ra-2p-4cr-2L. BrentanoW. StrichDürrHerknerJ. Cohn    
 
FELIX SOMLO
Das Wertproblem
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"Die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte bedeutet bereits zugleich ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zum vorgestellten Gegenstand. Ich kann die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte gar nicht anders ausdrücke als dadurch, daß ich die Richtigkeit, die Wahrheit dieser Beziehung ausdrücke. Wir vollziehen also nicht fortwährend eine eigentümliche Kombination zwischen beiden; sondern: es gibt einfach gar keine Sätze, die nicht Beurteilungen wären. Wenn die Urteile sowohl im gewöhnlichen Vorstellungsverlauf wie im wissenschaftlichen Leben überhaupt  nur in dem Sinne gebildet werden,  daß ihnen ein Wert zu- oder abgesprochen wird, so gibt es einfach  nur  Beurteilungen."

"Mit niemandem könnten wir logisch und wissenschaftlich verhandeln, der die Geltung der Denkgesetze leugnet: mit niemandem könnten wir uns sittlich verständigen, der jegliche Pflicht ablehnt - das ist wohl richtig, es muß aber auch noch die Tatsache berücksichtigt werden, daß wir uns auch mit niemandem sittlich verständigen könnten, der die Geltung der Denkgesetze leugnet, wogegen wir mit jemandem, der jegliche Pflicht ablehnt, deshalb noch immer logisch und wissenschaftlich verhandeln könnten."

"Wenn die Erkenntnis ihrem innersten Wesen nach ein Anerkennen von Werten ist, so ist es nicht mehr möglich, den prinzipiellen Gegensatz zwischen dem theoretischen Menschen, der nichts anderes als Wahrheit erstrebt und dem wollenden Menschen, der danach strebt, seine Pflicht zu tun, in jeder Hinsicht aufrecht zu erhalten. Auch wer Wahrheit will, ordnet sich einem Sollen unter, ebenso wie der Mensch, der seiner Pflicht gehorcht."

"Die Geltung des Pflichtbewußtseins beruth für den wollenden Menschen in letzter Hinsicht auf einem Willensentschluß, weil jeder, um gewissenhaft und pflichtgemäß zu handeln, erst gewissenhaft und pflichtgemäß handeln  wollen  muß. Ein solcher Entschluß ist die Voraussetzung auch des theoretischen Erkennen. Wer Wahrheit nicht  will,  für den ist die Geltung eines Sollens nicht zu begründen. Die Erkenntnistheorie setzt ein Wissen-Wollen voraus. Somit beruth auch das Erkennen in  letzter Hinsicht  auf einem Willensentschluß."


II. Polemische Bemerkungen

1. Kant

Die obigen Ausführungen beruhen  in Bezug auf den absoluten  Wert auf den Ergebnissen der KANTschen Vernunftkritik.

"Alle synthetische Erkenntnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch ist gänzlich unmöglich." (KANT, Kr. d. r. V., Seite 614, Ausgabe ROSENKRANZ) Wiederum aber müssen wir anerkennen "das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch und, in dessen Ermangelung, kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden" (ebd. Seite 506) "Es ist also nur die Gültigkeit des Vernunftprinzips, als einer Regel der Fortsetzung und Größe einer möglichen Erfahrung, die uns allein übrig bleibt." (ebd. Seite 406) Es ist demnach sehr bezeichnen, daß KANT in Bezug auf die alte und berühmte Frage  "Was ist Wahrheit?",  womit man zu wissen verlangt, "welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei"; die berühmte Bemerkung gemacht hat: "Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen soll" (Seite 61). Die Ungereimtheit der Frage bestehe nämlich darin, daß Wahrheit gerade  den Inhalt  der Erkenntnis angeht, während ein allgemeines Kriterium der Wahrheit von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahieren müßte.

