie" (9) von Werten dar; und die Wertqualitäten, die in es eingehen, sind unbeschaet ihrer qualitativen Identität in ihrem fühlbaren Sosein noch verschieden gefärbt. So durchläuft ein Kunstwerk z. B. - unbeschadet seiner objektiven Identität als dieses "Gut" - mit den wechselnden Vorzugsregeln zwischen den ästhetischen Elementarwerten - ganz verschiedene "Auffassungen" in der Geschichte und ganz verschiedene  Wertaspekte  bietet es den verschiedenen Epochen dar; gleichwohl sind diese Wertaspekte durch seine konkrete Natur als dieses Gut und den inneren Aufbau seiner Werte immer mitbedingt. Man kann sie niemals in eine bloße "Summe" einfacher Wertqualitäten aufteilen. Daß diese "Aspekte" - dieser Anfühlbarkeitsgehalt seiner Werte aber bloßer "Aspekt" oder so gearteter "Gehalt" ist, das  hebt  sich erst heraus, wenn wir in einem besonderen Akt unser fühlendes Verhalten zu ihm beachten und  darauf  hinblicken, was uns in  ihm  aus seiner Wertganzheit "gegeben" ist; im schärferen Maß aber erst, wenn wir im  Wechsel  der Aspekte und solcher Gehalte die unmittelbare Identifizierung des in ihnen erfaßten Gutes erleben; so z. B., wenn wir die Güterwelt des klassischen Altertums in ihrem historisch so verschiedenen "Wertaspekten" uns klar machen.

Das  Gut  verhält sich zur  Wert qualität so, wie sich das Ding zu den Qualitäten verhält, die seine "Eigenschaften" erfüllen. Damit ist schon gesagt, daß wir zwischen Gütern d. h.  "Wertdingen"  und bloßen Werten, die Dinge "haben", die Dingen "zukommen" d. h.  "Dingwerten",  unterscheiden müssen. Die Güter sind nicht etwa fundiert auf die Dinge, so daß Etwas zunächst Ding sein müßte, um "Gut" sein zu können. Vielmehr stellt das Gut eine "dinghafte" Einheit von Wertqualitäten, bzw. Wertverhalten dar, die in einem bestimmten Grundwert fundiert ist. Die  Dinghaftigkeit,  nicht aber "das" Ding ist im Gut gegenwärtig. (So ist, handelt es sich um ein "materielles" Gut, in ihm wohl das Phänomen der  Materialität,  nicht aber die Materie gegenwärtig.) Ein natürliches Ding der Wahrnehmung mag Träger irgendwelcher Werte sein und insofern ein wertvolles Ding; sofern aber seine Einheit als "Ding" nicht selbst durch die Einheit einer Wertqualität konstituiert ist, sondern sich der Wert nur  zufällig  an ihm findet, ist es noch kein "Gut". Es mag in disem Fall eine "Sache" heißen, ein Wort, mit dem wir Dinge bezeichnen, sofern sie Gegenstände einer in einem Wert fundierten erlebten Beziehung auf ein Verfügenkönnen durch eine Willensmacht sind. So setzt der Begriff des Eigentums weder bloße Dinge noch schon Güter, sondern "Sachen" voraus. Das  Gut  hingegen ist ein  Wertding. 

Die Verschiedenheit der Ding- und der Gütereinheiten tritt darin scharf hervor, daß z. B. ein Gut zerstörbar ist, ohne daß das Ding mit zerstört wird, das denselben realen Gegenstand darstellt, z. B. ein Kunstwerk (Bild), dessen Farben verbleichen. Auch kann ein Ding geteilt werden, während derselbe reale Gegenstand als "Gut" hierdurch nicht geteilt, sondern vernichtet wird oder aber auch hierdurch nicht tangiert wird - wenn die Teilung für seinen Gutscharakter Unwesentliches trifft. So ist auch die Veränderung der Güter nicht identischen mit der Veränderung derselben realen Gegenstände als Dinge und umgekehrt.

Erst in den Gütern werden Werte "wirklich". Sie sind es noch nicht in wertvollen Dingen. Im Gut aber ist der Wert  objektiv  (was er immer ist)  und wirklich  zugleich. Mit jedem neuen Gut erfolgt ein  wahres  Wertwachstum der wirklichen Welt. Wertqualitäten sind hiergegen "ideale Objekte", wie auch die Farben und Tonqualitäten solche sind.

Es ist also das Gesagte auch so auszudrücken: Güter und Dinge sind von  gleicher Ursprünglichkeit  der Gegebenheit. Mit diesem Satz weisen wir ein Doppeltes zurück. Einmal jeden Versuch, das Wesen des Dinges selbst, die Dinghaftigkeit auf einen Wert, alle  Dingeinheiten  aber auf  Gütereinheiten  zurückzuführen. Ein solcher Versuch ist überall da gemacht worden, wo man die Dingeinheit auf eine Einheit einer bloß "ökonomischen" Zusammenfassung von Inhalten der Empfindung (ERNST MACH) oder auf die Einheit einer "Brauchbarkeit", "Beherrschbarkeit" und dgl. zurückführte (z. B. HENRI BERGSON) oder auch, wo man das Ding als eine bloße "Forderung" nach Anerkennung (mit oder ohne einen eingefühlten Gefühlsgehalt) auffassen zu dürfen meinte. Nach diesen Theorien wäre alle bloße Materie der Anschauung - unabhängig von  Werten  bestimmter Art - überhaupt noch nicht  dinglich  gestaltet und würde es erst durch Zusammenfassungen, die bereits durch Werte geleitet sind. Das  Ding  wäre selbst eine bloße  Werteinheit.  Hier ist aber - anderer Irrungen nicht zu gedenken - offensichtlich verwechselt, was zu den  besonderen Einheits bildungen der Dinge in der natürlichen Weltanschauung führt, mit dem  Wesen  dieser Einheitsform: der Dingheit. Für das Verständlichmachen der ersteren können allerdings die Werte herangezogen werden. Niemals aber für die letztere.

Vom Standpunkt der Ursprünglichkeit der Genese aus gesehen scheint uns vielmehr die Sache so zu liegen, daß in der natürlichen Weltanschauung die realen Gegenstände "zunächst" weder als pure Dinge  noch  als pure Güter gegeben sind, sondern als "Sachen", d. h. als Dinge, soweit und sofern sie wertvoll sind (und zwar wesentlich nützlich sind); daß aber von dieser Mitte - gleichsam - aus dann die Zusammenfassungen zu puren Dingen (mit geflissentlichem  Absehen  von allen Werten) und zu puren Gütern (mit geflissentlichem Absehen von aller bloßen Dingnatur begänne. (10)

Aber ebenso ist durch das Gesagt zurückgewiesen, die "Güter" als bloße "wertvolle Dinge" anzusehen. Denn eben das ist für die Güter wesentlich, daß hier der Wert nicht auf das Ding nur aufgebaut erscheint, sondern daß sie gleichsam völlig  durchdrungen  sind von Wert und daß die Einheit eine  Wertes  bereits die Zusammengefaßtheit aller anderen im Gut vorfindlichen Qualitäten - sowohl der übrigen Wertqualitäten  als  derjenigen Qualitäten, die keine solche darstellen, Farben, Formen z. B., wo es sich um materielle Güter handelt -  leitet.  Die Gütereinheit ist fundiert auf einen bestimmten Wert, der im Gut gleichsam die "Stelle" der Dinghaftigkeit ausfüllt (nicht etwa "vertritt"). Es könnten darum in einer Welt der  gleichen Qualitäten  die  Dinge  ganz anders sein, als sie sind, und doch die  Güterwelt  dieselbe. Niemals und auf keinem Gebiet von Gütern ist daher die natürliche Dingwelt für die Gestaltung der Güterwelt irgendwie bestimmend oder auch nur beschränkend. Die Welt ist so ursprünglich ein "Gut", wie sie ein "Ding" ist. Auch alle Entwicklung der Güterwelt ist niemals eine bloße Fortsetzung der Entwicklung der natürlichen Dinge; oder durch deren "Entwicklungsrichtung" bestimmt.

Dagegen ist jede Bildung einer  Güterwelt  - wie immer sie erfolge - durch irgendeine  Rangordnung der Werte  bereits  geleitet,  wie z. B. die Bildung der Kunst einer bestimmten Epoche. Sowohl in der Rangordnung der Güter untereinander, als in jedem einzelnen Gut spiegelt sich insofern die  herrschende  Rangordnung. Diese Rangordnung der Werte bestimmt zwar durchaus nicht  eindeutig  die betreffende Güterwelt. Aber sie steckt ihr einen  Spielraum des Möglichen  ab, außerhalb dessen eine Bildung von Gütern nicht erfolgen kann. Sie ist insofern der betreffenden Güterwelt gegenüber  a priori.  Welche Güter  faktisch  gebildet werden, das hängt von der hierfür aufgewandten Energie, von den Fähigkeiten der Menschen, die sie bilden, von "Material" (11) und "Technik" und von tausend Zufällen ab. Aber niemals läßt sich aus diesen Faktoren allein -  ohne  Zuhilfenahme jener anerkannten Rangordnung der Werte als Qualitäten und einer abzielenden Tätigkeit auf sie - die Bildung der Güterwelt verständlich machen. Die vorhandenen Güter stehen bereits unter der  Herrschaft  dieser Rangordnung. Sie ist nicht von ihnen abstrahiert oder eine Folge ihrer. Gleichwohl ist diese Rangordnung der Werte eine  materiale  Rangordnung, eine Ordnung der Wert qualitäten.  Sofern sie nicht die absolute Rangordnung ist, sondern nur eine "herrschende", stellt sie sich in denjenigen Vorzugsregeln zwischen den Wertqualitäten dar, welche die Epoche beseelen. Systeme solcher nennen wir in der Sphäre der ästhetischen Werte einen "Stil", in der Sphäre der praktischen eine "Moral" (12). Auch diese Systeme zeigen wieder eine Entfaltung und eine Entwicklung. Aber diese Entwicklung ist von der Entwicklung der Güterwelt selbst  völlig  verschieden und unabhängig von ihr variabel.

