p-4p-4E. MallyÜber GegenständePhilosophie des Als-ObWerttheorie    
 
ALEXIUS MEINONG
Über Annahmen
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             Vorwort
 § 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen
 § 2. Das Negative gegenüber dem "bloß Vorgestellten".
 § 3. Zum Begriff des Zeichens
 § 4. Ausdruck und Bedeutung beim Wort.
 § 5. Der Satz als Urteilsausdruck
 § 6. Unabhängige und abhängige Sätze
 § 7. Das Verstehen bei Wort und Satz
 § 8. Die nächstliegenden Annahmefälle
 § 9. Explizite Annahmen
§ 10. Annahmen in Spiel und Kunst
§ 11. Die Lüge
§ 12. Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen
§ 13. Aufsuggerierte Annahmen

"Man hat, wenn von der Bedeutung eines Wortes die Rede ist, nicht leicht dieses eben jetzt von diesem Individuum ausgesprochene Wort, sondern  das  Wort  im Allgemeinen  im Auge, versteht also unter der Bedeutung eines Wortes nicht das, was gerade dieser oder jener damit meint, sondern was die Gesamtheit oder Mehrzahl der Redenden meint und sonach der Einzelne vernünftigerweise meinen  sollte." 

Zweites Kapitel
Zur Frage nach den
charakteristischen Leistungen des Satzes


§ 3. Zum Begriff des Zeichens

Die Darlegungen, denen das gegenwärtige Kapitel in der Hauptsache gewidmet sein soll, waren bereits druckfertig, als EDUARD MARTINAKs "Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre" (1) zu meiner Kenntnis gelangten. Gleichwohl kann ich es mir nicht versagen, nun sogleich an die instruktiven Ausführungen des genannten Autors anzuknüpfen, um, auf diese gestützt, vor allem zu versuchen, die von ihm vorgenommene Präzisierung der Relation zwischen Zeichen und Bedeutung (2) noch um einen Schritt weiter zu führen oder vielleicht auch bloß das ausdrücklich zu sagen, was MARTINAK nur eben noch unformuliert gelassen hat. Will man nämlich bei der Bestimmung dieser Relation der Allgemeinheit nicht alles Charakteristische zum Opfer bringen, so ist, wenn ich recht sehe, der bloße Hinweis auf die Zuordnung der Bedeutung zum Zeichen (3) dann doch zu farblos und man wird nicht umhin können, zunächst einfach zu sagen (4): kann ich aus dem Gegebensein des  A  auf das des  B  schließen, dann ist  A  ein Zeichen von  B  und  B,  genauer freilich das Sein, zunächst die Existenz des  B  (5) die Bedeutung des Zeichens.

Daß es hier in der Tat die Relation des Erkenntnisgrundes zur Erkenntnisfolge ist, auf die zuletzt alles ankommt, zeigt sich natürlich am Deutlichsten am "realen Zeichen". Aber auch das "finale Zeichen" (6) ist ja von Haus aus nichts anderes als ein absichtlich gesetztes reales Zeichen, also eines, das sich zum realen Zeichen im gewöhnlichen Sinne etwa so verhält wie das Experiment zu der sich der theoretischen Bearbeitung von selbst darbietenden Tatsache. Nur führt hier natürlich der in der Absichtlichkeit gelegene Anteil subjektiver Momente eine gewisse Störungs-Chance mit sich, die z. B. in der Weise realisiert sein kann, daß der Zeichengeber ein Zeichen wählt, dem die Eignung, den ex definitione erforderlichen Erkenntnisgrund abzugeben, tatsächlich nicht zukommt. Immerhin wird man aber auch so der Störungen nicht allzuviele zu verzeichnen haben, wenn man sich gegenwärtig hält, daß dasjenige, was der Zeichengeber in erster Linie überhaupt vernünftigerweise nur zu erkennen geben kann, eben nichts weiter als seine Absicht ist und zwar genau besehen nur die Absicht, etwas "mitzuteilen". Es wird sich dann ohne Zweifel aus mehr als einem Grunde empfehlen, im Spezialfall, wo das, was er mitzuteilen hat, sein Wunsch, wohl auch sein Wille, also allgemein ein Begehren ist und sonach gleichfalls aus dem Zeichen erschlossen werden kann, von "begehrendem" Zeichen zu reden und dann alle Fälle, wo der Zeichengeber etwas anderes mitzuteilen hat, unter dem Namen der "mitteilenden Zeichen" in einigermaßen engerem Sinne den "begehrenden Zeichen" entgegenzusetzen. (7) Streng genommen aber ist sonach jedes finale Zeichen zugleich mitteilendes Zeichen wenigstens in einem weiteren Sinne und hierin liegt zu nicht geringem Teil der Keim zu einer wichtigen Erweiterung des Zeichen- bzw. Bedeutungsbegriffes, der wir im Hinblick auf die uns in den gegenwärtigen Untersuchungen beschäftigenden Aufgaben unsere Aufmerksamkeit im Besonderen zuwenden müssen.

Ist nämlich im eben Dargelegten der Sachverhalt beim finalen Zeichen richtig aufgefaßt, so steht diesem als Bezeichnetes, also als "Bedeutung" zunächst jedesmal eine psychische Tatsache gegenüber, was übrigens natürlich unter günstigen Umständen auch bei realen Zeichen der Fall sein kann und dann zu demselben Erfolg führt. Dieser Erfolg besteht in einer zweiten Zuordnung, die darauf zurückgeht, daß die psychische Tatsache ihren Inhalt und daher auch ihren Gegenstand hat. Ist  A  das Zeichen, das eine psychische Tatsache  B  - am besten ein Vorstellen, Urteilen oder Begehren - zu seiner "Bedeutung" hat und hat  B  den Gegenstand  C,  so ist dadurch  A  nicht nur mit  B,  sondern in neuer Weise auch mit  C  verknüpft, ohne daß man darum ein Recht hätte,  A  in derselben Weise als Erkenntnisgrund für C zu nehmen wie es ex definitione den für  B  abgibt. (8) Vielleicht verdient es nun gar nicht den Namen einer Erweiterung des Bedeutungsbegriffs und ist eher eine zweite Anwendungsweise des Wortes "Bedeutung", wenn man dem  A  auch das  C  als dessen "Bedeutung" gegenüberstellt; jedenfalls aber dürfte man das  B  und das  C  dem  A  gegenüber nicht auf gleichem Fuß behandeln.

