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EMIL LASK
Die Logik der Philosophie
und die Kategorienlehre

[Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form]
[3/3]

"Wieviel wird als Seiendes, z. B. als psychisch Seiendes, ausgegeben, worin in Wahrheit Wert und Bedeutung eingeschwärzt ist."

"Der Wertgegensatz ist eine Zwiespältigkeit  innerhalb  der Wertsphäre. Das Seiende aber ist wertfremd, das heißt der ganzen Wertsphäre fremd. Es gibt überhaupt keinen Wertunterschied zwischen den beiden Sphären, eben darum, weil zwischen ihnen der Unterschied von Wert und Nicht-Wert besteht. Man darf deshalb die Kluft zwischen dem Nichtsinnlichen und dem Sinnlichen genau genommen auch nicht als  Gegensätzlichkeit  bezeichnen."


Das Sinnliche als das Nichtgeltende
oder Geltungsfremde

Die Tragweite der kopernikanischen Umwälzung KANTs tritt noch stärker hervor, wenn die durch sie bewirkte Umstoßung der in der Einleitung formulierten Zweisphärentheorie jetzt noch weiter verfolgt wird. Die beiden in der Einleitung auseinandergehaltenen Gebiete der Gegenstände und der Wahrheiten sind in ein einziges "Reich" zusammengerückt. Soll es überhaupt noch ein Zweierlei, in irgendeinem Sinn zwei Sphären, eine zeitlich-seiende und eine zeitlos-geltende, geben, so können es höchstens die beiden Sphären der  Elemente  oder Faktoren sein, aus denen das eine Gebiet, das mit dem Reich des theoretischen Sinnes zusammenfallende Gegenstandsgebiet, sich zusammensetzt. Es baut sich also das Seinsgebiet und ebenso das mit ihm identische Reich des theoretischen Sinnes aus der "Sphäre" eines theoretisch Geltenden als der Form und aus der Sphäre des Nichtgeltend-Sinnlichen als dem Material auf. Im gegenständlichen Seinsgebiet steckt ebenso eine unsinnlich geltende Form wie andererseits in dem damit identischen Reich des Sinnes das nicht-geltende sinnliche Material vorkommt. Die Zweiweltentheorie ist in eine Zwei-Elemententheorie umzubilden.

Das führt aber sogleich zu einer weiteren und allgemeineren Erkenntnis. Aus dem Umstand, daß mitten in das Seinsgebiet das Geltende, nämlich kategorialer Geltungsgehalt, hineinragt, ist zu entnehmen, daß, wenn man im All des Denkbaren das Geltenden und das Nicht-Geltende voneinander scheiden will, auf der einen Seite gar nicht das Seinsgebiet stehen kann. Denn das Seinsgebiet ist noch geltungshaltig. Es birgt theoretischen Geltungsgehalt. Man muß folglich den im Seinsgebiet noch steckenden Geltungsgehalt erst herausheben und auf die andere Seite schlagen, will man wirklich auf der einen Seite die von  allem,  auch jeglichem theoretisch-kategorialen Geltungsbestand gereinigte, durch und durch nichtgeltende Masse übrig behalten. Jetzt wird ersichtlich, daß zu dieser wahren Orientierung und richtigen Sphärenabgrenzung erst die kopernikanische These verhilft. Sie erst lehrt uns den ganzen Inbegriff des Geltenden kennen, indem sie auch das kategoriale Seinsmoment als Geltungsgehalt durchschaut; sie erst ermöglicht es auf der anderen Seite, das von allen fremden Zusätzen gereinigte Nicht-Geltende freizulegen, aus der Nicht-Geltungssphäre auch den kategorialen Seinsgehalt zu entfernen, der sich so unvermerkt mit dem Seinsmaterial zur Einheit des Seinsgebietes verbindet.

Die Grenzlinie zwischen Nicht-Geltendem läuft mitten durch das Seinsgebiet hindurch. Und gerade die spezifischen Epitheta [Beiworte - wp] oder Prädikate, die dem ganzen Seinsgebiet den Namen geben, das Sein, die Dinghaftigkeit usw., fallen als logische Momente aus der Sphäre des Nicht-Geltenden heraus. Gerade diese Konstituentien der Seinssphäre sind es, die auf die Seite des Nichtseienden zu setzen sind. Nicht zufällig wurden bereits in der früheren Darstellung diese "Epitheta" oder "Prädikate", die sich jetzt als "Kategorien" enthüllen, als etwas Besonderes hervorgehoben. Sie sind in der Tat von anderer Art als die gesamte übrige Seinsmasse (1).