Aus dem Gesagten geht klar hervor, worauf es uns hier ankommt: einmal der von KANT richtig und treffend hervorgehobene (hier verallgemeinerte) Satz:  "Daß keine philosophische Wertlehre  (sei sie Ethik oder Ästhetik usw.)  Güter und noch weniger Dinge voraussetzen darf".  Aber es geht auch klar hervor, daß es sehr wohl möglich ist, eine  materiale  Wertreihe und eine Ordnung in ihr aufzufinden, die von der Güterwelt und ihren wechselnden Gestaltungen  völlig  unabhängig und ihr gegenüber  a priori  ist; daß mithin der Schluß von der ersten großen Einsicht KANTs auf den Satz, es gebe hinsichtlich nichtsittlicher (und nichtästhetischer) Werte überhaupt keinen von "Erfahrung" (im Sinne der Induktion)  unabhängigen  Gehalt ihres  Wesens  und ihrer Rangordnung, für sittliche und ästhetische aber nur eine  formale  Gesetzmäßigkeit, die von  allen  Werten als materialen Qualitäten absehe, ein völlig irriger ist.


2. Das Verhältnis der Werte "gut" und "böse"
zu den übrigen Werten und zu den Gütern.

Daß auch der von KANT gemachte Versuch, die Bedeutungen der Wertworte "gut" und "böse" auf das  zurückzuführen,  was Inhalt eines Sollens ist (sei es eines idealen Sollens, des "Sollseins", sei es eines imperativischen Sollens, des "Seinsollens") oder zu zeigen, daß es ohne ein Sollen ein "gut" und "böse" gar nicht gäbe, verfehlt ist; daß es ebensowenig angeht, diese Werte auf die bloße "Gesetzmäßigkeit" eines Aktes (des Wollens), schärfer auf die Übereinstimmung des Vollzuges mit einem Gesetz, d. h. auf das "Rechte" zurückzuführen,  das  soll später eingehend gezeigt werden. (13)

Hier ist die Frage, welche Besonderheit die Werte "gut" und "böse" gegenüber den übrigen Werten haben und wie sie mit diesen wesenhaft verknüpft sind.

Mit Recht scheidet KANT scharf das "gut" und "böse" von allen übrigen Werten und erst recht von den Gütern und Übeln. Er sagt: "Die deutsche Sprache hat das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Wort benennen können, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe und auch ebenso verschiedene Ausdrücke. Für bonum das Gute und das Wohl, für malum das Böse und das Übel." "Das Gute oder Böse aber bedeutet jederzeit eine "Beziehung auf den Willen, sofern dieser durch das Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekt zu machen." (Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, 1. Buch, II. Hauptstück)

Aber weder gilt sein Versuch, die  Wert natur von "gut" und "böse" ganz zu leugnen, um sie durch "gesetzmäßig" und "gesetzwidrig" zu ersetzen, noch gilt jene vollständige Beziehungslosigkeit, in die KANT das Gute und Böse zu den  übrigen  Werten bringt. Freilich: wären Werte nur die  Folge von Wirkungen der Dinge  auf unsere sinnlichen Gefühlszustände, so könnten auch "gut" und "böse"  keine  Werte sein; und noch weniger könnte das Recht, etwas "gut" und "böse" zu nennen, von seinem Verhältnis zu den übrigen Werten bedingt sein. Für Vernunftwesen, für Gott, gäbe es dann überhaupt keine "Werte", da diese eben ganz vom Dasein eines  sinnlich  fühlenden Wesens abhängig wären; natürlich auch keine "höheren" und "niedrigeren" Werte. Auch müßte man - wollte man nicht in die Behauptung verfallen, "gut" und "böse" seien bloße technische Werte zum Wert des sinnlich Angenehmen - dann allerdings auch sagen: daß ein Wollen diesen oder jenen materialen Wert, sei es ein positiver, sei es ein negativer, zu realisieren tendeirt,  das  kann es niemals sittlich gut oder sittlich schlecht machen. Das Gutsein oder Bösesein wäre völlig unabhängig von aller materialen Wertrealisierung. Das ist in der Tat die Behauptung KANTs. Ob wir Edles oder Gemeines, ob Wohl oder Leid, ob Nutzen oder Schaden zu realisieren suchen, das ist für das Gut- oder Bösesein des Wollens  ganz  gleichgültig; denn die Bedeutung der Worte "gut" und "böse" erschöpfe sich vollständig in der  gesetzmäßigen  oder  gesetzwidrigen Form,  nach der wir die Setzung einer Wertmaterie der anderen angliedern.

Lassen wir die Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung, die vergißt, daß die Zwecke des Teufels nicht minder "systematisch" sind wie die Zwecke Gottes, zunächst beiseite. Dann ist es ein  erster  Irrtum KANTs, zu leugnen, es seien "gut" und "böse" materiale Werte. Es sind aber - sucht man nicht zu konstruieren -  klar fühlbare  materiale Werte eigener Art. Definierbar ist natürlich hier nichts, wie bei allen letzten Wertphänomenen. Wir können hier nur auffordern, genau hinzusehen, was wir im Fühlen eines Bösen und Guten unmittelbar erleben. (14) Wohl aber können wir nach den Bedingungen des Erscheinens dieser letzten materialen Werte fragen, desgleichen nach ihren wesensnotwendigen Trägern und ihrem Rang; auch nach der Eigenart der Reaktion bei ihrer Gegebenheit.

Stellen wir diese Frage zur Untersuchung.

Dann ist es sicher richtig, wenn KANT sagt, daß die Realisierung eines bestimmten materialen Wertes niemals ansich gut oder böse ist. Gäbe es unter den materialen Werten keine  Rangordnung,  die in ihrem  Wesen  selbst gegründet ist - nicht in den  Dingen,  die sie zufällig tragen -, so müßte es dabei bleiben.  Es gibt  aber eben eine solche. besteht sie, so erscheint uns sehr klar, welche Beziehung "gut" und "böse" zu den übrigen Werten überhaupt hat. Der Wert "gut" - im absoluten Sinn - ist dann derjenige Wert, der wesensgesetzmäßig am  Akt  der  Realisierung  desjenigen Wertes erscheint, der (für die Erkenntnisstufe des ihn realisierenden Wesens) der höchste ist; der Wert "böse" aber derjenige, der am Akt der Realisierung des niedrigsten erscheint. Relativ gut und böse aber ist der Wert, der am Akt erscheint, der auf die Realisierung eines - vom jeweiligen Wertausgangspunkt angesehen -  höheren  Wertes gerichtet ist. Das heißt aber, da uns das Höhersein eines Wertes im Akt des "Vorziehens" (15) gegeben ist - das Niedrigsein im Akt des "Nachsetzens" -: Sittlich gut ist der wertrealisierende Akt, der seiner intendierten Wertmaterie nach mit dem Wert übereinstimmt, der "vorgezogen" ist und dem widerstreitet, der "nachgesetzt" ist; böse aber ist der Akt, der seiner intendierten Wertmaterie anch dem vorgezogenen Wert widerstreitet und mit dem nachgesetzten Wert übereinstimmt. In dieser Übereinstimmung und diesem Widerstreit  besteht  nicht etwa "gut" und "böse"; wohl aber sind sie wesensnotwendige Kriterien für ihr Sein.

Der Wert "gut" ist aber in zweiter Linie derjenige Wert, der am realisierenden Akt haftet, der innerhalb der höheren (bzw. höchsten) Wertstufe den  positiven  Wert, im Unterschied vom  negativen  Wert, realisiert; der Wert "böse", der an dem den negativen Wert realisierenden Akt haftet. (16)

Der Zusammenhang des "gut" und "böse" mit den übrigen Werten, den KANT leugnet,  besteht  also; und damit auch die Möglichkeit einer materialen Ethik, die aufgrund der Rangordnung der übrigen Werte zu bestimmen vermag, welche Art von Wertrealisierung "gut" und "böse" sind. Für jede materiale Wertsphäre, über welche die Erkenntnis eines Wesens verfügt, gibt es eine ganz bestimmte  materiale  Ethik, in der die sachentsprechenden Vorzugsgesetze zwischen den materialen Werten aufzuweisen sind.

Sie ist von folgenden Axiomen getragen:
    I. 1. Die Existenz eines positiven Wertes ist selbst ein positiver Wert.
    2. Die Nichtexistenz eines positiven Wertes ist selbst ein negativer Wert.
    3. Die Existenz eines negativen Wertes ist selbst ein negativer Wert.
    4. Die Nichtexistenz eines negativen Wertes ist selbst ein positiver Wert.

    II. 1. Gut ist der Wert in der Sphäre des Wollens, der an der Realisierung eines positiven Wertes haftet.
    2. Böse ist der Wert in der Sphäre des Wollens, der an der Realisierung eines negatien Wertes haftet.
    3. Gut ist der Wert, der in der Sphäre des Wollens an der Realisierung eines höheren (höchsten) Wertes haftet.