Mit anderen Worten: Wir müssen den Begriff des absoluten Wertes auf alle Dinge anwenden können, dürfen aber nicht nach dem absoluten Wert des absoluten Wertes fragen. Wir müssen die Wahrheit als oberste Voraussetzung annehmen. Wir müssen also  die  Wahrheit immer von  den  Wahrheiten unterscheiden, die durch die absolute Bewertung von Gegenständen entstehen. Wir können die erste zur leichteren Auseinanderhaltung das "Wahrheitsprinzip", die letzteren aber "inhaltliche Wahrheiten" nennen.

Eine Untersuchung des Wahrheitsprinzips ist natürlich eine Unmöglichkeit, weil dasselbe die oberste Voraussetzung ist, die wir bei jeder Untersuchung machen müssen. Folglich müßte auch eine Untersuchung des Wahrheitsprinzips dieses selbe erst zu untersuchendenn Wahrheitsprinzip bereits voraussetzen.

Wir haben gefunden, daß eine konsequente Durchführung des Begriffs des absoluten Wertes zu Ergebnissen führen muß, die mit den Resultaten der kantischen Vernunftkritik im "spekulativen Gebrauch" übereinstimmen. Dagegen bedeutet die Bestimmung dieses Verhältnisses des Wahrheitswertes zum sittlichen Wert, also des Verhältnisses des Erkenntnisproblems zum ethischen Problem - wie sie im Obigen versucht wurde - eine gänzliche Abkehr von der kantischen Philosophie. KANT stellt nämlich der Transzendentalphilosophie eine praktische Philosophie entgegen. In die Transzendentalphilosophie dürfen keine Begriffe hineinkommen, die irgendetwas Empirisches in sich enthalten. Daher gehören die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität nicht in die Transzendentalphilosophie. Dieselben sind zwar Erkenntnisse  a priori,  aber nicht völlig reine Erkenntnisse  a priori,  weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw. insgesamt empirischen Ursprungs sind. Diese Begriffe werden zwar selbst nicht zum Grund der Vorschriften der Moralität gelegt, aber sie müssen doch im Begriff der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Beweggrund gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineingezogen, also vorausgesetzt werden. (Kr. d. r. V., Seite 27 und 711, Ausgabe ROSENKRANZ.

Trotzdem heißt es auf Seite 445: Die menschliche Vernunft enthalte auch Ideale, die der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlungen zugrunde liegen. "Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust und Unlust) zugrunde liegt. Gleichwohl können sie in Anbetracht des Prinzips, wodurch die Vernunft der ansich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt (also wenn man bloß auf ihre Form Acht hat), gar wohl zum Beispiel reiner Vernunftbegriffe dienen."

Nun soll es aber (nach Seite 618 - 619) durch Erfahrung bewiesen werden, daß die Vernunft objektive Gesetze der Freiheit gibt. Somit wird aber die Existenz der Sittlichkeit zu einer Erfahrungstatsache, was auch mit dem oben Gesagten, daß sie nämlich empirische Begriffe voraussetzen muß, in Einklang steht, da nach der ersten Seite der Einleitung (Seite 17) empirisch dasjenige erkannt wird, was lediglich von der Erfahrung geborgt ist. Damit ist aber ausgemacht, daß sie unter jenen Gesetzen der reinen Vernunft stehen müssen, welche Erfahrung ermöglicht, d. h. sie müssen unter die spekulative Vernunft gebracht werden. Selbst das Sittlichkeitsprinzip also, d. h. das Prinzip, wodurch die Vernunft der ansich gesetzlosen Freiheit Schranken setzt, selbst wenn man von allem Inhalt absieht, kann demnach nicht als Beispiel eines reinen Vernunftbegriffes dienen,  da es eben der Begriff der Freiheit ist, der die empirischen Begriffe zur Voraussetzung hat,  da die Freiheit (freie Willkür) im Gegenteil zur bloß tierischen, d. h. bloß durch tierische Antriebe bestimmten Willkür, diejenige bedeutet, "welche unabhängig  von sinnlichen Antrieben,  mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann."

Es ist also gerade der Begriff der Freiheit, der hier im Weg steht. Freiheit ist ja doch nur ein negativer Begriff und bedeutet Freiheit von irgendetwas, hier Freiheit von sinnlichen Antrieben, den Begierden, welche auf Seite 27 eben als jene empirischen Elemente bezeichnet wurden, die es nicht gestatten, in den Grundbegriffen der Moralität völlig reine Erkenntnisse  a priori  zu erblicken.

