cr-2WundtDiltheyA. StadlerB. ErdmannC. Stumpf    
 
ERICH ROTHACKER
(1888-1965)
[mit NS-Vergangenheit]
Logik und Systematik
der Geisteswissenschaften

[1/2]

"Dem  Empirismus  und  Positivismus  ist die Philosophie keine selbständige Wissenschaft neben den Einzelwissenschaften sondern vielmehr in Form von Prinzipien in diesen enthalten. Die Aufgabe der Philosophie ist dementsprechend entweder die einer enzyklopädischen Zusammenfassung des Wissensstoffes zu einem Totalbild der "Welt" oder der einer systematischen  Logik.  Die Philosophie ist damit abhängig von den Einzelwissenschaften. Die Einzelwissenschaften aber sind abhängig vom Stoff der Erfahrung."


I. Analytischer Teil

I. Ursprung der geisteswissenschaftlichen
Methoden und Begriffe


1. DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN

Die Wissenschaften, welche die  Ordnungen des Lebens  in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft zum Gegenstand haben, nennen wir Geisteswissenschaft. Als einen gewaltigen Apparat von Fragestellungen, Forschungsmethoden und begrifflichen Antworten finden wir dieselben heute in mehreren Fakultäten ausgebreitet.

Ihre Geschichte, die zusammenhängend nie dargestellt wurde, weist auf höchst disparate Ursprünge und völlig irreguläre Entwicklungen zurück. Erst nach und nach konvergieren dieselben. Haben wir heute auch gelernt, die konkrete Entwicklung der Naturwissenschaften weit unbefangener auf den Anteil praktischer, kultureller ja politischer und sozialer Impulse an ihrer Entstehung und Entwicklung hin zu betrachten, so fehlt den Geisteswissenschaften bei analogen Voraussetzungen zudem noch bis heute das feste Rückgrat, das jene sich in Mathematik und Experiment geschaffen haben.

Entsprungen zum einen Teil aus Mythos, Lebenserfahrung, Spruchweisheit und schließlich der Philosophie, von der sie sich nur langsam ablösen; zum andern wie die antike Rhetorik, Grammatik und Politik, die römische Jurisprudenz, die moderne Kameralistik und Ökonomik aus der Praxis, aus pädagogischen Aufgaben, Aufgaben der Berufsbildung und bestimmten politischen Situationen; im Einzelnen wie etwa die Historie aus so disparaten Quellen wie Heldensang, Chronik, Rechtsurkunde, Geographie, Völkerkunde, politisch-pragmatischer und halb theoretischer Reflexion, zeigen sich diese Wissenschaften zudem aufs tiefste in nationale und zeitgeschichtliche Eigentümlichkeiten und in die mannigfachen Umstände kultureller Wandlungen verflochten. Die Rolle, welche die Rhetorik im klassischen Altertum spielte, kommt ihr heute auch in den relativ rhetorisch gestimmten romanischen Kulturen nicht mehr zu, die Rolle der Theologie in der Welt der romanisch-germanischen Völker, des mittelalterlichen Judentums und Islam war der Antike fremd, die Blüte der neueren Philologie und modernen Jurisprudenz ist eng mit dem Vordringen des Humanismus und den Krisen der Rezeption verknüpft, die des Naturrechts ist mittelbar und unmittelbar ein Produkt der Bildung des modernen Staates. Volksschule, Realschule, humanistisches Gymnasium tragen das Zeichen ganz bestimmter historischer Wellen heute noch auf der Stirn. Während in den philosophischen Einteilungen die Wissenschaften wie vom Himmel gefallen in schöner Ordnung, meist symmetrisch, nebeneinander liegen, sind dieselben in Wirklichkeit oft nicht nur ihrer Genese sondern gerade ihrem eigentümlich produktiven Kern nach tief in kulturellen Krisen verwurzelt, deren Stachel sie bleibend in ihrer Struktur bewahren.

Denn recht eigentlich  Krisen  wird eine vertiefte kulturphilosophische Besinnung wahrnehmen können: wo sich in einem Volk der Mythos zur Weisheit erhebt oder die Weisheit zur Philosophie. Deutlich nacherlebbar steckt im Losreißen der ersten Begriffe aus der Sinnlichkeit eine echte Lebenskrise. Und so weiter: wenn das Handeln sich von Lebenserfahrung und Tradition ablösend der abstrakten Regel und Idee zuwendet, nach der das Leben nunmehr gelenkt werden soll; wenn im besonderen die religiöse, sprachliche, politische, künstlerische Praxis zu reflektieren beginnt und Prinzipien aufstelle; wenn Religion zur Theologie, Theologie zur Religionswissenschaft- und Religionsphilosophie wird; wenn sich der historische Sinn vom Heimatland auf fremde Völker ausdehnt; wenn die Grammatik ältere sprachliche Zustände kanonisiert; wenn sie sich vorwärtsblickend rationalisiert; wenn sie ihre nationale Schranke durchbrechend sich auf fremde Sprachen ausdehnt, wenn sie beginnt, vergleichend rein sachliche und abstrakte, vom Wurzelboden der Muttersprache oder bestimmter kanonischer Sprachen sich ausdehnt, wenn sie beginnt, vergleichend rein sachliche und abstrakte, vom Wurzelboden der Muttersprache oder bestimmter kanonischer Sprachen losgelöste Sprachgesetze zu suchen. Was muß ein Volk erst erlebt haben ehe in ihm ein spezifisch hermeneutischer Sinn oder Interesse an Literatur geschichte,  Kunst geschichte  neben Kunst und Dichtung? Eine Krise, welche in NIETZSCHES "Nutzen und Nachteil der Historie" nachzittert. Nicht ohne einen vollkommenen Umschwung des gesamten kulturellen Selbstbewußtseins können sich traditionelle Geschichtsbilder auflösen! Wie voraussetzungsvoll ist die Entstehung einer Psychologie, einer Soziologie, einer Wendung des Interesses auf primitive Kulturstufen.


2. DER TERMINUS "GEISTESWISSENSCHAFTEN"

Dieser fast chaotische Eindruck kann nur verstärkt werden durch einen Blick auf die Uneinigkeit, welche bis heute über zahlreiche geisteswissenschaftliche Grundbegriffe, insbesondere den Terminus  "Geisteswissenschaften"  selbst herrscht.

Auch eine Geschichte der Wissenschaftseinteilung ist noch nicht geschrieben. Wohl lassen die Darstellungen von WUNDT (1), ERDMANN (2), BECHER (3) die großen Gruppen erkennen, in denen sich dieselben entwickelt haben:
    1. die antike Klassifikation in Dialektik, Physik und Ethik

    2. die Einteilung nach Seelenvermögen von BACON bis d 'ALEMBERT

    3. die hierarchische Einteilung COMTEs und SPENCERs und

    4. die relativ späte Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften, welche durch DESCARTES und den englischen Sensualismus vorbereitet, in BENTHAM, AMPERE, MILL und HEGEL gipfelt, denen im 19. Jahrhundert neue Versuche folgen.
Aber erst durch eine Unterbauung dieser Entwicklungen durch eine Historie der Geisteswissenschaften selbst, vor deren Zustand diese Einteilungen ebenso abhängig wie sie andererseits in der Geschichte der großen System verankert sind, bekämen diese Gruppen ihr wahres Gesicht.

Und in voller Kontinuität würden wir sie erst durch eine Heranziehung der großen methodologischen und enzyklopädischen Literatur sehen, welche die Brücke zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften schlägt und deren Titel für das 17. Jahrhundert etwa den Werken LEIBNIZ', COMENIUS, später CHRISTIAN WOLFFs zu entnehmen wären, während für das 18. Jahrhundert bereits ganz brauchbare Bibliographien bestehen.

So ist ein theoretisches Bewußtsein vom Zusammenhang der Geisteswissenschaften erst langsam erwachsen. Und selbst  in praxi  hat sich dasselbe erst spät entwickelt. Am lebhaftesten natürlich da, wo die Philosophie als Mutter der Wissenschaften ihre "Küchlein" noch gar nicht entließ. Aber nach einmal vollzogener Trennung der Wissenschaften bleibt ihr Zusammenhang trotz gelegentlicher Personalunion von Calvinischer Dogmatik, Natur- und Völkerrecht und SCALIGERs Philologie in HUGO GROTIUS und trotz LEIBNIZ' enzyklopädischen System bis tief in das 19. Jahrhundert problematisch. Wie denn charakteristischerweise erst dieses den Terminus "Geisteswissenschaften" geprägt hat.

Die Geschichte dieses Terminus ist so tief verflochten mit der Geschichte der sachlichen Probleme, daß es erlaubt sei, eine lebhaft zu fordernde Untersuchung durch die Ausbreitung einiges Materials vorzubereiten.

Vielleicht taucht der Terminus 1849 in der SCHIELschen Übersetzung von MILLs Logik (1843) zum erstenmal auf (4). SCHIEL übersetzt im 2. Bd. den Titel des 6. Buches, welcher ohne Zusatz heißt: "On the logic of moral sciences", mit:  "Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften".  Diese letzten drei Worte sind also sein Zusatz. Im Text steht für  moral sciences  regelmäßig "Geisteswissenschaften".

Es sollte kaum notwendig sein zu betonen, daß MILL damit, bei allem Verdienst um eine erste "Logik der Geisteswissenschaften" nicht zum Urheber unseres Terminus  Geisteswissenschaften  geworden ist, sondern höchstens sein Übersetzer. Dieser aber fand den Ausdruck in den vierziger Jahren so vor wie ihn HEGEL und seine Schule geprägt hatte. HEGEL selbst spricht wohl nie von Geisteswissenschaften, aber seine Schüler, wie die Epigonen der deutschen Spekulation überhaupt, gebrauchen den Ausdruck, meist im Singular, mit Selbstverständlichkeit. So spricht FRIEDRICH THEODOR VISCHER im § 2 der "Ästhetik" (1846) von  Wissenschaft des Geistes;  KARL CHRISTIAN FRIEDRICH KRAUSE gebraucht  Vernunftwissenschaft  und  Geistwissenschaft  als Synonyma (Lebenlehre und Philosophie der Geschichte, 1843, Seite 145f).  "Geisteslehre"  ist ein völlig gebräuchlicher Terminus dieser Jahre. In J. E. ERDMANNs "Entwicklung der deutschen Spekulation seit Kant, Bd. II, 1853, Seite 689 lesen wir, "daß sich bereits im Jahre 1800 das System HEGELs als Grund-, natur- und Geisteswissenschaft gliedert". Ähnlich etwa Seite 786, wo er den dritten Teil des Systems als  Geisteswissenschaft, Pneumatologie  bezeichnet. Inzwischen aber war SCHIELs MILL-Übersetzung bereits erschienen und hatte den Terminus in der Pluralform weit verbreitet.

Es sind also mehrere große geistige Ströme, welche im Begriff  "Geisteswissenschaften"  zusammenfließen, Ströme, von denen in Deutschland der idealistische, geistesphilosophische von vornherein der weit stärkere war. Denn HEGEL, nicht MILL stand in der massiven nationalen Tradition. Termini vom Gewicht des Wortes  Geist  werden von den Philosophen selten erfunden, sie werden im allgemeinen höchstens aufgenommen, umgeprägt, präzisiert, beschnitten. Ein Begriff wie der AVENARIUS'sche  "System C",  das ist eine philosophische Erfindung. Mit solchen Begriffen sind aber keine geistigen Bewegungen zu erzeugen. Man kann wohl sagen, daß die bis ins 19. Jahrhundert hinein hoch autoritativen biblischen Bedeutungen des Terminus  Geist insbesondere die paulinischen, und sie natürlich in LUTHERs Verdeutschung mindestens denselben Anteil am Terminus "Geisteswissenschaften haben wie MILLs  Logik.  Sodann hat der Sprachgebrauch des Wortes  Volksgeist  stark auf den unseren gewirkt, denn Volksgeist war nicht nur ein geschichtsphilosophische Begriff, er repräsentierte im Rahmen der Historischen Schule eine systematische Methode und Denkform.

Etwas ähnliches gilt aber natürlich auch für  moral sciences  und  Sciences Morales.  Moral heißt geistig.  Le moral des troupes  ist der Geist der Truppe. Auch hier scheint monographische Literatur zu fehlen. Das "Dictionary of Philosophy and Psychology" von BALDWIN, Bd. 2, Seite 105, gibt an "moral science, german: Geisteswissenschaften; ital: scienzi morali" und bezeichnet dieselben als Wissenschaften "of mind", "often described as the mental and moral sciences". Der "Nouveau Larousse illustre", Bd. 6, Seite 207, bezeichnet  le moral  als  ensemble des facultés humaines qui se rassortent á la sensibilité et á l'activité.  Die einzig eingehende Darstellung des Begriffs scheint sich im 3. Kapitel von CHRISTIAN FRIEDRICH WEISERs "Shaftesbury und das deutsche Geistesleben", 1916, zu finden. Einige gut orientierende Daten stehen im Register zu RAOUL RICHTERs trefflicher Übersetzung von HUMEs "Enquiry" (Philosophische Bibliothek, Bd. 31), wichtige Materialien bietet PAUL BARTH, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. 1, 1922, Seite 33, Anm. 7. Bei der geringen Aufmerksamkeit, welche diese Probleme bis jetzt gefunden haben, scheint es nicht unnötig zu sein, diese Materialien zum Teil anzuführen, zum Teil zu ergänzen.