Es muß fortan genauer formuliert werden: nicht das  Seinsgebiet,  sondern nur das  Seiende,  das heißt das  in der Kategorie "Sein Stehende, aber abzüglich dieser seine kategorialen Form selbst, nicht die Wirklichkeit, sondern nur das Wirkliche, das heißt das,  was  - von kategorialer Form betroffen - erst Wirklichkeit ergibt, bildet die eine Hemisphäre, die des Nicht-Geltenden. Auf dem Seinsgebiet ist alles seiend, der kategoriale Seinsgehalt selbst dagegen ein Geltendes. Das Sein des Seienden gehört schon zum Geltenden, somit zum Nicht-Seienden, die Wirklichkeit des Wirklichen schon zum Nichtwirklichen. Das Sein ist geltend, und nichtgeltend erst das Material, hinsichtlich dessen die kategoriale Hingeltungsform "Sein" lautet. Dieses Kategorienmaterial ist. Aber dieses sein "Sein" gilt. Man darf jenes Material nur mit Rücksicht darauf das "Seiende" nennen, daß es in der Kategorie "Sein" steht. Es ist darum zunächst doppeldeutig, vom Seienden zu reden. Denn man kann darunter entweder das ganze Seinsgebiet, also die in der kategorialen Form "Sein" stehende Inhaltsmasse mitsamt der Seinsform selbst, oder das bloße durch die Kategorie  Sein betreff bare Etwas verstehen. Nur in diesem letzteren Sinne des bloßen Seinsmaterials ist das Seiende dem Geltenden entgegenzusetzen. Man mag darum ruhig fortfahren, das Nicht-Geltende zwar nicht mehr als Seinsgebiet, wohl aber als das Seiende zu bezeichnen. Nur muß man sich dabei klar machen, daß man bei dieser Ausdrucksweise immerhin schon nicht mehr beim bloßen Nicht-Geltenden stehen geblieben ist, sondern bereits außer an das, was das Nicht-Geltende selbst ist, noch an die Rolle denkt, die es im Rahmen eines theoretischen Sinnes spielt. Man kennzeichnet es dann nach der Situation, in der es einer kategorialen Form gegenübersteht. In der folgenden Darstellung ist das "Seiende" stets in der Bedeutung des Seinsmaterials gemeint.

Es ist somit zwischen dem Seienden oder dem Seinsmaterial, dem Sein des Seienden oder der Seinskategorie und dem Seinsgebiet oder dem aus Material und Kategorie bestehenden Sinn; ebenso zwischen dem Wirklichen, dem kategorialen Wirklichkeitscharakter und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Auch als Gegenständliches oder Gegenstandsmaterial, Gegenständlichkeit oder Gegenstandsform und Gegenstandsgebiet, Inbegriff der Gegenstände oder gegenständlicher Sinn wäre dieses Dreierlei auseinanderzuhalten.

