ra-2 F. KlingB. BauchM. SchelerM. Hartmann    
 
NICOLAI HARTMANN>
(1882-1950)
[mit NS-Vergangenheit]
Ethik
[2/2]

"Ist es doch so, daß der ethischen Gebote viele sind, verschieden nach Zeit und Volk, und daß alle mit der gleichen Autorität auftreten, wobei sich die Absolutheitsansprüche widersprechen. Sind nun der geschichtlichen Irrtümer so viele als der positiven Gebote, so ist eben kategorisch nach einer Instanz zu verlangen, die hier scheidet, sichtet, Anmaßung einschränkt - wenn schon sie vielleicht nicht selbst Besseres aus dem Boden stampfen kann. Die Instanz kann einzig Philosophie sein. Jede andere wäre wieder angemaßte Autorität. Philosophie ist ihrem Wesen nach die aus Einsichten und Gründen ermessende Instanz. Und wenn sie es noch nicht sein sollte, so liegt es eben doch in ihrem Wesen es zu sein. Und also muß sie es werden. Sie ist die berufende Instanz."

"Tugend ist nicht lehrbar, denn wohl ist Wissen lehrbar, aber Wissen tut's nicht. In der Sprache unserer heutigen Begriffe aber heißt es: Ethik kann zwar lehren, was wir tun sollen, aber das Lehren ist ohnmächtig, der Mensch kann ihm nicht folgen. Ethik ist zwar in der Idee normativ, aber nicht in der Wirklichkeit. Sie bestimmt und führt den Menschen nicht im Leben, ist nicht praktisch. Es gibt keine praktische Philosophie. Praktisch ist allein die Religion."

"Fernab von den großen Perspektiven der Menschheitsentwicklung, im engsten Rahmen des Alltagslebens liegt ein breites praktisches Arbeitsfeld der Ethik. Sie arbeitet an der Erweckung des Wertorgans. Daß diese Arbeit immer nur durch die Vermittlung Einzelner oder Weniger ins Leben dringt, tut dem keinen Abbruch. Der berufenen Erzieher wird es immer wenige geben. Aber die Wenigen sind das Salz der Erde."

Erster Teil:
DIE STRUKTUR DES ETHISCHEN PHÄNOMENS
(Phänomenologie der Sitten)

I. A b s c h n i t t
Kontemplative und normative Ethik

1. Kapitel
Die Kompetenzfrage der praktischen Philosophie

a) Allgemeine Art und Geltungsanspruch sittlicher Gebote

Die beiden aufgeworfenen Fragen enthalten das Programm der Ethik. Sie teilen das Ganze ihrer Aufgabe nicht in zwei selbständige Hälften. Ihr Zusammenhang ist dafür ein zu innerlicher, organischer. Sie sind nicht trennbar, sind Kehrseiten einer Grundfrage. Was ich tun soll, kann ich nur ermessen, wenn ich "sehe", was überhaupt wertvoll ist im Leben. Und "sehen", was wertvoll ist, kann ich nur, wenn ich dieses Sehen selbst als wertvolles Verhalten, als Aufgabe, als inneres Tunsollen empfinde.

Dieses Ineinanderstecken der beiden Fragen ist nicht gleichgültig für das Vorgehen der Untersuchung. Die Breite der Problemfront zersplittert die Kraft des Vordringens. Man muß teilen, im Teilproblem vorgehen und vom Gewonnenen aus den Überblick wiedergewinnen. Gesichert aber ist das Verfahren nur, wo das Ineinanderstecken der Probleme von vornherein ein solches Wiedergewinnen gewährleistet. Es ist die Gunst der ethischen Problemlage, daß diese Bedingung in der Spaltung der Grundfrage zutrifft. Wir dürfen das engere und übersichtlichere Problem des Tunsollens ruhig für sich verfolgen ohne die Gefahr, das andere und weitere Problem des Wertvollen überhaupt dabei zu verfehlen. Beide Fragen gehen auf dieselben ethischen Prinzipien, dieselben Werte. Nur der intendierte Ausschnitt aus dem Wertreich ist in beiden ein sehr verschieden großer. Für die ersten Anhaltspunkt ist vom engeren Ausschnitt auszugehen. Wir dürfen einstweilen den hergebrachten Methoden der Ethik folgen, die fast ausschließlich auf das Tunsollen gehen. Das Wissen um den Teilcharakter der Frage darf vor der Hand als Korrektiv genügen.

Wo es sich um ein Suchen nach Prinzipien handelt, ist zuvörderst zu fragen: nach was für Prinzipien?

Es genügt nicht, hierauf bündig zu antworten: nach Werten. Was Werte sind, ist gerade die Frage. Und diese Frage ist schwieriger, als sich hier voraussehen läßt. Lassen wir es zunächst bei der engsten Fassung der ethischen Prinzipien als Prinzipien des Tunsollens, so tragen sie unverkennbar den Charakter von Geboten, von Imperativen. Sie stellen Anforderungen, bilden eine Art Tribunal, und vor diesem Tribunal hat sich menschliches Verhalten - sei es nun Tun oder bloßes Wollen - zu verantworten. Sie selbst aber geben keine Rechenschaft über ihre Kompetenz, erkennen keine Instanz über sich an, die ihre Anforderungen als rechtmäßigen Anspruch legitimieren oder als Anmaßung entlarven könnte. Sie treten als absolute, autonome, letzte Instanz auf. Damit aber beschwören sie selbst die Rechtsfrage herauf.

Von welcher Art ist die Autorität der sittlichen Prinzipien? Ist sie eine gediegene, wirklich absolute? Oder ist sie relativ auf Zeiten und Auffassungen? Gibt es absolute ethische Gebote, oder sind sie entstanden und können sie wieder zurücksinken in Nichtsein und Vergessenheit? Ist z. B. das Gebot, "liebe deinen Nächsten" ein überzeitliches und ewiges? Ist seine Gültigkeit unabhängig davon, ob Menschen es zu ehren und zu erfüllen trachten oder nicht?