Der Sprachgebrauch ist im europäischen Westen ein durchaus allgemeiner: MONTESQUIEU spricht von  lois morales et physiques,  VOLTAIRE von den  causes morales  in der Geschichte. LAPLACE im "Versuch über die Wahrscheinlichkeit" von der Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die moralischen Wissenschaften (Übersetzung von 1886, Seite 93). Dasselbe Werk stellt der  fortune physique  die  fortune morale  gegenüber. Ganz ähnlich CABANIS "Rapports du Physique" und "du morale de l'homme" (1802) und ebenso G. TH. FECHNER, Elemente der Psychophysik, Bd. 1, 1907, Seite 235. Bei W. D. WHITNEY, Die Sprachwissenschaft, Vorlesungen über die Prinzipien der vergleichenden Sprachforschung, bearbeitet von JULIUS JOLLY (1874) lesen wir Seite 72: "Durch diese Bewegung bestimmt sich der Charakter der Sprachwissenschaft: sie ist eine historische oder Geisteswissenschaft (Historical or moral science), sie bildet einen Ausschnitt aus der Geschichte des Menschengeschlechtes und der menschlichen Einrichtungen." Vgl. dazu K. BRUGMANN über WHITNEY bei DELBRÜCK, Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen, Bd. 5, 1908, Seite 101f, ebenso JOLLY-WHITNEY, Seite 74: "aber jene, welche an der breiten Grenzscheide zwischen Geistes- und Naturwissenschaften noch festhalten, welche an das Wirken und Schaffen vernünftiger Wesen, die ihre Motive sorgfältig überdenken und ihre Handlungsweise danach einrichten, Zwecke verfolgen und Mittel zu ihrer Erreichung suchen für grundverschieden halten von den Evolutionen der Atome, die dem Gesetz der Schwere, der chemischen Verwandtschaft und anderen Naturgesetzen gehorchen."

Bei GERVINUS finden wir beide Bezeichnungen nebeneinander. Er spricht in seinem "Leben" (Ausgabe von 1893, Seite 277) von der Versuchung, einer "systematischen Philosophie der Geschichte die Haupttätigkeit seines Lebens zu widmen". "Über dieser eigentlich neu zu entdeckenden Wissenschaft brüteten die Zeiten, seit NEWTON für die Zukunft, wenn die empirische Methode die Naturwissenschaften gereinigt haben würde, die Anwendung derselben Methode auf die Wissenschaften des Geistes vorausgesagt hatte. Ich habe niemals die überschwenglichen Hoffnungen geteilt, die ein BENTHAM, der diese Weissagungen NEWTONs zu erfüllen ... den Ehrgeiz hatte, an die Erfolge der Anwendung jener Methode auf die Welt des Geistes knüpfte: daß n den moralischen Wissenschaften Gesetze mit ebensolcher Unleugbarkeit könnten aufgestellt werden wie in den mathematischen."

In der methodologisch hochbedeutenden Vorrede zu den  Essais de critique et d'histoire  vom März 1866 und im 1. Kapitel der  Philosophie de l'art,  wo er wie dort von seiner naturwissenschaftlichen Methode, die er mit der botanischen vergleicht, rühmt, daß sie "commence a s'introduire dans touts les sciences morales", welche sie zur Exaktheit erhebt und dadurch den Naturwissenschaften annähert, taucht dasselbe Motiv und zum Teil dieselben Ausdrück wieder auf, denen wir schon bei HOBBES und HUME begegnen.

Geht man aber auf diese Klassiker der  moral philosophy  selbst zurück, so bemerkt man, daß das der "Einteilung der Wissenschaften" gewidmete Schlußkapitel des LOCKEschen  Essay,  das entsprechende Kapitel in LEIBNIZ'  Nouveau Essais,  HOBBES' Widmung zur "Lehre vom Bürger" und HUMEs Einleitungen zum "Neuen Traktat" und zum 1., 4. und 7. Abschnitt des  Enquiry  lange nicht so stark psychologisieren wie es der modernen Neigung entspricht, und daß diese Denker nur in bestimmten Grenzen als Klassiker einer Wissenschaftseinteilung anzusprechen sind, deren Grundlage der Gegensatz von "äußerer Natur" und "innerer seelisch-geistiger Welt" ist. Dieselben stehen durchweg der antiken Einteilung in  Physik  und  Ethik  näher. Und während LEIBNIZ derselben eine erst recht unpsychologische, höchst modern anmutende logische Wendung zu geben versucht, steht gerade der Initiator der psychologistischen Zweiteilung der Welt LOCKE im Gebrauch des Terminus  moral philosophy  dem Gegensatz  normativer  und naturwissenschaftlicher Disziplinen näher als dem naturwissenschaftlicher und psychologischer. Die zweite Gruppe der Wissenschaften, die zwischen Physik und Semiotik steht, nennt LOCKE  praktika,  und diese Wissenschaften suchen nicht psychologische Gesetze, sondern Normen und Maßstäbe. Ihr Ziel ist das "Rechte" (§ 3).

Die Geisteswissenschaften, welche HOBBES zur Wissenschaft erheben möchte, und welche das Verhältnis der menschlichen Handlungen mit der Gewißheit des Geometers erkennen will, hat das "natürliche Recht" zum Gegenstand. Und HUMEs  moral philosophy,  welche er wie HOBBES den bisherigen mehr anmutigen als wissenschaftlichen Darstellungen ethischer Probleme entgegensetzt, möchte den Ruhm CICEROs, La BRUYEREs und ADDISONs verdunkeln. Nur ist die Welt dem leichten moralischen Räsonnement geneigter als dem abstrakt wissenschaftlichen. Aber Laster, Tugend, Recht und Unrecht sind seine Probleme. Daß der  Enquiry  zur Lösung dieser  Wertprobleme  psychologische  Methoden  anwendet, liegt auf einem anderen Feld.

Zweifelloshat trotzdem der Nebenfluß, der von der  moral science  her in den Begriff des Geistes bzw. der Geisteswissenschaften einmündete, mitgewirkt, demselben langsam einen psychologischen Sinn zu verleihen.

Verbreitet hat sich der wenn immer erst 1849 in Kurs gesetzte Ausdruck von den fünfziger Jahren ab ungewöhnlich rasch. Ich nenne einige Namen:

JOHANN EDUARD ERDMANNs Ausführungen von 1853 sind bereits erwähnt. 1854 spricht RANKE (Epochen der neueren Geschichte, Seite 21) von "den einzelnen Geisteswissenschaften, namentlich ... der Philosophie und Politik."

In JOHANNES EMIL KUNTZEs "Wendepunkt der Rechtswissenschaft" (1856, Seite 2) ist von Natur- und Geisteswissenschaften die Rede.

AUGUST BOECKHs  Enzyklopädie  beruth nach Angabe des Vorworts auf Vorlesungen, welche BOECKH 1809 - 1865 über dieses Thema gehalten hat. Diesen Vorträgen hat BOECKH bis an das Ende ein 1809 geschriebenes Heft zugrunde gelegt. Wie weit zurück mag der Terminus "empirische Geisteswissenschaften" (Seite 600f der Ausgabe von 1877) reichen? Seite 609 verzeichnet Literatur zur "Geschichte der Geisteswissenschaften".

Historisch wohl ausschlaggebend für die Verbreitung des Terminus war aber seine Annahme durch HELMHOLTZ. 1862 hielt er zu Heidelbert seine berühmt gewordene Rede "Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften" (5). Und gerade dieser Naturforscher hat bei aller Umdeutung, die der Geistesbegriff bei ihm erfährt, die Bedeutung HEGELs für die Entwicklung und den Begriff der Geisteswissenschaften voll zu würdigen gewußt. Die Identitätsphilosophie ist über KANT hinausgehend von der Hypothese ausgegangen, daß die Welt Resultat des Denkens eines schöpferischen Geistes ist. Darauf gründete sich ihre Hoffnung, die Gedanken des Schöpfers nachdenken und durch eigene innere Tätigkeit wieder finden zu können. In diesem Sinne sei sie darauf ausgegangen "die wesentlichen Resultate der übrigen Wissenschaften a priori zu konstruieren. Es mochte dieses Geschäft mehr oder weniger gut gelingen in Bezug auf  Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst, Geschichte,  kurz in all den Wissenschaften, deren Gegenstand sich wesentlich aus psychologischer Grundlage entwickelt und die daher unter dem Namen der  Geisteswissenschaften  passend zusammengefaßt werden" usw.

DILTHEY dagegen spricht in seinem Aufsatz "über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat" (Schriften, Bd. V, Seite 31) 1875 bemerkenswerterweise zwar von MILLs "Logik der Geisteswissenschaften", akzeptiert den Terminus aber selbst für die im Titel bezeichnete Wissenschaftsgruppe offenbar noch nicht, sondern bezeichnet dieselbe wie MOHL als "moralisch-politische" Wissenschaften. Erst die "Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1863, Seite 26 und Schriften I, Seite 4 und 21) faßt das "Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben" unter dem Namen der Geisteswissenschaften zusammen. Mit diesem Werk wird der Terminus klassisch.

Seiner weiteren Verbreitung vor und nach DILTHEY nachzugehen ist fast unmöglich. Ich erwähne F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus; ADOLF MERKEL, Über den Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft, 1876 (Fragmente zur Sozialwissenschaft, 1898, Seite 45); ALEXANDER von Öttingen, Moralstatistik, 1877; GUSTAV RÜMELIN, Über Gesetze der Geschichte, 1878 (Kanzlerreden, 1907, Seite 230). Von Einfluß war sicher die Einleitung, welche KARL KNIES 1883 der 2. Auflage seiner "Politischen Ökonomie" vorausschickte. WILHELM SCHERER, OTTO GIERKE, GUSTAV SCHMOLLER, E. GOTHEIN, wohl auch ADOLF HARNACK dürften den Terminus in Fühlung mit DILTHEY akzeptiert haben. WILHELM WUNDT schrieb als dritten Band seiner großen Logik die erste deutsche "Logik der Geisteswissenschaften". SIGWART, EUCKEN, REISCHLE, WILHELM ROSCHER, JELLINEK, COHEN (6), KÜLPE, HUGO SCHUCHARDT, LAMPRECHT und viele andere haben sich des Ausdrucks bedient.

Um der ungewöhnlichen sachlichen Bedeutung dieser Bestimmung des Begriffs will sei ein Passus aus dem 1894 zuerst erschienenen 5. Band der "Deutschen Geschichte" HEINRICH von TREITSCHKEs ungekürzt wiedergegeben:
    "Jetzt erhob JAKOB GRIMM seine warnende Stimme dagegen in einer Versammlung der Germanisten. Er erwies kurz und schlagend, daß die Geisteswissenschaften darum die Grundlage der allgemeinen Bildung bleiben müssen, weil sie allein das ganze Menschenleben, auch die Welt der Phantasie und des Herzens umfassen; er zeigte, daß sie weltbürgerlich und national zugleich sind, die Naturwissenschaften weltbürgerlich schlechthin; und nur wo volkstümliche und allgemein menschliche Bildung einander durchdringen, entfaltet sich der ganze Reichtum der Weltgeschichte. Er erkannte freudig an, was unser gesamtes Volksleben, und in Sonderheit seine geliebte Sprache, der exakten Forschung verdankte. Die jungen Naturforscher schrieben meistens vortrefflich; ihre klare, bestimmte, einfache Prosa nahm den deutschen Geist, der sich gern zu träumerischen Ahnungen versteigt, in eine strenge, heilsame Zucht; doch sie beherrschte nur einen kleinen Teil des unermeßlichen Sprachschatzes. Der Stil des Naturforschers, der immer von Gesetzen, Begriffen, Gattungen und Arten handelt, legt den Ton auf das starre Hauptwort und kann, in seiner Art vollendet, schließlich doch nicht wetteifern mit dem reicheren Stil des Historikers, der sich frei in der Welt des Werdens, der freien Taten umschaut und darum den Ton auf das erregende, Leben spendende Zeitwort legt. Es blieb auch fernerhin bei dem alten Gesetz, daß die Kultursprachen fortgebildet werden, zuvörderst durch den Volksmund und die Dichtung, sodann durch Redner, Historiker, Philosophen: die neuen von den exakten Wissenschaften geschaffenen Kunstausdrücke waren in ihrer Mehrzahl international und zeigten schon durch ihre willkürliche Form, daß sie nicht der Naturgewalt des Sprachgeistes, sondern verständiger Berechnung entsprangen." (7)
Dann erhob sich mit WILHELM WINDELBANDs bekannter Rektoratsrede über "Geschichte und Naturwissenschaft" (1894) eine Opposition zugunsten einer nicht stofflichen sondern methodologischen Wissenschaftseinteilung, welche ihre klassische Formulierung in RICKERTs "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften" (1896 - 1902) und der kleineren Schrift "Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften" (1899) gefunden hat, ihrer Terminologie ist von Einzelwissenschaftlern von Rang insbesondere MAX WEBER gefolgt.

Diese Autoren verfochten  logisch  die Ersetzung des Terminus "Geisteswissenschaften" durch  Geschichtswissenschaften.  Terminologisch aber auch meist zugleich durch "Kulturwissenschaften".

Auch diese Wissenschaftseinteilung hat ihre Vorgeschichte. Ich verzichte jedoch darauf sie ausführlich darzustellen. Die Geschichte des Terminus  "historisch"  im Sinne von  cognitio historica,  empirischem Wissen, Lehre, Kunde, Beschreibung reicht Jahrhunderte zurück. Dabei dürfte es nicht schwer fallen auch für die Gegenüberstellung von Naturwissenschaften und historischen Wissenschaften beträchtliches Materials zu gewinnen. Zitiert wird in diesem Zusammenhang meist FRIEDRICH HARMS' "Philosophie in ihrer Geschichte", Bd. I, 1878, Seite 42f. Dann J. G. DROYSENs "Grundriß der Historik" (1868). PAUL BARTH, a. a. O., Bd. 1, Seite 32, Anm. an Ausführungen TURGOTs, HEGELs, G. RÜMELINs (1878) und schließlich HERMANN PAULs. Des letzteren "Prinzipien der Sprachgeschichte" (1880) waren neben den Schriften WINDELBANDs und RICKERTs maßgebend für die Gegenüberstellung von  Gesetzeswissenschaften  und  Geschichtswissenschaften,  für den Terminus  Kulturwissenschaften  und den methodologischen Begriff der  Prinzipienwisenschaften.  Aber auch LOTZE hat diesen Gegensatz vertreten, worauf KARL KNIES (a. a. O., Seite 5) hinweist und neben ihm der Jurist W. ARNOLD ("Kultur und Rechtsleben", 1865). Der Sprachwissenschaftler STEINTHAL, der 1864 schreibt: "Die Wissenschaft hat es nur mit Artbegriffen, mit Allgemeinem zu tun, die Geschichte mit Einzelnem," wobei auch an SCHOPENHAUER zu denken wäre, führe STEINTHAL nicht fort "die Geschichte ist aber darum Wissenschaft, weil ihr Einzelnes  sui generis  ist, in sich allein eine Gattung vertritt" (zitiert nach SALOMON, Soziologische Lesestücke, Bd. III, Individuum und Gesellschaft, Seite 105f). Sodann spricht auch WHITNEY in dem oben zitierten Satz von  historischen oder Geisteswissenschaften  und ebenso HUGO SCHUCHARDT (Hugo Schuchardt Brevier; Ein Vademekum der allgemeinen Sprachwissenschaft, Halle 1922, Seite 97).