Jetzt erst ist es gelungen, zu den letzten Komponenten vorzudringen, aus denen sich das All des Etwas aufbaut. Nicht zwischen den Gebieten, sondern zwischen den Elementen des Denkbaren besteht jene letzte Kluft und Heterogenität, die die Einleitung als die Unvergleichbarkeit zwischen der Seins- und der Geltungssphäre zutreffend gekennzeichnet hat. Die Totalität des Denkbaren erscheint nunmehr reinlich aufgeteilt in die zwei Sphären der letzten Elemente. Ganz gleich, wie weit zu entscheiden ist, was überall im Einzelfall in welcher der beiden Hemisphären unterzubringen ist: weiß man einmal, daß es überhaupt Seiendes und daß es überhaupt Geltendes gibt, dann steht fest, daß das All des Denkbaren diese Heterogenität [Verschiedenheit - wp] irgendwie birgt, und daß überall, was ein Seiendes ist, eben darum nicht ein Geltendes sein kann und umgekehrt. Es läßt sich jetzt jede Sphäre durch Negierung der spezifischen Gegenständlichkeitsart der anderen bestimmen. Geltendes ist einfach der positive Ausdruck für das Nichtseiende wie Seiendes für das Nicht-Geltende. So unräumlich, unzeitlich, unseiend das Geltende ist, so nicht-geltend und darum auch - gemä dem, wozu sich das Geltungsartige enfalten sollte - so nichtwertartig, nicht bedeutungsartig, nicht Sinngepräge gebend, muß das Seiende sein. Wollte man der Masse des Seienden auch nur irgendwo eine Spur Bedeutungsmäßigkeit zuerteilen, dann hätte man sich der vollen Sinnlosigkeit schuldig gemacht, ein Geltendes unter der Flagge des Seienden passieren zu lassen. Die unmittelbar vorgefundene, mit Sinn- und Werthaftigkeit mannigfach versetzte "Wirklichkeit" des gewöhnlichen Erlebens erscheint nicht mehr als ein Letztes und Unzerlegbares. Aus ihr muß das Bloß-Seiende und Nur-Wirkliche durch Abscheidung aller geltungs- und wertartigen Zusätze erst besonders herausgelöst und dann der so von allem Beiwerk des Nichtseienden gereinigte Inbegriff zur Masse des Seienden zusammengeschlossen werden. Es bleibe dahingestellt, in welcher Weise sich mit dem Nicht-Geltenden das Geltende verbinden mag und aus welchen Verschlingungen darum das Seinserkennen sein Material, um es in Reinheit zu gewinnen, erst herauszupräparieren hat. Wieviel wird als Seiendes, z. B. als psychisch Seiendes, ausgegeben, worin in Wahrheit Wert und Bedeutung eingeschwärzt ist. Dann ist man sofort darüber orientiert, keine pure Wirklichkeitsmasse, sondern Seiendes und Geltendes in irgendeiner Verschmolzenheit vor sich zu haben. So wird das negative Erfordernis, gänzlich bedeutungsbar zu sein, geradezu zu einem Kriterium des Seienden, des psycho-physisch Seienden, des Psychischen wie des Physischen.

Für das ganze Seinsgebiet selbst aber, für die Wirklichkeit, für den Inbegriff der seienden Gegenstände, gewinnt man erst jetzt gleichsam seine transzendentale Topographie. Er erweist sich als das, was nach Abzug aller nichttheoretischen Wert- und Geltungsartigkeit übrig bleibt. Er ist lauter Nicht-Geltendes und Nicht-Wertartiges mit einem einzigen Einschluß kategorialen Wertgehalts. Er ist das im übrigen Entgötterte, Entwertete, Entdeutete, in dem als einziger Geltungsgehalt noch das Wahrheitsgelten übrig geblieben ist. Aber der Rest des ausnahmslos und durchweg Nicht-Geltendenn ist erst das Seiende oder das Seins-Material.

Allerdings wurde das Seinsmaterial lediglich durch Ausschluß der Geltungssphäre, lediglich negativ, als das Übrigbleibende, das Andere, das Nicht-Geltende charakterisiert. Aber es liegt im Wesen der Sache, daß eine philosophische Charakterisierung des Seinsmaterials gar nicht anders als negativ ausfallen kann. Das Seins-Material gehört vor das Forum des Seins-Erkennens. Es kann direkt gar nicht Gegenstand einer philosophischen Betrachtung werden. Höchstens indirekt, durch seine Beziehungen zum philosophischen Erkenntnisobjekt, zur Geltungssphäre. Wenn man sich wie hier mit der Nichtgeltungssphäre als mit dem "Seienden" oder dem "Seinsmaterial" beschäftigt, so tut man es im Zusammenhang einer logischen Untersuchung des kategorialen Gehalts, und es liegt hierbei eine Inbeziehungsetzung des nichtgeltenden Etwas zu der es betreffenden kategorialen Form "Sein" vor. Diesem Umstand verdankt man eine Möglichkeit, es unter philosophischen Gesichtspunkten irgendwie abzustempeln. Aber es ist eine gar einseitige Bestimmung, die dann damit vorgenommen wird, nämlich eine Inbeziehungsetzung lediglich zum spezifisch theoretischen, zum kategorialen Gehalt.