Die Wichtigkeit dieser Erwägung wird jedem sofort klar sein, der bemerkt, daß der hier vorerst ganz allgemein dargelegte Tatbestand in der Sprache, zunächst in den einzelnen Wörtern derselben realisiert ist. Weil die Wörter ihre "Bedeutung" haben, hat man sich daran gewöhnt, sie als "Zeichen" zu behandeln, zumal das Wort in der Regel von einem psychischen Tatbestand begleitet auftritt, auf dessen Gegebensein man im Sinn unserer obigen Zeichenbestimmung aus dem Gegebensein des Wortes schließen darf. Man hat infolge dessen zumeist unbeachtet gelassen, daß das, worauf man aus dem Vorhandensein eines Wortes schließen kann, mit dem, was das Worte "bedeutet", durchaus nicht zusammenfällt, - außerdem freilich auch daß Wort und Bedeutung keineswegs immer durch jene eigentliche Zeichenrelation des Wortes zu einer psychischen Tatsache zusammengehalten werden. Vielleicht stellt der ersterwähnte Umstand einen der vielen Fälle dar, in denen die unzureichende Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand (9) von Übel war: gleichwohl bleibt das mangelhafte Auseinanderhalten hier besonders auffallend, da in diesem Falle die Sprache selbst für deutlich auseinanderhaltende Termini gesorgt hat. Für unsere Zwecke ist es von besonderem Wert, uns den Sinn dieser Termini und die in ihnen gegebene Unterscheidung klar zu machen: sie soll uns daher vorerst noch etwas näher beschäftigen. Auf die eben erwähnte zweite Verbindung zwischen Wort und Bedeutung kommen wir weiter unten zurück, wenn auf das Verstehen der Wörter uns Sätze kurz einzugehen sein wird.


§ 4.
Ausdruck und Bedeutung beim Wort.
Sekundärer Ausdruck und sekundäre Bedeutung

Ich habe hier von einem Gegensatz zu handeln, auf den ich bereits an einem anderen Ort hingewiesen habe. (10) Es ist ebenso herkömmlich als berechtigt, der Sprache in besonderem Maße die Eignung zuzuerkennen, unsere Gedanken "auszudrücken". Ob der Redende seine Gedanken auch ausdrücken will, ob er sie ohne oder gar wider seinen Willen verrät, ob schließlich wirklich jemand da ist, der von dem, was die Worte erkennen lassen, auch wirklich Kenntnis nimmt, das sind Details, die hier ohne Schaden außer Betracht bleiben können. Nicht minder vorerst der Umstand, daß im Wort "Gedankenausdruck" eine einseitige Beschränkung auf das intellektuelle Gebiet hervortritt, die Sprache aber doch keineswegs darauf verzichtet, auch Gefühle oder Begehrungen zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr kommt diese Einseitigkeit unseren nächsten Bedürfnissen insofern sogar noch besonders entgegen, als an den intellektuellen Betätigungen sich von dem, was ein Wort "ausdrückt", besonders deutlich das abhebt, was es "bedeutet": der  Gegenstand  des betreffenden intellektuellen Geschehnisses, zunächst der dasselbe ausmachenden oder doch ihm zugrunde liegenden Vorstellung. Wer also etwa das Wort "Sonne" ausspricht, bringt dadurch normalerweise, gleichviel ob er es auch will oder nicht, zum  Ausdruck,  daß sich eine bestimmte Vorstellung, es kann natürlich so gut Wahrnehmungs- wie Einbildungsvorstellung sein, in ihm zuträgt. Was für eine Vorstellung das ist, bestimmt sich zunächst nach dem, was durch sie vorgestellt wird, also ihrem Gegenstand und dieser Gegenstand ist eben das, was das Wort "Sonne"  bedeutet.  Allerdings hat man, wenn von der Bedeutung eines Wortes die Rede ist, nicht leicht dieses eben jetzt von diesem Individuum ausgesprochene Wort, sondern  "das  Wort" im Allgemeinen im Auge, versteht also unter der Bedeutung eines Wortes nicht das, was gerade dieser oder jener damit meint, sondern was die Gesamtheit oder Mehrzahl der Redenden meint und sonach der Einzelne vernünftigerweise meinen "sollte". Aber für den natürlichen Sinn des Gegensatzes von Ausdruck und Bedeutung hat das weiter keinen Belang. Niemand nimmt Anstand, einzuräumen, daß eun und dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, für verschiedene Gesellschaftsklassen, für verschiedene Familien und am Ende auch für verschiedene Individuen Verschiedenes "bedeuten" kann und so wird man wohl ganz allgemein sagen können, ein Wort "bedeutet" allemal den Gegenstand der Vorstellung, die es "ausdrückt" und drückt umgekehrt die Vorstellung vom Gegenstand aus, den es bedeutet. (11)

Es ist eine unmittelbare Konsequenz des eben Dargelegten, daß das Wort, das etwas bedeutet, zugleich etwas ausdrücken muß, nämlich eben die Vorstellung des Gegenstandes, der die Bedeutung im gegebenen Fall ausmacht. Man kann also sagen: was Bedeutung hat, ist zugleich auch Ausdruck und zwar, wie man hinzufügen mag, primärer Ausdruck, im Gegensatz zu einer Art sekundärer Ausdrucksfähigkeit, die einem Wort unter Umständen vermöge seiner Bedeutung eignen kann. Dies ist nicht selten der Fall, wenn der die Bedeutung ausmachende Gegenstand dem Gebiet innerer Wahrnehmung angehört. Klagt jemand über Schmerzen, so ist das, was das Wort "Schmerz" zunächst, also primär ausdrückt, die Vorstellung des Schmerzes. Aber diesmal ist aus dem Wort zugleich zu entnehmen, daß der Redende den Schmerz wirklich hat; insofern drückt das Wort auch ein Gefühl aus, aber gleichsam auf einem Umweg und in diesem Sinne sekundär.