Die Frage ist offenbar nicht mit dem Hinweis auf die geschichtliche Tatsache zu lösen, daß es Zeiten gegeben hat, in denen die Menschen dieses Gebot nicht kannten. Besteht das Gebot absolut, so war jene Tatsache eben eine Tatsache der Unwissenheit oder sittlichen Unreife des Menschengeschlechts, aber keine Widerlegung des Gebotes. Besteht es aber nicht absolut, so ist der geschichtliche Augenblick seines Aufkommens objektiv die Geburtsstunde eines sittlichen Prinzips.

Tatsachen können also hier nicht belehren. Wie überhaupt Tatsachen niemals eine Rechtsfrage entscheiden können.

So stehen sich zunächst zwei kontradiktorische Auffassungen gegenüber: eine absolutistische, aprioristische und eine relativistische, historisch-genetische.

Welche von beiden recht hat, das hängt davon ab, welche als Theorie in ihren Konsequenzen haltbar ist. Sind sittliche Gebote absolut, so gilt es in ihnen das Absolute als autonomes unwidersprechlich gewisses Prinzip nachzuweisen. Sind sie aber entstanden, so ist umgekehrt zu zeigen, wie ihre Entstehung zu denken ist und wie mit ihr das positive Recht auf Geltung und der Schein der Absolutheit entsteht. Seit der Zeit der Sophistik, die zuerst unterschied zwischen dem, was  physei  und dem, was  thesei  besteht, ist diese Frage nicht wieder eingeschlafen und steht mit Recht im Zentrum allen Streites der Meinungen und Theorien.


b) ethischer Relativismus

Für das Wesen der philosophischen Ethik ist diese Frage entscheidend. Sind sittliche Gebote entstanden, so sind sie Menschenwerk, so hat der menschliche Gedanke Macht, sie zu erheben und zu stürzen; so dürfte denn auch der philosophische Gedanke Macht haben, Gebote zu geben, wie der politische Gedanke Macht hat, Gesetze zu geben. Positives Recht und positive Moral stehen dann auf einer Stufe. Dann ist Ethik "praktische Philosophie" im normativen Sinn, und der Anspruch zu lehren, was geschehen soll, ist keine hohle Anmaßung. Denn die Prinzipien des Sollens müssen erfunden, erdacht werden. Die Arbeit des ethischen Gedankens ist die Ursprungsstätte ihres Bestehens.

Mag es denn auch tatsächlich so sein, daß Normen gemeinhin abseits von philosophischer Besinnung und zeitlich vor ihr entstehen und zur Geltung gelangen, der philosophischen Ethik fiele doch die ganze Verantwortung für sie zu. Denn ihr als geistiger Rechenschaft stünde es zu, die Normen zu revidieren, sie auf die Waagschale zu legen, anzuerkennen oder zu verwerfen. Der ethische Gedanke wäre der berufene Gesetzgeber des Menschenlebens, hätte Macht und Pflicht, die Menschheit eines Besseren zu belehren.

Daß die philosophische Ethik tatsächlich diese ungeheure Verantwortung nicht trägt, läßt sich zwar gefühlsmäßig leicht absehen, bedarf aber wohl eines strengeren Erweises aus der Struktur des ethischen Phänomens heraus. Der Erweis wird sich im Verlauf der weiteren Untersuchung mit zunehmender Gewißheit von selbst ergeben.

Was aber sogleich auch ohne Beweis einleuchtet, ist die Einsicht, daß keine philosophische Ethik, selbst wenn ihr eine solche Verantwortung wirklich zufiele, sie tragen könnte. Ist doch gerade der menschliche Gedanke genauso relativ wie die Normen, deren Relativität er überwinden sollte. Gehen doch die ethischen Theorien genauso sehr auseinander wie die wechselnden Normen der positiven Moral. Sie müßte, wenn sie sich im Ernst dieser unmöglichen Aufgabe unterziehen wollte, sich derselben Anmaßung schuldig machen, die sie an jenen entstandenen Normen zu entlarven hätte.

Sie muß vielmehr die Prätension der Absolutheit, die sie an jenen bekämpft, auch von sich selbst zurückweisen. An diesem Punkt der Frage besteht wohl im Ernst kein Zweifel.


c) Ethischer Absolutismus

Anders, wenn die sittlichen Gebote absolut sind. Der Philosophie bleibt dann nur übrig sie festzustellen, klarzustellen, den inneren Gründen ihrer Absolutheit nachzugehen und sie ans Licht zu ziehen. Da ist denn der Gedanke nur Nachbildung dessen, was vorgebildet ist, und die Ethik ist kontemplativ, nicht normativ, ist reine Theorie des Praktischen, nicht selbst "praktische Philosophie". Sie steht abseits vom Leben, hat keinen Einflußu, kann nicht lehren, was wir tun sollen, sie kann nicht revidieren, formen, reformieren, trägt keine Verantwortung. Sie hat keine Aktualität, folgt dem wirklichen Leben erst in abgeklärter Distanz. Ihr Wert besteht nur für sie selbst, für den Gedankenbau als solchen, nicht für das Leben.

Auch das kann die wahre Sachlage nicht sein. Es ist wahr, die Philosophie führt das wirkliche Leben im allgemeinen nicht. Aber läge darin eine Grenze sinnvollen philosophischen Bemühens, warum hemmt da das übereinfache Wissen umd die Grenze nicht ein für alle Mal das Bemühen? Warum reißt die lange Reihe der Philosophen nicht ab, die von ethischer Besinnung und Vertiefung die maßgebende Belehrung erhoffen? Ist das ein verhängnisvoller Irrwahn, ein Schatten einer Anmaßung gesetzgeberischer Selbstherrlichkeit? Oder liegt hier gar ein verborgener Grund, der gerade dem Ernstlichbemühten immer wieder die Autonomie vortäuscht, die er nicht hat?

Ist es nicht in Wirklichkeit umgekehrt? Ist nicht denen, die es gedanklich mit dem Problem der sittlichen Gebote aufnehmen, diese Vertiefung doch irgendwie Führung und Gestaltung ihres Lebens? Und ist hier Lehren und Lernen nicht eben das, was diese Führung und Gestaltung auch in das Leben Anderer hineinträgt? Sieht man auf die Philosophenschulen der Alten hin, so kann man wohl nicht zweifeln, daß es auch dieses Phänomen gibt, und daß es zu manchen Zeiten unter den Gebildeten gar nicht engen Spielraum gehabt hat. Wie denn der Glaube nicht aussterben will, daß Belehrung und Heil von philosophischer Vertiefung kommen muß.