    III. Das Kriterium für "gut" und "böse" besteht in dieser Sphäre in der Übereinstimmung des in der Realisierung intendierten Wertes mit dem Vorzugswert, bzw. im Widerstreit mit dem Nachsetzungswert.
In einem Punkt aber behält KANT recht. Wesensgesetzmäßig ausgeschlossen ist es, daß die Wertmaterien "gut" und "böse" selbst Materien des realisierenden Aktes ("Wollen") werden. Wer z. B. seinem Nächsten nicht wohltun will - so daß es ihm auf die Realisierung dieses Wohles ankommt -, sondern nur die Gelegenheit ergreift, in diesem Akt selbst "gut zu sein" oder "Gutes zu tun", der  ist  nicht oder  tut  nicht wahrhaft "gut", sondern ist in Wahrheit eine Spielart des Pharisäers, der vor sich selbst nur "gut"  erscheinen  will. Der Wert "gut" erscheint, indem wir den (im Vorziehen gegebenen) höheren positiven Wert realisieren; er erscheint  am  Willensakt. Eben darum kann er  nie  die Materie dieses Willensaktes sein. Er befindet sich gleichsam "auf dem Rücken" dieses Aktes und zwar wesensnotwendig; er kann daher nie  in  diesem Akt intendiert sein. Sofern KANT auf der einen Seite leugnet, es gäbe ein materiales Gutes, das auch  Materie  des Wollens sein könne, behält er recht; solche Materie ist stets und notwendig ein  nicht sittlicher Wert. Sofern er aber andererseits das "gut" durch den Begriff der Pflicht und des Pflichtgemäßen decken will und dann gleichwohl noch sagt, man müsse, um gut zu sein, das "Gute" um seiner selbst willen tun, also auch die Pflicht "aus Pflicht", verfällt er selbst in diesem Pharisäismus. KANT meint einen Beweis seiner Behauptung, es sei gut und böse kein materialer Wert, auch darin zu sehen, daß diese Werte doch von Gütern und Übeln völlig verschieden seien. Scheidet man aber die Wertqualitäten von den Gütern und Übeln - wie wir es taten -, so entfällt dieser Beweis. Gut und Böse sind materiale Werte; aber sie sind - wie KANT richtig sagt - von allen Wert dingen  wesentlich geschieden. Nur in den nichtsittlichen Wertqualitäten, durch sie hindurch, hängen gut und böse und Güter und Übel noch zusammen; in ihnen aber auch faktisch. Alles "gut" und "böse" ist notwendig an Akte der Realisierung gebunden, die auf (mögliche) Vorzugsakte hin erfolgen. Es ist aber nicht notwendig an den  Wahlakt  selbst gebunden - als könne das Wollen nicht ohne stattfindende "Wahl" gut oder böse sein, d. h. ohne daß sich auf mehr als eine der in einer Mehrheit gegebenen fühlbaren Materien Strebensakte richten. Im Gegenteil ist gerade das  reinste  und  unmittelbarste  Gute und auch das reinste Böse im Akt  des  Wollens gegeben, der sich ganz unmittelbar  ohne  vorangängige "Wahl" auf den Vorzug hin einstellt. Auch wo Wahl stattfindet, kann das Phänomen des "Anderswollenkönnens" allein, ohne ein Wählen selbst, da sein. Der  wahllos  erfolgende  Willensakt  ist also durchaus kein bloßer Triebimpuls (der nur da stattfindet, wo das Vorziehen fehlt). Ein einen Wert realisierender  Akt  ist aber - welches Wesen immer ihn vollzieht - niemals ein Wert ding.  Insofern schließen sich "gut" und "böse" und Wert dinge  schlechthin aus.

Entschieden zurückzuweisen ist aber die Behauptung KANTs, gut und böse hafte  ursprünglich  nur an den Akten des Willens. Was vielmehr allein  ursprünglich  "gut" und "böse" vor und unabhängig von allen einzelnen Akten trägt, das ist die "Person", das  Sein  der Person selbst, so daß wir vom Standpunkt der Träger aus geradezu definieren können:  "Gut" und "Böse" sind Personwerte.  Es ist einerseits klar, daß jede Rückführung des "gut" und "böse" auf die Erfüllung einer bloßen Gesetzmäßigkeit des Sollens diese Einsicht  sofort  unmöglich macht. Denn es hat keinen Sinn zu sagen, das Sein der Person sei "Erfüllung einer Gesetzmäßigkeit", sei "normgemäß", sei "richtig" oder "unrichtig". Wenn KANT den Willensakt als den  ursprünglichen  Träger des gut und böse ansieht, so ist dies auch eine  Folge  davon, daß er gut und böse nicht als materiale Werte gelten läßt und sie außerdem auf die  Gesetzmäßigkeit  eines Aktes (bzw. Gesetzwidrigkeit) zurückzuführen sucht. Person ist ihm ein Wesen  X  erst  dadurch,  daß es Vollzieher einer selbst unpersönlichen Vernunfttätigkeit ist, an erster Stelle der praktischen. Der Wert der Person bestimmt sich ihm daher erst nach dem Wert ihres Willens, nicht dieser nach dem Wert der Person. (17)

In zweiter Linie aber sind Träger der spezifisch sittlichen Werte auch noch nicht einzelne konkrete  Akte  der Person, sondern die  Richtungen  ihres sittlichen "Könnens": des Könnens im Hinblick auf das Realisierenkönnen der durch die letzten Wertqualitätenarten differenzierten  Gebiete  des idealen Sollens, die als mit dem sittlichen Wert behaftet gedacht, "Tugenden" und "Laster" heißen. (18) Dieses "Können" aber (das mit allen bloß dispositionellen "Anlagen" nichts zu tun hat,  für  dessen spezifische Richtungen es aber auch wieder "Dispositionen" und "Anlagen", "Könnensanlagen" gibt) geht  aller  Idee der Pflicht  voran  als eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Was nicht in der Spannweite des "Könnens" eines Wesens liegt, das kann zwar als Forderung des  idealen  Sollens noch an es ergehen; es kann aber niemals "Imperativ" für es sein und seine "Pflicht" heißen. (19)

Erst in  dritter  Linie sind Träger des "gut" und "böse" die  Akte  einer Person, darunter auch die Akte des Wollens und Handelns. Vom Handeln als einem besonderen Träger der sittlichen Werte wird später die Rede sein. Hier sei nur hervorgehoben, daß es wieder eine durch nichts begründete Einseitigkeit der Kantischen Konstruktion ist, wenn er unter den Akten die  Willens akte allein nennt. Es gibt eine Fülle von Akten, die durchaus keine Willensakte sind, aber gleichwohl Träger sittlicher Werte. Solche sind z. B. das Verzeihen, das Befehlen, das Gehorchen, das Versprechen und noch viele andere.

Mit dem Gesagten ist der Wesensunterschied von "gut" und "böse" von allen materialen Werten, die in Gütern und Übeln liegen können, aufs schärfste abgetrennt. Denn die  Person  ist weder selbst ein Ding, noch trägt sie das Wesen der Dinghaftigkeit in sich, wie dies allen Wertdingen wesentlich ist. Als die konkrete Einheit aller nur möglichen Akte steht sie der ganzen Sphäre möglicher "Gegenstände" (seien sie Gegenstände der inneren oder der äußeren Wahrnehmung, d. h. seien sie psychische oder physische)  gegenüber:  erst recht also der gesamten  dinghaften  Sphäre, die ein Teil jener ist. Sie existiert nur im Vollzug ihrer Akte. (20)

Aus dem Gesagten ist zu ersehen, wie völlig unbegründet die Alternative ist, die KANT bezüglich der Bedeutung der Worte "gut" und "böse" annehmen zu dürfen meint. "Wenn der Begriff des Guten nicht von einem vorhergehenden praktischen Gesetze abgeleitet werden, sondern diesem vielmehr zum Grund dienen soll, so  kann  er nur der Begriff von etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Kausalität des Subjekts zur Hervorbringung desselben, d. h. das Begehrungsvermögen bestimmt. Weil es nun unmöglich ist, a priori einzusehen, welche Vorstellung mit Lust, welche hingegen mit Unlust werde begleitet sein, so käme es lediglich auf  Erfahrung  an, es auszumachen, was unmittelbar gut oder böse sei." (1. Teil, I. Buch, II. Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft)

Nur die ganz unbegründete Voraussetzung, es gingen alle  materialen  Werte auf  Kausalbeziehungen der Dinge auf unsere  (wie das Folgende lehrt) noch dazu  sinnlichen Gefühlszustände  zurück, macht die Ansetzung dieser Alternative möglich. Erst diese Voraussetzung ist es, die ihn zu jenem "Paradox der Methode" führt: "daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetz (dem er dem Anschein nach sogar zugrunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse."


3. Zwecke und Werte

Ich sagte: auch  darin  besteht ein zweifelloses Verdienst der Ethik KANTs, daß KANT jede Form der Ethik zurückweist, welche die Werte gut und böse als Bestimmungen gewisser Zwecke ansieht oder doch im Verhältnis einer Person, einer Handlung, eines Wollens zur irgendeinem  Zweck  oder  "Endzwecke"  die konstituierende Bedingung für deren sinnvolle Anwendung sieht. Wären die materialen Werte erst aus irgendwelchen Zweckinhalten herauszuschälen oder gar etwas nur wertvoll, sofern es sich als  Mittel  zu irgendeinem Zweck auffassen läßt, so würde auch jeder Versuch einer materialen Wertethik  von vornherein  verwerflich. Dies schon aus dem einen Grund, weil dieser Zweck (z. B. Wohlfahrt der Gemeinschaft)  selbst  keinerlei "sittlichen Wert" mehr beanspruchen könnte, da ja dieser erst durch den  Hinblick  auf ihn  entspringen  und sein Sinn allein  darin  gegründet würde, ein Mittel zu bezeichnen, das diesem Zweck dient. Ob aber KANT auch darin recht hat, daß alle materialen Werte nur in der Beziehung auf ein zwecksetzendes Wollen existieren, das kann nur eine genaue Analyse über das Verhältnis des Zweckbegriffs zum Begriff des Wertes lehren. (siehe besonders Kritik der praktischen Vernunft Teil 1, Buch II, Haupstück I.)