Dagegen ist die Umkehrung des obigen Satzes keineswegs in gleicher Weise statthaft: was Ausdruck ist, muß darum noch durchaus keine Bedeutung haben. Das erhellt sich für das intellektuelle Gebiet bereits durch den Hinweis auf die Wörter ja und Nein, die in der Regel Urteile ausdrücken werden, aber durchaus nicht erkennen lassen, worüber geurteilt wird. Auf dem Gebiet emotionaler Tatsachen aber belegen Ausrufe wie "ach", "pfui" und dgl. deutlich genug, wie leicht ein Schmerz oder ein Widerstreben zum Ausdruck gelangen kann, ohne daß über den Gegenstand desselben das Mindeste daraus zu entnehmen ist. Viel häufiger noch funktionieren in dieser Weise Wörter, denen es von Haus aus an einer Bedeutung keineswegs fehlt, die vielmehr durch diese in der oben berührten Weise zu sekundären Ausdrücken werden konnten, vermöge ausschließlicher Verwendung als solche aber, praktisch wenigstens, ihre Bedeutung verloren haben, falls nicht etwa, was die Sprachwissenschaft zu entscheiden hat, die Bedeutungen umgekehrt aus der Verwendung dieser Wörter als ursprünglich bedeutungsloser Ausdrücke erwachsen sind. Jedenfalls denkt bei Interjektionen wie "wehe" oder bei formelhaft gewordenen Höflichkeitsbezeigngen wie "ich habe die Ehre" und dgl. niemand an den "Sinn" dieser Worte. Nur darf man natürlich, wenn man sonach einräumt, daß es auch bedeutungslose Ausdrücke in der Sprache gibt, nicht vergessen, daß hier von "Bedeutung" in einem eingeschränkten teschnischen Sinn die Rede ist, womit schon gesagt ist, daß dem Ausdruck, der in diesem engeren Sinne keine "Bedeutung" hat, doch dadurch, daß er eben Ausdruck ist, ganz wohl eine Bedeutung im weiteren Sinne, wie sie dem Zeichen als solchem zukommt und damit eine gewisse Wichtigkeit, Beachtenswürdigkeit oder wie man sonst sagen mag, eignen kann. Wirklich liegt es den Traditionen der Grammatik durchaus fern, Wörtern von der in Rede stehenden Art "Bedeutung" schlechthin abzusprechen: aber daraus folgt, so viel ich sehe, nur dies, daß die Grammatik den soeben als technisch bezeichneten Sinn des Wortes "Bedeutung" nicht unter allen Umständen aufrecht erhält.

Kommt sonach dem Verhältnis zwischen Bedeutung und Ausdruck allgemein betrachtet, keineswegs Umkehrbarkeit zu, so verdient umso mehr schon an dieser Stelle beachtet zu werden, daß ein Bedeutungsanalogon zu dem, was oben sekundärer Ausdruck genannt wurde, also eine Art "sekundärer Bedeutung", ganz wohl anzutreffen ist. Man findet sich hierauf geführt, sobald man berücksichtigt, daß nicht etwa nur das Vorstellen, Urteilen usw., sondern auch, was an Vorstellungen, Urteilen etc. vorgeht, also insbesondere alle Operationen an diesen psychischen Elementartatsachen in den Bereich des sprachlich Ausdrückbaren gehören. Solche Operationen greifen natürlich stets an psychisch Realem, also an Akt und Inhalt (12) an, führen aber eben darum leicht genug zu inhaltlich und daher auch gegenständlich charakteristischen Ergebnissen, so daß den für sie angewendeten sprachlichen Bezeichnungen dann insofern auch Bedeutung in dem hier gebrauchten technischen Sinn zukommen wird, wenngleich der betreffende Ausdruck zunächst strenggenommen nur Ausdruck der Operation und nicht des Ergebnisses ist. So haben die Worte "4 weniger 2" ohne Zweifel eine "Bedeutung" und zwar nicht nur, wenn der Redende, was er natürlich kann, damit meint: "die Zahl, die herauskommt, wenn ich 2 von 4 abziehe". In diesem Fall hätten wir eine "indirekte" Vorstellung (13) vor uns, zu deren Konzeption die Reflexion über die Operation des Subtrahierens gar nicht in abstracto erfaßt habn, wenn er sie nur vorgenommen hat. Wenn also jemand tatsächlich von einer 4 ausgeht, indem er davon 2 abzieht, so findet dieses Geschehen in den Worten "4 weniger 2" sicher einen angemessenen "Ausdruck". Und insofern darin ein Ergebnis von aller nur wünschenswerten gegenständlichen Bestimmtheit mitausgesprochen ist, fehlt hier auch die "Bedeutung" nicht. Sie fällt gegenständlich am Ende auch mit der des auf Reflexion zurückgehenden Denkaktes zusammen: trotzdem kann man die Verschiedenheit der Sachlage nicht verkennen und mag ihr vielleicht durch die Bezeichnung "sekundäre Bedeutung" im reflexionslosen, "primäre Bedeutung" im Reflexionsfalle gerecht werden. Wichtiger als der Name ist natürlich die Einsicht, daß man in unserem Beispiel den Redenden praktisch zwar richtig, im Sinne psychologischer Genauigkeit aber möglicherweise unrichtig verstände, wenn man die Rede ohne weiteres als den Ausdruck jenes komplizierten Vorganges von Reflexion und Abstraktion betrachten wollte, der erforderlich wäre, wenn man bei den Worten ausschließlich auf "primäre Bedeutung" rechnen dürfte. Für den Fortgang der gegenwärtigen Untersuchungen wird sich die Tatsache des sekundären Ausdrucks als erheblich wichtiger herausstellen als die Tatsache der sekundären Ausdrucks als erheblich wichtiger herausstellen als die Tatsache der sekundären Bedeutung, doch werden wir später Anlaß haben, auch auf die sekundäre Bedeutung zurückzukommen. (14)


§ 5.
Der Satz als Urteilsausdruck

Die bisherigen Aufstellungen haben sich naturgemäß zunächst auf einzelne Wörter bezogen und erst die "sekundären Bedeutungen" haben uns auf Gegenstände geführt, denen im sprachlichen Ausdruck vorwiegend Wortkomplexionen gewidmet sein werden. Auch bezüglich dieser Komplexionen hat natürlich der Gegensatz von Bedeutung und Ausdruck seine Geltung und man wird vermuten dürfen, daß, was solche Wortkomplexionen bereits vor dem Forum der Grammatik zu einheitlichen Ganzen macht, in der Regel entweder eine Einheit der Bedeutung oder eine Einheit des Ausdrucks sein wird, falls nicht beides zusammentrifft. Es versteht sich, daß man es dabei vorwiegend mit Gegenständen höherer Ordnung und den auf deren Konzeption gerichteten Operationen zu tun haben wird. Nun hat es aber die Grammatik von Alters her angemessen gefunden, unter den sonst beliebig mannigfaltig geformten Wortkomplexionen einer eine ganz auffallende Ausnahmestellung gegenüber allen anderen einzuräumen. Und in der Tat mag sich auch schon der laienhaftesten Betrachtung nichts überzeugender darstellen als die völlig eigenartige Beschaffenheit des  Satzes  gegenüber dem, was man im weitesten Sinne als bloße Wortzusammensetzung fassen könnte und was trotz beliebig weitgehender Komplexität immer noch dem einfachen, d. h. unzusammengesetzten Wort wesensverwandt zu bleiben scheint. Es wird sich dem diesen Darlegungen gesteckten Ziel förderlich erweisen, wenn wir versuchen, den Gründen dieser offenbar für jedermann so einleuchtend Sonderstellung des Satzes nachzugehen.