Also kann bereits das formale Prinzip, wonach die Vernunft  der Freiheit  Schranken setzt, nicht mehr als Beispiel reiner Vernunftbegriffe dienen, wie auf Seite 445 angenommen wird.

Wenn demnach das formale Sittlichkeitsprinzip selbst kein reiner Vernunftbegriff ist, muß es unter die reine Vernunfterkenntnis gebracht werden, und natürlich kann sodann aller Inhalt, der aus dem Sittlichkeitsprinzip folgt, nur als Erfahrungstatsache gelten.

Das  a priori  der Sittlichkeit, d. h. ihre Gültigkeit ohne Rücksicht auf empirische Beweggründe, ist mithin nicht das a priori der reinen Vernunft, der Gültigkeit ohne Rücksicht auf Erfahrung. Umso weniger ist es darum statthaft, aus Folgerungen, die aus dem Sittlichkeitsprinzip gezogen wurden, Schlüsse zu ziehen, die jenen der spekulativen Vernunft als ebenbürtig zur Seite stehen könnte. Alles, was aus der sogenannten praktischen Vernunft folgt, muß seinen Weg durch die spekulative hindurchnehmen. Da die oberste Einheit solchermaßen in der spekulativen Vernunft liegen muß, ist es sodann umsoweniger statthaft, erst in Begriffen, welche nicht aus der spekulativen, sondern aus einer von ihr unabhängig gedachten praktischen Vernunft fließen sollen, eine Einheit finden zu wollen, welche die praktische Vernunft mit der spekulativen vereinigte und die praktische Vernunft derart eigentlich noch über die spekulative zu stellen, wie solches im zweiten Abschnitt des Kanons der reinen Vernunft unter dem Titel: "Von dem Ideal des höchsten Gutes als einem Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft" (Seite 620 - 631) geschieht. (1)


2. Windelband

Wer eine Untersuchung über das Wertproblem unternimmt, wird von KANT ausgehend zu WINDELBAND gelangen müssen; und er wird an WINDELBAND nicht vorbeikönnen, ohne ihm für das hohe Verdienst, die Philosophie in "allseitiger Ausführung des kantischen Grundgedankens" als "die Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten" (Was ist Philosophie, Präludien, 3. Auflage, Tübingen 1907, Seite 52) hingestellt zu haben, Anerkennung zu zollen. Es wird immer wieder dankbar anerkannt werden, daß er - wie er es bescheiden nennt - das Kunststück KANTs, das Kolumbus-Ei zum Stehen zu bringen, nachmachte; und zwar zu einer Zeit, wo man es auf nur zu vielen Seiten wieder vollständig vergessen hatte.

Nach einer Stellungnahme zu KANT hat also in einer Untersuchung über das Wertproblem eine Auseinandersetzung mit WINDELBAND zu folgen. Es soll dies hier unter den folgenden Hauptpunkten versucht werden:

a)  Urteil und Beurteilung.  WINDELBAND nimmt seinen Ausgangspunkt von der "für die Logik äußerst bedeutsamen, ja fundamentalen Unterscheidung der beiden Elemente im  Urteil",  welche "erst in der neueren Logik einem richtigen Verständnis näher gebracht" worden ist. Nach dieser Unterscheidung sind alle Sätze "der scheinbaren grammatischen Gleichheit" entweder  Urteile  oder  Beurteilungen.  In den ersteren wird die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte, in den letzteren wird ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zum vorgestellten Gegenstand ausgesprochen. Es ist ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Sätzen:  dieses Ding ist weiß,  und  dieses Ding ist gut,  obwohl die grammatische Form dieser beiden Sätze ganz dieselbe ist". Im ersten Fall - sagt WINDELBAND - wird dem Subjekt "eine in sich fertige, dem Inhalt des objektiv Vorgestellten entnommene Bestimmung", im anderen Fall hingegen "eine auf ein zwecksetzendes Bewußtsein hinweisende Beziehung" als Prädikat zugesprochen (Seite 52). "Jede Beurteilung setzt als Maß ihrer selbst einen bestimmten Zweck voraus, und sie hat nur für denjenigen Sinn und Bedeutung, der diesen Zweck kennt" (Seite 53). Wir vollziehen aber "fortwährend eine eigentümliche Kombination zwischen beiden". "Die Urteile werden im gewöhnlichen Vorstellungsverlauf wie im wissenschaftlichen Leben nur in dem Sinne gebildet, daß ihnen ein Wert zugesprochen oder abgesprochen, daß sie für wahr oder falsch erklärt werden" (Seite 54). "Alle Sätze der Erkenntnis enthalten bereits eine Kombination des Urteils mit der Beurteilung: sie sind Vorstellungsverbindungen, über deren Wahrheitswert durch die Affirmation [Zustimmung - wp] oder Negation entschieden worden ist." (Seite 55)