Streben, Wert und Ziel

Wo wir von "Zweck" sprechen, da ist weder notwendig ein Hinblick auf ein Streben (21) gegeben, noch kann überall, wo Streben (in irgendeiner Form) vorliegt, von Zwecken die Rede sein. "Zweck" ist im formalsten Sinn nur irgendein "Inhalt" - eines möglichen Denkens, Vorstellens, Wahrnehmens -, der als  zu realisierend  gegeben ist, gleichgültig durch was, durch wen usw. Was immer zu dieser Realisierung oder besser zur Realität des Inhaltes des Zwecks im logischen Verhältnis einer Bedingung bzw. eines Grundes zu ihm als Folge steht, das ist im formalen Sinn "Mittel" für den "Zweck". Weder eine  zeitliche  Verschiedenheit von Mittel und Zweck, noch gar, daß dieses Realisierende ein "Streben", "Wollen", kurz überhaupt etwas "Geistiges" sei, liegt in der  Natur  dieses Verhältnisses. Auch keinerlei Hinblick auf eine bstimmte Zwecktätigkeit ist eingeschlossen, wo wir einer Sache einen "Zweck" zuschreiben oder Bestandteile ihrer als "zweckmäßig" für ihren Zweck bestimmen. Nur das ist allerdings wesentlich für den Zweck, daß der betreffende Inhalt zur Sphäre der (ideellen oder anschaulichen)  Bildinhalte  gehört (im Unterschied von bildlosen "Werten") und daß er als "zu realisierend" gegeben ist. Das heißt nicht etwa, daß er nicht  zugleich  real sein könnte. Die Beziehung auf die Zukunft ist dem Zweck nicht wesentlich. Auch ein reales Gebilde kann diesen und jenen Zweck "haben" (der wieder in ihm selbst oder außer ihm gelegen sein kann). Aber gleichwohl muß jener Inhalt in der  Gegebenheitsweise  eines Ideal-sein-sollenden vor Augen stehen, sofern er Inhalt eines "Zweckes" sein soll. Dieses "zu" realisierend steht also nicht im Gegensatz zum  Realisierten;  sondern nur zu allen Inhalten, die außerhalb er gesamten Sphäre des Seinsollens und Nichtseinsollens  nur  als seiende oder nichtseiende Gegenstände überhaupt betrachtet werden. Das "Seinsollen von etwas" bzw. das "Nichtseinsollen von etwas", d. h. ein Seinsollensverhalt ist also fundierend für jede Anwendung des Zweckbegriffs.

Die oft gehörte Behauptung, der Begriff des Zweckes werde ursprünglich nur in der Sphäre des "Psychischen" oder gar des "menschlichen Willenslebens" anschaulich erfüllt und es sei nur eine "anthropomorphe Analogie", ihn auch  außerhalb  dieser beiden Sphären anzuwenden, entbehrt  jedes  Grundes. Auch wenn es eine Sphäre innerer Wahrnehmung mit psychischen Gegenständen gar nicht gäbe, könnte von Zwecken sinnvoll gesprochen werden. Dies ist übrigens auch KANTs richtige Meinung. Er bestimmt das Zweckmäßige in formalstem Sinne als "alles, dessen Idee den Grund seiner Realität bildet". Auch hierin steckt nichts von jenen falschen Beschränkungen seines Erscheinens. Doch liegt hierin bereits ein Hinblick auf die Kausalität des Zweckhaften, die nicht in seinem Wesen liegt. Auch da, wo wir es als ausgeschlossen wissen, daß die "Idee der Grund der Realität" ist, können wir sinnvoll von "Zwecken" reden.

Wo immer wir nun von  Willenszwecken  (oder wo von menschlichen Willenszwecken) reden, da haben wir durchaus nur eine besondere  Anwendung  der Idee des Zwecks vor uns; nicht aber ihr ursprünglichstes und alleiniges Daseins- und Erscheinungsgebiet.  Was  das, als zu realisierend, weil als (ideal)seinsollend Gegebene zu realisieren tendiert, das ist hier eben das  Wollen,  der Mensch usw. Reden wir davon, daß "der Wille sich Zwecke setzt", daß "wir uns diesen Zweck setzen" - und in analoger Weise -, so betrifft jenes "Setzen" niemals die Zweck natur  im betreffenden Zweck, sondern immer nur dies, daß dieser  bestimmte Inhalt  im Unterschied zu anderen der  durch uns  zu realisierende Zweck wird.

Dies wird klar, wenn wir die Tatsache beachten, daß es nur und ausschließlich eine ganz bestimmte  Stufe  unseres Strebenslebens ist, auf dem der Zweck zur Erscheinung kommt.

Nicht in  allem  Streben ist ein Zweck und ein Zweckinhalt gegeben.

Von Zwecken ist zunächst überall da keine Rede, wo das Phänomen vorliert, daß "Etwas in uns aufstrebt". Wir erleben hier die Strebensbewegung in einem Fall ganz schlicht, ohne noch ein "Weg von einem Zustand" und ein "Hin zu etwas" mitzuerleben; so z. B. im Falle eines puren "Bewegungsdranges", in dem uns auch das Bewegen in keinem Sinn zu einem "Ziel", zu einem  "Ers trebten" wird; noch weniger ein Ziel der Bewegung selbst gegeben ist. Es ist - sage ich - hierbei auch nicht nötig, daß der Ausgangszustand zuerst als irgendwie "unlustvoll" oder "unbefriedigend" erfaßt ist oder auch nur als irgendwie gesonderter erlebt ist, damit es zu diesem auf unser Ich  hin gerichteten (nicht von ihm ausgehenden) "Aufstreben" komme. Es gibt einen Typus von Fällen, wo uns erst jene beginnende Unruhe des Aufstrebens bestimmt, auf unseren Zustand, sekundär seine objektiven Bedingungen, z. B. die dumpfe Lust oder die beginnende Dunkelheit eines Zimmers, hinzublicken und jenen Zustand und seine unlustvolle Natur bemerken läßt. Eine zweite Form, die bereits nach ihrem Ausgangspunkt hin schärfer bestimmt ist, ist ein Streben, das von vornherein durch ein "weg von" einem bestimmten als solchen erfaßten Zustand charakterisiert ist; nennen wir es das "Weg-" oder "Fortstreben", das aber von einem "Widerstreben" gegen jenen Zustand, in dem dieser schon als Objekt des "Wider" gegeben ist, deutlich unterschieden ist. Auch dieses "Weg-" und "Fortstreben" hat in seiner Anfangsbewegung noch keinerlei "Zielbestimmtheit". Es "findet" gleichsam nur eine "unterwegs" - ohne ursprünglich darauf gerichtet zu sein. Ein ganz neuer Typus ist da gegeben, wo das Streben - obzwar gleichfalls nicht vom Ich ausgehend, sondern  an  es herankommend - von vornherein eine deutliche  "Richtung"  aufweist; und zwar weder einen "Bildinhalt" (sei er bedeutungsmäßiger, sei er anschaulicher Natur, wie "Nahrung" oder diese "wahrgenommene Frucht") noch eine Wertmaterie, z. B. ein eigentümlich nuanciertes Angenehmes, geschweige gar eine  Vorstellung  solcher Inhalte. In den Tatbeständen, die wir gerne in die impersonale Form kleiden: "Es hungert mich", "es dürstet mich", liegt der Fall ziemlich klar vor. Solche "Richtungen" kommen dem Streben ganz  ursprünglich  zu. Es ist also durchaus nicht so, daß alles Streben erst  durch  eine sogenannten Ziel-"Vorstellung" "Richtung" erhält; das Streben  selbst  hat innere  Richtungs unterschiede phänomenaler Natur; es ist nicht immer dasselbe Streben (eine gleichartige Bewegung), die sich erst durch die Mannigfaltigkeit der Vorstellungsinhalte zerlegte und differenzierte. Diese verbreitete Annahme ist eine völlig grundlose Konstruktion. Die Strebenserlebnisse dieses Typus sind vielmehr ganz unabhängig von solchen Vorstellungsinhalten durch ihre "Richtung" scharf bestimmt. Sie kommt uns scharf und klar zu  gesondertem  Bewußtsein, wo das Streben auf einen Wert hintrifft, der seiner Richtung entspricht oder ihm widerstreitet. Indem wir im ersten Fall die "Erfüllung" des Strebens, im zweiten den Widerstreit zu seiner "Richtung" erleben, hebt sich uns nun auch die "Richtung" scharf ab. Eine  Identität  der Gerichtetheit kann auch in einer Mehrheit gleichzeitiger oder sukzessiver Strebungserlebnisse vorliegen, die ganz verschieden  Bild inhalte besitzen.

Eine Richtung solcher Art ist eben nicht an erster Stelle eine Richtung auf einen besonderen  Bild-  oder  Bedeutungsinhalt,  sondern sie ist eine  Wertrichtung,  d. h. ein, in seiner besonderen unverwechselbaren Qualität erlebbares Gerichtetsein auf einen bestimmten Wert (der selbst darum  nicht  schon als eine fühlbare Wertqualität gegeben zu sein braucht). Erst in dieser Charakteristik nimmt das Streben die Färbung an, welche wir sprachlich als "Verlangen", als ein "Verlangen haben" oder auch als "Lust  auf  etwas haben" bezeichnen - ein Tatbestand, der von jedes "Lust  an  etwas", wo uns bereits ein bestimmter Gegenstand im  Bild inhalt vorschwebt, ganz verschieden ist. In der ruhenden Weise eines relativ dauernden, fühlbar dispositionellen Zustandes wird dieselbe Stufe auch ein "Aufgelegtsein zu etwas" genannt.