Vorerst steht nun freilich zu erwarten, daß die Sprachwissenschaft die Subsumtion des Satzes unter den Begriff der Wortkomplexion allzu äußerlich, ja in den Tatsachen nicht einmal ausreichend begründet finden wird, da es doch auch Sätze gibt, die nur aus  einem  Wort bestehen. Wirklich hat ein Verbum finitum [begrenztes Wort - wp] wie "credo" allen Anspruch, für einen Satz zu gelten und läßt auch im Vergleich mit seinem Infinitiv "credere" sofort jenen eigentümlichen Tatbestand erkennen, den man im Satz zum Unterschied zum "einzelnen Wort" vor sich zu haben gewöhnt ist. Immerhin aber befinden sich Sätze dieser Art in einer ausreichend deutlichen Ausnahmestellung, daß man sie hier ohne Schaden unter den Gesichtspunkt der Grenzfalles bringen kann; überdies bleibt die hier nur vorübergehend vollzogene Subsumtion, indem aus ihr keine theoretischen Konsequenzen gezogen werden sollen, jedenfalls unschädlich. Vor allem wichtig für unsere Zwecke ist aber dies, daß die Frage nach dem Wesen des Satzes sozusagen nur noch akuter wird, wenn nicht einmal das Zusammengesetztsein aus einer Mehrheit von Wörter herangezogen werden kann, um die sich immerhin zunächst aufdrängende Gegensätzlichkeit des Satzes gegenüber dem Wort verständlich zu machen.

Da es nun weiter kaum angehen wird, das Charakteristische des Satzes anderswo als auf der psychischen Seite zu suchen, so findet man sich nun unmittelbar vor die Wahl gestellt zwischen dem, was der Satz etwa bedeutet und dem, was er ausdrückt. Aber das erste Glied dieses Dilemmas verspricht schon auf den ersten Blick wenig Ausbeute. An einer Bedeutung fehlt es zwar normalerweise nirgends wo ein Satz vorliegt: dieselbe wird ausgemacht durch die Bedeutung der im Satz zu einer Komplexion vereinigten Wörter und die Gegenstände höherer Ordnung, welche auf die diese letztere Bedeutung konstituierenden Inferiora [Grundlegende Gegenstände - wp] aufgebaut sind; über die Anzahl solcher Superiora [Gegenstände höherer Ordnung - wp] kann im gegenwärtigen Zusammenhang eine genauere Bestimmung entbehrt werden. Aber der unbeschränkten Mannigfaltigkeit solcher Bedeutungen steht nichts Gemeinsames gegenüber, das sich zugleich an den Satz gebunden zeigte; vielmehr scheint es jederzeit möglich, das im engeren, eigentlichen Sinne (15) Gegenständliche dessen, was in einem Satz zum Ausdruck gelangt, zu erhalten, auch wenn man die Satzform aufgibt. Ich meine durchaus nicht, daß man mit BRENTANO (16) den ganzen Sinn oder gar den eigentlichen Sinn des Satzes "der Mensch ist krank" durch den Satz "der kranke Mensch existiert" wiedergeben dürfte. (17) Unangreifbar scheint mir aber, daß in den Worten "der kranke Mensch", die doch durchaus keinen Satz ausmachen, das ganze im engeren Sinn gegenständliche Material erhalten geblieben ist, das der Satz "der Mensch ist krank" in sich schließt.

So findet man sich durch Ausschluß auf das zweite Glied des Dilemmas hingewiesen und wird diesem Hinweis umso leichter folgen, je kräftiger demjenigen, der nunmehr das Charakteristische des Satzes in dem zu suchen unternimmt, was er ausdrückt, eine Art Vormeinung entgegenkommt, die nicht ansteht, dem Satz in betreff dessen, was er auszudrücken hat, sofort eine ganz bestimmte Aufgabe zuzuweisen. Die täglichste Erfahrung scheint hierin aber auch ungewöhnlich deutliche Aufschlüsse zu erteilen. Sage ich "der Himmel ist blau", so drücke ich damit eine Meinung, ein Urteil aus, das den Worten "der blaue Hime" in keiner Weise entnommen werden kann. Man mag also über die psychologische Natur des Urteils wie immer denken: in jedem Fall scheint es geradezu selbstverständlich, daß, wo es gilt, ein Urteil auszudrücken, allemal ein Satz in Anwendung wird kommen müssen und daß eine andere Weise, der Überzeugung in betreff eines bestimmten Gegenstandes Ausdruck zu geben, überhaupt nicht zur Verfügung steht. (18) Auf die Frage nach dem Wesen des Satzes scheint damit in einfachster Weise die Antwort gefunden: der Satz wäre demnach dadurch charakterisiert, daß wir in ihm gleichsam die Vorkehrung vor uns haben, die von der Sprache ganz speziell zum Ausdruck des Urteils getroffen ist. (19)

Man wird einer solchen Bestimmung gegenüber schwerlich den Vorwurf erheben, daß sie den Eindruck des Künstlichen mache oder der auffallenden Sonderstellung des Satzes nicht durch Heranziehung eines ausreichend wichtigen und greifbaren Momentes Rechnung zu tragen versuche. Sie bietet sich vielmehr als etwas so Natürliches dar, es scheint, sie zu erfassen, ein auf sie ausdrücklich gerichtetes Nachdenken so wenig erforderlich, daß sie mancher fast unbewußt festgehalten haben wird, auch nachdem ihm mehr als eine Erfahrung begegnet ist, die sich mit dieser Bestimmung nicht in Einklang bringen läßt. Bei etwas Aufmerksamkeit aber kann man solcher Erfahrungen eine ganz unerschöpfliche Menge gewahr werden und kann sich der Aufgabe nicht entschlagen, zu einem Überblick über die wichtigsten der hierher gehörigen Fälle zu gelangen.


§ 6.
Unabhängige und abhängige Sätze,
die nicht Urteile ausdrücken.