Wir haben gesehen, daß diese Unterscheidung in diesem Sinne nicht gemacht werden kann, sondern daß wir es hier mit einem ganz anders gearteten Unterschied zu tun haben. Denn "die Zusammengehörigkeit" zweier Vorstellungsinhalte bedeutet bereits zugleich ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zum vorgestellten Gegenstand. Ich kann "die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte" gar nicht anders ausdrücken als dadurch, daß ich die Richtigkeit, die Wahrheit dieser Beziehung ausdrücke. Wir vollziehen also nicht "fortwährend eine eigentümliche Kombination zwischen beiden"; sondern: es gibt einfach gar keine Sätze, die nicht Beurteilungen wären. Wenn die Urteile sowohl "im gewöhnlichen Vorstellungsverlauf wie im wissenschaftlichen Leben" überhaupt  nur in dem Sinne gebildet werden,  daß ihnen ein Wert zu- oder abgesprochen wird, so gibt es einfach  nur  Beurteilungen.

Gibt es also demnach gar keinen "fundamentalen Unterschied" zwischen den beiden Sätzen: "dieses Ding ist weiß" und "dieses Ding ist gut"? Wir wissen bereits, daß ein fundamentaler Unterschied zwischen ihnen besteht, nur liegt er nicht darin, daß der erste Satz keine Beurteilung, der zweite aber eine Beurteilung zum Ausdruck brächte. Der Unterschied liegt darin, daß das Urteilsprädikat "ist weiß" nur eine Wahrheitswertung, das Urteilsprädikat "ist gut" hingegen  außer  der Wahrheitswertung noch eine  weitere  Beurteilung ausdrückt. Der Satz: "dieses Ding ist weiß" hat nur  das eine Wertprinzip  der Wahrheit zur Voraussetzung. Der Satz hingegen: "dieses Ding ist gut" hat  zwei Wertprinzipien  zur Voraussetzung, außer dem absoluten Wertprinzip der Wahrheit auch noch das objektive, dem Wahrheitswert untergeordnete Wertprinzip der Sittlichkeit.

b)  Die Definition der Philosophie.  "Der Unterschied zwischen Urteil und Beurteilung - heißt es weiter bei WINDELBAND (Seite 55) - ist aber deshalb von höchster Wichtigkeit, weil auf ihm die einzig übrigbleibende Möglichkeit beruth, die Philosophie als eine besondere, schon durch den Gegenstand scharf von den übrigen sich abgrenzende Wissenschaft zu bestimmen. Alle übrigen Wissenschaften nämlich haben Urteile aufzustellen: das Objekt der Philosophie bilden die Beurteilungen." Das muß nun schwerfallen, da "die Urteile ... im gewöhnlichen Vorstellungsverlauf wie im wissenschaftlichen Leben  nur in dem Sinne gebildet"  werden, daß sie sofort bewertet werden. Die Wissenschaften müssen es folglich auch mit Beurteilungen zu tun haben.