Zu diesem Typus stellen wir nun den davon unterschiedenen, wo der Begriff des  Zieles  seine Erfüllung findet.  Strebensziele  sind zunächst von  Willenszwecken  auf das klarste unterschieden. Das Ziel liegt im  Verlauf  der Strebung selbst; es ist nicht bedingt durch irgendeinen  Aktus des Vorstellens,  sondern es ist dem Streben selbst nicht anders "immanent", wie der "Inhalt" dem Vorstellen immanent ist. Wir finden das zielmäßige Streben auf sein Ziel hin gerichtet  vor,  ohne es durch das zentrale Wollen (oder Wünschen), das vom Ichzentrum herkommt, irgendwie zu  setzen.  Ein solches  zielmäßiges  Streben oder ein  "Erstreben"  kann selbst wieder als "zweckmäßig" oder "unzweckmäßig"  beurteilt  werden, wie das z. B. mit den instinktiven Strebungen geschieht. (22) Aber diese "Zweckmäßigkeit" ist dann eine  objektive  Zweckmäßigkeit, dieselbe, die auch das Organ eines Tieres haben kann für die Erhaltung der Gattung oder des Individuums. Nicht aber ist es darum ein "zwecktätiges" Geschehen.

In jedem "Ziel" aber ist die  Wertkomponente  von der  Bildkomponente  zu unterscheiden. Sie befinden sich im eigentümlichen Verhältnis, daß es erstens zur Bildkomponente entweder  gar nicht  oder in allen möglichen Graden der "Deutlichkeit" und der "Klarheit" kommen kann, während die Wertkomponente bereits  vollkommen  klar und deutlich im Streben gegeben ist. Sodann im Seinsverhältnis, daß die Bildkomponente stets  fundiert  ist auf die Wertkomponente, d. h. der Bildinhalt  nach Maßgabe  seiner möglichen Geeignetheit die Wertkomponente zu realisieren gesondert ist. Was das erste betrifft, so finden wir häufig genug die Tatsache, daß ein Streben, das bereits einen Wert "immanent" hat, überhaupt  nicht  zu eine Bildinhalt gelangt, da sein Fortgang und die Entfaltung seines Bildinhaltes durch den Eintritt einer anderen stärkeren Strebung gehemmt wird. So etwa spüren wir mitten in einem wichtigen Geschäft einen "Zug" nach einer bestimmten Richtung der Umwelt, der vielleicht vom Gesicht eines Menschen ausgeht; folgen ihm aber  nicht,  so daß es zu einem  Bildinhalt  des Erstrebten nicht kommt; oder die bereits nach einem deutlich fühlbaren Wert gehende "Richtung" "paßt nicht" in den zeitweiligen Aufbau, das "System" unserer Strebungen hinein; das Streben  fügt  sich nicht in den jeweiligen Zusammenhang der Strebungen und wird durch ein vom Wert dieses Zusammenhangs ausgelöstes "Widerstreben" "unterdrückt" und damit unfähig gemacht, seinen Bildinhalt zu entfalten. Dasselbe geschieht häufig, wo uns ein auf "solche" Werte gerichtetes Streben schon an dieser Stelle seiner Entfaltung als "unrecht" oder "schlecht" gegeben ist. Andererseits kann das Streben aufgrund seiner Wertkomponente bereits die "Zustimmung" durch unser zentrales Ich erhalten haben, während der Bildinhalt noch bedeutend schwankt oder die Bildinhalte wechseln. Wir erleben hier die "Bereitschaft", z. B. "Opfer zu bringen" oder gegen Menschen "wohlwollend" zu sein, ohne noch die  Objekte  im Auge zu haben, an denen wir dies tun wollen und ohne noch die  Inhalte  der Opfer und der wohlwollenden Handlungen zu besitzen. Die  Entschiedenheit  hinsichtlich des Wertes des Erstrebten und die  Unentschiedenheit  hinsichtlich des  Was  und  Woran  (im  bildhaften  Sinne) heben sich hier deutlich ab.

Sehen wir an dieser Stelle von einer noch schärferen Kasuistik der typischen Fälle, die hier vorliegen können, ab; dann bleibt die Frage,  wie  und auf  welche Weise  denn der Wert oder die Wertkomponente dem "Streben" immanent ist. Werte sind uns im  Fühlen  zunächst gegeben. (23) Muß nun das Fühlen dem Streben, das einen Wert so "immanent" hat, "zugrunde liegen", etwa so wie die Wahrnehmung dem Wahrnehmungsurteil "zugrunde liegt"? Müssen wir die Werte zunächst fühlen, die wir erstreben oder fühlen wir sie  im  "Erstreben" oder erst nachträglich, indem wir auf das Erstrebte reflektieren? Nun, wie es sich auch damit verhalte: Auf alle Fälle ist es hier  nicht so,  daß ein  zuständliches  Gefühl das Streben  bewirkt  oder daß ein solches Gefühl (z. B. Lust) das  Ziel  des Strebens bildet.

Es kommen freilich auch diese Fälle vor. Wo ein zuständliches Gefühl oder ein typischer mit Viszeralempfindungen [Eingeweide betreffend - wp] durchsetzter Ablauf solcher Zustände (ein sogenannter "Affekt"), z. B. ein Handeln bestimmt, da mag zweierlei vorkommen: Entweder es kommt hier überhaupt  nicht  zu einem  "Er streben", so daß sich der Affekt in eine Reihe ganz wertungerichteter Bewegungen umsetzt; der Fall eine rein impulsiven Handelns, der wohl kaum ganz rein in der Erfahrung liegt. Oder der Affekt führt irgendwelche Strebungen zur Auslösung; in diesem Fall sind diese aber durch den Affekt niemals  eindeutig  determiniert. Menschen in den gleichen Affektzuständen vermögen daher - je nach ihren Strebungsdispositionen - zu völlig verschiedenen Handlungen zu gelangen.

Ist dagegen ein Gefühl, z. B. die  Lust  an einer Speise, das  Ziel  eines Strebens, da vermag auch sie es nur zu sein vermöge des  Wertes  (oder Unwertes, z. B. aufgrund ihrer "Sündigkeit"), die sie für das Individuum hat. Sie ist dann nicht etwa der  unmittelbare  Zielinhalt, sondern ihr  Wert  ist dieser.

 Brechen  wir also ein für allemal mit der auch von KANT geteilten  Voraussetzung des Hedonismus,  der Mensch strebe "ursprüglich" nach "Lust" (oder gar noch nach Eigenlust)! Faktisch ist  kein  Streben dem Menschen ursprünglich  fremder  und keines ist  "später"  als dieses. Eine seltene (im Grunde pathologische) Verirrung und Perversion des Strebens (die wohl zuweilen auch zu einer  sozialpsychischen  Strömung geworden sein mag), in der alle Dinge, Güter, Menschen usw. nur als wertindifferente mögliche "Lusterreger"  gegeben  sind, mache man doch nicht zu einem "Grundgesetz" menschlichen Strebens! Aber sehen wir hier von diesem Irrtum ab. Auch da, wo die Lust zum  Ziel  des Strebens wird, erfolgt dies in der Intention, daß sie einen  Wert  oder ein  Unwert  sei. Darum ging auch der (echte) antike Hedonismus z. B. der des ARISTIPPOS durchaus  nicht  - wie bei vielen Modernen - von dem Satz aus, daß "Der Mensch nach Lust" strebt oder daß jedes Streben auf eine Lust  abziele;  auch nicht von dem irrigen Unternehmen, die Begriffe "Wert", "Gut", "das Gute" auf die  Lust  zurückzuführen in einem sei es genetischen, sei es begriffsklärenden Sinne; sondern von der ganz  entgegengesetzten  Ansicht, daß der "natürliche Mensch" nach bestimmten  Güterdingen  strebe, z. B. nach Besitz, nach Ehre, Ruhm usw., daß aber eben hierin die  "Torheit"  des "natürlichen Menschen bestehe; denn der höchste Wert - hier nicht vom "summum bonum" geschieden -  sei  eben die  Lust  an Besitz, Ehre, Ruhm usw.,  nicht  aber diese  Güter  selbst; und nur der "Weise", der diese Wert einsicht  habe, suche die natürliche Jllusion, die uns diese  Dinge  der  Lust an ihnen  vorziehen lasse, zu  verlernen  und sehe, da die Lust selbst der höchste "Wert" sei - ein Begriff, er hier  vorausgesetzt  wird,  nicht  aber abgeleitet von der Lust -, daß  nur  die Lust erstrebt werden solle. Diese Ethik ist  material  falsch; aber sie ist in ihrer Methode wenigstens  sinnvoll  und teilt durchaus nicht jenes  Vorurteil,  das wir hier zurückweisen. Denn zweifellos ist das Lust erlebnis  an einem Wert selbst wieder ein Wert; und je nachdem der Wert positiv oder negativ ist, ein positiver oder negativer Wert.