Zunächst erkennt man leicht, daß die große Überzahl der Sätze, die wirklich Urteile ausdrücken, so beschaffen sind, daß die Grammatik sie als unabhängige Sätze bezeichnen darf. Man wäre aber bereits sehr erheblich im Irrtum, wollte man daraus schließen, daß mindestens alle unabhängigen Sätze unter die oben versuchsweise in Erwägung gezogene Bestimmung passen. Das beweise aufs Deutlichste alle Fragesätze in möglichst natürlicher Form, also nicht solche, bei denen der Gegenstand der Frage in einem abhängigen Satz auftritt, wie etwa: "ich frage, ob man sich auf diese Aussage verlassen kann". Hier hat man ein Beispiel für das vor sich, was ich oben "sekundären Ausdruck" genannt habe; den primären Ausdruck aber bietet der unabhängige Satz: "Kann man sich auf diese Aussage verlassen?" Und was hier ausgedrückt wird, ist normalerweise ein Begehren, vielleicht nur ein Wunsch, eventuelle aber auch ein Befehl. Daß es aber sicher kein Urteil ist, kann gerade hier für besonders handgreiflich gelten, da dasjenige, was der Fragende unter gewöhnlichen Umständen erst begehrt, sonach eben noch nicht besitzt und daher noch weniger ausdrücken kann, ein Wissen, eine Überzeugung, also eben ein Urteil über den im Satz bezeichneten Gegenstand ist. Und sowie es in der Sprache interrogative [Frage- - wp] Formen gibt, die, wenn sonst in nichts, wenigstens in der Satzmelodie und dann wieder im Schriftzeichen zum Vorschein kommen, so gibt es noch viel deutlichere Optative [Wunschform - wp] und Imperative [Befehlsform - wp], die darauf aufmerksam machen, daß unabhängige Sätze eventuell auch noch anderes Begehren als das nach Wissen auszudrücken fähig sind. Natürlich ist auch hier nicht von den vielen Fällen sekundären Ausdruckes die Rede, wo das, was einer wünscht oder befiehlt, wieder in abhängigen Sätzen - abhängig etwa von "ich bitte", "ich wünsche" und dgl. - mitgeteilt wird. Wo aber ein primärer Ausdruck unter Anwendung eines unabhängigen Satzes vorliegt, ist der Ausschluß eines Urteils als des möglicherweise Auszudrückenden zwar nicht ganz so äußerlich erkennbar, wie bei der Frage, übrigens aber kaum weniger unzweifelhaft. Denn was einer erst begehrt, kann er doch eben auch hier nicht für bereits verwirklicht beurteilen. In der Aufforderung "Komm zu mir" etwa könnte also höchstens ein negatives Urteil ausgedrückt sein sollen, die Überzeugung, daß der Angeredete nicht bei mir ist, eine Auffassung, die durch den Mangel jeden Negationszeichens ausreichend widerlegt wird.

Noch wesentlich ungünstiger für die versuchte Charakteristik des Satzes durch das Urteil steht es nun aber bei den abhängigen Sätzen. Zwar fehlt es auch an abhängigen Sätzen nicht, die als Ausdruck für ein Urteil genommen werden können. Sage ich etwa: "die Hitze war so groß, daß Mittags niemand das Haus verlassen mochte", so ist aus dem Nebensatz unbedenklich das Urteil zu entnehmen: "Niemand mochte Mittags das Haus verlassen". Es ist nicht anders, wenn ich etwa berichte: "Während die Glocken der nahen Kirche zusammenklangen, war ein ihnen gemeinsamer Oberton mit aufdringlicher Deutlichkeit zu vernehmen." Auch hier kommt nebst anderem das Urteil über das Zusammentönen der Glocken zum Ausdruck. Im Allgemeinen gibt es ja bekanntlich kein einigermaßen charakteristisches Bestandstück am unzusammengesetzten Satze, das nicht eventuelle in einen Nebensatz übergehen könnte oder müßte; es ist ja auch ganz gebräuchlich, die Nebensätze im Hinblick hierauf grammatikalisch zu charakterisieren. Nun kommt es ja ferner oft genug vor, mag auf den ersten Blick sogar als das ausschließlich Natürliche erscheinen, daß das ganze gegenständliche Material, von dem in einem Satz die Rede ist, auch in das durch den Satz ausgesprochene Urteil einbezogen wird. In so einem Fall steht dann auch zu erwarten, daß die als Erweiterungen eintretenden Nebensätze als Urteilsausdrücke betrachtet werden können oder müssen. Es kommt hier aber sehr darauf an, ob das Haupturteil, ich meine dasjenige, das im eventuellen Hauptsatz zum Ausdruck gelangt, affirmativ [annehmend - wp] oder negativ ist. Sage ich: "es gibt keinen fehlerfreien Menschen", so denkt sicher niemand daran, hierdurch den Gegenstand "fehlerfreier Mensch" affirmiert zu finden, drückt ja doch der Satz gerade das Gegenteil einer solchen Affirmation aus. Ist dem aber so, dann geht es natürlich auch nicht an, die ganz unwesentliche Abänderung "es gibt keine Menschen, die frei von Fehlern wären" anders zu verstehen. Und sagt jemand: "man findet innerhalb der gesamten psychologischen Erfahrung keinen einzigen Fall, wo Urteilen nicht mit Vorstellen verknüpft wäre," so denkt auch hier niemand daran, im Nebensatz das Urteil zu suchen, daß es Urteilen ohne Vorstellen gebe. Zugleich wird man bereits hier auf die Bedeutung des Konjunktivs aufmerksam, der sich augenscheinlich gern einstellt, wo zwischen dem, was der betreffende Nebensatz als Urteilsausdruck zu besagen haben müßte und dem, was er nach der Intention des Redenden wirklich besagt, ein Dissens besteht.

