tb-3ra-3Umgang mit KindernEin Unterrichtsprogramm der AS    
 
RACHEL M. LAUER
Allgemeine Semantik und Erziehung
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Im Erwachsenenleben haben wir häufig die Enttäuschung beim Zusammentreffen mit anderen erlebt, bei denen die verschiedenen Sprecher nur in Bezug auf ihre  eigenen  Gedanken sprachen, während sie unsere Beiträge in der Luft hängen ließen.

In der vergangenen Woche ereignete sich etwas, das mich davon überzeugte, daß wir alle auf schwankendem Boden stehen. In unserem Kurs über Konfliktlösung wurden wir einer dramatischen Übung ausgesetzt, in der beabsichtigt wurde, uns zu lehren, daß kooperatives Verhalten, das auf wechselseitiges Vertrauen gegründet ist, diejenige Art von Verhalten sei, dessen Ergebnis jedem einzelnen den größten Vorteil bringt. Um dies zu erreichen, hatte uns die Fakultät in Paare eingeteilt und dann aufgefordert, ein Spiel namens "Dilemma des Gefangenen" zu spielen. Das Ziel dieses Spieles, das einige von Ihnen kennen werden, ist, so viel Geld als möglich voneinander und von der Bank zu gewinnen.

Das Spiel erfordert von den Teilnehmern, die Züge des anderen zu erraten, und ist so angelegt, daß schließlich jeder Partner der Zweiergruppe entdeckt, daß Aggressivität in Konkurrenz zueinander einen Verlust für beide zur Folge hat, daß aber vertrauensvolle Kooperation beiden Gewinn bringt. Die Lehre aus diesem Spiel war sehr eindrucksvoll. Ich war eine von denen, die die Tugend der Kooperation am lautesten verkündigte. Wir kamen alle zu der Ansicht, daß Kooperation als Verhaltensweise im Leben jeden am weitesten bringen werde.

Dann erlaubte uns die Kursleitung, das Spiel ein zweites Mal zu spielen. Dieses Mal wurde die Übung mit Vierergruppen, die gegeneinander spielten, durchgeführt. Jede Vierergruppe mußte sich über jeden Zug beim Spiel mit der anderen Gruppe einig werden. Ich befand mich in einer Gruppe mit drei Leuten von hohem sittlichem Niveau. Gleich zu Anfang riefen wir alle: "Wir wissen bereits, daß der einzige Weg, dieses Spiel zu gewinnen, in der Kooperation mit der anderen Gruppe liegt. Wir wollen vertrauenswürdig sein und das Spiel genau nach der Regel spielen."

Aber plötzlich kam mir eine Idee - vielleicht aus Langeweile oder vielleicht aus Boshaftigkeit -, ich weiß es nicht. Ich entschied mich dafür, die Rolle der Schlange im Garten Eden zu spielen. Als wir bei der Abstimmung unserer Pläne nicht zu Rande kamen, machte ich den Vorschlag: "Lassen Sie uns in der anderen Gruppe eine Menge Vertrauen dadurch aufbauen, daß wir bei allen Zügen mit Ausnahme der letzten mit ihnen zusammenarbeiten. Dann aber werden wir sie betrügen. Damit werden wir das meiste Geld gewinnen."

Alle drei bekannten, daß sie über meine Hinterhältigkeit erschüttert seien. Aber um eine lange Geschichte kurz zu fassen, schließlich waren sie mit dem Betrug einverstanden, weil es mir gelang, einen Weg zu finden, um jeden einzelnen zu korrumpieren. Meine Methode beim ersten Mann bestand darin, die Vorstellungskategorien zu verschieben. Ich legt ihm den Gedanken nahe, daß es sich  nicht  um das wirkliche Leben handle, sondern nur um ein  Spiel.  Was schadet ein wenig Betrug, solange is sich um ein Spiel handelt! Beim zweiten Mann gelang es mir, auf sein Gefühl des Selbstmitleids zu spekulieren. Ich wies darauf hin, daß Kooperation gewöhnlich ein Spiel für Leute ist, die auf alles hereinfallen. Die aggressiven Charaktere seien diejenigen, die in der Welt vorankommen. Wir "Gutgesinnten" kämen immer zu kurz. Ich legte ihm nahe, daß er es genießen würde, einmal in seinem Leben vorndran zu sein. Er stimmte zu.