Der Satz, "alle übrigen Wissenschaften haben theoretische Urteile aufzustellen: das Objekt der Philosophie bilden die Beurteilungen" ist aber auch deshalb unrichtig, weil die Wissenschaften gar nicht vom Wahrheitswert unabhängig gedachte Urteile aufzustellen haben. Natürlich meint dies WINDELBAND auch gar nicht. Er sagt auch schon auf Seite 56: "alle diese Urteile", nämlich die Urteile, welche die übrigen Wissenschaften bilden, "enthalten Vorstellungsverbindungen, deren Wahrheitswert durch die Wissenschaft bestimmt werden soll". Somit ist ihre Aufgabe also doch nicht die, einfach Urteile, die zu den Beurteilungen oder Bewertungen im Gegensatz stehen sollen, aufzustellen, sondern sie haben den Wahrheitswert zu bestimmen, also Beurteilungen zu vollziehen. Dadurch ist aber auch bereits zugegeben, daß das Unterscheidungsprinzip von Wissenschaft und Philosophie nach WINDELBAND selbst nicht die Unterscheidung von Urteil und Beurteilung in seinem Sinne ist.

Dies erhellt sich auch aus der Gegenüberstellung auf Seite 57: "Die Aufgabe der Philosophie kann nicht darin bestehen, in der Weise der übrigen Wissenschaften Urteile, in denen bestimmte Gegenstände erkannt, beschrieben oder erklärt werden sollen, zu bejahen oder zu verneinen. Das Objekt, das für sie übrig bleibt, sind die Beurteilungen". Also die Wissenschaft hätte Beurteilungen der übrigen Objekte zur Aufgabe, die Philosophie hätte es aber nicht mit den übrigen Objekten, sondern mit den Beurteilungen zu tun. "Aber auch diesen gegenüber hat sie sich ganz anders zu verhalten, als die anderen Wissenschaften zu ihren Objekten" (Seite 57). Wir erfahren (auf Seite 57 - 59), daß auch die Beurteilungen zu Objekten der übrigen Wissenschaften werden können. Somit wäre die Grenze zwischen Wissenschaft und Philosophie doch wieder nicht im Unterschied der Objekte gegeben. Dadurch ist aber wieder anerkannt, daß es nicht richtig ist, daß "der Unterschied zwischen Urteil und Beurteilung deshalb von höchster Wichtigkeit ist, weil auf ihm die einzig übrigbleibende Möglichkeit beruth, die Philosophie als eine besondere,  schon durch den Gegenstand  scharf von den übrigen sich abgrenzende Wissenschaft, zu bestimmen. Alle übrigen Wissenschaften nämlich haben theoretische Urteile aufzustellen: das Objekt der Philosophie bilden die Beurteilungen". Denn auf Seite 57 heißt: "Die Philosophie hat die Beurteilungen weder zu beschreiben, noch zu erklären. Das ist Sache der Psychologie und der Kulturgeschichte". Die Wissenschaften der Psychologie und Kulturgeschichte können also ebenso wie die Philosophie, auch Beurteilungen zu Objekten haben.

WINDELBAND unterscheidet nun zwischen Beurteilungen und Beurteilungen und unterscheidet demnach zwischen Philosophie und Wissenschaft. "Nach Ausschluß der Hedonik [Bewertung aus Lust - wp] bleiben nur drei Formen der Beurteilung übrig, in denen sich der Anspruch auf Allgemeinheit, als wesentlicher Bestandteil herausstellt, - die drei, welche durch die drei Begriffspaare wahr und falsch, gut und böse, schön und häßlich charakterisiert sind. Es gibt deshalb nur diese drei im eigentlichen Sinne philosophischen Grundwissenschaften: Logik, Ethik und Ästhetik" (Seite 63). Es wird also der Philosophie selbst bei WINDELBAND nicht aufgrund des Unterschiedes zwischen "Urteil" und "Beurteilung" ein Gegenstand zugewiesen, durch den sie sich von den übrigen Wissenschaften unterscheiden würde, sondern es hat sich im Gegenteil erwiesen, daß auf dieser Grundlage selbst WINDELBAND den Unterschied nicht bestimmt, sondern daß er der Philosophie als ihren Gegenstand nur gewisse Beurteilungen zuweist.