Besondere Beachtung aber dürften hier die mit "daß" eingeleiteten Sätze verdienen. Zwar könnte man gerade bezüglich solcher Sätze versuchen, etwa Wendungen wie "ich bin überzeugt, behaupte, glaube, vermute, daß ..." unter die Instanzen einzuordnen, die der Auffassung des Satzes als Urteilsausdruck günstig sind. Nur muß es sogleich einigermaßen auffallen, daß hier das Urteil zweimal zum Ausdruck gelangen soll, einmal sekundär im Hauptsatz, speziell in dessen Verbum und dann noch einmal primär im Nebensatz. Ferner scheint dann gelegentlich der Nebensatz in dieser Hinsicht mehr zu sagen, als der Hauptsatz eigentlich gestattet. Man halte, um das zu erkennen, etwa die beiden Aussagen zusammen: "ich bin überzeugt, daß es heute noch regnen wird" und "ich vermute, daß es heute noch regnen wird." Ist im ersten Fall der Nebensatz Ausdruck des Urteils "es wird heute noch regnen", so offenbar auch im zweiten Fall; und ist er im ersten Fall Ausdruck eines mit Gewißheit gefällten Urteiles, so natürlich ebenso im zweiten, wie ja auch sonst ein Satz, wenn er ein Urteil ausdrückt und über die Gewißheit darin nichts bemerkt erscheint, für den Ausdruck eines gewissen Urteils gilt. Nun liegt aber in unserem zweiten Fall in Wahrheit keine Gewißheit, sondern nur eine Vermutung vor, wie der Hauptsatz erkennen läßt: als Urteilsausdruck betrachtet würde hier also der Nebensatz sozusagen den Hauptsatz Lügen strafen. Aber der Dissens zwischen Haupt- und Nebensatz, diesen letzteren nämlichen als Urteilsausdruck genommen, kann noch weit beträchtlicher werden: ich kann ja auch sagen: "ich glaube nicht, daß es heute regnen wird" und das bedeutet bekanntlich, obwohl man dabei manchmal ein leises Gefühl von Inexaktheit im Sprechen haben mag, in der Regel so viel als "ich glaube, daß es heute nicht regnen wird", also das genaue Gegenteil dessen, was der Nebensatz angeblich ausdrücken sollte. Aber auch Wendungen wie "ich bezweifle daß ...", "ich weiß nicht, lasse es dahingestellt, zweifle ob ..." und dgl. stehen der fraglichen Interpretation des Nebensatzes deutlich genug entgegen. Dem obigen "ich behaupte" aber wäre mit vollster Strenge im Ausdruck ein "ich bestreite, daß ..." gegenüberzustellen und sollte der Nebensatz hier neben dem Bestrittenen auch noch einmal das Bestreiten mitteilen, so müßte der abhängige Satz unfehlbar für unser Regenbeispiel negativen Charakter haben. Ich schließe daraus, daß in keinem der hier aufgeführten Fälle sekundären Urteilsausdruckes im Hauptsatz, also auch nicht in denen, wo die in Rede stehende Auffassung vermöge der besonderen Sachlage nicht vorgängig bereits ausgeschlossen ist, im betreffenden Nebensatz ein Urteil zum Ausdruck gelangt.

Eine Art Verifikation hierfür bieten die Fälle, die sich von den eben besprochenen nur dadurch unterscheiden, daß statt von den Ansichten des Redenden von denen anderer gesprochen wird. Wenn jemand sagt: "mein Freund X ist der Meinung, daß das Problem des Determinismus und Indeterminismus unlösbar sei", so kann er darum noch ganz wohl überzeugter Determinist sein. Das Einzige, was der Redende hier an eigenem Urteil auszudrücken hat, betrifft die Meinung des Freundes, nicht aber die Frage des Determinismus. Das Urteil über diesen und seine Unbeweisbarkeit fällt der Redende gar nicht: der Nebensatz seiner Rede kann es daher so wenig ausdrücken wie der Hauptsatz.

Es gibt übrigens noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem es leicht ist, einzusehen, wie wenig die in Rede stehenden abhängigen Sätze mit "daß" und Ihresgleichen eigentlich mit dem Urteil zu tun haben. Sie bleiben verständlich, auch wenn sie gar nicht selbst an einen Satz, sondern bloß an ein Wort angegliedert sind, das selbst unmöglich als Urteilszeichen betrachtet werden kann. Die Worte: "die Meinung, daß die Wahrheit durch Gewaltmittel unterdrückt werden könnte" sind durchaus verständlich, aber offenbar nicht anders als etwa die Worte "die wichtigste Entdeckung des 19. Jahrhunderts", geurteilt wird im einen Fall so wenig wie im anderen, es müßte denn der Redende im Konjunktiv "könnte" etwas von seinen Ansichten verraten, was aber keineswegs unerläßlich ist. Völlig analog zu dem eben betrachteten Beispiel rangieren nun aber auch viele Relativsätze. Wer vom Bäumlein redet, "das andere Blätter hat gewollt", läßt sich auf Behauptung der Existenz dieses Bäumleins sicher nicht ein und für den Ausdruck einer Negation wird den fraglichen Relativsatz auch niemand nehmen wollen.

Nun bedarf es wohl keiner besonderen Begründung, daß, was oben von unabhängigen Frage- und sonstigen Begehrungssätzen in Bezug auf ihr Verhältnis zum Urteil dargelegt worden ist, auch auf diejenigen Nebensätze übertragen werden kann, die sich an Hauptsätze von der Form "ich frage, bitte" etc. anschließen, sobald diese als sekundäre Ausdrucksmittel für die betreffenden Begehrungen die oben besprochenen primären ersetzen. Dagegen muß hier noch auf gewisse satzförmige Aussagen hingewiesen werden, die unter den Gesichtspunkt des "abhängigen Satzes" nicht mehr durchaus passen, so daß auch die Grammatik hier lieber von "zusammengesetzten Sätzen" besonderer Form spricht. Ich meine das vielbesprochene sogenannte hypothetische und disjunktive Urteil. Namentlich in Bezug auf das erstere ist ja schon oft genug betont worden, daß weder der Vordersatz noch der Nachsatz wirklich geurteilt zu werden braucht, ja daß der Kern des hypothetischen Urteils aufrecht bleiben kann auch für den, der den Vordersatz und den Nachsatz geradezu für falsch hält. In der oben berührten Verwendung des Konjunktivs hat man hier sogar ein ganz gebräuchliches Zeichen für diesen Sachverhalt vor sich: "wenn es schön wäre, so ließe sich heute ein Ausflug unternehmen" sagt man bei Regenwetter. Daß nun aber auch das sogenannte disjunktive [unterscheidende - wp] Urteil in den Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung gehört, bedarf wohl keiner Rechtfertigung. Wer sagt: "entweder die Luft kühlt sich ab oder das Regenwetter dauert fort", der behauptet ja so wenig das eine wie das andere.

Wie nahe hypothetische Urteile von der eben besprochenen Beschaffenheit jenen Schlüssen stehen, die man sozusagen nur ihrer Form nach zieht, ohne sich für die Richtigkeit der "Materie" irgendwie zu engagieren, ist bekannt. Schon in der rein formelhaften Gestalt "A ist  B, B  ist  C,  daher ist  A C"  erfasse ich die Richtigkeit des Syllogismus nach dem Modus "Barbara", ohne mich irgendwie näher auf die  A, B  und  C  einzulassen. Und was da in mir vorgeht, findet dann sicher auch im hypothetischen Urteil "wenn  A B  und  B C  ist, dann ist auch  A C"  einen ziemlich adäquaten Ausdruck. (20) Damit ist außer Frage gestellt, daß auch die drei Sätze, durch die der obige Syllogismus ausgesprochen wurde, in keiner Weise Urteile des Redenden ausdrücken.