Den dritten Mann zu korrumpieren war schwieriger. Keines meiner Argumente könnte ihn veranlassen, gegen sein Gewissen zu handeln, sagte er. Aber der Wendepunkt kam bei ihm mit dem Augenblick, als er etwas, was die  andere  Gruppe tat, als einen Vertrauensbruch interpretierte. Er wurde auf sie sehr ärgerlich, und in seiner selbstgerechten Empörung bestand er darauf, daß sie bestraft werden sollten. Wodurch? Durch unseren Betrug natürlich.

Offen gestanden war ich überrascht, wie leicht das gute Prinzip der Kooperation zunichte gemacht werden konnte. Als freilich meine Freunde herausfanden, welches Manöver ich mit ihnen angestellt hatte, stürzten sie wie eine Horde auf mich, warfen mich ins Wasser und gaben mir den Spitznamen  Lucy  als Abkürzung für Lucretia Borgia. Aber schließlich setzten wir uns alle zusammen und führten ein langes Gespräch. Wir bemühten uns, ein Prinzip zu definieren, das besser gegen Versuchung und Demoralisierung geschützt sei.

Allgemeine Semantik stellt uns ein solches zur Verfügung, was wir für ein beständigeres Prinzip halten: daß menschliche Wesen wechselseitig voneinander abhängig sind. Biologisch und sozial sind wir nicht voneinander getrennt. Im Gegenteil ist der Mensch mit seinem Universum auf vielfältige Weise verbunden. Er kann nicht von den Werken seiner Vorväter unabhängig sein, weil der Mensch seine Fähigkeit des Zeit-Bindens nutzt. Wir ziehen Nutzen aus dem, was andere herstellen. Wir können nicht ohne die anderen leben.

Unsere kleine Gruppe schöpfte den Verdacht, daß, wenn das Prinzip der Kooperation nur als ein Hilfsmittel, als ein zeitliches Mittel zu einem Zweck angesehen wird, es nicht genügt, um Korruption zu verhindern. Wenn jedoch das Prinzip der Kooperation breiter als ein Lebensweg, gleichbedeutend mit beiderseitigem Überleben und gegenseitigem Vorteil angesehen wird, dann könnte es sich als viel gehaltvoller und weniger einer Diskussion ausgesetzt erweisen. Dies ist eine Hypothese, keine Tatsache freilich, aber gewiß ein Gebiet, das weiter untersucht werden muß.

In dieser Hypothese liegen meines Erachtens für Lehrer einige Einsichten. Nach meinen Beobachtungen ist die große Mehrheit der Schulen so organisiert, daß sie das Prinzip der Interdependenz verneinen. Ob nun gezeigt werden kann, daß das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen eine bessere Grundlage für ethisches Verhalten hergibt oder nicht, so scheinen mir jedenfalls die Schulen verpflichtet zu sein, sich der Wirklichkeit entsprechend zu organisieren. Bislang aber erscheint das Leben in der Schule meist auf dem Prinzip der Unabhängigkeit und wechselseitigen Isolierung aufgebaut zu sein.

Was lehren Lehrer zum Beispiel Kinder, wenn sie sie mit den Worten aufrufen: "Nun Johnny, ich möchte hören, was du zu sagen hast - niemand soll ihm helfen!"? Hausarbeiten werden mit der Ermahnung ausgegeben: "Sorge dafür, daß es deine  eigene  Arbeit ist." In den Examen sitzen die Kinder so weit wie möglich entfernt. Diejenigen, die entweder helfen oder sich helfen lassen, werden streng bestraft. Es ist mir klar, daß der Zweck hiervon ist, daß der Lehre in die Lage versetzt wird, seine Schüler zu bewerten und einzuordnen. Aber jeden Tag? Und mit solchen Kosten?

Hören Sie einmal zu, wenn Kinder in einer Klasse einen Gegenstand diskutieren. Sie hören, wie jedes Kind seinen individuellen Beitrag unabhängig davon liefert, was der letzte Sprecher gerade gesagt hat. Sie wechseln sich dabei ab anzugeben. Sie haben gelernt, die Bemerkungen der anderen als unerheblich anzusehen und warten geduldig darauf, bis sie an die Reihe kommen. Sie haben gelernt, andere Leute eher als eine Quelle der Konkurrenz und Frustrierung zu betrachten, denn als eine Quelle beiderseitigen Vorteils.