Wollte man seine funktionelle Stellung gegenüber jeglichem Geltungsgehalt, also gegenüber jeglicher Form, berücksichtigen, so könnte man es als "das Material" (die "Materie") schlechthin bezeichnen. Aber das wäre in dem Fall noch nicht eindeutig, wenn sich herausstellen sollte, daß außer einem seienden Etwas noch die Form selbst die Stelle des Materials einnehmen kann. Mag nämlich auch nur Geltendes die Rolle der Form spielen können, so braucht doch Geltendes nicht nur die Rolle der Form zu spielen. Vielleicht gibt es - was an dieser Stelle freilich nur wie eine spielerische Möglichkeit erscheint - auch Form der Form. Dann würde also auch geltende Form in die Materialstellung einer anderen Form gegenüber geraten, es würde nicht ausschließlich das Seiende, sondern auch das Geltende "Material" sein können. Es entstünde möglicherweise ein ganzer Aufbau von Formen, in dem jede Form zwar nach unten Form, nach oben aber Material wäre. Das funktionelle Wesen der Formartigkeit ist jedoch vom Geltenden gar nicht abzutrennen, auch in der Materialstellung stehend büßt es dennoch nicht seinen Formcharakter ein. In jenem Aufbau der Formen darf deshalb das Material nicht immer wieder Formmaterial sein, nicht ins Endlose über sich hinausweisen. Es bedarf eines nicht mehr über sich hinausweisenden materialen Abschlusses, eines Materials, das gar nicht mehr Form, sondern nur Material (also nicht formartiges Material) sein kann. Da alles Geltende Form ist, so wird diese Stelle vom Nichtgeltenden, vom Seienden eingenommen. Ist der Geltungsgehalt seinem Wesen nach eine leere Form, so ist damit schon gesagt, daß er es schließlich einem Etwas gegenüber ist, das selbst seinem Wesen nach Nur-Material ist. So mündet die funktionelle Gegensätzlichkeit von Form und Material in die absolute des Geltenden und Nichtgeltenden ein. Das Nichtgeltende läßt sich funktionell betrachtet, jetzt eindeutig zwar nicht als Material schlechthin, wohl aber als das Nur-Material, das Urmaterial, das unterste Material, der bloße "Stoff", die bloße "Materie", die  prote hyle  [fundamentale, undifferenzierte Materie - wp], bestimmen. Es ist, wie noch klarer hervortreten wird, ein Symptom der üblichen Einschränkung des logischen Forschens auf das sinnliche Seinsmaterial, daß der Strukturbegriff des "Inhaltes" schlechthin und unbedenklich mit dem des Seienden sich zu decken scheint, das Seiende schlechthin als der Inhalt oder als das Material gilt. Aus dem Begriff des Urmaterials dagegen vermag man den antiken Begriff der "Materie" zu verstehen und es zu würdigen, daß in der antiken Philosophie die Urelemente des Denkbaren, also das, was sich dem Gehalt nach als Nichtsinnliches, Wert- und Geltungsartiges und als Sinnliches, Nicht-Wert- und Nicht-Geltungsartiges gegenübersteht,in die funktionelle Beziehung der amorphen [gestaltlosen - wp] Hyle und der unstofflichen Form gebracht wird. Hieraus begreift man auch, daß mit dem bloß funktionellen und dabei bildlichen Unterschied von Form und Stoff sich der Gehaltsunterschied von wertartig und nichtwertartig verknüpft hat. (2)

Mit dem Begriff des Urmaterials wäre allerdings eine mögliche philosophische Definition gegeben, die aber eben lediglich der funktionellen Beziehung des Nicht-Geltenden zum gesamten Geltungsgehalt entnommen ist. Über den Nichtgeltungsgehalt selbst wäre damit gar nichts Positives ausgemacht. Das bleibt uns eben auch in philosophischer Absicht versagt. Wir sehen uns dabei auf die bloß negative Charakterisierung, auf die Angabe der Andersheit und des Nichtdieses angewiesen. Es gibt für diese Sphäre keine anderen philosophischen Bezeichnungen als die von der griechischen Philosophie gefundenen: das  me  [Nichts - wp], das  heteron  [Verschiedenheit - wp], die Materie (3). Vorsichtshalber mag noch auf folgendes hingewiesen werden: indem wir das Nichtgeltende vor unser charakterisierendes Erkennen hinstellen, steht es, wie nicht verborgen bleiben kann, freilich nicht mehr in seiner logischen Unbetroffenheit und Unberührtheit da und also nicht mehr als das bloße reine nichtgeltende Etwas. Kategoriale Momente, unter anderem auch Symptome des vergleichenden Reflektierens, haben sich ihm angesetzt, wie wir uns ja auch dessen gar nicht erwehren können, von einem Etwas, einem Inhalt, Bestand, Inbegriff, einer Mannigfaltigkeit und ähnlichem zu reden. Was dies alles logisch bedeutet, wird später erörtert werden.