Aber auch andere Termini laufen neben Geisteswissenschaften und Kulturwissenschaften her. SCHÄFFLE spricht gelegentlih (Abriß der Soziologie, 1906, Seite 4) von  Geist wissenschaften, BLUNTSCHLI in seinem "Leben", Bd. III, Seite 419 von  humanistischen  oder Geisteswissenschaften. STAMMLER konfrontiert Naturwissenschaften und  Zweck wissenschaften. JOHANN PLENGE (Drei Vorlesungen über die allgemeine Organisationslehre, Seite 21) "Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften, besser  Willens wissenschaften". In RUDOLF HILDEBRANDTs schönen Gedanken über Gott lesen wir Seite 22 von  Menschen wissenschaften. ROSCHERs "Grundlagen der Nationalökonomie" handelt im § 16 über die "Wisenschaften vom  Volksleben",  das ein Ganzes sei, an welchem vornehmlich sieben Seiten: Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Staat und Wirtschaft in Betracht kommen. Bei LORENZ STEIN stehen anstelle der Geisteswissenschaften die  Staats wissenschaften. HERMANN COHEN scheidet systematisch Logik und  Ethik  nach den Aufgabe, welche Natur und  Gemeinschaft  stellen. Auch OTTO WILLMANN zieht es (Lexikon der Pädagogik V, Seite 855) vor, die Wissenschaften, die es mit dem großen menschlichen Betätigungskreis zu tun haben in Anknüpfung an die antike Unterscheidung von Ethik und Physik statt Geisteswissenschaften  ethisch-historische  Wissenschaften zu nennen. Auch TROELTSCH zieht die Bezeichnung  historisch-ethische  Wissenschaften der unseren vor.

Und noch steht neben solchen terminologischen Vorschlägen eine geradezu beklemmende Fülle meist nicht eingehend begründeter sondern mehr gelegentlicher Programme geisteswissenschaftlicher Forschung: die Logik der Geisteswissenschaften als Teleologik, Organologik, Ergologik, Poietik. Ihr Verfahren als subjektivierend (statt objektivierend). Ihr Gegenstand als Reich der Freiheit, Reich der Werte, als Reich der Geistesschöpfung, als Reich der Originalität und der Ursprünge, als Reich der individuellen Totalitäten, als Reich des Werdens oder menschlichen Verhaltens, als Reich des Handelns, als Arbeitswet, als Tatwelt, als Menschenwerk oder die Geisteswissenschaften als Wissenschaften der Leistung, der Leistungssphären, der großen Lebenskreise oder Lebensgebiete, der Zwecksysteme, der Kultursysteme, der Provinzen der Kulturarbeit, der produktiven Wirklichkeit usw.

Und dabei liegen die größten Schwierigkeiten einer Einigung noch nicht einmal im Reichtum dieser Begriffe und Termini, sondern in erster Linie in der Vielzahl von  weltanschaulichen Gegensätzen,  welche durch diese sekundären Differenzierungen des Begriffs der Geisteswissenschaften durchgreifen und ebenso innerhalb derselben wie zwischen ihnen ihren bestimmenden Einfluß ausüben.

Eine gewisse Einigung ließe sich zunächst darüber erzielen, daß die Geisteswissenschaften die  Wissenschaften vom Menschen  sind. Sie erfüllen die Forderung des  gnothi seauton  [Erkenne dich selbst! - wp] Die Menschheit erarbeitet sich in ihnen ihr Wissen um sich selbst. In dem Satz, daß das eigentliche Studium der Mensch sei, begegnen sich die verschiedensten Parteien, POPE, GOETHE, HEGEL und die >Positivisten. Auch AUGUSTE COMTE feiert die  "étude de l'humanité"  [Studium der Menschheit - wp] als  "seule étude vraiment finale"  [das eigentliche Studium - wp] (Cours VI, Site 670). HERDER spricht in den Humanitätsbriefen von Moral, Natur- und Völkerrecht als "eigentlich menschliche Wissenschaften" (Ausgabe SUPHAN, Werke Bd. XVIII, Seite 325).

An diesem Ausgangspunkt wollen auch wir festhalten: die Geisteswissenschaften sind die  Wissenschaften von der selbsterschaffenen Welt des Menschen.  Aber die Menschheit ist zu betrachten in einer ganzen Reihe wohl zu unterscheidender Betrachtungsweisen, welche in kontinuierlichen Übergängen von Pol zu Pol wie in einer Bahn geordnet sind.

Die einen sehen die Menschheit  nur in ihrer Wirklichkeit.  und sie bleiben dabei in er bestimmten Einstellung befangen, deren Schranken durch die außerordentlich tiefgreifende immanente Differenzierung derselben nicht durchbrochen werden. Diese Differenzierung berut vor allem darauf, daß hier die menschliche Wirklichkeit einmal als  Gesellschaft (Staat, Zivilisation, bürgerliche Welt),  dann als  Geschichte,  dann als  seelische  Welt aufgefaßt wird. Hier liegen also die fundamentalen Gegensätze einmal in der Gegenüberstellung von  Natur und Gesellschaft,  dann von  Natur und Geschichte,  dann von  Natur und Seele  (Außenwelt - Innenwelt). Und dementsprechend treten die geisteswissenschaftlichen Methoden eimal als  politisch-ethische,  dann als  psychologische,  dann als  historische  auf. Und weiter differieren die letzteren, indem die geschichtliche Welt wiederum nicht nur methodologisch als Welt des  Individuellen  überhaupt betrachtet wird, sondern einmal als Welt der  Kulturwirklichkeit der Kultursystem und Lebenskreis, d. h. des  "objektiven Geistes",  dann aber auch als Welt des  Werdens  im Gegensatz zur Welt des Raums. Wozu auch das oben angeführte Zitat aus TREITSCHKE zu vergleichen wäre. In allen Differenzen, welche einige der großen typischen Grundauffassung der Geisteswissenschaften umfassen, sind diese Methoden geeint durch ihre Beschränkung auf Realitäten.

Andere nehmen eine gewisse Mittelstellung ein. Sie sehen die Menschheit nicht als Objekt sondern als ein  Subjekt  und begreifen dieses sowohl als lebendig wirkend wie als ein dabei aus geistigen und autonomen Motiven bestimmtes. Sie wollen diese Geistigkeit nicht nur als wirklich erklären, sondern  als sinnhaltig verstehen. 

Sie suchen als Moralwissenschaften die Prinzipien des menschlichen Handelns und sie suchen demselben nicht nur in historischer Reflexion oder psychologischer Selbstbesinnung seinen Sinn abzufragen, sondern wagen dasselbe auch zu  beurteilen  und sie wenden sich schließlich von aller Sinnverwirklichung zum  Reich  des Sinnes selbst und suchen systematisch dessen Gesetze, mögen dieselben in Systemen der Norm, des Wertes, der Idee oder des Zwecks gefaßt werden, zu konstruieren. Das erst ist die dritte Position, die idealistische. Hierher gehören die Antithesen von  Physik und Ethik, Wirklichkeit und Wert, der Dualismus der beiden Reiche,  des gestirnten Himmels über mir und des moralischen Gesetzes in mir. Und schließlich der von  Natur und Freiheit. 

Die geisteswissenschaftlichen Systeme bedürfen nun jedesmal der genauesten Interpretaion, auf welchem Punkt dieser Linie sie, oft ungeachtet ihrer Terminologie,  de facto  stehen.

Wo die Begriffswelt eindeutig idealistisch ist, wo ihr Vertreter Scheidungen der  quaestiones juris  und der  quaestiones facti  selbst vornimmt, ist die Diagnose eine einfache.

Auch daß die theologischen Systeme auf die idealistische Seite gehören, daß etwa der geistesphilosophische Gegensatz von Erkennen und  Lieben,  dem wie bei MALEBRANCHE alles Wissen ein Gott-Erkennen, alles Wollen ein Gott-Lieben ist, oder PASCALs Gegensatz des  esprit de géometrie  und  esprit de finesse  [Geist der Intuition - wp] oder der  logique de coeur  [Logik des Herzens - wp] nicht auf menschliche Wirklichkeit, sondern ideelles und geltendes sich richtet, ist leicht einzusehen. Daß aber  Gemeinschaft  als Gegenstand der Geisteswissenschaften bei HERMANN COHEN eine ideale Bedeutung hat, weil "Geisteswissenschaft" hier  Ethik  heißt, daß  Zweck,  bei STAMMLER als Grundbegriff einer  "sozialen Nomologie",  ausgesprochen idealistisch zu interpretieren ist, bedarf stets erst einer Kenntnis der Zusammenhänge. Denn "Gemeinschaft" könnte ansich auch rein soziologisch verstanden sein und Zweck ist zugleich der Grundbegriff des naturalistischen Utilitarismus.  Kulturwissenschaften  heißt bei RICKERT etwas wesentich anderes als bei manchem Philologen und Historiker, der diesen Terminus übernahm, aber bei seinem Gebrauch weniger an die Gültigkeit der Kulturwerte als an den Zusammenhang der Kulturerzeugnisse in Kulturtotalitäten dachte. Dann können prinzipiell aber auch  "Erzeugnisse"  wieder ebenso auf ihren Gehalt wie auf ihre Realität hin betrachtet werden. Und jeder  "Akt"  hat grundsätzlich eine Intention und steht darin dem Wert nicht fern, und zugleich einen Verlauf und als konkreter ein Datum oder eine Struktur, welche die Psychologie, die Historie und Soziologie gradweise objektivieren und naturalisieren können. Dasselbe gilt aber auch für die Geisteswissenschaften als Willenswissenschaften, ihres Gegenstandes als Tatwelt oder Arbeitswelt. Auch hier gilt nicht der Verlauf, sondern sein idealer  Sinn  oder sein  Ziel. 

"Menschheit" kann ebenso in der Perspektive der  Humanität  idealistisch, wie in der der  Anthropologie  naturalistisch betrachtet werden, aber auch dieser Begriff hatte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Epigonen der großen spekulativen Systeme die Lehre vom subjektiven Geist psychologisierten, eine durchaus idealistische Bedeutung. Und heute scheint sich diese Wendung im Rahmen der Phänomenologie zu wiederholen. Man wird auch die Soziologie OTHMAR SPANNs, deren philosophischer Gehalt nunmehr in seiner Kategorienlehre formuliert ist (1925), schwer verstehen, wenn man ihren normativen und idealistischen Charakter übersieht. Und selbst der Gegensatz von  Natur und Freiheit  ist ansich noch Mißverständnissen ausgesetzt, indem auch die Taten der Freiheit einmal mehr auf Gehalt und Ziel, dann wieder mehr auf Motivation und seelische Verwurzelung hin betrachtet werden können.

So bedarf schließlich auch der Sinn in welchem der Terminus  Geisteswissenschaften  selbst gebraucht wird, jedesmal der genauesten Interpretation. Nicht nur daß der Begriff des Geistes systematisch stark variiert, nicht nur daß die Geisteswissenschaften in Verbindung mit sehr verschiedenen synonymen Ausdrücken als "Geisteswissenschaften oder Moralwissenschaften", als "historische oder Geisteswissenschaft" auftreten, gerade wo dieser interpretierende zweite Terminus fehlt, gilt es zu fragen, wie er wohl hieße. So sind Geisteswissenschaften etwa für REISCHLE ausgesprochenermaßen Normwissenschaften, bei LAMPRECHT etwa ausgesprochenermaßer sozial-psychologische Wirklichkeitswissenschaften. Kurz die ganze oben belegte Skala existiert auch innerhalb der möglichen Auffassungen desselben Terminus. Das Ziel der großen objektiv-idealistischen Systeme, Wert und Wirklichkeit als die beiden entzweiten Seiten des Weltganzen zu versöhnen, wie es HEGEL in seinem Begriff des Geistes vorschwebt, erweist sich, sowie es erreicht ist, als eine Quelle von "Zweideutigkeiten".

Und diesen Interpretationsschwierigkeiten sind die geisteswissenschaftlichen Grundbegriffe ganz besonder auch da ausgesetzt, wo sie in der Form des  Organischen, Morphologischen, Physiognomischen, Typologischen  und gar  Dynamischen  auftreten. Anstatt den großen dualistischen Schnitt zwischen Wert und Sein, Gott und Welt, Geist und Natur zu legen, legen ihn zahlreiche Systeme zwischen die mechanische und die organische Welt. Und wie KANTs "Kritik der Urteilskraft" die Probleme der Biologie und der Ästhetik unter einen Nenner zusammenfaßt, so werden hier der toten Körperwelt nicht nur biologische Wirklichkeiten gegenübergestellt, der Begriff des Organismus umfaßt ebenso die Gesellschaft wie er in morphologischer und organologischer Form bestimmte Seiten der Weltgeschichte und in typologischer der geistigen Welt überhaupt bezeichnen kann. Ja, er kann schließlich ganz idealistisch unter dem Titel des  Gestalt begriffs auch die Welt der ästhetischen Werte begreifen.

Eine ganze Reihe von Standpunkten fallen unter diese Rubrik. So die Gegensätze  erklärender  und  verstehender  Wissenschaften, welche auf den Gegensatz von Quantität und Qualität aufgebaut sind; die Unterscheidung  mathematisch-exakter  und  morphologisch-deskriptiver  Methoden (wie ihn etwa D. MAHNKE in seiner neuen Monadologie Seite 80 vertritt), GIERKEs Gegenüberstellung  formalistischer  und  pragmatischer  Methoden (Die Grundbegriffe des Staatsrechts 1874, Neudruck 1918; und schließlich die Vertretung einer besonderen Art von Erfahrungswissen, das bildhaft geschlossene Ganzheiten zu erfassen vermag, wie es mit großer Energie HERMANN GlOCKNER neben dem streng theoretischen Erkenntnisbegriff RICKERTs herauszuarbeiten sich bemüht. (Insbesondere  Logos,  Bd. 15, Seite 47f)

Aber auch der Gegensatz des  Statischen  und  Dynamischen  kann ebensowohl mehr in einem naturalistischen Sinn dynamische  Prozesse  von mechanischen Prozessen sondern, als idealistisch und dialektisch Exponent einer bestimmten  Wert auffassung sein, wie sie bei TROELTSCH auf der Grundlage der BERGSONschen Gegenüberstellung der starren Verstandeswelt und dem Ideal des intuitiv zu ergreifenden "Neuen" vertreten wird. Der dualistische Idealist tut diese Positionen gerne als naturalistische ab. Dieselben bleiben zum Teil gewiß im Realen stecken, großenteils aber haben sie eine ausgesprochene objektiv-idealistische Grundstruktur.