Und muß man nicht sagen: selbst wenn jenes Phänomen fragwürdig und dieser Glaube eitel sein sollte, müßte man nicht trotzdem praktische Belehrung und normative Führung von der Philosophie kategorisch verlangen? Ist nicht eben dieses ihr Sinn und ihr Sollen? Ist es doch so, daß der ethischen Gebote viele sind, verschieden nach Zeit und Volk, und daß alle mit der gleichen Autorität auftreten, wobei sich die Absolutheitsansprüche widersprechen. Sind nun der geschichtlichen Irrtümer so viele als der positiven Gebote, so ist eben kategorisch nach einer Instanz zu verlangen, die hier scheidet, sichtet, Anmaßung einschränkt - wenn schon sie vielleicht nicht selbst Besseres aus dem Boden stampfen kann.

Die Instanz kann einzig Philosophie sein. Jede andere wäre wieder angemaßte Autorität. Philosophie ist ihrem Wesen nach die aus Einsichten und Gründen ermessende Instanz. Und wenn sie es noch nicht sein sollte, so liegt es eben doch in ihrem Wesen es zu sein. Und also muß sie es werden. Sie ist die berufende Instanz.


2. Kapitel
Von der Lehrbarkeit der Tugend

a) Der Satz des Sokrates

Wie aber ist dann der Charakter des Praktischen und Normativen in der Ethik aufzufassen? Und wie ist er zu begrenzen? Die Verantwortung für die Gebote selbst kann sie ja nicht tragen. Positive Gesetzgebung kann sie nicht sein. Welche Kompetenz hat denn das Praktische in ihr?

Im Grunde lag dasselbe Problem bereits in der Anfangsfrage der antiken Ethik: ist Tugend lehrbar? Die Alten entschieden sie fast ohne Ausnahme im positiven Sinn. Der Grundgedanke dabei war intellektualistisch. Er ist am bekanntesten in der Sokratischen Form. Niemand tut das Böse um des Bösen willen; immer schwebt ihm ein Gutes vor, das er erstrebt. Er kann sich nur irren in dem, was er für gut hält. Es kommt alles darauf an, daß er wisse, was gut ist. Weiß er es, so kann er nicht das Böse wollen, wer würde sich selbst verneinen damit. Daher die beiden Grundsätze, welche die ganze spätere Ethik des Altertums beherrschen: Tugend ist Wissen. Und folglich: Tugend ist lehrbar.

Auch die Affektenlehre der Stoa durchbrach dieses Schema nicht. Wohl sind es die Affekte, die den Willen hindern, das Gute zu wollen; sie sollen deswegen vernichtet werden. Aber die Affekte werden selbst intellektualistisch als mangelndes Wissen aufgefaßt (alogos horme). Ihre Überwindung ist wiederum nichts als Wissen, Herrschaft des Logos.

Darin liegt die extrem normative Auffassung der Ethik: Ethik ist nicht nur kompetent zu lehren, was geschehen soll, sondern sie hat auch die Kraft, Willen und Tun damit zu bestimmen. Der sittlich Schlechte ist der Unwissende, der Gute ist der Weise. Das Ideal des Weisen beherrscht die Ethik.


b) Der christliche Begriff der "Sünde"

Die christliche Ethik stellt diese Lehre auf den Kopf durch ihren Begriff der menschlichen Schwäche und der Macht des Bösen.

Der Mensch weiß das Gebot Gottes, aber er übertritt es dennoch. Er hat nicht die Kraft, es zu erfüllen, sein Wissen ist machtlos, er "sündigt". Man Kann den Begriff der Sünde als das eigentlich Umwälzende in der christlichen Ethik bezeichnen. Sünde ist nicht die bloße Verfehlung, auch nicht einfach die Schuld. Sie ist eine bestimmende, verführende Macht im Leben. Dem Menschen fällt zwar die Folge zu - der Sünde Sold - aber er ist ihrer nicht Herr. Er muß unterliegen. Der antike Mensch kennt zwar auch ein Unterliegen, aber er unterliegt dem Affekt, und der Affekt ist sein Nichtwissen. Der Christ aber ist von vornherein überzeugt, es steht nicht bei ihm. Denn es handelt sich nicht um ein Wissen. Es handelt sich um die Fähigkeit oder Unfähigkeit, dem besseren Wissen zu folgen. Denn der Mensch folgt ihm nicht notwendig. Vielmehr, wo er das Gebot weiß, da steht er erst vor der Entscheidung für oder wider das Gebot. Und es gibt eine finstere, irrationale Macht, die in dieser Entscheidung mitspricht. Sie ist die stärkere. Der Mensch hat nicht die Kraft, sich ihr zu entwinden. Das Fleisch ist schwach. Gott allein kann helfen, erlösen von ihr.

Es ist gleichgültig, wie man die Macht des Bösen metaphysisch versteht, ob als Teufel oder als Materie, als antimoralische Triebfeder oder als radikales Böses. Die Sache bleibt immer dieselbe; und sie enthält, ebenso wie der Satz des SOKRATES, ein unverlierbares Stück ethischer Wahrheit. Sie ist die Antithese zum Satz des SOKRATES. In die Sprache der Alten übersetzt lautet sie: Tugend ist nicht lehrbar, denn wohl ist Wissen lehrbar, aber Wissen tut's nicht. In der Sprache unserer heutigen Begriffe aber heißt es: Ethik kann zwar lehren, was wir tun sollen, aber das Lehren ist ohnmächtig, der Mensch kann ihm nicht folgen. Ethik ist zwar in der Idee normativ, aber nicht in der Wirklichkeit. Sie bestimmt und führt den Menschen nicht im Leben, ist nicht praktisch. Es gibt keine praktische Philosophie. Praktisch ist allein die Religion.

Die letzten Sätze sind der Ausdruck einer Anschauung, die wieder weit übers Ziel schießt. Mag die Überwindung der menschlichen Schwäche und der Macht des Bösen auch eine Frage für sich sein, die jenseits der Lehrbarkeitsfrage steht, man muß dennoch die sittlichen Gebote zuvor kennen, muß in irgendeiner Form wissen, was gut und böse ist, um überhaupt vor die Entscheidung gestellt zu sein. Wenn Tugend auch nicht Wissen "ist", ein Wissen muß doch zu ihr gehören. Und sofern der Mensch dieses Wissen nicht hat, bliebe der Ethik doch die Aufgabe es ihm zu geben. Sie müßte ihn vor die Entscheidung für oder wider das Gebotene stellen. Sie hätte ihm die sittlichen Gebote aufzuzeigen.