Mit einer negativen, diagnostisch aber das Seinsmaterial mit absoluter Schärfe abgrenzenden Charakterisierung hat man sich somit zu begnügen. Allerdings gibt es auch positive Ausdrücke, die, weit genug gefaßt, auf die ganze Sphäre des Nichtgeltenden passen. Es sind all jene Bezeichnungen, in denen das Seiende als Sinnliches oder Sinnlich-Anschauliches, als nur Empfindbares und Anschaubares, Sinnlich-Erfahrbares und Wahrnehmbares gefaßt wird. Dies sind nun zwar alles positive Ausdrücke, aber lauter Namen, die das Seinserkennen prägt, bloße Worte, die uns philosophisch ebensowenig zu sagen vermögen, wie die Worte  blau  und  süß, Vitriol  und  Zucker.  Es sind einfache Hinweise auf psychophysische Erlebensvorgänge und -organe, auf die "Sinne", das Empfinden, das Anschauen. Nehmen wir auch an, daß es adäquate Namen sind, daß das Nichtgeltende aus lauter empfindbarer Masse besteht, so sind es dennoch - und wie könnte es bei positiven Ausdrücken für das Nichtbedeutungsmäßige anders sein - philosophisch gänzlich stumme Bezeichnungen für das Nicht-Geltungsartige, Bezeichnungen, in denen nicht die geringsten Andeutungen über das Wesen dieser ganzen Sphäre enthalten sind. Wenn man dennoch glaubt, solche Ausdrück wie "sinnlich" schon irgendwie in ihrer philosophischen Bedeutsamkeit verstehen zu können, so muß man dem positiven Ausdruck heimlich den negativen des Nichtbedeutungsmäßigen leihen, was umso geläufiger geschieht, als er fast stets als das eine Gegensatzglied in Gegenüberstellungen wie sinnlich - unsinnlich, sinnlich - übersinnlich, sinnlich - intelligibel etc. auftritt. Es lassen sich somit von all diesen Ausdrücken die unwesentlichen und störenden Nebenbedeutungen nur dann fernhalten, wenn man von vornherein den Gedanken des Nicht-Geltungsartigen an sie heranbringt. Durch diese negative Abgrenzung allein begreift man, warum im Inbegriff des Denkbaren diese eine Hemisphäre des Etwas sich abgrenzt.

Man darf das Nichtwert- und Nichtbedeutungsartige nicht als wert- und bedeutungsbar bezeichnen. Diese Ausdrücke würden an einer störenden Vieldeutigkeit leiden. Bedeutungsbar und bedeutungslos könnte wie wertbar und wertlos im Gegensatz zu stehen scheinen zum Wert- und Bedeutungsvollen. Und dann könnte bedeutungslos nur das sein, wovon auch "bedeutungsvoll" gesagt werden kann. Bedeutungsvoll und bedeutungslos in diesem Sinne nennt man aber das Seiende lediglich als Träger und Erlebensstätte des Wertartigen, also mit Rücksicht darauf, wie Geltungs- und Wertartiges sich in ihm "realisiert". Deshalb kann man diese Qualitäten nur auf Seiendes als Erlebensträger, auf Subjektsgebilde oder deren symbolische Repräsentanten (wie Sätze, Vorträge, Bücher usw.) anwenden (4). Allein es soll doch hier die Art des Seienden selbst umschrieben werden, zwar nur negativ durch Vergleichung mit dem Geltungsartigen, aber keineswegs mit Rücksicht auf dessen Realisierbarkeit im Seienden. Nur die Andersartigkeit des Seienden im Unterschied zum Geltenden soll hervortreten, nicht aber irgendeine sonstige ("konstitutive") Beziehung zwischen beiden Sphären in Betracht kommen. Um diese gänzliche Fremdheit des Seienden gegenüber der gesamten Geltungssphäre und um weiter nichts als dies zum genauen Ausdruck zu bringen, soll es anstatt als das Bedeutungsbare als das  "Bedeutungsfremde"  und so auch als das  "Wert- und Geltungsfremde"  bezeichnet werden (5). Insofern das Seiende als ein Bedeutungsfremdes angesehen wird, kommt es gar nicht als ein solches in Betracht, bei dem etwas vermißt würde, an das überhaupt das Ansinnen herantreten könnte, bedeutungsvoll zu sein. Die Bezeichnung der Fremdheit ist auch der der Indifferenz vorzuziehen. Indifferenz - und Entsprechendes gilt von Neutralität - schreiben wir dem Seienden häufig wiederum gerade mit Rücksicht darauf zu, daß es Träger des Werthaften zu sein und zwar nach der Wert- und nach der Unwertseite hin sich zu entscheiden vermag. So sind Wollungen sittlich indifferent; auch nichtentscheidendes theoretisches Verhalten kann man indifferen hinsichtlich Richtigkeit und Unrichtigkeit nennen. Das Seiende, bloß "verglichen" mit der Wertsphäre ist wert- und bedeutungsfremd; erst als Substrat ihre gegenüber gedacht, kann es auch bedeutungslos, indifferent, neutral genannt werden.