Nach Abweisung dieser Irrungen kommen wir zur Frage zurück,  wie  der Wert im Streben gegeben sei. Nun ist jedenfalls die Wertgegebenheit nicht an das Streben  gebunden;  weder in dem Sinn, daß positiver Wert = "Erstrebtwerden" sei, negativer Wert - "Widerstrebtwerden"; noch in dem anderen, daß Werte uns nur  im  Streben  gegeben  sein müßten (soweit sie natürlich nicht die Werte des Strebens selbst sind, die  in  seinem Vollzug fühlbar werden und von den erstrebten Werten ganz verschieden sind). Denn wir vermögen Werte (auch sittliche) z. B. im sittlichen Verstehen anderer zu  fühlen,  ohne daß sie erstrebt werden oder einem Streben immanent sind. So vermögen wir auch einen Wert einem anderen "vorzuziehen" und "nachzusetzen", ohne gleichzeitig zwischen vorhandenen Strebungen, die auf diese Werte gehen, zu "wählen". Werte können also  ohne jedes  Streben gegeben und vorgezogen werden. Auch besteht gar kein Zweifel - wenn wir die Tatsachen fragen und nicht leeren Konstruktionen folgen -, daß positiven Werten widerstrebt werden kann (d. h. Werten, die gleichzeitig als positive Werte "gegeben" sind) und daß negative Werte erstrebt werden. (24) Schon dadurch ist es ausgeschlossen, der Wert sei nur das jeweilige  X  eines Strebens oder Widerstrebens. Wohl aber besteht die häufige  Werttäuschung,  etwas für positiv wertvoll zu halten,  weil  es uns in einem Streben gegeben ist; für negativ wertvoll, was im Widerstreben. So pflegen wir alle Werte, für die wir ein positives Streben haben (oder besser für die wir das "Erstreben-können" erleben), zu  überschätzen;  diejenigen aber, die wir zwar noch  fühlen,  die zu erstreben wir uns aber  ohnmächtig  wissen, zu  unterschätzen  (bzw. in gewissen Fällen) durch einen Täuschungsvorgang in negative Werte umzufühlen; ein Prozeß, der einen notwendigen Bestandteil in der  Ressentimenttäuschung  über Güter und Werte bildet. (25) Alle Anpassung unserer Werturteile an unser jeweilig bloß  faktisches  Strebenssystem, wie es die unechte Resignation und die unechte Scheinaskese (26) kennzeichnet, ist in dieser  Grundform  der Wertetäuschung gegründet. Aber gerade daraus ist zu ermessen, wie  völlig  irrig eine Theorie ist, welche diese Form von Werte täuschungen  zur normalen und  echten  Form der Werteerfassung, ja zu einer Art Hervorbringung von Werten machen will. (27)

Ist also das Haben von Werten in keinem Sinn an ein Streben gebunden, so ist nun die weitere Frage zu stellen, ob es ein Wesensgesetz ist, daß wo immer ein Streben ist (dieser Stufe), ein Fühlen der Wertkomponente seines Zielinhalts es fundiert, oder ob Werte auch  ursprünglich  in einem Streben zur Erscheinung kommen können und - höchstens nachträglich noch als Werte gefühlt werden. Ein Wesenszusammenhang ist es nun jedenfalls, daß zu jedem Wert, der im Streben gegeben ist, auch ein mögliches Haben dieses Wertes im Fühlen "gehört". Eben darum kann der erstrebte Wert auch im Fühlen dieses Wertes als "derselbe" identifiziert werden. Dagegen erscheint es uns nicht gleich einsichtig, daß jedem Streben noch ein Wertfühlen auch faktisch in der Weise der Fundierung zugrunde liegen muß, wie z. B. eine Wahrnehmung dem Wahrnehmungsurteil zugrunde liegt. Häufig erfassen wir Werte erst  im  Erstreben derselben und wir hätten sie niemals erlebt, wenn wir nicht nach ihnen gestrebt hätten. So wird uns häufig erst an der Größe der Befriedigung eines Strebens klar bewußt, wie hoch für uns der Wert war, den wir erstrebten. (28) Aber darum "ist" nicht etwa diese "Befriedigung" mit dem Wert identisch; als wären die Werte selbst nur  Symbole  für die Befriedigung oder Nichtbefriedigung. Analog können wir uns auch selbst die Frage vorlegen, welchen Wert (oder welches Gut) wir einem anderen Wert vorziehen (bzw. welcher Wert der höhere ist oder welches Gut uns das wertvollere) und diese Frage durch das "Gedankenexperiment" so zu entscheiden suchen, daß wir uns gleichsam fragen, welches wir mehr als das andere erstreben würden, indem wir auf die Strebungen lauschen, die sich als Reaktionen auf die vorgestellten Werte einstellen; z. B. in der Frage, wer uns von zwei Menschen lieber ist, welchen wir in Todesgefahr zuerst retten würden; welche Speise wir wählen würden, wenn uns beide angeboten würden. Aber auch hier  konstituiert nicht  etwa das praktische Vorziehen das Höhersein des Wertes oder auch nur sein Vorziehen im Sinne der Werterfassung. Es ist nur eine subjektive Methode, uns zur Klarheit zu bringen, welcher uns der höhere ist.

Sehen wir nun, wie sich zu diesen Grundtatsachen allen Strebens die Willenszwecke verhalten. Die Strebensziele sind - so sehen wir - in keiner Weise  vorgestellt  oder gar  beurteilt;  weder ihrer Wert- noch ihrer Bildkomponente nach. Sie sind gegeben im Streben selbst, bzw. im gleichzeitigen oder vorangängigen Fühlen der in es eingehenden Wertkomponente. Es ist also 1. durchaus  nicht  vorausgesetzt, daß die Bildinhalte des Strebens zunächst in der Weise der gegenständlichen Erfahrung, z. B. der Wahrnehmung, der Vorstellung des Denkens usw. "gegeben" sein müßten; sie werden erfahren im Streben, nicht vor demselben. Nicht erst Vorstellungsinhalte differenzieren ein (gleichförmiges) Streben zu diesem und jenem Streben (z. B. Streben nach Nahrung, nach Durstlöschung usw.), sondern die Strebungen selbst sind
    1. durch ihre  "Richtung", 
    2. durch ihre  Wertkomponente  im "Ziel",
    3. durch den auf diese Wertkomponente sich aufbauenden  Bild-  oder  Bedeutungsinhalt  bestimmt und differenziert.
Und das alles  ohne  das Eingreifen eines Aktes des "Vorstellens". (29) Freilich kann ein "Zielinhalt" auch wieder  Gegenstand  eines Vorstellens, bzw. eines Urteils werden. Aber die  Regung,  etwa jetzt "spazieren zu gehen", jetzt zu "arbeiten" usw., setzt nicht eine "Vorstellung" des Spazierengehens voraus. Wir erstreben fortgesetzt Dinge und widerstreben anderen, die wir  nie  und nirgends  gegenständlich  "erfahren" haben. Fülle, Weite, Differenzierung unseres Strebenslebens ist nirgends eindeutig abhängig von der Fülle, Weite, Differenzierung unseres intellektuellen Vorstellens- und Gedankenlebens. Es hat seinen eigenen Ursprung und seine eigene Bedeutungshöhe.

Es sind aber 2. die  Bildinhalte  des Strebens nicht seine "primären", sondern seine - wie früher gezeigt - "sekundären" Inhalte, die erst  nach Maßgabe  der Wertmaterien aus den möglichen "Inhalten" eines nach "Streben" und "Vorstellen" noch ungeschiedenen "Bewußtseins von etwas" überhaupt,  ausgewählt  sind. Nur die Bildinhalte, die Träger einer solchen Wertmaterie werden können, gehen als Bildkomponente in das "Ziel" des Strebens ein.

Demgegenüber sind  Willenszwecke  an erster Stelle auf irgendeine noch variable Weise vorgestellte  Zielinhalte  von Strebungen. Das heißt was den "Zweck" scheidet vom bloßen "Ziele", das "im" Streben selbst, in seiner Richtung gegeben ist, das ist, daß irgendein solcher Zielinhalt (d. h. ein Inhalt, der bereits  als  Ziel eines Strebens gegeben ist) in einem besonderen Akt  vorstellig  wird. Erst im Phänomen des "Zurücktretens" aus dem strebenden Bewußtsein (30) in das vorstellende Bewußtsein und dem vorstellenden Erfassen (31) des im Streben gegebenen Zielinhaltes realisiert sich das Zweckbewußtsein. Alles, was Willenszweck heißt, setzt also bereits die  Vorstellung  eines Zieles voraus! Nichts kann zu einem Zweck werden, was nicht vorher Ziel war! Der Zweck ist fundiert auf das Ziel! Ziele können  ohne  Zwecke, niemals aber Zwecke ohne vorangängige Ziele gegeben sein. Wir können einen Zweck nicht aus nichts erschaffen oder ihn ohne vorgängiges "Streben nach etwas" "setzen".

"Zweck" aber unseres Wollens (oder eines Wollens überhaupt) wird ein so vorgestelltes Ziel dadurch, daß der so gegebene Inhalt des Zieles (und zwar sein Bildinhalt) als ein zu realisierender (d. h. real "seinsollender") gegeben ist, d. h. eben "gewollt" wird. Während das Streben auf der Stufe des bloßen Wertbewußtseins seines Zieles verharren kann, ist das seines Zweckes bewußte Wollen immer bereits das Wollen von etwas bildmäßig oder bedeutungsmäßig Bestimmten; es ist eine "Materie" im Sinn einer bestimmten  Bildhaftigkeit. 

Beide Momente, die Vorstellung des Zielinhaltes und das Realseinsollen müssen im "Willenszwecke" da sein. Ist nur das erste der beiden Momente da, so besteht ein bloßer "Wunsch" (der also  auch  im Unterschied vom Streben die  Vorstellung  des Zieles voraussetzt). "Zwecke" aber können nie in bloßen "Wünschen" gegeben sein oder "gewünscht" sein. Wir können wünschen, daß wir uns einen gewissen Zweck setzen könnten, oder "daß wir in der Richtung eines Zweckes wollen könnten" oder "wollten"; ein Zweck aber kann nicht gewünscht, sondern  nur  gewollt werden. Aber auch das Wünschen, daß etwas sei, setzt ein Streben nach etwas voraus. Dagegen fehlt im Wunsch das Wirklichseinsollen auch  phänomenal.  Andererseits tritt in der Sphäre des "Wollens" die Vorstellung des Gewollten und das Wollen selbst klar und scharf auseinander. Jedes Zweckwollen ist so bereits fundiert durch einen Akt des Vorstellens; aber andererseits immer nur des Vorstellens vom Inhalt eines  Strebenszieles,  nicht irgendeines beliebigen Vorstellens. Eben dieses Auseinandertreten findet sich im Streben noch nicht.