Diese Problemlage ändert sich nicht, wenn man sie in die Begriffssprache der Religion faßt. Die Rolle der Normen spielt hier das von Gott gegebene Gesetz. Das Gesetz nun bleibt bestehen, auch im Erlösungswerk, "ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen": Zu allererst muß der Mensch von das Gesetz gestellt sein. Sein Versagen ist das Versagen vor ihm. Die Vorstellung aber von Gott als Gesetzgeber ist nicht die Entrechtung der Ethik als Normbewußtsein des Menschen, sondern gerade die stärkste Anerkennung ihrer inhaltlichen Absolutheit. Die Autorität des Gesetzgebers ist die Form dieser Absolutheit. Hier ist die Autonomie des sittlichen Bewußtseins auf Gott übertragen. Ob die Übertragung ihrerseits dem Phänomen entspricht, ob der Mensch mit ihr nicht sich selbst entmündigt, steht hier nicht in Frage. Zum Begriff der Sünde gehört sie freilich wesenhaft; Sünde ist nicht Schuld vor Menschen oder vor dem eigenen Gewissen, sondern Schuld vor Gott. Aber in diesem Sinn ist Sünde kein ethischer Begriff mehr und gehört nicht in den Zusammenhang unserer Frage.


c) Schopenhauers Ethik der reinen Theorie

Man kann diesen beiden Auffassungen, der antiken und der christlichen, eine längere Reihe weiterer Abstufungen des Normativen angliedern. Von Wichtigkeit für unser Problem ist nur der extreme Fall, das vollständige Verschwinden des Normativen. Eine Ethik dieser Art hat am reinsten wohl SCHOPENHAUER vertreten.

Nach dieser Ansicht ist Ethik als philosophische Disziplin vollkommen unpraktisch, nicht anders als die Logik und Metaphysik. Sie kann nicht nur nichts vorschreiben, sondern auch von keinen Vorschriften handeln. Es gibt keine Macht, weder im Menschen noch außer ihm, die ihm ein Sollen entgegenhielte. Freilich gibt es ein Prinzip des sittlichen Verhaltens, das tief im metaphysischen Wesen des Menschen verankert ist. Aber die Ethik kann es nur aufdecken, es ans Licht des Bewußtseins ziehen, sofern es bereits in ihm wirksam ist. Sie kann es nicht zur Wirksamkeit veranlassen, wo es vergraben und verschüttet schlummert. Sie ist kein Machtfaktor des realen Lebens, sie kann nur kontemplativ schauen, analysieren, begreifen, wie alle Philosophie. Sie ist reine Theorie.

Das Leben des Menschen geht unbekümmert ums sie seinen Weg. Vom "intelligiblen Charakter" hängt es ab, wie der Mensch sich entscheidet; er ist die sittliche Entscheidung. Aber gerade er tritt nie, auch in der ethischen Theorie nicht, in Erscheinung. So kann die Ethik nicht nur nicht erdenken, was geschehen soll, sondern es auch nicht entdecken und lehren. Es ist immer schon da; ja, es ist immer schon tatsächlich für oder wider entschieden. Die Urtat der Wahl liegt überhaupt nicht im Bewußtsein, sondern ihm voraus.

Hält man diese Auffassung der Ethik neben die beiden obigen Auffassungen, so läßt sich eine dreifache Abstufung unterscheiden:
    1. Die antike Ansicht: Ethik ist normativ, sie lehrt, was geschehen soll, und zwar mit Erfolg. Sie hat Einfluß auf das Leben, ihr Lehren trägt die Verantwortung für den Menschen.

    2. Die christliche Ansicht: Ethik ist zwar normativ im Sinn der Lehre, aber nicht im Sinn der Auswirkung und des Einflusses. Lehren allein ist erfolglos. Kraft und Hilfe muß von anderer Seite kommen.

    3. SCHOPENHAUERs Ansicht: Ethik ist überhaupt nicht normativ; sie kann weder das Leben bestimmen noch darüber belehren, wie es zu bestimmen wäre. Sie ist ohne Einfluß zum Guten wie zum Bösen.
Es ist leicht zu sehen, daß die beiden extremen Ansichten sich am weitesten vom ethischen Phänomen entfernen. An der antiken Auffassung haben wir die Fehlerquelle gesehen. Sie ist in der christlichen behoben. SCHOPENHAUERs Ansicht krankt an der umgekehrten Aporie [Widerspruch - wp]: wie sollte das Bewußtsein des Prinzips so ganz gleichgültig für die Lebensgestaltung sein können, da doch alles Bewußtsein einen praktisch emotionalen Unterton hat und gerade reine Theorie nur in der Abstraktion besteht? Und wie kann Ethik als Lehre so ganz unpraktisch sein, da doch sie das Wissen um das Prinzip ist, dieses Wissen aber Voraussetzung der Willensentscheidung ist? Denn sittliches Verhalten "ist" zwar nicht Wissen, setzt aber Wissen voraus.

Die mittlere Ansicht kommt dem Phänomen des sittlichen Lebens am nächsten. Sie schränkt das Normative in der Ethik ein, ohne es prinzipiell aufzuheben. Daß sie es tatsächlich zu sehr einschränkt, ist Sache einer anderen Untersuchung.


d) Platons "Menon" und die Lösung der Aporie

Die Streitfrage der Alten nach der Lehrbarkeit der Tugend ist aber hiermit nicht abgetan. Daß Wissen als solches schon das rechte Verhalten verbürge, war die irrtümliche Voraussetzung in ihr. Streift man sie nun ab, berichtigt man sie, so bleibt dem Wissen immer noch die grundlegende Bedeutung einer Vorbedingung. Zieht man sich aber auf diese bescheidenere These zurück, so kehrt die alte Frage in schärferer Umgrenzung wieder.