Kaum braucht noch versichert zu werden, daß die Wertfremdheit nichts mit dem Unwert, die Geltungsfremdheit nichts mit der Ungültigkeit, die Bedeutungsfremdheit nichts mit der Unbedeutendheit zu tun hat. Der Wertgegensatz ist eine Zwiespältigkeit  innerhalb  der Wertsphäre. Das Seiende aber ist wertfremd, das heißt der ganzen Wertsphäre fremd und darum ebenso unwertfremd wie wertfremd, ungültigkeitsfremd wie gültigkeitsfremd. Es gibt überhaupt keinen Wertunterschied zwischen den beiden Sphären, eben darum, weil zwischen ihnen der Unterschied von Wert und Nicht-Wert besteht. Man darf deshalb die Kluft zwischen dem Nichtsinnlichen und dem Sinnlichen genau genommen auch nicht als "Gegensätzlichkeit" bezeichnen, wobei "Gegensatz" das ganz unvergleichbare Verhältnis zwischen Wert und Unwert ausdrücken soll, und demgemäß nur innerhalb des Nichtsinnlichen, aber nicht zwischen dem Wertartigen und dem Wertfremden stattfinden kann. Wenn gelegentlich auch in dieser Schrift Ausdrücke wie "Urgegensätzlichkeit" nicht vermieden worden sind, so soll damit lediglich eine emphatische Bezeichnung für die Unterschiedenheit, diese für sich so blasse Relation zwischen zwei Beziehungsgliedern, gemeint sein. Das Wertfremde, das Sinnliche für sich, noch unabhängig gedacht von jeder Berührung mit der gegenüberliegenden Sphäre, darf nicht wie die "Materie" mancher Systeme für das Prinzip des Unwerts oder irgendwie für eine niedere Sphäre gehalten werden. Nicht dem Wertfremden als solchem, sondern ihm erst in seinem Verhalten zum Wertartigen kann, wie hier nicht genauer auszuführen ist, "Unvollkommenheit", "Bedingtheit", "Endlichkeit" zugesprochen werden. Nichts als Fremdheit besteht zwischen den beiden Sphären, deshalb weder Wertgegensatz, noch sonst ein Abstand oder Rangunterschied irgenwelcher Art. All die Gegenüberstellungen des Bedingten und Unbedingten, Relativen und Absoluten, Endlichen und Unendlichen, Unvollkommenen und Vollkommenen sind darum, da sie einen Wertabstand zum Ausdruck bringen, als Formulierungen der Zweiweltentheorie zu verwerfen (6).