Auch die Auffassung der geistigen Welt als der selbsterschaffenen und der Geisteswissenschaften als nacherzeugender Wissenschaften hat grundsätzlich idealistischen Sinn. Sie ist, zuerst von GIAMBATTISTA VICO vertreten, eine der tiefsinnigsten und stellt den Geisteswissenschaften das Problem einer Nacherzeugung von  Sinngehalten,  nicht von Wirklichkeiten als solchen.

Und auch die Gegenüberstellung einer inneren Welt, die uns bekannter sei als die äußere, bedarf Punkt für Punkt der Interpretation. Denn der faktische Sinn ist unzählige Male der gewesen, der uns die innere Welt als eine  moralische  Welt und nicht als eine psychologische unmittelbar zugänglich sei. Wie denn dieser Gegensatz des Inneren und Äußeren auch in KANTs "moralischem Gesetz in uns" steckt. - Dabei ist auch des grundsätzlichen Unterschiedes von  Selbstbesinnung  und  Selbstbeobachtung  zu gedenken. Ich besinne mich auf den Gehalt meines Tuns, in diesem Sine ist  deskriptive Psychologie  Wertwissenschaft und  erklärende  Psychologie Seinswissenschaft.

Noch bleibt ein letzter Versuch die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüberzustellen. In einem bemerkenswerten kleinen Aufsatz hat JAKOB GRIMM sie als die "ungenauen Wissenschaften" den exakten gegenübergestellt. Ein Satz TREITSCHKEs (8) bringt dieselbe Auffassung zum Ausdruck: "daß die Geisteswissenschaft nicht wie die Naturwissenschaft allein den Gesetzen der Logik folgen darf, daß sie ihre letzten und höchsten Gedanken nur  ahnen,  nicht ganz erweisen kann". Und ADOLF HARNACK hat in seinem bedeutenden Vortrag über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis (1917, Seite 19) dieselbe Anschauung dahin formuliert: die Geisteswissenschaften seien "nicht reine Wissenschaften, sondern ein Gemischvon Wissenschaften und Lebensweisheit". Auch hier ist nicht etwa die idealistische Position verlassen, vielmehr ist dieselbe im Rahmen des "Historismus" eine Verbindung mit irrationalistischen Motiven eingegangen, über welche ein späteres Kapitel noch Eingehenderes zu sagen haben wird.


3. PHILOSOPHIE
UND EINZELWISSENSCHAFTEN

In dieses Chaos scheint nur die Philosophie Ordnung bringen zu können. Welches aber ist ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften? Gerade über diese Frage gibt es nichts weniger als einen "Stand der Wissenschaft".

Dem  Empirismus  und  Positivismus  ist die Philosophie keine selbständige Wissenschaft neben den Einzelwissenschaften sondern vielmehr in Form von Prinzipien in diesen enthalten. Die Aufgabe der Philosophie ist dementsprechend entweder die einer enzyklopädischen Zusammenfassung des Wissensstoffes zu einem Totalbild der "Welt" oder der einer systematischen Ordnung der Grundsätze und Voraussetzungen des einzelwissenschaftliche, d. h. wissenschaftlichen Erkennens in einer "Logik". Die Philosophie ist damit abhängig von den Einzelwissenschaften. Die Einzelwissenschaften aber sind abhängig vom Stoff der Erfahrung.

Es ist dies die schlichte Konsequenz der empiristischen Theorie des Begriffs und der empirischen Auffassung des Verhältnisses von Form und Inhalt, Anschauen und Denken. Was für den Begriff überhaupt gilt, muß auch vom Begriff der Philosophie gelten. Und nicht nur von der Philosophie als Seinserkenntnis. Als universales Schema dehnt sich die empiristische Lehre vom Begriff auch auf das Verhältnis von sittlichen Begriffen und ihren Inhalten aus. Auch der sittlichen Erfahrung fließt ihr Gehalt notwendig aus sinnlichen Empfindungen oder Gefühlen zu, d. h. aus der Erfahrung. Aber die Sinne trügen. Und die Erfahrung ist nie am Ende. Die letzten Gültigkeiten sind so dem Zufall einer weiteren Erfahrung des Stoffes, des Werdens, der toten Gegebenheit preisgegeben. Und damit ist jede Allgemeingültigkeit im strengen Sinn unmöglich.

Eben diesem Zufalls- und Willkürcharakter der geistigen Formen setzen die  idealistischen Systeme  ihren Willen zum Allgemeingültigen entgegen. Sie denken diesen Begriff in seinen Konsequenzen durch. Sie schaffen in Begriffen der Idee, des Wertes, der Vernunft, Gottes und wie auch immer die begrifflichen Besonderungen und terminologischen Einkleidungen ihrer Grundintention heißen mögen, einen festen Punkt in der Erscheinungen Flucht. Das Allgemeine, das dem Positivisten in die Erscheinung verflochten, Entwicklungsresultat, Zufall, Willkür, Fiktion, Hypothese war, also reht eigentlich a posteriori, werdend und vergehend, dies heißt jetzt a priori, ist der Erscheinung gegenüber primär und als Form dem Wechsel der Inhalte entzogen.

Worauf aber beruth die  Gültigkeit  von Formen, welche "im Gemüt bereit liegen"? Den idealistischen Systemen ruht ihr systematischer Zusammenhang in sich und steht in einer tiefen dualistischen Spannung zum sinnlichen Stoff. Eben diese Spannung aber empfinden andere Systeme als unerträglich. Sie sehen ihre Aufgabe gerade darin, die Sinnlichkeit zu versöhnen und das Subjekt und seine Form aus seiner Gegensätzlichkeit zum Stoff der Welt zu befreien. So ziehen sie das Subjekt in die Erscheinung, aber in eine eben durch diesen Gehalt verklärte. Sie erweitern das Subjekt zum Weltgeist, dessen Formen sowohl im Objekt liegen als im Subjekt zum Selbstbewußtsein gelangen. Aus einem dualistischen Gegenüber von Form und Stoff, Subjekt und Objekt wird ein harmonischer Einklang. Die Welt ist ein Organismus in welchem sich Allgemeines und Besonderes harmonisch bedingen. Das Weltbild nähert sich dank dem neuen Verhältnis zum Stofflichen von neuem enzyklopädischen und entwicklungsgeschichtlichen Formen; nur daß Entwicklung jetzt nicht mehr bloßer naturgesetzlicher Prozeß, sondern zugleich Entfaltung eines ewigen Sinngehaltes ist.

Wenn wir diese Schemen etwas näher auf das Verhältnis von  Philosophie und Einzelwissenschaften  an, so ergibt sich ein dreifaches Bild.

Die Prinzipien der Wissenschaften sind dem Empiristen Erfahrungsprodukte. Den beiden idealistischen Standpunkten sind sie in sich begründet. Dem objektiven Idealismus zugleich als Prinzipien der Wissenschaft wie als Prinzipien der Dinge, dem dualistischen Idealismus als Prinzipien der Wissenschaft. Dem Empiristen sind die Grundbegriffe als  Generalisationen vom Stoff her,  dem Idealismus Fundamente der wissenschaftlichen Arbeit vom  System  her. Was dort  allgemein  heißt, heißt hier  Form.  Was dort empirische  Koordinationsform  ist (9) heißt hier  Kategorie das letzte und  abstrakteste Aposteriori  heißt hier  Apriori.  Was dort  Resultat  war heißt hier  Konstituenz. 

Nie also wird ein dualistischer Idealist den Begriff des Geistes und die Grundkategorien der geisteswissenschaftlichen Arbeit den empirischen Geisteswissenschaften und somit mittelbar dem Stoff entnehmen. Nie wird ein Empirist umgekehrt verfahren können. Diese Kluft ist theoretisch unaufhebbar.

In praxi aber liegen die Verhältnisse anders. Und wie der Empirismus sich die Allgemeingültigkeit seines Vorurteils zugunsten der Sinnlichkeit erschleicht, so sehen sich die idealistischen Systeme zur Notwendigkeit, ihre systematischen Begriffe auf die empirischen Wissenschaften  anzuwenden  veranlaßt.  In irgendeiner  Weise  müssen  die apriorischen Vernunftbegriffe in eine Beziehung zur  menschlichen  Vernunft gesetzt werden, die philosophischen Begriffe zu den einzelwissenschaftlichen. Der Standpunkt des Apriori bescheidet sich und verwandelt sich in den grundsätzlichen Vorbehalt immer erneuter Kritik am Empirischen.

Aber nochmals bedarf es eines Blickes auf die Praxis, um die wirklichen Verhältnisse erst vollends ins Klare zu stellen. Es ist ein ganz willküriches Vorurteil der idealistischen Philosophen, ihr Apriori stehe jemalas dem puren Stoff, dem Chaos schlechthin gegenüber. Das ist praktisch niemals der Fall. Damit soll nicht etwa im Sinne des objektiven Idealismus der Existenz objektiver Formen im Stoff das Wort geredet werden. Es gilt eine weit schlichtere Behauptung zu verfechten: der Form, bzw. Formung steht praktisch stets ein bereits geformter Stoff gegenüber. Denn dem formenden Zugriff - und diesen zu vollziehen beansprucht jeder systematische Gedanke mit vollem Recht - gehtt in der Zeit stets schon ein anderer formender Zugriff voraus. Wie immer der Stoff metaphysisch beschaffen sein mag, im lebendigen wissenschaftlichen Prozeß tritt er der Formung stets schon als ein bearbeiteter entgegen.

Der Vorbehalt der Kritik- dem letztlich das Postulat der  Autonomie  des Willens gegenüber aller Sinnlichkeit zugrunde liegt - erhebt sich nicht gegenüber der Erfahrung als purem Stoff sondern gegenüber älteren kritischen Zugriffen.

Die geisteswissenschaftlichen Grundbegriffe sind, so wie wir sie in der lebendigen Wissenschaft vorfinden, nichts weniger als schlichte Erfahrungsprodukte. Was aus ihrer Geschichte exakt festzustellen wäre. Aus regster Wechselwirkung mit philosophischen Systemen entstanden, stehen diese Begriffe als solche von ausgesprochen philosophischem Gehalt einer immer erneuten philosophischen Kritik gegenüber.

So ist das wahr  Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft  das  ständiger Wechselwirkung.  Und man darf nicht einmal sagen der Anteil der Philosophie sei stets ein klärender gewesen. Blickt man zurück auf die oben umrissene Geschichte des Terminus Geisteswissenschaften, so war es doch gerade die Philosophie, welche, anstatt den Einzelwissenschaften Stütze und Sicherheit zu bieten, dieselben in den Strudel ihrer systematischen Uneinigkeiten hineingezogen hat. Denn offenbar müßten sich Grundbegriff und Aufgabe der Geisteswissenschaften mit dem Wechsel der philosophischen Standpunkte stetig ändern, und man könnte geradezu sagen: wären die Geisteswissenschaften der philosophischen Führung allzu willig gefolgt: es wäre ihnen vor lauter Stellungswechsel zur positiven Arbeit wenig Zeit übrig geblieben. So gewinnt auf der Folie dieses Kampfes um die Grundbegriffe das Bild des Verhältnisses von Philosophie und Geisteswissenschaften mit einemmal ein völlig anderes Gesicht: Glücklicherweise gibt es in diesem Chaos noch  einen  relativ festen Punkt:  Die Geisteswissenschaften selbst.  Wer ihn übersieht, wird ihre Geschichte, die von ihren Beziehungen zur Philosophie gar nicht zu lösen ist, nie voll verstehen.

Was wollte es besagen, daß SCHOPENHAUER die Lauge des Spottes über den Begriff des Geistes ausgoß? Eben unter diesem Zeichen haben die deutschen Geisteswissenschaften zur selben Zeit ihren Siegeslauf vollendet. Hätten sie sich stören lassen sollen?

Es bedarf keiner weiteren Wiederholung, daß dies nicht heißen kann: der Gang dieser Einzelwissenschaften vollziehe sich faktisch unabhängig vom philosophischen Denken. Oder er solle das. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Verhältnis KEPLERs, GALILEIs, DESCARTES, NEWTONs, LEIBNIZens und KANTs zur modernen Naturwissenschaft belehrt über die wahren Beziehungen von Philosophie und Einzelwissenschaft. Die großen Naturforscher dieser Reihe haben sich als Philosophen gefühlt, die großen Philosophen als Naturforscher. Wäre NEWTON nicht Philosoph gewesen, so hätte KANT auf seinen Schultern nicht seine Erkenntnislehre errichten können. Weil DESCARTES und LEIBNIZ zugleich Naturforscher waren, deshalb vermochten sie produktiv in den Gang der Naturwissenschaften einzugreifen.