Das Gesagte genügt, um zur Einsicht zu gelangen:

1. Daß mit der Verwerfung einer materialen Zweckethik, d. h. einer Ethik, die irgendeinen materialen vorgestellten  Bild inhalt oder seine Realisierung uns als "gut" aufweisen möchte, durchaus noch nicht auch eine "materiale  Wert ethik" verworfen ist. Denn die Werte sind nicht von Zwecken abhängig oder von Zwecken abstrahiert; sondern liegen bereits den  Strebenszielen,  erst recht also den Zwecken zugrunde, die selbst wieder auf Ziele fundiert sind. Gewiß also muß an jedes Setzung eines Zwecks und eines jeden Zwecks bereits der  Anspruch  ergehen, daß sie sittlich richtig erfolgt - wie KANT treffend sagt. Aber dieses sittlich "richtig" hängt darum nicht weniger von  materialen  Werten und Wertverhältnissen ab, eben jenen, die bereits Komponenten der Zielinhalte der Strebensakte sind. Nach  ihnen  und nicht nur nach einem "reinen Gesetz" seines Vollzuges kann sich und soll sich das Wollen, daß einen Zielinhalt zum Zweck macht, "richten". Es ist darum nicht weniger "material" bedingt, obzwar es nicht  zweck bedingt ist (wie alles bloß technische Wollen, das die Mittel um eines Zweckes willen will).

Da die Bildinhalte des Strebens (und Widerstrebens) sich nach den Wertqualitäten richten, die primär die Materien des Strebens sind, so setzt eine Ethik, die materiale  Wert ethik ist, keinerlei "Erfahrung" im Sinne von "Bilderfahrung", also auch keinerlei sogeartete Erfahrungsmaterien voraus. Erst die Zwecke enthalten solche Bildinhalte notwendig. Da weiterhin erst in das zweckhafte Wollen ein AKt der gegenständlichen Erfahrung (d. h. ein Akt des "Vorstellens") eingeht, nicht aber in das zielmäßige Streben, so ist auch eine materiale Wertethik von gegenständlicher Erfahrung überhaupt (erst recht von der Erfahrung der  Wirkung  der Gegenstände auf das Subjekt)  völlig  unabhängig. Gleichwohl ist sie  materiale  und nicht formale Ethik. Da die Bildinhalte des Strebens sich nach den materialen Werten und ihre Verhältnisse sich nach den Verhälttnissen zwischen den materialen Werten richten, so ist eine materiale Wertethik gegenüber dem gesamten  Bild gehalt der Erfahrung  a priori. 

Hierzu noch eine wichtige Bemerkung. Der Willenszweck entspringt aus einem Wahlakt, der gestützt auf die Wertziele der vorhandenen Strebungen erfolgt und der durch einen Akt des Vorziehens zwischen diesen Materien fundiert ist. Nun nennt KANT alles, was wir vorher als verschiedene typische Fälle des Strebens charakterisierten und was so gleichsam  unterhalb  der Sphäre des "eigentlichen" zentralen Wollens liegt, abwechselnd die Sphäre der "Neigungen" oder auch die Sphäre der "Triebimpulse". Und er setzt nun für seine ganze fernere Erörterung den Satz voraus von der  sittlichen Wertindifferenz  aller "Neigungen", wie ich alle Erlebnisse des bloßen Strebens nennen will. Analog wie er in der theoretischen Philosophie die Materie der Anschauung mit einem "Chaos", einem "ungeordneten Gewühl" von Empfindungen gleichsetzt, in das erst der "Verstand" nach den ihm immanenten Funktionsgesetzen, die in aller Erfahrung gelegenen Formen und Ordnungen bringen soll, so - meint er - seien auch die "Neigungen" und "Triebimpulse" zunächst ein  Chaos,  in das erst der Wille als praktische Vernunft nach einem ihm eigenen Gesetz jene Ordnung bringe, auf die er die Idee des "Guten" meint zurückführen zu dürfen.

Diesen Satz von der sittlichen Wertindifferenz der "Neigungen" sind wir bereits jetzt imstande zurückzuweisen. Weit entfernt, daß der tiefste sittliche Wertunterschied zwischen den Menschen läge in  dem,  was sie sich wählend zum Zweck setzen, liegt er vielmehr in den  Wertmaterien  und in den bereits triebhaft (und automatisch) gegebenen  Aufbauverhältnissen  zwischen ihnen beschlossen, zwischen denen allein sie zu  wählen und Zwecke zu setzen haben;  die also den  möglichen Spielraum  für ihre Zwecksetzung abgeben. Gewißt ist sittlich "gut" nicht unmittelbar die "Neigung", das Streben und Aufstreben (in unserem Sinne), sondern der Willensakt, in dem wir den (fühlbar) höheren Wert zwischen Werten, die in Strebungen "gegeben" sind, erwählen. Aber er ist der "höhere Wert" schon  in den  Strebungen selbst, nicht erst entspringt dieses Höhersein aus seinem Verhältnis zum Wollen. Unser Wollen ist "gut", sofern es den in den Neigungen gelegenen höheren Wert erwählt. Das Wollen "richtet sich" nicht nach einem ihm immanenten "formalen Gesetz", sondern es richtet sich nach der im  Vorziehen  gegebenen Erkenntnis vom Höhersein der in den Neigungen gegebenen Wertmaterien.

Und es ist dann klar, daß sein eigener  möglicher sittlicher  Wert an erster Stelle davon abhängt,  welche  Wertmaterien überhaupt ihm im Streben zur Wahl vorliegen und welche Höhe sie repräsentieren (in der objektiven Ordnung), desgleichen welche Fülle und Differenzierung zwischen ihnen vorliegt. (32) Der sittliche Wert des Menschen, der in  diesem  Faktor steckt, vermag  niemals  durch das willentliche Verhalten ersetzt oder in solches umgerechnet werden - etwa als Ergebnis eines früheren solchen Verhaltens. (33)

In zweiter Linie aber ist der mögliche sittliche Wert des Wollens davon abhängig, in welcher  Ordnung  des Vorzuges die Strebungen an die Sphäere des zentralen Wollens treten.

Denn es ist eben eine völlig  irrige  Voraussetzung KANTs, daß die automatisch auftretenden Strebungen, all das z. B., wozu sich "ein Mensch versucht fühlt", ein völliges "Chaos" darstellen, eine dem bloßen Prinzipg der mechanischen assoziativen Verknüpfung folgende Summe von Vorgängen, in die erst der "vernünftige Wille", die "praktische Vernunft"  Ordnung  und  sinnvollen  Aufbau zu bringen habe. Vielmehr ist es eben für die hochstehende sittliche Natur eines Menschen charakteristisch, daß bereits das unwillkürliche automatische Auftreten seiner Strebensregungen und der materialen Werte, auf welche diese "zielen", in einer  Ordnung des Vorzuges  erfolgt, daß sie - gemessen an der  objektiven  Rangordnung der materialen Werte - ein für das Wollen bereits weitgehend  geformtes  Material darstellen. Die Vorzugsordnung wird hier - mehr oder weniger weitgehend und für verschiedene materiale Wertgebiete in verschiedenem Maß - zur  inneren Regel des Automatismus  des Strebens selbst und schon der Art und Weise,  wie  die Strebungen an die zentrale Willenssphäre gelangen.

Der modernen Denkpsychologie (34) kommt das hohe Verdienst des Nachweises zu, daß der  automatische  Gang des normalen Vorstellens, wie er sich unabhängig von den Akten des Urteilens, des Schließens und aller willkürlichen Aufmerksamkeit - der gesamten "apperzeptiven" Sphäre - vollzieht, durchaus  nicht  auf Grund der Assoziationsgesetze verständlich ist. Vielmehr zeigt er überall eine logische Gerichtetheit, eine vernünftige Zielmäßigkeit, die man verschieden beschrieben hat, zum Teil mit dem Ausdruck, daß der Vorstellungsgang unter der Herrschaft von "Obervorstellungen" (35) oder determinierende Bedeutungseinheiten (36) oder eines eigentümlichen wechselnden Regelbewußtseins stehe oder unter der Herrschaft der "Aufgabe" bzw. eines sonstigen Denkzieles. Ich gehe auf den Wert dieser Beschreibungen hier nicht ein. Nur in den Erscheinungen der pathologischen Ideenflucht findet sich ein sukzessiver Ausfall dieser Faktoren und eine  Annäherung  an das mechanische Assoziieren; auch hier - wie ich glaube - kein eigentliches vollständiges Erreichen derselben. Die scheinbar mechanische assoziative Verbindung zeigt sich bei genauerer Untersuchung auch in diesen Fällen, sowie im Leben des Tages- und Nachttraums, von solchen - wenn auch dem normalen Leben fremden oder nur untereinander weniger strukturvollen - determinierenden Faktoren beherrscht. (37)

Eine genaue Analogie zeigen die Tatsachen des unwillkürlichen Strebens. Auch hier hält bereits der bloße Automatismus des "Aufstrebens" der Strebungen einen  Sinn  ein, eine Ordnung des - nach objektiver Ordnung der Werte - "Höheren" und "Niedrigeren", der nur in den seltenen Fällen partieller Strebensperversionen oder schwerer krankhafter Willensstörungen mehr oder weniger verloren geht. Die Strebungen bauen sich aufeinander auf und folgen einander im Sinne einer Zielmäßigkeit - die natürlich empirisch eine ungemein wechselnde sein kann nach dem Grad der Zielmäßigkeit, nach ihrer Stärke und der Struktur ihres Aufbaus - die aber immer vorhanden ist.