§ 7.
Das Verstehen bei Wort und Satz

Wie man sieht, steht man vor einer ansehnlichen Reihe von Tatsachen, die es aufs Eindeutigste verbieten, dem Satz die Funktion beizumessen als hätte er ein für allemal die Aufgabe, die Urteile dessen auszudrücken, der ihn ausspricht. Will man aber nicht an sozusagen zwecklose Veranstaltungen in der Sprache glauben, so involviert dieses negative Ergebnis die Frage, was denn also in Sätzen wie den eben geprüften eigentlich zum Ausdruck gelangt. Auf eine analoge Frage findet man sich geführt, wenn man den Satz statt vom Standpunkt des Redenden nun auch vom Standpunkt des Hörenden aus betrachtet. Die Sprache wird ja zum Verständigungsmittel nicht nur dadurch, daß etwas ausgedrückt, sondern nicht minder dadurch, daß das Ausgedrückte, bzw. die es ausdrückende Rede verstanden wird.

Versucht man vor allem, sich das Wesen solchen "Verstehens" klar zu machen, so liegt natürlich nichts näher als dabei die zu Anfang dieses Kapitels berührte Auffassung der Wörter als Zeichen zugrunde zu legen. Ist nämlich ein Zeichen, wie wir oben gesehen haben (21), ein Tatbestand, der als Erkenntnisgrund zu funktionieren vermag, so besteht das, was man natürlicherweise als "Verstehen" des Zeichens zu benennen berechtigt sein wird, im Auslösen des betreffenden Erkenntnisaktes: derjenige versteht das Zeichen, der aus dessen Gegebensein auf das Bezeichnete wirklich schließt. Sind also die Wörter Zeichen für psychische Vorgänge im Redenden, so wird der Hörer die Rede verstehen, sofern er aufgrund des Gehörnten von den psychischen Vorgängen Kenntnis nimmt, die zu sprachlichen Ausdruck gelangt sind. Speziell für den Satz, sofern er ein Urteil ausdrückt, hat das dann zu bedeuten, daß das Verstehen des Hörers darin besteht, zur Überzeugung zu gelangen, daß der Redende und worüber er urteilt.

Und manchmal trägt es sich in der Tat zu, daß, wenn der  X  dem  Y  gegenüber eine Meinung äußert, dieser darauf hin urteilt: "X ist der Meinung, daß ...", - oder genauer: "es liegt ein Urteil des Subjekts  X  vor mit so und so beschaffenem Gegenstand." Allein diesen Gedanken wirklich auszudenken, vor allem den psychischen Tatbestand im  X  nach Akt und Gegenstand in ausreichender Klarheit vorzustellen und zu beurteilen, ist doch eine weitaus zu schwierige Aufgabe, als daß deren Lösung dem psychologisch Ungeübten als eine noch dazu mit Leichtigkeit zu bewältigende Alltagsleistung zugemutet werden könnte. Auch ist auffallend, wie sehr die Person des Redenden zumeist in den Hintergrund zu treten pflegt, wenn man Mitteilungen mi Verständnis entgegennimmt und zwar auch dann, wenn man das Gehörte durchaus noch nicht zu "glauben" geneigt ist. Noch auffälliger ist dies, wo die Person des Redenden schon von vornherein gar nicht zur Geltung kommt, wenigstens äußerlich nicht: so in der Regel beim Autor eines Druckwerkes, insbesondere eines solchen, das zunächst als Kunstwerk zu wirken hat, also etwa eines Romans oder eines gelesenen Dramas. Die Frage, wie das Verstehen des gesprochenen Dramas vor sich gehe, schließt sich hier unabweislich an.

Man ersieht aus Tatsachen dieser Art, daß es, auch wo es sich um das Verstehen handelt, eben doch nicht angeht, die Leistungen der Sprache dem allgemeinen Begriff der Funktion des Zeichens kurzweg zu subsumieren. Anstandslos ist dies, so viel ich sehe, nur dort möglich, wo die Sprache emotionale Geschehnisse auszudrücken hat: äußert der Redende Gefühle oder Begehrungen, dann besteht das Verstehen wirklich nur darin, seine Äußerung als Zeichen zu behandeln, d. h. aus ihr das heraus zu erkennen, wenn man so sagen darf, was der Redende ausdrückt. Dasselbe  kann  sich auch auf intellektuellem Gebiet zutragen, sofern der Hörende aus einem Wort oder Satz, den er hört, erkennen mag, daß der Redende diese Vorstellung, jenes Urteil realisiert hat: aber es  muß  nicht geschehen und ist für das sozusagen intellektuelle Verstehen nicht einmal die Regel. Als solche Regel scheint sich hier vielmehr eine Gesetzmäßigkeit geltend zu machen, die darin besteht, daß das Wort oder die Wortkomplexion im Hörer denjenigen psychischen Tatbestand wachruft, den es bzw. den sie ausdrückt. Insofern stünde dann der in den vorangehenden Paragraphen erwogenen Position, daß der Satz seinem Wesen nach das Urteil auszudrücken habe, ebenso natürlich die Parallelthese zur Seite, daß der Hörende, indem er den Satz versteht, das darin ausgedrückte Urteil nun auch seinerseits fällt.

Auch dieser Position ist manche Erfahrung günstig: wenn mir jemand etwas erzählt, ist meine normale Reaktionsweise darauf die, daß ich das Erzählte glaube, d. h. das Urteil, genauer die Urteile fälle, die in der Erzählung zum Ausdruck gelangt sind. Aber die Parallelposition fällt natürlich mit der Position, deren Parallele sie ausmacht: haben wir Sätze angetroffen, die gar kein Urteil ausdrücken, so wird auch derjenige, der solche Sätze versteht, dazu bereits im Sinne der eben angesprochenen Gesetzmäßigkeit kein Urteil nötig haben. Die selbstverständliche Konsequenz daraus ist dann weiter natürlich die, daß genau dasselbe Problem, das sich uns oben in Bezug auf das ergeben hat, was in solchen Fällen der Satz eigentlich ausdrückt, nun sich auch bezüglich der Weise einstellt, wie der Verstehende als solcher auf einen derartigen Satz reagiert.

Inzwischen erweitert sich der Umfang des in diese Frage Einzubeziehenden noch beträchtlich, sobald man gewahr wird, daß die in Rede stehende Gesetzmäßigkeit selbst zwar zwischen einzelnen Wörtern und Vorstellungen Geltung hat, bei den Sätzen aber oft genug auch da versagt, wo diese wirklich Urteile auszudrücken haben. Ich verstehe den in gutem Glauben abgestatteten Bericht eines notorisch Leichtgläubigen oder Abergläubigen, auch wenn ich mich durch ihn keineswegs überzeugen lasse. Auch Zeitungsberichte versteht man, obwohl man sich für deren Zuverlässigkeit nur in den seltensten Fällen würde verbürgen wollen; und dieses Beispiel hat nebenbei noch den Wert, daß hier auch das oben zuerst besprochene Verstehen als Urteilen über das Urteil des Redenden, hier etwa des Zeitungsreporters, wieder außerordentlich fern gerückt ist. So stellt sich im ganzen heraus, daß in betreff dessen, was der Satz eigentlich dem Verstehenden leistet, noch mehr Bedürfnis nach einer einigermaßen bündigen Antwort besteht als in betreff seiner Funktion für den Sprechenden.