Das ist in der Blütezeit unserer Geisteswissenschaften nicht dem Kritiker des Geistesbegriffs SCHOPENHAUER, sondern dem Geistesphilosophen HEGEL gelungen. Von seiner Philosophie des Geistes haben deshalb die deutschen Geisteswissenschaften ihren Namen geerbt und zugleich haben sie in ihren Grundbegriffen eine Fülle von Traditionen der GOETHE- und HEGELzeit in eine Epoche hinübergerettet in der die Philosophie, wie sie heute selbst weiß, schlechterdings nicht mehr auf der Höhe ihrer geistesphilosophischen Aufgaben gestanden ist. Kurz die Geisteswissenschaften unterliegen grundsätzlich der philosophischen Kritik. Dieselbe kommt aber praktisch nur dann zur Geltung, wenn sie produktiv ist oder es mindestens einmal werden wird. Die Geisteswissenschaften haben ihre eigene philosophische Substanz und haben sich dieselbe in der produktiven Arbeit am Stoff und in stetiger Fühlung mit der Philosophie erworben. Auf dieser Substanz und nichts anderem beruth auch das Interesse, was sie seit DILTHEY und neuerdings in immer höheren Maße der Philosophie bieten. Weshalb der Vorwurf einseitig naturwissenschaftlicher Orientierung gegen einzelne (auf diesem begrenztem Gebiet zweifellos sehr verdiente) philosophische Schulen, wenn die Geisteswissenschaften, so wie sie  sind,  nicht eine notwendige sozusagen nahrhafte Vermehrung der philosophischen Instanz versprechen? Es ist nicht der Ruf nach Beschäftigung mit Problemen der Geistesphilosophie als solcher in rein sachlicher Richtung. Es ist auch nicht ganz richtig, zu sagen, das 17. und 18. Jahrhundert habe dieselben vernachlässigt. Eher könnte man sagen die Historiker der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts hätten das getan, denn beschäftigt hat sich die Epoche des "natürlichen Systems" ebenso lebhaft mit Problemen des Staates, des Rechts, der Religion wie mit Fragen der exakten Naturerkenntnis. Wohl aber kann man sagen auch über der Behandlung dieser geistesphilosophischen Fragen schwebe der  esprit géometrique,  und dieser ist es, den die Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts in philosophisch hochoriginaler Wendung überwandten und den die seit dem Zusammenbruch der HEGELschen Philosophie wieder vorwiegend vom geometrischen Geist beherrschte Philosophie mit ihrer Hilfe in seiner Einseitigkeit aufheben könnte. So sind es die  Geisteswissenschaften  als solche, welche ebenso einen Gegenstand des Lernens wie der Kritik bieten. Und so bleibt jede Kritk, welche den Kontakt mit den lebendigen Problemen verfehlt, hoffnunglos unfruchtbar.

Demnach bleiben grundsätzlich zwei Wege, den logischen und systematischen Gehalt der Geisteswissenschaften aufzufinden: der Weg der systematischen  Konstruktion  von der Philosophie her und der der systematischen  Reflexion  innerhalb der Geisteswissenschaften zur Philosophie hinauf.

Die Geisteswissenschaften könnten sich nicht mit Grund  Geistes wissenschaften nennen, wenn sie nicht in einem philosophischen Zentralbegriff (mag er Geist, Kultur, Wert, Tat oder wie auch immer heißen) einen außerhalb ihrer liegenden Einheitspunkt fänden. Sie dürften sich mit Recht nicht Geisteswissenschaften  nennen,  wenn sie denselben nicht bereits besäßen.

Da sich aber, wie weit man auch immer grundsätzlich Form und Stoff, Philosophie und Einzelwissenschaft trennen will, beide Seite irgendwo  begegnen müssen,  so erscheint  heute  - vorbehaltlich aller Königsrechte der Konstruktion - der selten begangenere Weg von den Geisteswissenschaften ein System oder ein Aggregat sind, soll die analytische Befragung ihrer im wesentlichen noch unerforschten Substanz beantworten.

Diese Aufgabe ist vielleicht weniger hochgemut als der spekulative Weg. Ihre Lösung wird in bescheidener Analyse der Annahme folgen, ihr Aggregat sei ein Ganzes, und es gelte gewissermaßen die natürlichen Gelenke dieses Organismus zu finden. Aber ihr Ergebnis wird zeigen: die Geisteswissenschaften  sind  ein Ganzes und sie  haben  ein System. Denn nicht nur die erdachten Systeme sind im Rahmen der Kulturleistungen Systeme, sondern alle Gefüge, deren Systemcharakter als solcher aufweisbar ist. Der systematische Charakter liegt im Gefüge und nicht nur in der Genese aus bestimmten Formen der Reflexion. Die Wahrheit liegt nicht in ihren Begründungen sondern in ihrer Begründbarkeit.


4. DIE LOGISCHE GLIEDERUNG
DER GEISTESWISSENSCHAFTEN

Sucht man sich in diesem großen Aggregat von Wissenschaften des Menschen zurechtzufinden, so bietet sich als erste elementare Einteilung die nach Sachgebieten, Staat, Recht, Wirtschaft, Kunst usw. dar, auf welche sich die großen Fachwissenschaften beziehen. Darüber sind Verhandlungen kaum mehr nötig. Ihre erste Einteilung geben sich die Geisteswissenschaften als  Fachwissenschaften. 

Und innerhalb der Fachwissenschaften drängt sich unmittelbar eine zweite Einteilung auf. Die Fachwissenschaften gliedern sich in  Teildisziplinen,  die Rechtswissenschaft in Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtshistorie und analog die anderen Fachwissenschaften. Welches  Principium divisionis  beherrscht diese Einteilung? Es ist offenbar ein logisches. Denn auf nichts anderem beruth der Unterschied von Wirtschaftshistorie, Wirtschaftstheorie, Wirtschaftsphilosophie als auf dem von RICKERT herausgearbeiteten Unterschied in der Art ihrer  Begriffsbildung.  So legen logische Gesichtspunkte, Arten der Begriffsbildung, Richtungen eines bestimmten Erkennenwollens, quer durch die nebeneinander liegenden Fachwissenschaften Zonen hindurch, innerhalb derer Rechtshistorie, Wirtschaftshistorie, Kunsthistorie als schlechthin  historische  Disziplinen geeint sind durch die Gemeinsamkeit ihrer Forschungs richtung  und ein spezifisches mit dieser verknüpftes Methodenbewußtsein. Durch dieses und es allein konstituiert sich in ihnen eine  erste Gruppe von Teilwissenschaften.  Solche gibt es wenigstens vier.

Den Juristen beschäftigt nicht nur die Rechtsgeschichte, den Theologen nicht nur die Religionsgeschichte. Fragt man den ersteren, was Rechtens sei, den Theologen, was religiöse Pflicht sei, so weist der eine auf das Gesetzbuch, der andere auf Glaubenslehre und Katechismus. Das geltende Recht und die geltende Religion werden von bedeutsamen Wissenschaften unter dem Titel der  Dogmatik  bearbeitet.

Die logische Struktur dieser dogmatischen Teilwissenschaften hat die Philosophie, bzw. die Logik stark vernachlässigt. In den meisten Wissenschaftseinteilungen werden diese Wissenschaften einfach vergessen. Der Ertrag der einzelwissenschaftlichen Methodologie, insbesondere der juristischen und theologischen, für eine Herausbildung einer allgemeinen Methodologie der dogmatischen Begriffsbildung überhaupt ist noch nicht gesichtet, das Problem als solches kaum konzipiert. Eine eingehende logische Charakteristik verbietet sich auch hier. Auch haben gewiß nicht alle Fachwissenschaften so ausgebildete dogmatische Disziplinen wie die Theologie und Jurisprudenz. Die Einstellung aber des Theologen, in einer Glaubenslehre den Gehalt einer religiösen Überlieferung oder eines religiösen Erlebnisses begrifflich zu  explizieren,  zu  systematisieren  und  theoretisch zu rechtfertigen,  und die des Juristen, das Rechtssystem, in welchem er steht, juristisch, d. h. systematisch zu interpretieren, reicht weit über diese beiden Wissenschaften hinaus und wirkt sich in einer in allen Abarten, allen stofflichen Anwendungen und methodischen Nuancen konstanten und über alles menschliche Denken verbreitete  spezifischen Art der Begriffsbildung  aus. Sei es, daß dieselbe bewußt als dogmatische geübt wird, wie vom modernen Theologen oder Juristen, sei es, daß sich ein Rechtssystem, das ein Rechtsphilosoph im Namen der Vernunft entwickelt, erst nachträglich und kritisch von außen besehen, als dogmatisch etwa an römische Rechtskategorien gebunden erweist.

Das Spezifikum des dogmatischen Verhaltens: die systematische Interpretaion eines Gehaltes begegnet uns aber auch in der Grammatik, besonders, soweit sie Sprachlehre und Unterrichtsmittel ist. Gegeben ist auch hier das sinnvolle Ganze einer Sprache, in welchem Regeln und höhere abstraktere Regeln so gesucht werden, daß die konkreteren aus denselben abzuleiten sind. Nur geht es hier das Bewußtsein, einen Sinnzusammenhang in seiner immanenten Logik zu interpretieren, nicht so ausgesprochen zum zweiten Schritt des dogmatischen Denkens über: dem Versuch, dieses immanent Logische in seiner einzigartigen Wahrheit auch zu begrnden. Aber auch diese Haltung ist der "akademischen" wie der "philosophischen" Grammatik des 17. und 18. Jahrhunderts keineswegs fremd.

Sehr deutlich aber wirkt sich dogmatisches Denken besonders in der Kunstwissenschaft aus. Auch diese schließt zwar innerhalb ihres Fachs keine ausgebildete dogmatische Teilwissenschaft ein. Aber geübt wird die dogmatische Begriffsbildung unverkennbar: einmal von der Kunstkritik, dann von einer in einzelnen Werken auch wissenschaftlich bedeutsamen Kunstschriftstellerei, welche für einen bestimmten Kunststil, meist den neuesten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, auch der Theorie, Propaganda macht. So hat in unseren Tagen der Impressionismus einige sehr geistreiche Dogmatiker besessen. So haben auch den Expressionismus in allen Phasen dogmatische Schriften begleitet, und so hat sich von der Renaissance ab kein neuer Stil ohne die Begleitung dieser apologetischen [rechtfertigenden - wp] Literatur mehr gebildet. Insbesondere aber entstammen allesogenannten Künstlerästhetiken, Bekenntnisse und Programmschriften schaffender Künstler dieser Geisteshaltung. Der reflektierende Künstler sucht den Sinn seiner Kunst zu explizieren. Jeder will zeigen,sie sei die  wahre  Kunst und will sie mit mehr oder weniger großem begrifflichem Apparat als die wahre erweisen. Und nimmt man den Standpunkt hoch genug, so findet man nicht nur da charakteristische Formen dogmatischer Begriffsbildung, wo der klassizistische Ästhetiker des frühen 19. Jahrhunderts den Kanon klassischer Schönheit für den Kanon der ästhetischen Vernunft überhaupt hält (was  mutatis mutandis  [unter vergleichbaren Voraussetzungen - wp] selbstverständlich genauso für den romantischen und für andere Ästhetiker gilt), man darf sich wohl fragen, ob nicht mindestens ein dogmatischer Zug in der gesamten neueren Ästhetik zu entdeckenwäre.

Logisch analog entwickelt schließlich auf dem Gebiet der Staatswissenschaften eine nicht minder umfassende politische Literatur: Dogmatiken des Liberalismus, der Demokratie, des Sozialismus. Dogmatiker ist der Form nach der Utopist und Prophet, dogmatisch jede Propaganda und Werbung, dogmatisch Wille und Gefühl, der Zeit, auf welchem Gebiet auch immer das erlösende Wort zu bringen ist, wobei der ganz unumgänglichen Tendenz der begrifflichen Rechtfertigung, diese so die Oberhand gewinnen kann, daß die Grenzen der dogmatischen Begriffsbildung nach der Seite einer  dritten Richtung des Begriffsbildens,  welche man  kritisch,  normativ oder wertphilosophisch nennen kann, praktisch verschwinden. Die politische Dogmatik geht über in die Staatsphilosophie, die theologische Dogmatik in die Religionsphilosophie, die Kunstdogmatik in die Ästhetik, die Rechtsdogmatik in die Philosophie des Rechts.

Den Grundcharakter der dritten Gruppe von Fragestellungen und Forschungsrichtungen innerhalb der Fachwissenschaften herausgearbeitet zu haben, ist eines der historischen Verdienste des  Neukantianismus Schlagworte wie "Wahrheitsgehalt der Religion", "Lehre vom richtigen Recht", "Idee des Schönen", "der wahre Staat", "Erziehungsideale" bezeichnen die gemeinsame Blickrichtung auf Allgemeingültiges, die Stellung der  quaestio iuris.  Der Dogmatiker will einen konkreten Sinn interpretieren, an dessen Wahrheit er  glaubt,  mit der er  existentielle  steht und fällt. Die Absicht des Rechtsphilosophen, des Religionsphilosophen, des Ästhetikers geht auf eine absolute und  radikale  Rechtfertigung. Kritik im positiven und negativen Sinne. Die Differenzen der einzelnen kritischen Wellen verschwinden vor diesem Grundzug. Jede Fachwissenschaft hat so eine philosophische Disziplin. Will sie  Geistes wissenschaft sein, so muß sie ihr Recht dazu  begründen  können.

Die kritische Begriffsbildung hat aber noch eine andere Grenze als die nach der dogmatischen, d. h. inhaltlichen Seite (besser der Gehaltsseite) zu. Sie teilt ihre formale und rationale Struktur mit  theoretischen Disziplinen  und Methoden. Dieser Art gibt es  rein theoretische Disziplinen, technische Kunstlehren, erklärende, typisierende  und  generalisierende Strukturwissenschaften. 

Stellt man die kritische Fragestellung der erklärenden gegenüber, die der gegenwärtigen Logik als die Methode der Naturwissenschaften wohl die vertrauteste ist, so drängt sich zunächst der in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitete fundamentale  Unterschied  beider auf. Hier Gültigkeit, dort Naturgesetz. Wenn ich in einem Kunstwerk oder in einem bestimmten künstlerischen Stil ästhetische Ideale verwirklicht finde und dies theoretisch zu begründen suche, so will ich dem Sinn meines Tuns nach etwas fundamental anderes als diesen Stil theoretisch erklären, sei es psychologisch oder psychoanalytisch oder soziologisch oder technisch. Es können sich zwar praktisch im Rahmen philosophischer Weltanschauungen und zumal im trüben Medium psychologischer Theorien erklärende und wertbegründende Tendenzen mischen. Aber dem  Sinn  nach kann auch dann, wenn ich sage: "Diese Kunst ist wahr, weil sie einem Bedürfnis der Seele genügt", dieser Satz der Versuch einer  Begründung  sein und keine bloße  Kausalerklärung  darstellen, denn es schwingt, solange das Wort  "wahr",  auf geistige Erscheinungen angewandt, überhaupt eine prägnante Bedeutung haben soll, mindestens die Voraussetzung mit, dieses Bedürfnis der Seele sei  würdig  erfüllt zu werden. Während der Satz: "Diese Operation war notwendig, um das Leben des Patienten zu erhalten", seinem Sinn nach einer ganz anderen Sphäre des Denkens angehört und angehören will, nämlich der kausaltheoretischen bzw. einer auf ihr errichteten technischen Kunstlehre.