Es handelt sich jetzt ausschließlich um dieses Wissen selbst, das den Menschen erst vor die Entscheidung stellt und in diesem Sinne eben Bedingung des rechten Verhaltens ist. Sieht man vorderhand ganz ab von der weiteren Frage, ob und wieweit der Mensch Freiheit hat, einem solchen Wissen Folge zu leisten, so bleibt doch die Frage übrig: von welcher Art ist dieses Wissen selbst? Ist es als solches lehrbar oder nicht? Kann die Ethik seinen Inhalt, die sittlichen Gebote selbst, vermitteln? Oder ist sie auch hier ohnmächtig, zum bloß nachträglichen Konstatieren und Analysieren dessen verurteilt, was das lebendige sittliche Bewußtsein bereits hat?

Der Sache nach ist es diese Frage, die PLATON im "Menon" aufnimmt und behandelt. Er ist damit bahnbrechend geworden für die philosophische Ethik.

Die Aporie geht von einer Alternative aus: Tugend ist entweder "ein Lehrbares" (didakton) - bzw. ein durch Übung zur Erwerbendes (asketon) - oder aber ein dem Menschen "von Natur Angeborenes" (physei paramenomenon). Dieses Entweder-Oder ist als strenge Disjunktion zu verstehen. Ist Tugend lehrbar, so kann ihr Inhalt nicht ureigener Besitz des sittlichen Bewußtseins (der "Seele) sein. Er muß von außen empfangen, angelernt werden können. Dann aber ist er Sache der Satzung (thesei), ein menschlich Erdachtes und hat keine Absolutheit, keine allgemeinere Verbindlichkeit. Die sophistische Relativität der Erkenntnis gilt dann auch von der sittlichen Erkenntnis. Und die Abhängigkeit des rechten Verhaltens vom Wissen bedeutet dann die Preisgabe des festen, unverrückbaren Wertmaßstabes von Gut und Böse.

Und umgekehrt: ist Tugend ein "von Natur Angeborenes", so ist sie freilich ein unverrückbarer Wertmaßstab, ein aller Satzung und Willkür des Gedankens überhobener, der "Seele" ureigener Besitz und Grund sittlicher Erkenntnis, aber sie ist nicht lehrbar. Man kann sie der Seele nicht vermitteln, die Seele kann sie nur aus sich schöpfen. Für die Ethik aber bedeutet das die Verweisung in die Theorie, ins Unpraktische, Kontemplative.

Hier haben wir also in nuce [im Kern - wp] die Grundaporie des Normativen. Beide Seiten der Alternative sind gleich unannehmbar, widerstreiten der Sachlage im ethischen Phänomen. Und nun setzt jene berühmte dialektische Untersuchung ein, welche die Alternative selbst als falsch erweist.

Wenn im ethischen "Wissen" das  didakton  und das  physei paramenomenon  sich ausschließen, so müssen sie sich auch in allem anderen Wissen ausschließen. Ist das der Fall? Die Mathematik gilt als Lehrgegenstand; man sollte also schließen, mathematische Sätze seien nicht Gegenstände eines eigenen Wissens. Man muß sich am Phänomen des Lehrens und Lernens selbst orientieren. Dieses Phänomen entwickelt PLATON breit im "Verhör des Knaben" (1). Der Knabe wird vor das gezeichnete Quadrat gestellt und nach der Seite des verdoppelten Quadrats gefragt. Es erweist sich, daß er zwar zunächst falsche Antworten gibt, aber ihre Falschheit dann selbst aus dem Wesen der Sache (der geometrischen Konstruktion) einsieht. Zuletzt erkennt er aus ebendemselben Wesen der Sache heraus, daß er in der Diagonale des gegebenen Quadrats die Seite des gesuchten schon vor sich hat. Er weiß darum plötzlich, ohne daß es ihm gesagt worden wäre. Das Verhör hat ihn nur darauf hingelenkt. Er hat also offenbar das Wissen darum als ein ureigenes in sich. Sein "Lernen" ist nur ein Bewußtwerden des Sachverhalts in ihm. Das "Lehren" des Wissenden aber ist nur die Hinlenkung auf den Sachverhalt. Einsehen muß er ihn selbst, muß sich selbst von ihm überzeugen. Anders ist es kein echtes Einsehen. "Lehren" ist bloße Maieutik - Geburtshilfe der Erkenntnis.

Damit kehrt sich die Problemlage von Grund aus um. In der Geometrie wenigstens schließen das  didakton  und das  physei paramenomenon  sich nicht aus. Hier ist die Alternative selbst falsch. Umgekehrt: "lehrbar" ist nur, was als ureigenes Wissen bereits in der Seele vorhanden ist. "Lernen" ist die Besinnung auf ureigenes Wissen, ist "Anamnesis" [Erinnerung - wp]. Der erkenntnistheoretische Sinn der "Anamnesis" hat mit dem mythisch-psychologischen Bild der "Wiedererinnerung" nichts zu tun; er ist beschlossen in seiner Definition: "selbst in sich selbst ein Wissen herauflangen" (2). Dieses "Herauflangen" deutet auf eine Tiefe der Seele, in welche derjenige hineinlangen muß, der sich wissend eines Sachverhalts vergewissern will. Der Ausdruck scheint bei PLATON etwas terminologisch Festes zu haben, wie die Parallelstelle im "Phädon" zeigt, wo das Wesen des "Lernens" geradezu als das "Herauflangen eines ureigenen Wissens" bestimmt wird. (3)

"Anamnesis" ist der platonische Begriff des Apriorischen in der Erkenntnis. Geometrisches Wissen ist apriorisch. Das hindert nicht seine "Lehrbarkeit". "Lehre" ist die Anleitung zum eigenen Hinablangen in die Tiefe. Sollte es mit dem ethischen Wissen nicht ebenso sein?