Es liegt nahe, das Sinnliche als den alogischen (was übrig bleibt nach Abzug der kategorialen Form) oder irrationalen Bestand des Denkbaren zu bezeichnen. Allein Alogizität oder Irrationalität würde sich mit Bedeutungsfremdheit nur dann decken, wenn gemäß der durch den Intellektualismus der Antike bestimmten Terminologie unter Logos und Ratio Geltungsgehalt und Sinn im weitesten Sinne und nicht bloß der theoretische Logos und die intellektuelle Ratio verstanden wird. Um der bald weiteren, bald engeren Bedeutung von Logos und Ratio, logisch und rational willen sind darum diese Termini hier zu vermeiden. Es ist den Ausdrücken "alogisch" und "irrational" am besten stets die engere Bedeutung von Logos und Ratio zugrunde zu legen. Dann aber ist das Sinnliche nicht nur alogisch oder irrational. Es ist nicht nur das logisch Undurchdringliche. Liegt nicht nur außerhalb des logischen Gehalts, sondern außerhalb der gesamten Geltungs- und Bedeutungssphäre, ist der ethischen und ästhetischen und religiös-übersinnlichen Wertsphäre ebenso fremd wie der theoretischen. Die Bedeutungsfremdheit schließt allerdings die Irrationalität ein, aber nicht umgekehrt die Irrationalität die Bedeutungsfremdheit. Bei der gegenwärtig üblichen Beschränkung der theoretischen Philosophie auf das Seinsgebiet wird dieser Unterschied allerdings belanglos. Denn da ist das Sinnliche  das  Alogische, ein anderes Alogisches kommt da gar nicht in Betracht. Das Alogische fällt da seinem  Umfang  nach einfach mit dem Bedeutungsfremden zusammen. Hat man dagegen, wie es in dieser Untersuchung geschieht, die Absicht, den logischen Gehalt über das Seinsgebiet hinaus zu verfolgen, so besteht aller Grund, Bedeutungsfremdheit und Irrationalität scharf auseinander zu halten; in der Erwägung, daß auch Unsinnliches dem logischen Gehalt als irrationales Material wird gegenüberstehen können, der Umfang des Irrationalen vielleicht über die Sphäre des Sinnlichen hinausreichen, innerhalb des Irrationalen vielleicht - der zweite Teil dieser Schrift wird darüber Aufschluß geben - das durch die letzte Kluft Geschiedene, das Bedeutungsmäßige ebensogut wie das Bedeutungsfremde nebeneinander Platz haben mag. Es wird also freilich zutreffend vom Sinnlichen ausgemacht, daß es ein Irrationales, begrifflich nicht Festlegbares und Unkonstruierbares, ein logisch Unzulängliches und mit Klarheit nicht Durchleuchtbares ist; daß man hinsichtlich seiner nur an das unmittelbare anschauliche Erleben appellieren kann; daß es jenes Unbeschreibbare und Unmitteilbare ist, das sich nur so "passiv" hinnehmen und "erfahren" läßt. Aber diese bloße unmittelbare Erlebbarkeit und Anschaulichkeit genügt noch nicht. Denn diese Unerreichbarkeit für den "Verstand" und Fremdheit ihm gegenüber teilt das Sinnliche vielleicht mit einem Bedeutungsartig-Alogischen. Atheoretisch, irrational, "denkfremd" mögen auch die Objekte der ethischen, ästhetischen, religiösen Hingabe sein. Die Alogizität ist kein ausreichendes Kennzeichen für das Sinnliche. Der sinnliche Charakter muß noch besonders hervorgekehrt werden. Es besteht aber die über die Alogizität, atheoretische Unmittelbarkeit oder "Anschaulichkeit" noch hinausgehende Sinnlichkeit in nichts anderem als in der die bloße Irrationalität noch überbietenden gänzlichen Bedeutungsfremdheit. Das Sinnliche ist im Inbegriff des Erlebbaren der dunkle Rest und Bodensatz des nicht nur theoretisch Unbegreiflichen, sondern allseitig Undeutbaren, Unverstehbaren. Es ist das, worin das Erleben sich nicht versenken kann wie in entgegengeltende werthafte Bedeutung, was nicht als ein Hingabe Erforderndes entgegentritt, das Wesenlose oder vielmehr Wesensfremde; was nur brutal da ist, uns nichts sagt und stumm bleibt, die Region der des Sinnes und der Bedeutung beraubten Impressionen. Das ist die "Sinnlichkeit", die "in uns" ebenso wie die "außer uns" - ein Unterschied, der hier gar nicht in Betracht kommt, wo es sich lediglich um die  Bedeutungsfremdheit  eines gewissen Bestandes handelt.

Ist so nach der durch die kopernikanische These revidierten Fassung der Zweisphärentheorie das Sinnliche und nicht das Seinsgebiet als die eine Hemisphäre des Denkbaren herauszulösen, so darf man das auf der Gegenseite Stehende um seiner Andersheit willen als das Nicht-Sinnliche, das dann in sich das Unsinnliche und das Übersinnliche enthält, zusammenfassen. Die letzte Unterschiedenheit des Denkbaren läßt sich dann als die des Sinnlichen und des Nichtsinnlichen aussprechen.

Die Orientierung über das Sinnlich-Bedeutungsfremde zieht die Orientierung über das gesamte Seinsgebiet nach sich. Denn die Seinssphäre ist jetzt definierbar als das Gebiet theoretischen Sinnes, dessen Material sinnlich ist. Der kategoriale Seinsgehalt charakterisiert sich als gerade  die  theoretische Form, in der das Sinnlich-Anschauliche als Material steht. Das "Sein" ist der spezifisch theoretische Geltungsgehalt gerade für das Nichtgeltende, das Sinnliche. Was "Sein" bedeutet ist nur mit Hilfe des Sinnlichen, des Geltungs- und Bedeutungsfremden, nicht aber umgekehrt das Sinnliche durch den Seinsbegriff zu verstehen. Denn das "Sein" als eine ganz  bestimmte  kategoriale Form bekommt nur durch sein Material, somit durch das Bedeutungsfremde, seine besondere Bedeutung.