Zwischen technischen Kunstlehren, deren notwendige Fundierung auf Kausalerkenntnisse einsichtig ist und der kritischen "Theorie" gibt es aber Brücken. Zumal da, wo die technischen Disziplinen ihrerseits wieder in sogenannten "reinen Theorien", in freien Konstruktionen bestimmter zweckmäßig geschaffener Fiktionen wie der der  "homo oeconomicus",  des "isolierten Staates", eines "wirtschaftlichen Prinzips" (10), des geistvoll erdachten LASKERschen "Macheiden" (11) und dgl. gipfeln. Von der Frage ausgehend: "Wie muß ich unter ganz bestimmt definierten Voraussetzungen handeln, um nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes ein ganz bestimmt definiertes Ziel zu erreichen", wird hier zu einem gegebenen Zweck in strenger, ganz in sich ruhender Folgerichtigkeit ein System von Mitteln konstruiert, wobei die Gültigkeit dieser Konstruktion zunächst nicht auf ihrer empirischen Verifikation beruth, sondern auf der logischen Folgerichtigkeit, in der sie die gegebenen Prämissen ausschöpft. Besonders deutlich wird diese logische Struktur der Theorien gerade da, wo Prämissen und Folgerungen fiktiv sind.

Ist die  Kritik  und  Systematik  von Wahrheiten, Werten, Ideen und Zweckbegriffen die Domäne der zweckbestimmenden  Vernunft,  so konstruiert in diesen  Theorien  in gleicher Streng der mittelsuchende  Verstand  ein von jeder Erfahrung auflösbares auf eine Sinnenwelt bezogenes begriffliches Gefüge. Systeme sind  wahr,  Theorien  richtig.  Die Elemente eines Systems sind  übersinnlich,  die einer Theorie, mag sie auch fiktiv sein, stets  sinnlich.  es wäre terminologisch empfehlenswert,  Vernunft  ausschließlich in  systematischen Wahrheiten, Verstand in theoretischen Richtigkeiten,  mit denen sich praktische Zweckmäßigkeiten decken, zu suchen.

Wie weit diese Methoden, wie sie insbesondere in der Sozialökonomik und in neueren Richtungen besonders der österreichischen Rechts- und Staatswissenschaft ausgebildet werden, praktisch reichen und wissenschaftlich fruchtbar sind, ist eine Frage, die scharf von der unseren nach ihrem logischen Sinn unterschieden werden muß. Auf ihr Verhältnis zu den empirischen Erscheinungen selbst, wie über ihr logisches Verhältnis zu den deskriptiven, typisierenden, vergleichenden, genetischen, d. h. stets empirisch generalisierenden Strukturwissenschafen und zur Kausalforschung, geht kurz das III. Kapitel ein. In allen Fachwissenschaften, aus denen neben Nationalökonomik und Staatswissenschaft besonders die Grammatik hervorzuheben ist, haben diese Methoden Erfolge erzielt. Daß hier Methodenkämpfe im Gange sind und vieles im Werden ist, darf nicht darüber täuschen, daß hier in der Durchforschung des Kulturlebens nach seiner Wirklichkeitsseite seit Jahrhunderten eine riesige Arbeit von echt theoretischer und generalisierender Blickrichtung geleistet wird.

Der formalen  Logik der Geisteswissenschaften  eröffnet sich mit der Unterscheidung dieser Teildisziplinen begründenden Arbeitsrichtungen ein weites Tätigkeitsfeld. Denn die Unterschiede, die zwischen den historischen, theoretischen, dogmatischen und kritischen Fragestellungen obwalten, sind logische im prägnanten Sinn.  Historische  Darstellungen,  theoretische  Begriffe,  dogmatische  Begriffe und  kritisch-systematische  unterscheiden sich durch ihre verschiedene logische Form, genauer durch die Form ihrer  Begriffsbildung. "Methodologische Probleme sind Begriffsbildungsprobleme."  Es ist das außerordentliche Verdienst WINDELBANDs, RICKERTs und LASKERs, diese Frage angeschnitten zu haben. Ihre Resultate sind größtenteils unverändert als Teilergebnisse in eine noch zu schreibende Methodologie der Geisteswissenschaften zu übernehmen. Keinesfalls aber handelt es sich für diese Methodologie darum, die Klassifikation der Wissenschaften durch eine Klassifikation der Methoden zu ersetzen. Der Terminus "Kulturwissenschaften" weist genau wie der hier bevorzugte weit über die historischen Disziplinen, die unter seinen Begriff fallen, hinaus. Der polare Gegensatz generalisierender und individualisierender Methoden begegnet uns innerhalb der Geisteswissenschaften selbst. Ja, bei genauerer Betrachtung trennt eine auf Besonderheit und Allgemeinheit zielende Tendenz innerhalb ihres Rahmens zweimal zwei Disziplinen. Die Polarität der historischen  Wirklichkeit  und ihres Gesetzes begegnet uns im Reich der  Wahrheit  als Polarität dogmatischer Positivität und kritischer Allgemeingültigkeit nochmals. Ja, sie kommt, wie sich zeigen läßt, hier erst zu wahrhaft philosophischer Bedeutung, welche, wie immer die verschiedenen Systeme das umschreiben mögen, über die Welt der Wirklichkeit grundsätzlich stets hinausreicht.


5. URSPRUNG DER METHODENKÄMPFE
IN GEGENSÄTZEN DER WELTANSCHAUUNG

Diese Probleme sind nicht die einzigen, welche den Methodologen beschäftigen. Nicht alle Probleme, die als methodologisch auftreten, sind Probleme der Begriffsbildung. Neben den logischen Problemen der Methodologie gibt es solche völlig anderer Struktur. Wenn etwa KARL VOSSLER seine geistsprühende methodologische Erstlingsschrift "Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft" (1904) nennt, oder wenn wir eine "Dogmen- und Methodengeschichte" wie die JOSEPH SCHUMPETERs (12) lesen oder eine "systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode", da ist nicht mehr primär von Problemen der Begriffsbildung die Rede. Der Unterschied wird vielleicht am deutlichsten, wenn man überlegt, daß das unter dem angeführten Titel erschienene Buch WOBBERMINs nicht von den Methoden der Religionspsychologie, sondern von der religionspsychologischen Methode in der Theologie handelt. Auch VOSSLER frägt nicht nur, wodurch sich die idealistische und positivistische Methode logisch, d. h. in der Art ihrer Begriffsbildung unterscheiden, sondern er frägt primär, welche dieser beiden Methoden die  wahre  ist. Eine Dogmen- und Methodengeschichte ist eine Geschichte der Methoden, die sich bewährten, die sich hoch und nieder gekämpft haben. WOBBERMIN will zeigen, daß die religionspsychologische Methode  die  Methode ist, die  wahre  und einzige Methode, um dem Wesen der Religion beizukommen. Hier ist nicht mehr von der Art der Begriffsbildung die Rede, wie sie die  neutrale Logik  untersucht, oder der Frage: wie macht es eigentlich der Theoretiker, um zu seinen Resultaten zu kommen, sondern von den  wahren und falschen Methoden.  Aus dem Problemkreis der Logik treten wir in den der  Prinzipienwissenschaften  oder der  Problematik der Geisteswissenschaften.  Und hier auf dem Gebiet der Problematik ist der eigentliche Ort der meisten sogenannten  Methodenstreitigkeiten.  Denn diese gehen  in praxi  ganz vorwiegend nicht um den logischen Charakter einzelner geisteswissenschaftlicher Methoden, sondern um das  Wesen  der großen Kulturgebiete.

Das mag nun bei Büchern wie den angeführten ohne weiteres verständlich sein. Sie drücken ja ihre Einstellung auf das "Wesen" der Sprache, der Religion, des Rechts, der Wirtschaft oder Kunst oft ganz deutlich im Titel aus. Wie steht es aber mit den zahlreichen anderen Methodenstreitigkeiten, die nicht in prinzipieller Erörterung erledigt werden, sondern im Rahmen der Sonderdisziplinen meist eine mehr gelegentliche Behandlung erfahren und eine praktische Lösung suchen? Das soll an einigen Beispielen erörtert werden.

Um was streiten sich eigentlich in der Kunsthistorie die Vertreter "problemgeschichtlicher" und "kulturgeschichtlicher" Methoden? Zunächst scheint es sich da um  rein historische  Tatsachenfragen zu handeln. Kunsthistorie, sagen die einen, ist Historie der  Kunst,  nur der Kunst, sie ist historische Darstellung spezifisch künstlerischer Probleme und ihrer Lösungen. Solche rein immanenten Entwicklungszeiten gibt (!) es. Die Entwicklung der Kunst, sagen die anderen ist (!) verflochten in das geistige Leben des Volkes (oder der Kultur oder der Gesellschaft) und schließlich der Persönlichkeit, welche sie hervorbringt. Sie empfängt aus ihr ihren Gehalt. Sie nimmt am Stil des Lebens teil, sie ist eine Spiegelung der sinnlichen und sittlichen Ideale einer Epoche, eine Konzentration des öffentlichen Geschmacks.

Auf diese typische Antithese lassen sich etwa die Positionen HEINRICH WÖLFFLINs einerseits und GEORG DEHIOs andererseits bringen. Bei DEHIO lesen wir auf der ersten Seite seiner "Geschichte der deutschen Kunst" mit deutlicher Abwehr gegen andere Auffassungen:  ihr wahrer Held sei das deutsche Volk.  Was heißt das? Nicht die Kunst als  autonome Vernunftfunktion,  sondern ein Volk, d. h. eine  Totalität des Lebens  ist Träger der Kunstgeschichte und Subjekt ihrer Entwicklung. Der Gehalt seines Lebens ist es, den es in seiner Kunst zum Ausdruck bringt. Ich habe gelegentlich einer Anzeige der WÖLFFLINschen "Grundbegriffe" (13) den Gegensatz dieser Positionen näher erläutert, später diese Betrachtungsweise auf CARL NEUMANNs "Rembrandt" (14) ausgedehnt. Beide Parteien stehen in großen künstlerischen und wissenschaftlichen Traditionen und repräsentieren weitverbreitete lebendige Strömungen.

Wo immer eine Lebenstotalität oder die geistige Haltung einer solchen, ein Lebenszustand, in den Mittelpunkt der Kunstgeschichte gerückt ist, heiße sie Volk, Kultur, Epoche, Zeit oder Gesellschaft, sei sie individualisiert im Genius oder des näheren als Gesinnung, Ethos, Haltung, Einstellung, Lebensgefühl oder Weltanschauung dieses Volkes oder Genius bezeichnet, gegen die Folie des von WÖLFFLIN oder seinem künstlerischen Lehrer ADOLF HILDEBRAND konsequent vertretenen Formalismus gehalten schließen sich über alle Unterschiede romantischer, nationaler, soziologischer, individualistischer, lebensphilosophischer Färbung hinweg, die verschiedensten Standpunkte sofort zu einer Einheitsfront zusammen und umgekehrt.

Die ganze romantische Kunstwissenschaft gehört auf diese "kulturgeschichtliche" Seite. Die griechische Kunst hat bei F. G. WELCKER keine autonome Entwicklung, sondern ist Teil eines umfassenden Ganzen. In dessen Mittelpunkt steht der griechische Volksgeist. Seine Offenbarung ist sie und in drei Mächten, der Religion, der Kunst und der Dichtung äußert er sich vornehmlich. Nicht anders betrachtet OTTO JAHN die griechische Kunst als eine Seite des griechischen Volksgeistes. Und so auch KARL SCHNAASE. Der griechische  Mensch  bildet den Kern der griechischen Kulturgeschichte JAKOB BURCKHARDTs. Die griechische Kultur in ihren einzelnen Leistungen ist seine Äußerung. Kern der Entwicklung ist der Mensch, Äußerung die Kunst. Was vom Meister gilt, gilt auch von den Schülern. Auch bei LAMPRECHT ist die Entwicklung der Kulturzeitalter, d. h. der typischen sozialpsychologischen Zustände, die sich inhaltlich als Befreiungsstufen der Individualität darstellen, eingebettet. Im Mittelpunkt stehen die Nationen; wie sie sich entwickeln, so entwickeln sich ihre Kulturzweige. Im übrigen ist die Nachkommenschaft des "griechischen Menschen" in neuerer Zeit kaum mehr übersehbar. Auch der gotische und barocke oder faustische Mensch ist primär gegenüber seinen Leistungen. Dieselben sind gotisch oder barock, weil  er,  der gotisch oder barock dichtet, malt, regiert, wirtschaftet, gotisch  ist. 

Damit ist längst bekundet, daß dieser methodologische Gegensatz über das kunsthistorische Gebiet weit hinausgreift. Nicht anders als die Kunst war bei WELCKER und seinen Gesinnungsgenossen die griechische Religion Ausdruck des griechischen Volksgeistes, ist die griechische Philosophie Ausdruck des griechischen Menschen. Es ist ein Grundthema von RANKEs "Politischen Gesprächs" (15), denselben Gesichtspunkt für die Staatsverfassungen durchzuführen. Selbst Heeresverfassungen, wird ausdrücklich betont, die "einen so unbedingten und vom Gang der inneren Staatsverwaltung unabhängigen Zweck" haben, sind unlösbar mit dem Zustand der Gesellschaft verflochten. Er steht dabei in vollem Einklang mit den Lehren der historischen Rechtsschule und der Staatslehre ADAM MÜLLERs. Die historische Nationalökonomie BRUNO HILDEBRANDs (16) und ROSCHERs hat dieselben Gesichtspunkte auf das Wirtschaftsleben ausgedehnt. Die Entwicklungen von Verfassung, Wirtschaft, Kunst, Religion sind in die Gesamtgeschichte unlösbar verflochten. Genau so steht bei DEHIO die deutsche Kunst im Zusammenhang des deutschen Lebens. Genauso galt im 19. Jahrhundert die Archäologie als ein Glied der umfassenden Altertumswissenschaft. Gemeinsam mit dem Philologen und dem Althistoriker dient der Archäologe der Erforschung antiken  Lebens. 