Weil sie den Bemerkungen der anderen verschlossenen Sinnes gegenüberstehen, verpassen sie die Chance, zu lernen, wie verschiedene andere wahrnehmen und überlegen. Ihnen entgeht die Anregung und Bereicherung, die daraus entsteht, daß man anderen zuhört. Daher leidet die allgemeine Qualität der Diskussion darunter, daß sie das Opfer einer Reihe von isolierten Reden ist. Tiefe der Einsicht kann sich dabei nicht entwickeln.

Im Erwachsenenleben haben wir häufig die Enttäuschung beim Zusammentreffen mit anderen erlebt, bei denen die verschiedenen Sprecher nur in Bezug auf ihre  eigenen  Gedanken sprachen, während sie unsere Beiträge in der Luft hängen ließen. Viele menschliche Begegnungen sind von dieser Art - zwei Leute erzählen den anderen abwechselnd etwas und kommen niemals zu einem tieferen Mitgefühl oder Verständnis.

Ich behaupte, daß das typische Erziehungssystem das Gefühl für Isolierung, Unabhängigkeit und Wettbewerbsfähigkeit fördert, womit die Grundlage für Neurosen und anti-soziales Verhalten gelegt wird. Wenn die Vorgänge im Klassenzimmer auf die Wirklichkeit aufgebaut werden, daß menschliche Wesen wechselseitig abhängig sind, könnten Lehrer den Kindern helfen, den Wert des anderen anzuerkennen, womit die Grundlage für gesundes und kooperatives Verhalten gelegt wird.

Ein anderes Beispiel für eine unrealistische Form der sozialen Organisation, das sich in den meisten Schulen findet, ist die Aufteilung der Kinder in Altersgruppen. Ältere Kinder werden von jüngeren isoliert, und sie erhalten selten eine Gelegenheit, ihnen behilflich zu sein. Sie verpassen ihre Chance, wichtige individuelle Unterschiede wahrzunehmen und es zu lernen, auf sie mit Geschick und beiderseitigem Respekt einzugehen.

Was sie  tatsächlich  lernen, ist, Ungeduld mit "den kleinen Kindern, die es nicht richtig können" zu empfinden oder Neid und Ressentiment gegen "die Großen, die glauben, sie seien so gescheit" zu fühlen. Es ist mir klar, daß ein Lehrer, wenn er Kinder nach dem chronologischen Alter eingruppiert, mit weniger Fähigkeiten und Kenntnissen durchzukommen vermag, aber es erscheint mir viel wichtiger, welche sozialen Folgen sich daraus ergeben oder nicht ergeben. Ich würde es vorziehen, Kinder in gemischten Gruppen zu sehen, in denen sie sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig helfen.

Eins der größten Hemmnisse dafür, daß Kinder in der Schule ihre Interdependenz erleben können, ist die Vorstellung, daß die hauptsächliche Quelle des Wissens in der Schule der Lehrer und das Buch seien. Im wirklichen Leben ist es für alle Leute wichtig, aus möglichst vielen Quellen zu schöpfen. Wenn Kinder auf ihrem Spielplatz oder in ihr Klubhaus freigelassen werden, dann scheinen sie es natürlicherweise vorzuziehen, voneinander zu lernen. Wenn man mit dem Prinzip der Interdependenz übereinstimmen will, glaube ich, könnnte von den Eltern, älteren Geschwistern und Leuten in der Arbeitswelt ein viel besserer Gebrauch gemacht werden.

Ich glaube, daß auch der Schullehrplan revisionsbedürftig ist und man auf die Interdependenz der Menschen mehr Nachdruck legen müßte. Zwar trifft es zu, daß im Sozialkundeunterricht oft darauf hingewiesen wird, daß Nationen miteinander Handel treiben, aber oft wird die Schlußfolgerung gezogen, daß Länder, welche die weiteste Skala von Gütern für sich selbst herstellen können, die "besten" Länder sind und daß Länder, die abhängiger sind, irgendwie "unterlegener" sind.