Offenbar "weiß" der sittlich Gute in irgendeiner Form, was gut ist. Woher nun kann er es wissen? Auf keine Autorität kann er sich verlassen, auf keines Lehrmeisters Worte schwören. Ebensowenig hat er von Geburt an ein klares Bewußtsein des Guten. Anders, wenn er das Wissen des Guten verborgen in sich trägt, in der Tiefe der Seele, als "ureigenes Wissen" und es von dort "herauflangen" kann ans Licht des Bewußtseins durch eigene Besinnung und Vertiefung - bzw. durch die Maieutik des Wissenden, der da "lehrt", indem er zur Besinnung veranlaßt. Dann ist Tugend "lehrbar" in demselben Sinne, wie Geometrie "lehrbar" ist. Ihre Lehrbarkeit steht nicht im Widerspruch zu ihrer inneren Ursprünglichkeit, dem  physei paramenomenon.  Dieses ist nur der unscharfe Ausdruck für die Apriorität des sittlichen Wissens im Wesen der Tugend. Sie ist vielmehr nur "lehrbar", weil sie und soweit sie apriorische Einsicht ist.


3. Kapitel
Der berechtigte Sinn des Normativen

a) Das mittelbare Normative

Ethische Erkenntnis ist Erkenntnis von Normen, Geboten, Werten. Alle Normerkenntnis ist notwendig apriorisch. Die platonische Philosophie ist die geschichtliche Aufdeckung des apriorischen Elements in der menschlichen Erkenntnis überhaupt. Sie ist also in einem eminenten Sinn die Rechtfertigung aller Normerkenntnis. Und damit zugleich die des normativen Charakters der Ethik selbst.

Ethik kann tatsächlich lehren, was sittlich gut ist, wie Geometrie lehren kann, was geometrisch wahr ist. Aber sie kann dem sittlichen Bewußtsein nichts aufdrängen, sondern es nur auf seine eigenen Inhalte und Prinzipien lenken. Sie kann nur aus ihm heraufholen, was in ihm enthalten ist. Auch hierin gleicht sie der reinen Mathematik. Der Unterschied ist nur, daß die Prinzipien und Inhalte, die sie ins Bewußtsein hebt, Gebote, Normen, Werte sind. Dem Inhalt nach also ist sie normativ, nicht aber der Methode oder der Art der "Lehre" nach. Denn die Apriorität der Einsicht und die Didaktik der Hinführung auf sie ist die gleiche hier wie dort. Philosophische Ethik ist die Maieutik des sittlichen Bewußtseins.

Sie kann demnach tatsächlich Prinzipien aufstellen und lehren, die ohne sie vielleicht kein Bewußtsein erschauen könnte. Aber sie kann sie nicht von sich aus erdenken oder erfinden; sie kann nur zum Bewußtsein bringen, was als Prinzip in der Menschenseele angelegt ist, oder richtiger - denn gerade der "Anlage"-Begriff ist zweideutig - was ansich ethisches Prinzip ist. Es muß eben ein solches Sein der ethischen Prinzipien geben - mögen diese nun Gebote, Normen oder Werte schlechthin sein.

Was ein solches Sein der Prinzipien seinerseits bedeutet, was für einer Seinssphäre sie angehören und welche Modalität sie haben, das ist eine weitere Frage, an der noch eine besondere Reihe von Aporien hängt. Sie wird an ihrer Stelle zu untersuchen sein. Vorderhand darf uns auch darüber die platonische Parallele von Ethik und Mathematik dahin belehren, daß es Seinssphären dieser Art überhaupt - die weder real noch auch bloß subjektiv sind - sehr wohl gibt, und daß wir, indem wir es tatsächlich mit dieser Frage aufnehmen, nicht mehr vorwegnehmen, als was die Erkenntnistheorie auf anderen Gebieten unbedenklich anerkennt.

Der Charakter des Normativen in der Ethik als philosophischer Disziplin besteht also zu Recht. Er erleidet aber im Gegensatz zu allen übertriebenen Vorstellungen von ihrer das Leben gestaltenden Macht eine beträchtliche Einschränkung. Normativ nämlich ist in erster Linie gar nicht die Ethik selbst, sondern nur das Prinzip, bzw. das Reich der Prinzipien, das sie aufzudecken hat, mit anderen Worten: ihr Gegenstand. Erst mittelbar überträgt sich dieser Normcharakter der Prinzipien auf sie selbst. Er ist daher an ihr durchaus verblaßt, abgeschwächt und keineswegs notwendig. Sie ist nämlich nur insofern normativ, als sie Prinzipien zu Bewußtsein bringt, deren Einfluß auf menschliche Willensentscheidung, Stellungnahme und Wertung des Wirklichen erst durch diese ihre Erhebung ins denkende Bewußtsein vermittelt wird. Nur in diesen Grenzen ist ihre maieutische Arbeit Bedingung eines solchen Einflusses, und nur in diesen Grenzen ist wirklich sie es, die den sittlichen Prinzipien zu ihrer Auswirkung im realen Leben verhilft.

Das ist aber durchaus nicht immer der Fall, vielleicht sogar nur als seltene Ausnahme einmal. Für gewöhnlich sind Gebote, Normen, Wertgesichtspunkte im Leben wirksam, bevor sie von der nachfolgenden ethischen Reflexion ins volle Licht des Bewußtseins gehoben werden. Vielmehr entdeckt die philosophische Ethik sie gemeinhin erst dadurch, daß sie auf ihre Auswirkungen im Leben stößt und durch sie auf das Vorhandensein des Prinzips hingelenkt wird. Nicht als würde die Prinzipienerkenntnis auf diese Weise eine aposteriorische. Das Prinzip als solches kann nur a priori eingesehen werden, nämlich eingesehen werden als das Selbständige, Primäre, unmittelbar Einleuchtende, das hinter jenen Auswirkungen steht - wobei unter Auswirkungen eben jene Tatsachen zu verstehen sind, die Wertungen, Stellungnahmen, Entschließungen des sittlichen Lebens. Veranlaßt aber ist diese apriorische Einsicht durch das posterius.


b) das sichtbare Arbeitsfeld und die Idee der Ethik

Es ist daher wichtig sich klarzumachen, daß alle jene überspannten Erwartungen, mit denen der Naive an die Aufgaben der ethischen Forschung heranzutreten pflegt, alle hochfliegenden Träume von Weltverbesserung und schneller Umorientierung des Lebens, gleich hier an der Schwelle der wirklichen philosophischen Arbeit, radikal müssen fallen gelassen werden. Die philosophische Forschung ist nüchterne Vertiefung in das ethische Phänomen, nicht lüsternes Ausschauen nach Aktualitäten und Sensationen.