Eine Ethik, die wie die Ethik KANTs diesen Tatbestand nicht beachtet und von einem Chaos von "Neigungen" ausgeht, die selbst völlig wertfrei nach Inhalt und Aufbau, erst durch den vernünftigen Willen zu formen und zu ordnen seien, muß natürlich in  prinzipielle  Irrtümer geraten.
LITERATUR: Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus - [mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel Kants], Sonderdruck aus: "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung", Bd. I und II, herausgegeben von EDMUND HUSSERL, Freiburg i. Br., Halle a. d. Saale, 1916
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu meinen Aufsatz über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Pathopsychologie I, Seite 139f.
    2) Wohl aber gibt es Konsequenz und Widerstreit, sowie sehr mannigfache Arten von Folgeverhältnissen zwischen den Werthaltungen, die aber nicht logischer Natur sind, sondern einer selbständigen Gesetzmäßigkeit des Wertbereichs angehören und auf Wesenszusammenhänge und Wesensunverträglichkeiten zwischen den Werten selbst gründen.
    3) Man verwechsle diese Lehre nicht mit der später zu erwähnenden Theorie, welche die Wert auf "permanente Möglichkeiten" oder auf eine bestimmte Ordnung im Ablauf solcher Gefühle und Begehrungen, ihr subjektives Dasein für uns aber, das Wertbewußtsein, auf Gefühls- und Begehrungsdispositionen oder eine "Erregung" solcher Dispositionen zurückführt - ganz analog wie der Positivismus das Ding der Wahrnehmung auf eine Ordnung im Ablauf von sinnlichen Erscheinungen bzw. (subjektiv) auf einen Erwartungszusammenhang zwischen solchen zurückführt -, so daß sich der Wert zu den aktuellen Gefühlen so verhielte, wie das Ding zu den Empfindungsinhalten.
    4) Für Gefühle müßte man dann von einem größeren Grad der Erregbarkeit reden, was mit der Intensität der Gefühle (der Lust und Unlust) natürlich nicht zusammenfiele.
    5) Ich behandle sie im zweiten Teil der Abhandlung im Abschnitt: Materiale Ethik und Hedonismus.
    6) Das letztere gilt für alle Relationen.
    7) Aus dem Gesagten ist klar, wie unbegründet es ist, die Werte darum als "nur subjektiv" ansehen zu wollen, weil sich die Werturteile über dieselbe  Sache  häufig widersprechen. Das Argument ist hier so ungegründet, wie bei den bekannten DESCARTESschen und Herbartschen Argumenten für die Farben und Töne; bzw. wie dort, wo man die Einheiten der Grundfarben als willkürlich ansetzt, da hinsichtlich ihrer Unterscheidung auf dem Spektrum oft  Schwanken  herrscht, wo die eine Farbe beginnt und die andere endet.
    8) HANS CORNELIUS, Einleitung in die Philosophie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft.
    9) Da sich Werte vor allem nach höher und niedriger scheiden, so setzen wir besser beim Gut das Wort "Hierarchie" als, wie beim Ding, "Struktur".
    10) Der  juristische  Begriff der "Sache", der bereits die Scheidung von Gut und Ding voraussetzt, darf damit nicht gleichgesetzt werden.
    11) "Material" ist alle Materie, sofern sie unabhängig von ihrer dinglichen Gliederung zur Güterbildung verwandt wird.
    12) Vergleich zu dem hier Gesagten meine Abhandlung über "Ressentiment und moralisches Werturteil". Desgleichen WÖLFFLIN, Der Stil in der bildenden Kunst (Abhandlung der preußischen Akademie der Wissenschaften, 1912).
    13) Siehe den II. Teil dieser Abhandlung.
    14) "Gut" im absoluten Sinn ist nicht gleich mit "gut" im unendlichen Sinne, ein "gut", das nur der Idee Gottes zukommt. Denn nur in Gott können wir in jedem Fall den absolut  höchsten  Wert auch als erfaßt ansehen.
    15) Nicht der Akt des Vorziehens und Nachsetzens ist "gut" oder "böse"; denn diese Akte sind  Erkenntnisakte,  nicht  Willensakte. 
    16) Höhere und niedrigere Werte bilden eine Ordnung, die von der positiven und negativen Natur des Wertes, die auf  jeder  Höhenlage stattfindet, natürlich völlig verschieden ist. Siehe hierzu Kapitel II dieses Abschnitts.
    17) Siehe hierzu den II. Teil dieser Abhandlung, Abschnitt: Autonomie und materiale Ethik.
    18) Bei KANT fehlt charakteristischerweise eine eigentliche Tugendlehre. Für ihn ist "Tugen" nur ein  Niederschlag  der einzelnen pflichtgemäßen Akte, die ja allein ursprünglich "gut" sind. Faktisch ist die Tugend (bzw. das Laster) fundierend für den sittlichen Wert  aller  einzelnen Akte. Die Tugendlehre geht der Pflichtenlehre voran.
    19) Über den Unterschied des idealen Sollens von Norm und Pflicht siehe den II. Teil dieser Abhandlung.
    20) Siehe hierzu den II. Teil der Abhandlung, wo ich den Begriff der Person eingehend entwickle.
    21) "Streben" bezeichne hier die allgemeinste Grundlage der Erlebnisse, die sich einmal von allem haben von Gegenständen (Vorstellen, Empfinden, Wahrnehmen), sodann von allem Fühlen (Gefühlen usw.) scheiden.
    22) Wenn wir sie z. B. "als zweckmäßig für die Arterhaltung" usw. beurteilen.
    23) Genaueres über die Natur dieses "Fühlens" bringt der II. Teil dieser Abhandlung.
    24) Sowenig "wahr" und "falsch" mit positiven und negativen Urteilen zu tun haben, sowenig Streben und Widerstreben mit Wert und Unwert. Es ist daher ein genau analoger Irrtum, wenn man meint, das negative Urteil für eine bloße "Fürfalscherklärung" des wahren Urteils ansehen zu dürfen. Negative und positive Urteile können  gleich  ursprünglich "wahr" und "falsch" sein, je nachdem sie mit dem Sachverhalt übereinstimmen oder ihm widerstreiten. Und analog kann auch ein Widerstreben so ursprünglich "gut" sein, wie ein Streben "schlecht" sein kann; je nachdem der Wert positiv oder negativ ist, der erstrebt wird.
    25) Siehe hierzu meine Abhandlung über "Ressentiment und moralisches Werturteil", 1912
    26)  Echte  Resignation ist Verzicht, einen Wert zu erstreben unter Anerkennung seines positiven Wertes und  im  positiven Fühlen seiner.
    27) So z. B. SPINOZA in seinem Satz: Gut ist, was wir begehren, schlecht, was wir verabscheuen; gut und schlecht seien daher "entia rationis" [Gedankendinge - wp].
    28) Die Befriedigung z. B. über ein Geschehen, etwa die Anwesenheit eines Menschen, die wir nicht erwarteten und voraussahen oder (in negativen Fällen) über einen Todesfall, den wir wünschten, ohne uns diesen "schlechten" Wunsch "einzugestehen", bringt uns häufig auch erst die Tatsache zum Bewußtsein,  daß  wir es erstrebten.
    29) Wer dies verkennt, wie z. B. FRANZ BRENTANO, der jeden Akt des Begehrens auf einen Akt des Vorstellens fundiert sein läßt,  intellektualisiert  das Strebenslebens, indem er es fälschlich nach Analogie des  zweck haften Wollens konstruiert.
    30) Strebendes Bewußtsein ist also scharf geschieden von jedem bloßen "Bewußtsein des Strebens", verstehe man darunter eine Reflexion auf das Streben oder gar eine "innere Wahrnehmung" des Strebens, in der das "Bewußtsein" ja von selbst wieder "gegenständliches Bewußtsein" ist.
    31) Eine genauere Analyse der Stufen dieses Prozesses nach Absicht, Überlegung, Vorsatz usw. siehe später.
    32) Es wäre natürlich eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp], zu sagen, es könne der "Reichtum" einer sittlichen Natur darum niemals den sittlichen Wert des Wollens mitbestimmen, da wir für diesen "nichts können", da er nicht durch das Wollens für seinen sittlichen Wert gleichgültig ist. Vergleiche außerdem meinen Aufsatz über Ressentiment und moralisches Urteil und das Folgendes bezüglich des "Selbsterworbenen".
    33) Das natürlich auch nicht so, daß man die erbliche Übertragung selbsterworbener Eigenschaften der Vorfahren heranzieht.
    34) Siehe OSWALD KÜLPE und besonders HUGO LIEPMANN in seinem Werk über "Ideenflucht".
    35) So LIEPMANN in seinem Werk über "Ideenflucht".
    36) Nicht etwa im Bewußtsein gegebener "Bedeutungen".
    37) Die Assoziationsprinzipien werden auch der modernen Psychologie immer mehr zu dem, was sie für die Phänomenologie sind, nämlich zu auf Wesenszusammenhängen beruhenden Prinzipien zum Verständnis unseres seelischen Lebens, die - gleich den mechanischen Prinzipien - eine rein  ideale  Bedeutung haben und von der auf Beobachtung beruhenden Erfahrung  niemals  erfüllt und bestätigt werden und werden können.