In dem Augenblick, in dem sich die Archäologie als griechische Kunstgeschichte proklamiert, ändert sich mit einem Schlag das ganze Bild wissenschaftlicher Zusammenhänge. Das Band mit der Philologie zerreißt, der nächste Fachgenosse des Archäologen ist nicht mehr der Philologe, sondern der moderne Kunsthistoriker. Beide müssen in erster Linie etwas von Kunst verstehen. Kunst als autonome Funktion verbindet sie enger, als die Substanz des griechischen Lebens den griechischen Kunsthistoriker an den Philologen fesselt. Und genau so löst sich eine autonome über Sprache und nationale Grenzen hinausgreifende Literaturwissenschaft, deren Kern Verständnis für das Wesen der Dichtung heißt, aus den nationale Philologien. Die Reformationsgeschichte fällt dem Theologen zu, die Wirtschaftsgeschichte dem Nationalökonomen, die Verfassungsgeschichte dem Juristen. In erster Linie muß man, um eine Verfassung zu verstehen, Jurist sein. Die Modifikationen des autonomen Juristischen im Zusammenhang des allgemeinen Lebens sind etwas Sekundäres.

Besinnen wir uns nun, daß hier noch immer von  "historischen"  Methodenstreitigkeiten bzw. methodologischen Gegensätzen die Rede ist, so taucht notwendig die Frage auf: was heißt hier "historische" Probleme? Sind  diese  Fragen rein historisch durch Aufweis von Fakten zu entscheiden? Nicht mehr und nicht minder als die oben erörterten prinzipiellen Fragen überhaupt! Denn um  Prinzipienfragen handelt es sich hier auf historischem Gebiet in genau demselben Sinne wie dort.  Und der Kern des Streites ist doch wohl der, welche Momente am Gesamtphänomen der Kunst die eigentlich wesentlichen sind. Sind es  formale,  so schreibe ich folgerichtigerweise Kunstgeschichte  als  Problemgeschichte. Sind es gehaltliche, schreibe ich sie  als  Lebensgeschichte. Um ein radikales Entweder-Oder zwischen Gehalt und Form braucht es sich dabei keineswegs zu handeln. Eine Entscheidung in ihrem  Rangstreit  genügt. Von der Historie her gesehen ist er ein Streit um ein sogenanntes Apriori der Geschichtsschreibung, sachlich gesehen die alte Auseinandersetzung zwischen  Form- und Gehaltsästhetik.  Nur haben die gehaltsästhetischen Grundbegriffe bestimmte Wandlungen durchgemacht. Seit der Romantik haben sich die Gehalt individualisiert. Die "allgemein menschliche Bedeutsamkeit", die ihnen im universalistisch gesinnten klassizistischen System zukam, hat sich auseinander gelegt in die Gehalte der Volksgeister und in weiteren individualistischen Wandlungen der Auffassung in die Gehalte der Genien. Damit war die Notwendigkeit gegeben, die Aufmerksamkeit mehr und mehr den subjektiven Trägern der nach diesene Trägern differenzierten Gehalte zuzuwenden, vom Gehalt der Werke auf den Gehalt ihrer Schöpfer, die sich d. h. ihren Gehalt im Werk "ausdrücken", zurückzugehen. Auch dem Klassizismus war Humanität nicht nur ein Gehalt, sondern  zugleich  eine  Gesinnung,  welche die klassischen Formen erfüllte. Jetzt werden Gesinnung, Ethos, Lebensgefühl, Weltanschauung geradezu psychologische und lebensphilosophische Synonyma des Gehalts.  "Leben ist fast seine gebräuchlichste Umschreibung geworden. Zwar hat auch der Sinn des Terminus "Leben" im Laufe des 19. Jahrhunderts und gar seit der Blüte der modischen Lebensphilosophie eine Reihe von nicht immer glücklichen Wandlungen durchgemacht, sachlich blieben die Verhältnisse aber dieselben, seit RANKE ganz folgerichtig im Sinne seiner oben gekennzeichneten Stellungnahme das Verhältnis von Leben und Theorie mit dem Satz bestimmt hat: "den  Inhalt  des  Lebens  vergegenwärtigt sie dem Gedanken". (17) Das heißt: die politische Theorie ist ein Reflex der lebendigen politischen Verhältnisse. Und das gilt  mutatis mutandis  für alle Form-Gehaltverhältnisse, und bezeichnet bestimmt den Primat des Gehaltlichen. Heute bezeichnet man dasselbe Rangverhältnis gerne als Primat des "schöpferischen Lebens". Denn "schöpferisch" heißt in diesem Bedeutungszusammenhang Produktion des "Neuen", Sprengung oder Erweiterung der starren Form und damit Bereicherung des Lebens. Bereicherung aber heißt immer soviel wie gehaltliche Bereicherung. Das gilt für das Gebiet der Kulturphilosophie, Ethik, Erkenntnistheorie und Metaphysik genauso wie für das ästhetische Gebiet. Dort dominiert der erlebte Gehalt im Begriff des Begriffs, hier im Begrif der Kunst. Denn es ist hier das  Gehaltsmoment  des deutschen Geistes in den Wechselfällen seiner Schicksale, das dominiert über formale Gesetzlichkeiten der Kunst überhaupt, wie es dort Gehaltsmoment des Gotischen ist, das im Begriff der gotischen Kunst als Ausdruck des gotischen Menschen dominiert über das Formmoment des isoliert Künstlerischen. Was als ein besonderes  historisches  Methodenproblem anhob und sich bald als eine alte  Prinzipienfrage  erwies, entpuppt sich schließlich als ein  philosophisches Problem ersten Ranges.  Und höchst nuancierte Entscheidungen solcher  philosophischen  Fragen sind es, um welche die Historiker ihre prinzipiellen Gegensätze ausfechten. Wie sie ihre historischen Werke gestalten, das hängt ganz davon ab, was für eine  Geistesphilosophie  es ist, die den Kern ihrer Überzeugungen bildet.

Damit ist die typische Struktur solcher Probleme bezeichnet. In der ausgezeichneten Gegenüberstellung der Kirchengeschichtsschreibung. FERDINAND CHRISTIAN BAURs und ADOLF HARNACKs, mit der ERNST TROELTSCH HARNACK zum 70. Geburtstag huldigte (18), findet sich bei analogen Verhältnissen auch unser Resultat ausdrücklich formuliert. Wenn HARNACK und BAUR auf einer gewissen gemeinsame Basis, welche den Supranaturalismus der älteren Kirchengeschichtsschreibung wie den glaubenslosen Naturalismus GIBBONs ablehnt, der erbaulichen Psychologisierung NEANDERs wie der künstlerischen Brillanz HASEs fernsteht, dagegen Glaubenslehre und Historie aufs engste verknüpfen, sich trennen, indem der eine in der Geschichte die Selbstentfaltung und Selbstbewegung der Idee verfolgt, somit die Kirchengeschichte als die Menschwerdung Gottes  dialektisch denkt,  der andere eine  Anschauung  christlichen Werdens zu gewinnen sucht, welche das Konkret-Lebendige und Reichbewegte, das Massive und Individuelle zugleich in der Besonderung des christlichen Geistes in den großen Konfessionen und den ihnen entsprechenden Volkstümern, die Verdichtung des Geistes großer Persönlichkeiten zu Institutionen und das Emporblühen neuer Persönlichkeiten aus verfallenden Institutionen sucht, wobei er weit mehr als BAUR mit "psychologischen Zufälligkeiten, Kreuzungen, Berührungen, Kontrasten" rechnet, so erkennt TROELTSCH ganz richtig  als gedanklichen Hintergrund dieser Unterschiede  "historischer" Methodik  zwei verschiedene Auffassungen "vom Wesen des Geistes und seines Werdens",  vermöge derer bei HARNACK die  Anschauung  der Geschichte die  Idee  ersetzen kann, weil sie selbst eine Idee ist und doch zugleich die Konkretheit und Unbegrifflichkeit des Lebens bewahrt. Wenn das "historische Denken" (sic) HARNACKs mehr empirisch als spekulativ, mehr psychologisch-kritisch als dialektisch-konstruktiv ist, so heißt diese Differenz der historischen Methode nichts anderes als Differenz der Grundbegriffe der Religion und letztlich des Geistes.

Vielleicht sind diese Strukturverhältnisse dem ungeübten Blick noch durchsichtier, wo die methodologische Spannung größer und die beiden Gegensätze  hier:  ausgesprochen dialektisch,  dort:  ausgesprochen religiös-individualistisch erscheinen. Hier im Mittelpunkt der Religionsphilosophie die  Idee,  dort das persönliche religiöse  Erlebnis  stehen. Als Problem der historischen Methode formuliert, heißt diese Alternative Dogmengeschichte oder Frömmigkeitsgeschichte. Prinzipienwissenschaftlich: dialaktische oder psychologische Methode. Man sieht die Methoden der Religionsphilosophie bestimmen die Methoden der Geschichtsschreibung nach denselben Regeln schlichter Konsequenz wie umgekehrt. Gewiß kann der Dialektiker auch einmal eine Biographie schreiben, der Individualist ein Stück objektiver Dogmengeschichte, den Kern des religiösen Lebens werden beide auf diesem Feld konsequenterweise jeweils so wenig suchen wie ein Theologe, der das Wesen religiöser Entwicklung grundsätzlich in der Geschichte religiösen  Lebens  zu suchen lernte und lehrte, dogmatisch je zu einem dialektischen System gelangen wird. Man kann aus BAURs Religionsgeschichtsschreibung seine Religionsphilosophie konstruieren, wie man umgekehrt die historische Methode entwickeln kann, welche der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Religion mittels religionspsychologischer Methoden notwendig entsprechen muß. Die Wirkung HEGELs auf alle geisteswissenschaftlichen Gebiete wie das Auftauchen psychologischer Methoden auch außerhalb der Religionswissenschaft zeigt deutlich, daß es sich auch hier um ein  gemeingeisteswissenschaftliches Problem  handelt. Die angeführten Beispiele beanspruchen exemplarischen Wert. Wer sie restlos durchdacht hat, wird in keinem methodologischen Problem mehr analoge Verhältnisse verkennen.

Ganz allgemein kann man als Hintergrund aller Methodenstreitigkeiten  philosophische  Gegensätze erkennen.

Umfassender noch als die bisher erörterten philosophischen Gegensätze zwischen Gehalt und Form, objektivem Geist und Innerlichkeit, sind die zwischen Idealismus und Naturalismus. Das schönste Beispiel für die Durchdringung einzelwissenschaftlicher Methoden durch philosophische Weltanschauungen gibt wohl das schon erwähnte Schriftchen KARL VOSSLERs. Hier hat ein Philologe, Philosoph und Einzelwissenschaftler zugleich die Wirkung weltanschaulicher Entscheidungen bis in den intimsten Aufbau der Einzelwissenschaften hinein verfolgt. Schon der Ansatz der Idealisten und Positivisten unterscheidet sich fundamental. Der Idealist geht von der Bedeutung des Sprachganzen zu den Sprachteilen weiter, der Positivist baut die Sprache wie der Physiker aus ihren kleinsten Bestandteilen auf. Das Riesengemälde der platonischen Gigantomachie zwischen Ideenfreunden und Erdgeborenen lebt fort im Genre-Bildchen des sprachwissenschaftlichen Kampfes zwischen Sinnhubern und Lautschiebern.

Ein ebenso bewußtes Bekenntnis zum idealistischen Standpunkt findet sich auf kunstwissenschaftlichem Gebiet etwa in der großen Abrechnung ALOIS RIEGLs mit den Semperianern (19), wo er die technologische Kunsttheorie als eine "Übertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens", ein "Glied der materialistischen Weltanschauung" klar erkennt, "bestimmt die Ableitung einer der geistigen Lebensäußerungen des Menschen aus stofflich materiellen Prämissen um einen Schritt weiter hinaufzurücken," und der Dogmatik eines "wesentlich mechanisch-materiellen Nachahmungstriebes" seine Überzeugung von der Spontaneität des Geistes und dem Primat des "freischöpferischen Kunstwollens" gegenüberstellt.

Auch wor wir bei WERNER SOMBART immer wieder betont finden, der "Geist" sei vor der Institution da, der sozialistische Gedanke vor der sozialen Bewegung, liegt eine analoge idealistische Überzeugung zugrunde.

Und umgekehrt bedarf die Bezeichnung der Voraussetzungen der Soziologie, des historischen Materialismus, der Frage nach historischen Gesetzen, der Verwechslung von Wesens- und Geltungsfragen mit Fragen nach der Entstehung und dem Ursprung von Religion, Kunst, Staat, Recht als naturalistisch kaum mehr näherer Erläuterung.

Aber auch weit versteckter können die naturalistischen Voraussetzungen in einzelwissenschaftlichen Werken eingebettet liegen.  Alle methodologischen Maßnahmen, jedes Werturteil, jeder Terminus  eines einzelwissenschaftlichen Werkes  ist aus einer letztlich weltanschaulichen Perspektive bestimmt.  Nichts ist selbstverständlich, alles voraussetzungsvoll und folgenreich. Ob eine Biographie so angelegt ist, daß sie mit einer Ahnenreihe, einer Jugendgeschichte oder einem geistesgeschichtlichen Kapitel einsetzt, ist meist bereits symptomatisch. Solche Anordnungen können zufällig sein, hat sich jedoch der Biograph etwas bei ihnen gedacht, so wirft die erste Maßnahme ein Licht auf die Stellung des Autors zu biologischen Vererbungstheorien oder aber seine konservativen Bewertung von Familientraditionen (also überindividuellen Objektivationen des geistigen Lebens); und der Verfechter des jugendgeschichtlichen Ansatzes wird dem "Erlebnis" einen anderen Rang zubilligen als der Leistung und ihrer autonomen Gesetzlichkeit, in deren Fortschritt der Vertreter des letzten Standpunktes seinen Helden einreihen wird.

Nie aber wird ein Rationalist einen primären und entscheidenden Rang zubilligen, nie ein Lebensphilosoph die formale Leistung über lebendiges Sein stellen. Nie aber auch etwa ein ausgesprochen dualistischer Individualist das Individuum aus objektiven Zusammenhängen organisch herauswachsen lassen. Bis in die Elemente des Aufbaus literarischer Werke hinein  erkennen wir alles Methodische als durchdrungen von philosophischen Voraussetzungen! 