Der Geschichtsunterricht läßt oft eine große Lücke, wenn die Bedeutung und die  wesentliche Beziehung  zwischen früheren Leistungen und unserem heutigen Lebensweg außer Betracht gelassen wird. Es genügt nicht, etwas über die faszinierenden Werkzeuge und Gebräuche vergangener Zivilisationen zu lernen. Wichtiger ist es, zu zeigen, daß, was früher geleistet wurde, ein Teil eines Entwicklungsprozesses ist, eines Prozesses, von dem wir alle die Nutznießer oder die Opfer sind. Alles was wir in der Gegenwart tun, wird gleicherweise jene, die nach uns kommen, fördern oder benachteiligen. Mit vielen Lehren dieser Art haben, glaube ich, Kinder eine echte Chance, einen realistischen Sinn für Verantwortlichkeit zu entwickeln.

Ein einfaches Beispiel mag erläutern, wie Disziplin auf der Grundlage des Prinzips der Interdependenz behandelt werden kann. Eine Kunstlehrerin in einer Volksschule versuchte, ihren Kindern beizubringen, am Ende ihres kunstgewerblichen Unterrichts aufzuräumen. Warum sollten die Kinder aufräumen? Sie gab ihnen solche Begründungen wie "Du mußt nachsitzen, wenn Du es nicht tust" oder "Je schneller Du aufräumst, desto früher kannst Du zu Deiner Gymnastikklasse gehen" oder "Ordnung und Sauberkeit sind Gewohnheiten, die jedermann lernen muß".

Aber die Begründung, die, wie sie entdeckte, am besten wirkte, war auf dem Prinzip der Interdependenz begründet. Sie sagte ihnen: "Die Klasse, die vor Euch kam, ließ alles sauber und ordentlich für Euch zurück. Habt Ihr das gern gehabt?" Ja, sie hatten das gern. "Wie würdet Ihr gern die Sachen für die nächste Klasse zurücklassen? Ist es nicht fair, daß Ihr Eure eigene Unordnung aufräumt?" Da die Kinder den Wert der Fairneß zu schätzen wußten, kamen sie überein, das beste System sei für jede Gruppe, am Ende der eigenen Stunde aufzuräumen.

Ich möchte noch eine andere Anrgegung geben. Lassen Sie uns unser Erziehungssystem dazu benutzen, auf die Tatsache nachdrücklich hinzuweisen, daß wir alle von den Leistungen aller Art Leute abhängig sind. Zuviel Zeit wird in Schulen darauf verwendet, den einmaligen Helden, den großen Führer, den außerordentlichen Erfinder, das künstlerische Genie aufs Podest zu stellen. Was ist mit den Beiträgen der gewöhnlichen Menschen, selbst der Versehrten und der Behinderten? Wird es unseren Schulkindern klar, daß ohne diese es keine großen Helden geben könnte, daß ohne Gefolgsleute es keine Führer geben könnte, ohne Schüler keine Lehre, ohne Neurotiker keine Therapeuten, ohne Straßenarbeiter keine Autokonstrukteure?

Um zusammenzufassen:  Allgemeine Semantik  hat einen großen Beitrag dazu zu leisten, der Menschenrasse zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen. Ich glaube, unser Erziehungssystem kann und wird in zunehmendem Maße Allgemeine Semantik für dieses Ziel benutzen, weil  Allgemeine Semantik  Züge hat, die sie für Erzieher annehmbar macht. Sie ist akademisch genug für die meisten Buchgelehrten, wissenschaftlich genug für die meisten kritischen Rationalisten und realistisch genug für die meisten lebensnahen Pragmatiker.

Der hauptsächliche konstruktive Beitrag, den die  Allgemeine Semantik  der Erziehung bieten kann, sind: die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst und die Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit) des Menschen mit seiner Umwelt nachzudenken. Ich glaube, es stünde besser in der Welt, wenn die Menschen mehr Klarheit über die Vorgänge im eigenen Innern und in dem des andern gewönnen und mehr Verständnis für die Beziehungen untereinander aufbrächten. Es könnte eine weniger chaotische Welt sein, wenn die Menschen sich über ihre gegenseitige Abhängigkeit klarer wären.
LITERATUR: Rachel M. Lauer, Allgemeine Semantik und die Zukunft der Erziehung, in "Wort und Wirklichkeit", Beiträge zur Allgemeinen Semantik, Hrsg. Günther Schwarz, Darmstadt 1968