Genau in demselben Maße ungelöst ist aber natürlich auch die Aufgabe, die Relation zwischen Sprechen und Denken in einigermaßen befriedigender Allgemeinheit zu bestimmen, soweit dies nicht durch Subsumtion unter den ganz allgemeinen Zeichenbegriff geleistet ist, der, wie wir sahen, der Hauptsache nach gerade auf intellektuellem Gebiet versagt, also da, wo so sehr die große Überzahl aller sprachlichen Leistungen liegt, daß man bekanntlich leicht Gefahr läuft, die außer-intellektuellen Leistungen ganz zu übersehen. Sollte dieser Mangel nicht am Ende darin seine Wurzel haben, daß man der Lösung der in Rede stehenden Aufgabe jenen Begriff der "Bedeutung" noch nicht recht dienstbar gemacht hat, die wir oben von "Bedeutung" im Sinne des Korrelates zu "Zeichen" sorgfältig unterscheiden und insbesondere dem "Ausdruck" gegenüberstellen mußten. (22) Fürs erste scheint dieser Begriff freilich für solche Zwecke ein allzu enges Anwendungsgebiet aufzuweisen: "Bedeutung" in diesem Sinn fanden wir zwar bei Wörtern, aber gerade bei Sätzen, auf die es uns doch nach dem obigen besonders ankommen müßte, scheint sie zu fehlen. Wie aber, wenn sich zeigen ließe, daß genauer besehen doch auch den Sätzen so gut "Bedeutung" zukommen kann wie in der Regel von Wörtern? Spätere Untersuchungen (23) werden uns ganz von selbst auf die Beantwortung dieser Frage führen.

Dagegen würde den bisherigen Ausführungen bereits an dieser Stelle eine Rechtfertigung darüber, weshalb hier eigentlich die Frage nach den Leistungen des Satzes überhaupt aufgeworfen worden ist, kaum zu ersparen sein, hätte nicht der Leser voraussichtlich schon längst erraten, daß diese Fragestellung darauf aufmerksam machen soll, daß dort, wo in dieser Sache das urteil seinen Dienst versagt, die Annahme an dessen Stelle zur Geltung kommt. Die EInsicht darin, daß dem wirklich so sei, läßt sich aber natürlich nicht ohne genauere Bekanntschaft mit den wichtigsten Annahmefällen gewinnen. Wir wollen uns daher einer Einzelbetrachtung einschlägiger Tatsachen zuwenden, die uns zu einer nahezu ausreichenden Beantwortung der hier aufgeworfenen sprachpsychologischen Fragen bereits am Ende des nächsten Kapitels befähigen dürfte. Doch wird sich zeigen, daß auch die folgenden Kapitel Material hierfür zu bieten haben, so daß es sich empfiehlt, auf die im obigen behandelten Fragen im Schlußkapitel dieser Schrift (24) ausdrücklich noch einmal zurückzukommen, indem dann deren Beantwortung sich als Miterfolg der bis dahin durchzuführenden Untersuchungen von selbst ergeben wird.
LITERATUR - Alexius Meinong, Über Annahmen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband 2, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) EDUARD MARTINAK, Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre, Leipzig 1901
    2) MARTINAK, a. a. O. Seite 1f
    3) Vgl. MARTINAK, a. a. O. Seite 12
    4) Wohl in Übereinstimmung mir R. GAETSCHENBERGER, "Grundzüge einer Psychologie des Zeichens", Würzburger Inaugural-Dissertation, Regensburg 1901, Seite 45f, sowie HUSSERL, "Logische Untersuchungen", Bd. II, Halle 1901, Seite 25f
    5) Noch genauer wäre auch der Fall des Nicht-Seins des  B  einzubeziehen, für das es ja auch Zeichen geben kann. Vorgreifend sei darauf hingewiesen, daß hierin nur der Umstand zutage tritt, daß die Relation von Grund und Folge streng genommen nicht Sache des Objekts, sondern speziell die des Objektivs ist, ein Gegensatz, der in Kapitel VII deutlich gemacht werden soll.
    6) Über den Gegensatz von realem und finalem Bedeuten vgl. MARTINAK, a. a. O. Seite 12
    7) Vgl. auch über diesen Gegensatz MARTINAK, a. a. O. Seite 19f
    8) Was man aus  A  erschließen darf, ist ja nur die Pseudo-Existenz des  C,  dieses Wort wieder in dem schon einmal gebrauchten Sinn verstanden, den ich ihm in der Abhandlung "Über Gegenstände höherer Ordnung etc.", Zeitschrift für Psychologie 21, Seite 186f gegeben habe.
    9) Über Gegenstände höherer Ordnung usw. Seite 185f
    10) Über Gegenstände höherer Ordnung usw. Seite 188f
    11) Gegen HUSSERL, "Logische Untersuchungen", Bd. II, Seite 46f. Der Dissens geht wohl darauf zurück, daß HUSSERL den Begriff des Gegenstandes enger faßt, als mir natürlich erscheinen möchte; vgl. hierüber einstweilen "Über Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. Seite 188, Anmerkung
    12) MEINONG, "Über Gegenstände höherer Ordnung etc.", Seite 186
    13) MEINONG, Hume-Studien 2, Seite 87
    14) Siehe unten Kapitel IV, § 20 gegen Ende.
    15) Die Intention dieser Einschränkung wird später klar werden; vgl. Kapitel VII, § 43
    16) Vgl. BRENTANO, Psychologie I, Seite 283
    17) Vgl. meine Ausführungen in den "Göttingische Gelehrten Anzeigen" 1892, Seite 450f
    18) Daß den Wörter "ja" und "nein" eine gegenständliche Bestimmtheit fehlt, wurde schon oben berührt.
    19) Vgl. z. B. auch SIGWART, Logik I, 2. Auflage, Seite 25 Anfang
    20) Vgl. auch MEINONG, Hume-Studien 2, Seite 108f
    21) Vgl. § 3
    22) Vgl. oben § 4.
    23) Vgl. Kapitel VII, § 39 am Ende
    24) Vgl. unten § 60