Hier wird zunächst der formale Zusammenhang der Geisteswissenschaften verständlich. Wir haben uns ihm von unten, von der Empirie her genähert. Wir fanden ihn dreifach begründet: im  Stofflichen  (der Welt des Menschen), im  Logischen  (gemeinsamen logischen Fragestellungen) und nun im  Prinzipiellen.  Gehört ein Problem der Religionswissenschaft  wie  der Rechtswissenschaft, der Kunstwissenschaft wie der Ökonomik, schließlich allen Fachwissenschaften und ihren Teildisziplinen gegliedert an, dann dürfen wir es wohl ein gemeingeisteswissenschaftliches Problem nennen. Wir finden den letzten Zusammenhang der Geisteswissenschaften in der  Gemeinsamkeit ihrer Problematik. 

Der Philosoph, der die methodologische Literatur der vielen Einzelwissenschaften durchwandert, steht zunächst vor einem Urwalt. Umso mehr, als er ohne LEIBNIZens enzyklopädische Bildung ihrem Sachgehalt unmöglich voll gewachsen sein kann. Mit einemmal vereinfacht sich die Situation. Er sieht die prinzipiellen Probleme der Kunstgeschichte, Rechtsgeschichte, Religionsgeschichte auf wenige zentrale Fragen zusammenschrumpfen. Je tiefer er dringt, desto mehr vereinfachen sich die Prinzipienfragen, und er bemerkt: im Grunde streiten alle diese Einzelwissenschaftler, soweit sie vom Prinzipiellen reden und nicht vom qualitativ Stofflichen, um  dasselbe.  Immer wieder tauchen in immer neuer Verkleidung bestimmte gemeingeisteswissenschaftliche Fragen auf: wie ist das Wesen der Religion oder Kunst ohne historisches Material zu finden, wie andererseits diese Geschichte ohne Wesensbegriff angreifbar?

Finde ich das Wesen der geistigen Phänomene konstruktiv? spekulativ? deskriptiv? intuitiv? psychologisch? genetisch? Kritische oder genetische Methode? Genetische oder vergleichende? Vergleichende oder psychologische? Dialektische oder transzendentale Methode? Idealismus oder Positivismus? Rationalismus oder Historismus? Logische oder deskriptive Grammatik? Deduktive oder empirische Nationalökonomie? Idee oder Persönlichkeit? Individuum oder Masse usw. Wo immmer wir eine Prinzipienlehre aufschlagen, stoßen wir auf diese Frage schon im Inhaltsverzeichnis.

Dann aber taucht die Frage auf: Beantwortet diese Frage nicht die  Philosophie?  Diese Frage ist zunächst zweideutig, solange man nicht genau zwischen Theorie und Praxis dieser Beantwortung unterscheidet. Idealiter und theoretisch ist es allerdings die Aufgabe der Philosophie, als Fachphilosophie verstanden, hier autoritativ einzugreifen. Das hat sie in schöpferischen Epochen oft genug getan. So im Zeitalter des "natürlichen Systems". So - und dies bleibt das größte Beispiel für eine solche unmittelbare Befruchtung der Geisteswissenschaften durch philosophische Theorien - im Zeitalter HEGELs. Nach ihm hat der naturalistische Positivismus des 19. Jahrhunderts (den man als System nicht mit bloßer Sammeltätigkeit verwechseln sollte), in ihre Entwicklung eingegriffen, den letzten Versuch großen Stiles machte der Neukantianismus, heute tritt die Phänomenologie in seine Spuren. Soweit dürfte der Philosoph einverstanden sein! Aber nochmals gilt es festzustellen: Wo diese Versuche mißlingen, wo die Philosophie den Geisteswissenschaften nichts zu sagen hat, wo ihre Grundbegriffe zwar als universale auftreten, in Wirklichkeit aber einseitig, eng und problemfrend sind, wo die Geisteswissenschaften sich nicht von dieser Geistesphilosophie gefördert fühlen, da ändern sich die Verhältnisse. Die Einzelwissenschaft  muß  bestimmte Antworten haben. Die methodologischen Probleme drängen mit Notwendigkeit auf eindeutige Lösungen hin. Um solche drehen sich die Methodenkämpfe. Die Erledigung der Prinzipienfragen ist der Nerv ihres Fortschritts. Die Geschichte der Geisteswissenschaften besteht, im Großen gesehen, aus einem ständigen Erproben neuer Prinzipien an den Tatsachen. Wo die Fachphilosophie versagt, ergreift der Geisteswissenschaftler selbst die philosophische Aufgabe. Der theoretische Anspruch der  Philosophie als solcher  bleibt von dieser Praxis unberührt. Aber der "Philosoph", der die Prinzipienfrage zur Entscheidung bringt, wird nicht mehr der  zukünftige Philosoph sein.  Ein Erneuerer der Einzelwissenschaften wird sich zu philosophischer Bedeutung erheben.

Man kann eine  Skala  aufstellen  von Graden der Konkretion und Abstraktheit  geisteswissenschaftlicher Prinzipien. Eine Art Pyramide. An der Spitze steht die systematische Philosophie. Ihre Urschemata breiten sich auf einer weiteren Stufe aus zu den Fachphilosophie: Kunstphilosophie, Religionsphilosophie usw. Dieselben stehen mitten inne zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften. Selbstverständlich werden sie im Geist der Systeme behandelt. Praktisch aber arbeitet nicht nur der Philosoph an ihnen. Einen Grad konkreter sind die systematisch angelegten  Prinzipienwissenschaften  und systematischen  Methodologien. 

Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, daß ihre Probleme sich großenteils decken. Ob ich prinzipienwissenschaftlich und sachlich gerichtet sage, "die Sprache  ist  ein Organismus", oder methodologisch "die wahre Methode der Sprachphilosophie ist die organische", ja selbst ob ich sage, die Sprache soll zweckmäßigerweise behandelt werden "als ob" sie ein Organismus wäre, das sind praktisch meist nur sekundäre Gegensätze innerhalb derselben "organologischen"  Position,  was sofort deutlich wird, wenn man so einen "Organiker", einem "Psychologisten", "Logizisten" oder Vertretern eines anderen Standpunkts gegenüberstellt.
Auf einer noch konkreteren Stufe stehen die lebendigen methodologischen Diskussionen. Auch sie werden  theoretisch  geführt, ja sie können ein sehr hohes theoretisches Niveau haben, nur eigentlich  systematisch  ist diese Erörterung nicht mehr. Sie behandeln meist besondere Probleme. Umfassen sie das ganze Gebiet, so gehen sie in die nächsthöhere Stufe über. Damit schin eine untere Grenze erreicht zu sein. Dem ist nicht so. Denn jetzt gelangen diese methodologischen Probleme, deren Stufengang wir verfolgten, erst voll zur Anwendung, nämlich in den wissenschaftlichen  Werken selbst,  welche diese Methoden fruktifizieren. Methoden lehren  sind immer schon etwas  relativ  Philosophisches, der Fortschritt der Wissenschaft aber vollzieht sich erst in den  Werken,  in denen diese Methoden sich als produktiv ausweisen. Methodenstreitigkeiten, wenn sie weltanschauliche Impulse bergen, entzünden sich an der  Sache.  Und an dieser verwirklichen sich Methoden zunächst unmittelbar. Die Milieutheorie etwa begegnet uns nicht nur als  Programm  HIPPOLYTE TAINEs, das sagt: man soll den Künstler aus seiner Umwelt zu verstehen suchen oder (anstatt in methodologischer, in gegenständlicher Wendung): das Kunstwerk wächst aus seiner Umwelt. Das ist der  prinzipienwissenschaftliche  Ort der Milieutheorie. In erster Linie aber lebt sie in TAINEs  darstellenden  Werken. Und halte ich diese etwa neben die Werke GUNDOLFs, so habe ich den radikalsten methologischen Gegensatz, nicht mehr theoretisch formuliert, sondern praktisch gestaltet. In dieser praktischen lebendigen Durchführung haben die methodologischen Gegensätze ihr eigentliches Leben. Das Band zur Philosophie ist damit aber keineswegs unterbrochen. Ja, hier leben die weltanschaulichen Gegensätze sich erst aus. GUNDOLFs "Goethe"  ist  idealistisch, TAINEs Darstellung der englischen Literatur oder der italienischen Kunst  ist  positivistisch. In der Feindschaft der praktischen Durchführung entzündet sich erst der Methodenstreit. In ihm aber steckt der ganze Gegensatz der Weltanschauungen.

Grundsätzlich ist also  jedes  Stockwerk der Pyramide idealistisch oder naturalistisch.  Der Weg des Gedankens ist aber keinesfalls an den Gang von oben nach unten gebunden.  Er kann gerade so gut in der konkreten Arbeit aufleuchten und dann die übrigen Stufen in seine Richtung zwingen, als sich von oben nach unten in fortschreitender konkreter Anwendung erfüllen. Eine idealistische Entscheidung auf dem Gebiet der Philosophie impliziert ebenso eine idealistische  Anwendung  auf dem Gebiet der Sprache wie eine idealistische  Sprachwissenschaft  ein idealistisches  Weltbild  impliziert. Auf  dieser  philosophischen Nebenbedeutung beruth die Größe und  der  Sinn der großen methodologischen Neuschöpfungen. Dadurch drängen sie sich unserer Aufmerksamkeit erst auf, dadurch erregen sie erst unser Nachdenken, eine neue  grundsätzliche  Konzeption erweist sich in ihnen als einzelwissenschaftlich fruchtbar, greift aber zugleich weit über das Fach hinaus und mündet im weltanschaulichen. Das ist der letzte Sinn neuer, kühn ergriffener Methoden: sie setzen letztlich eine neue  Weltanschauung  durch. Die  Führung  wechselt zwischen Spitze und Basis unserer Pyramide. Die Führung ist aber immer  da, wo der Genius  wirkt.

So stellt sich die Geschichte der Geisteswissenschaften, periodisiert nach der zentralen Stellung großer methodologischer Grundrichtungen, dar, als ein Prozeß ständiger und oft intimer Wechselwirkung zwischen Philosophie und diesem methodologischen Rückgrat. Kein geisteswissenschaftlicher Grundbegriff bis in die speziellsten Theorien hinein, der nicht grundsätzlich philosophische Bezüge und, handelt es sich um eine Meisterprägung, wahre philosophische Bedeutung hätte. In den großen Meisterwerken ist jeweils eine neue Konzeption der geistigen Welt, bewährt an den neu gesehenen und universal herangezogenen Tatsachen. Dieser philosophische Einschlag ist es, der die auffallende Unstetigkeit in die Entwicklung der Geisteswissenschaften hineinträgt, welche dieselbe verglichen mit der Entwicklung der Naturwissenschaften kennzeichnet. Die letztere weit stetigere hat scheinbar andere Beziehungen zur Philosophiegeschichte. In Wirklichkeit aber besteht der Unterschied der beiden Entwicklungsreihen nur darin, daß die Prinzipien der Naturwissenschaft seit GALILEI relativ stabil blieben. Daß dies nur im relativen Sinn gilt, weiß jeder Kenner ihrer Geschichte. Und die Gegenwart lehrt es uns besonders eindringlich. Aber das "naturalistische" Motiv der  Naturbeherrschung  bleibt auch heute noch grundlegend. Dieser  eine  Gesichtspunkt hat sie von Sieg zu Sieg geführt. Der Fortschritt der Geisteswissenschaften aber ist, so sehr auch er an Tatsachenforschung gebunden ist, in ganz anderem Maß mit der Entwicklung und dem Gegensatz gerade von  "Gesichtspunkten"  verknüpft. Deren philosophische und weltanschauliche Bedeutung gilt es zunächst einmal klar und kühl zu erkennen.  Es gibt kein anderes Mittel die geisteswissenschaftlichen Begriffe und Methoden voll zu verstehen als dieses: sie in ihre weltanschaulichen Ursprünge zurückzuverfolgen. 
LITERATUR - Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1948
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, Einleitung in die Philosophie, 1909, Seite 39f. Derselbe "Logik I", 1920, Seite 85f
    2) BENNO ERDMANN, Erkennen und Verstehen, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1912, Seite 1240f.
    3) ERICH BECHER, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Wissenschaften, 1921, Seite 1f
    4) JOHN STUART MILL, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Prinzipien wissenschaftlicher Forschung. Ins Deutsche übertragen von JAKOB SCHIEL, 1849
    5) HERMANN HELMHOLTZ, Populäre Vorträge I, Seite 16f. Ebenfalls in "Vorträge und Reden I", Seite 157f. Neuerdings in der dankenswerten Auswahl "Natur und Naturwissenschaft", Bücher der Bildung, Bd. 11, Seite 107f.
    6) Vgl. Die Geisteswissenschaften und die Philosophie in der Wochenschrift "Die Geisteswissenschaften, Heft 1, 1913.
    7) HEINRICH von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, sechste Auflage, 1914, Bd. V, Seite 424
    8) TREITSCHKE, Deutsche Geschichte, Bd. 3, Seite 969
    9) Vgl. FRITZ MÜNCH, Erlebnis und Geltung, 1913, Seite 51f
    10) Vgl. HERO von Moeller, Zur Frage der Objektivität des wirtschaftlichen Prinzips, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 47 und  meine  Anzeige in der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1922.
    11) Vgl. EMANUEL LASKER, Die Philosophie des Unvollendbar, 1919, Seite 94f.
    12) JOSEPH SCHUMPETER, Grundriß der Sozialökonomik, Bd. 1, 1914
    13) Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. 41, Seite 168f
    14) Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. 45, Seite 253f
    15) RANKE, Politisches Gespräch, Seite 17 meiner Ausgabe (Philosophie und Geisteswissenschaften, Neudrucke, Bd. 2, Halle 1925).
    16) Vgl. Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, Bd. 1, bes. Seite 27f in der Ausgabe von H. GEHRIG (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 22, Jena 1922).
    17) Siehe RANKE, a. a. O. Seite 9
    18) ADOLF von HARNACK und F. C. von BAUR in der Festgabe für HARNACK, Tübingen, 1921, Seite 282f
    19) ALOIS RIEGL, Stilfragen, Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, 1893