Andererseits kann man auch nicht verkennen, daß der Spielraum des mittelbar Normativen in der Ethik ein keineswegs zu unterschätzender ist. Zunächst besteht ansich eben doch immer die Möglichkeit, daß sie mit ihren Methoden Werte entdeckt, die dem sittlichen Leben fehlen oder abhanden gekommen sind. Und bei der großen Bedeutung der Aufgabe würde die Möglichkeit allein wohl genügen, den Ethiker zu rastlosem Suchen zu bestimmen, selbst auf die Gefahr hin, wenig zu finden. Wer aber dürfte sich über die Aussichten eines solchen Suchesn heute ein festes Urteil bilden? Wir stehen in den ersten Anfängen bewußter Erforschung des Wertreichs. Niemand kann wissen, wohin sie noch führt. Und die Geschichte der Ethik selbst - uns scheint sie alt und ehrwürdig, festgefahren in ihren Geleisen; aber was ist die kurze Spanne übersehbarer Geistesgeschichte, gemessen an dem, was wir nicht kennen, was kommen wird? Der Ethik ist der Blick auf das Zukünftige wesentlich. Sie muß auch sich selbst, ihre eigene mühevolle Arbeit mit diesem Blick ansehen. Und hier hat sie keinen Grund zu skeptischer Resignation. Wie nüchtern sie sich auch an die Phänomene halten, sich anmaßender Ideale entschlagen muß, ihr Wesen und ihre Idee bleibt doch dieses: Lebensgestaltung zu sein. Und kann sie es nur, sofern sie den Blick für Werte öffnet, deren das wirkliche Leben entbehrt, so ist ihre Idee eben diese, den Blick zu öffnen und das, was sie ihn schauen lehrt, dem Leben zu schenken.

In der Idee ist sie eben doch praktische Philosophie - wieviel oder wie wenig sie immer entdecken und mittelbar gestalten sollte. Um ihre prinzipielle Stellung allein aber, und keineswegs um ihre tatsächlichen Leistungen, auf die sie etwa schon rückschauen könnte, handelt es sich in ihrer Wesensbestimmung. Sie ist normativ nicht im Hinblick auf Resultate, nicht erfahrungsgemäß, sondern im Hinblick auf die ihr im Menschenleben zufallende und als solche a priori einsichtige Aufgabe.


c) Ethik und Pädagogik

Man darf ferner nicht übersehen, daß es ein engeres aber durchaus greifbares praktisches Arbeitsfeld der ethischen Forschung gibt: in aller erziehenden Tätigkeit - bestehe diese nun im Unterricht durch den berufenen Pädagogen oder in der unwillkürlichen Beeinflussung und Erweckung, die in allem Umgang vom sittlich Gereifteren ausgeht.

Je mehr nämlich der moralisch Führende selbst vom Reich der Werte überschaut, umso mehr wird er notwendigerweise auch dem Geführten Blick, Verständnis und Perspektive für das Leben öffnen. Unmerklich tun sich an Lehrgegenständen und Lebensfragen die Wertprobleme auf, und ungewollt leistet ein jeder, der rügt, rät, aufmerksam macht oder literarischen Stoff bespricht, den Wertblick des Unverbildeten auf seine ewigen Gegenstände, die ethischen Werte. Je jünger und unfertiger der Lernende, umso verantwortlicher und folgenschwerer der Einfluß. Der zu enge Wertblick des Pädagogen ist allemal eine ernstliche Gefahr für die ihm anvertraute Jugend. Frühzeitige Einzwängung in eine einseitige, beschränkte oder gar parteiliche Lebensauffassung, sittliche Verbildung und Schematisierung, geistige Uniformierung der Jugend sind die Folgen. Sie sind im späteren Leben selten wieder gut zu machen. Der Grund des Übels aber ist die ethische Unbildung des Erziehers.

Hier hat die philosophische Ethik eine höchst aktuelle Aufgabe. Sie hat den Erzieher zu erziehen, wie dieser die Jugend zu erziehen hat. So ist sie mittelbar das, als was sie PLATON vorschwebte, die Erzieherin des Menschen überhaupt.

Allgemein: stünde das Bewußtsein der sittlichen Prinzipien indifferent zu ihrer Auswirkung im Leben, so bliebe die "praktische" Bedeutung der Ethik auf die seltenen Errungenschaften ursprünglicher Werterschließung beschränkt. Dem ist aber nicht so. Entwickeltes, gereiftes, geschultes Wertbewußtsein ist dem ungeweckten, dunklen, unklaren durchaus praktisch überlegen - vielleicht noch am wenigsten in Entschließung und Handlung, sicherlich aber in der rein innerlichen Stellungnahme, im Fühlunghaben mit Personen und Situationen, im Teilhaben an der Fülle des Wertvollen im Leben und im inneren sittlichen Auswachsen des Menschen.

Hier ist, fernab von den großen Perspektiven der Menschheitsentwicklung, im engsten Rahmen des Alltagslebens ein breites praktisches Arbeitsfeld der Ethik. Sie arbeitet an der Erweckung des Wertorgans. Daß diese Arbeit immer nur durch die Vermittlung Einzelner oder Weniger ins Leben dringt, tut dem keinen Abbruch. Der berufenen Erzieher wird es immer wenige geben. Aber die Wenigen sind das Salz der Erde.


d) Theoretischer und ethischer Apriorismus

Fragt man sich nach alledem, wer behält Recht, die Antike oder SCHOPENHAUER, ist das Gute lehrbar, oder ist Ethik kontemplativ, - so ist nun zu antworten: beide haben Recht und Unrecht. Die platonische Aufhebung der Disjunktion von "Lehrbar und Naturgegeben" in eine Konjunktion gibt die Synthese beider Ansichten unter Abstreifung ihrer Übertreibungen. Ethik schreibt freilich von sich aus nichts vor. Aber sie lehrt dennoch, was gut ist, sofern unser Wissen darum nie vollendet ist. Sie lehrt nur, was sie vorfindet, erschaut, und ihr Lehren selbst ist nichts als ein Erschauenlassen. Aber sofern das Erschaute eine Anforderung, ein Gebot enthält, ist sie zugleich das Bewußtsein des Gebotes - und damit selbst ein gebietendes Bewußtsein.