Die kopernikanische Einsicht erhält jetzt die bekannte Fassung: das Seinsgebiet ist nicht eine durch und durch sinnlich-"aposteriorische", bloß "erfahrbare", alogische und bedeutungsfremde Masse, liegt nicht durch und durch außerhalb des Logischen, des "Verstandes", sondern es ragt eine logische Form hinein, von der das Sinnliche umkleidet "Wirklichkeit" ergibt. Kategorial betroffen erhöht sich die sinnliche Inhaltsmasse zum Gebiet der Dinge und kausalverbundenen Geschehnisse. Im Seinsgebiet liegt mehr und anderes als der bloße sinnliche Bestand, nämlich das Sinnliche, bereits durchsetzt und durchherrscht von unsinnlicher, "apriorischer" Verstandesform.



Bis jetzt ist - durch Einsetzung der Formbegriffs in die kopernikanische These - lediglich eine Verschiebung der anfänglichen Zweisphärentheorie, ihre Umbildung zu einer Zweielemententheorie bewirkt worden. Während bisher der Begriff der theoretischen Form nur ganz im allgemeinen eingeführt wurde, muß nunmehr die kopernikanische Auffassung vom Seinsgebiet durch eine etwas prinzipiellere Behandlung der Kategorienlehre unterbaut werden. Freilich auch hier nur wie stets skizzenhaft und ohne letzte systematische Fundierung. Immerhin müssen all die Begriffe klar heraustreten - die Begriffe der Kategorie, der Gegenständlichkeit, der Irrationalität, des Erkennens -, deren genaueste Wiederholung in der Kategorien- und Erkenntnistheorie der Philosophie sich später ergeben wird.
LITERATUR: Emil Lask - Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1923
    Anmerkungen
    1) Zum Folgenden ist natürlich zu bemerken, daß ich hier  nur  das  Geltende  und Sinnliche im Auge habe. Es wäre das Argument zu erweitern dahingehend, daß an  allen  Gegenständen ihre Gegenständlichkeit  logische  Form, also Geltendes ist. Folglich auch das Übersinnliche nicht ein Gegenstandsreich, sondern nur ein Gegenstands element  oder  Faktor  sein kann!
    2) Wobei freilich zu bedenken ist, daß dem Typus aller vergangenen Metaphysik gemäßt die geltende Form zugleich zur überseienden gestaltenden Potenz verlebendigt und damit verselbständigt wird; dadurch weicht der metaphysische Formbegriff von unserem Begrif der bloßen unselbständigen Hingeltungsform doch wesentlich ab.
    3) Das Verhältnis zwischen Andersheit und Negation mag dabei allerdings ganz dahingestellt sein. Überhaupt soll die genauere Fixierung der logischen Eigenart eines solchen philosophischen Charakterisierens des nichtphilosophischen Erkenntnisobjekts hier unterbleiben.
    4) Daß man mit ihnen auch den von den Erlebnissubstraten ablösbaren Sinn bezeichnen darf, kommt in diesem Zusammenhang nicht in Betracht.
    5) Dieser Ausdruck wird genau in der Erweiterung des von JONAS COHN geprägten Terminus "denkfremd" gebraucht (siehe "Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, 1908, Seite 106)
    6) Es mag hier angemerkt sein, daß dagegen im ersten großen System der Zweiweltentheorie, im Platonischen, der eigentliche Gegenpol des Übersinnlichen, das in letzter Linie dem Übersinnlichen gegenüberliegende Prinzip, also keineswegs die  genesis,  sondern das, was an der  genesis  übrig bleibt, wenn von ihr alles abgezogen wird, was an ihr Abbild der Idee ist, mithin das Prinzip der sogenannten "Materie", nicht als das Wertlose, sondern als das Wert- und Bedeutungsfremde gefaßt wird. Erst aus der Mischung des jenseits von Wert und Unwert liegenden Übersinnlichen und des diesseits von Wert und Unwert liegenden Sinnlichen, entsteht die  genesis,  als die Stätte der Unvollkommenheit und des Gegensatzs von Wert und Unwert. So steht es im Grunde auch bei ARISTOTELES, bei dem es nirgends schöner als im 12. Buch der Metaphysik ausgeführt wird.