Dieser Sachverhalt hat eine viel größere Tragweite, als die bloße Klarstellung des Normativen ahnen läßt. Er berührt bereits den innersten Kern des ethischen Phänomens: das Verhältnis der Prinzipien - d. h. der Werte - zu Bewußtsein. Wäre dieses Verhältnis ein bloßes Erkenntnisverhältnis, so wäre auch das in ihm steckende Grundproblem mit dem Schlüssel des platonischen Apriorismus (in der Anamnesislehre) bereits gelöst. Nun aber ist es darüber hinaus auch ein Bestimmungsverhältnis. Es enthält die Frage: wie kommen Wertprinzipien zu ihrer Auswirkung und zur Gestaltung des Realen?

Es ist leicht zu sehen, daß das Bewußtsein hierbei eine integrierende Rolle spielt, daß Werte anders determinieren als Seinskategorien, nicht direkt, sondern wenn überhaupt, so durch die Vermittlung des Wertbewußtseins. Damit aber gewinnt auch der ethische Apriorismus selbst eine ganz andere Bedeutung als der theoretische. Er ist von anderem, unvergleichbar größerem metaphysischen Gewicht. Und hier ist die Grenze der platonischen Analogie zwischen Geometrie und Ethik.

Die Geometrie als reine Erkenntnis braucht die Gesetze, die sie a priori erschaut, nicht in die Wirklichkeit hineinzutragen. Das Wirkliche ist bereits geometrisch, soweit es überhaupt geometrisch sein kann. Was aber die Ethik a priori erschaut, die Werte, das ist nicht durchgehend im Wirklichen enthalten. Die Wirklichkeit ist zwar in weitem Ausmaß wertgetränkt, aber sie ist nicht nach Werten geformt, soweit sie es überhaupt sein kann. Es gibt unverwirklichte Wertgehalte, und des gibt Wirkliches, das wertwidrig ist. Es gibt das sittlich Schlechte neben dem Guten.

Hier scheiden sich die Probleme. Hier ist die Grenze zwischen dem bloß erkennenden A priori und dem fordernden, gebietenden A priori. Und hier ist zugleich die Markscheide, von der an das Problem der ethischen "Erkenntnis" kein bloßes Erkenntnisproblem mehr ist. Hier beginnt der Bannkreis der Lebensaktualität und des Tunsollens. Denn jeder Wert hat, einmal erfaßt, die Tendenz zur Verwirklichung, wie unwirklich er auch sein mag. Werteinsicht und Werteinwirkung auf reales Verhalten und Leben des Menschen sind nur noch durch die Freiheit des Entschlusses voneinander geschieden.

Der apriorischen Einsicht fällt die ganze Last der Verantwortung zu. Wenn auch nicht sie als solche gebietet, was geschehen soll, die Inhalte, die sie erschaut, gebieten es doch; und so erhält sie selbst das Gewicht des Gebotes.

Kann sie die Last eines solchen Gewichtes tragen? Ist sie so gewiß, so absolut, so untäuschbar? Oder gibt es noch ein Kriterium für sie, eine Gegeninstanz, an der sie ein Korrektiv hätte? Die theoretische Apriorität besitzt ein solches - in der Erfahrung, die auf einem Sinneszeugnis fußt. Die ethische hat es nicht, denn die erfahrbare Wirklichkeit brauch die erschauten Werte ja gar nicht zu enthalten; und zum Gebot verdichten sich die Werte ja eben dort, wo die Wirklichkeit - nämlich das wirkliche Verhalten des Menschen - ihnen nicht entspricht.

In der Ethik ist der Apriorismus ganz auf sich selbst gestellt, ganz autonom. Und das eben mach das Fragwürdige in ihm aus. Damit er erneuert sich in einem anderen Sinn - gleichsam auf einer anderen Problemebene - die Aporie des Normativen in der Ethik. Wie, wenn dieser "autonome" Apriorismus nicht auf festen Füßen stünde, wenn es in ihm eine versteckte Willkürlichkeit, ein freies Erdenken, Erdichten, ein frevlerisches Spiel der Phantasie unter Vortäuschung höherer Autorität gäbe? Wäre es da nicht ein Spiel mit dem Menschenleben selbst? Ist es nicht verführerisch leicht Gebote zu ersinnen - sei es aus partikularem Interesse oder aus der Not des Lebens heraus -, ihnen die Autorität des Absoluten beizumessen und hinterher selbst an sie zu glauben?

Es genügt hier nicht, das "Gebieten" auf ein äußerstes Minimum einzuschränken. Gewiß, Ethik maßt sich nicht an endgültig festzustellen, was im gegebenen Fall geboten ist. Wie die Erkenntnistheorie nicht sagt, was in dieser oder jener Seinsfrage das Wahre ist, sondern nur was überhaupt Wahrheit ist, woran sie erkennbar, was ihr Kriterium ist, so auch die Ethik. Sie sagt nicht, was hier und jetzt gut ist. Um das zu entscheiden, müßte sie die Kenntnis des Einzelfalles bis in seine unwägbarsten Elemente hinein haben und überschauen, müßte auch die Folgen durchschauen, Kenntnis der Gegenwart und Zukunft haben. Kein menschliches Wissen kann sich das anmaßen. Ethik ist nicht Kasuistik - nicht nur sofern sie der freien schöpferischen Entschließung nicht vorgreifen darf, sondern auch sofern sie gar nicht die Kompetenz der Einsicht dafür hat. Aber das ändert alles nichts an der prinzipiellen Problemlage. Denn was das Gute überhaupt ist, was überhaupt geboten ist, das sagt sie doch und muß sie sagen. Das Kriterium von Gut und Böse überhaupt ist das mindeste, was wir von ihr erwarten dürfen. Es fragt sich aber: hat sie selbst dazu die Kompetenz?

Diese Frage ist es, die in der bisherigen Untersuchung des Normbewußtseins nicht entschieden ist. Sie ist auch durch den bloßen Apriorismus der Werterkenntnis nicht zu entscheiden. Vielmehr ist gerade die Frage des Wertapriorismus erst von diesem Punkt aus neu und tiefer aufzurollen.
LITERATUR: Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1926
    Anmerkungen
    1) PLATON, Meno 82b - 86e
    2) PLATON, Meno, 85d
    3) PLATON, Phaedo, 75e