Die Definition, zu der WINDELBAND schließlich gelangt (Seite 69): "Die Philosophie ist die Wissenschaft von den Prinzipien der absoluten Beurteilung", fußt also nicht auf der Unterscheidung von Urteil und Beurteilung.

Setzen wir hingegen anstelle des Unterschiedes von Urteil und Beurteilung im Sinne WINDELBANDs, den oben dargelegten Unterschied zwischen einem Urteil, welches bloß eine absolute, und einem Urteil, welches zugleich auch noch eine nicht-absolute Wertung zum Ausdruck bringt, so können wir den Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie aufgrund dieser Unterscheidung machen und können die Darlegung der formalen Wert prinzipien  der Philosophie, die Aufstellung von  inhaltlichen Wertungen  hingegen den Wissenschaften zuweisen. Während also die Philosophie die Wertprinzipien, die Voraussetzungen der Wissenschaft darlegt, liefern uns die Wissenschaften Anwendungen dieser Prinzipien. Dieser Unterschied läßt sich auch noch in der Wendung klar machen, daß, während die Philosophie die  Wertmaßstäbe  darlegt, es die Wissenschaften mit einer  Wertkasuistik  zu tun haben.

c)  Wertgliederung.  Es ist nach dem oben Gesagten sofort klar, daß diese Unterscheidung noch einer Feststellung bedarf.

Die Darlegung der nicht-absoluten Wertmaßstäbe gehört zugleich immer in die "Kasuistik" der absoluten. Wollen wir also letztere nicht als Philosophie anerkennen, so bleibt der Philosophie im Gegensatz zu den übrigen Wissenschaften mit WINDELBAND "die Wissenschaft von den Prinzipien der absoluten Beurteilung" verstehen, so dürften wir die Ethik und Ästhetik nicht zur Philosophie zählen. Wollen wir jedoch unter Philosophie die Wissenschaft von den allgemeingültigen Beurteilungen nennen - eingedenk der zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes "allgemeingültig" - so können wir außer der Lehre von den absoluten auch noch die Lehre von den bloß objektiven Beurteilungen zur Philosophie rechnen.

Eines ist aber klar festzuhalten: Es kann durch keinerlei Terminologie die Tatsache verdunkelt werden, daß die Untersuchung des Wahrheitswertes eine übergeordnete Stellung einnehmen muß gegenüber den Untersuchungen der übrigen allgemeingültigen Werte. Wollen wir diese letzteren auch Philosophie nennen, so dürfen wir nicht sämtliche Teile der Philosophie auf eine Stufe stellen, sondern wir müssen anerkennen, daß alle übrigen unter sich koordiniert, der Untersuchung des Wahrheitswertes gegenüber aber subordiniert sind.

Es ist das eine zweite prinzipielle Modifikation, die wir WINDELBANDs Wertlehre gegenüber machen müssen. WINDELBAND selbst scheint den Unterschied zu fühlen: in den drei philosophischen Grundwissenschaften "soll also der Anspruch geprüft werden, welchen die logische, die ethische und die ästhetische Beurteilung auf Allgemeingültigkeit erheben: und von vornherein ist zu bemerken, daß mit der gleichen Fragestellung zwar auch eine methodisch gleiche und systematisch parallele Untersuchung sich für diese drei Disziplinen ergibt, daß dadurch aber nicht im geringsten eine Gleichheit des Resultates und der Antwort bedingt oder präjudiziert ist. Es wäre z. B. denkbar, daß die kritische Philosophie das Anrecht etwa der logischen Beurteilung auf Allgemeingültigkeit in ihrem Sinne bestätigte, dagegen den entsprechenden Anspruch auf einem der beiden anderen Gebiete entweder ganz zu verwerfen oder nur mit sehr erheblichen Modifikationen anzuerkennen sich genötigt sähe. In diesem Fall würde das betreffende Gebiet wegen des nachgewiesenen Mangels eines absoluten Maßstabes der psychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Behandlung gänzlich anheimgegeben sein". (Präludien, Seite 63 - 64)

Es macht sich hier der Mangel der Unterscheidung der verschiedenen Arten von Allgemeingültigkeit deutlich fühlbar.

Wenn wir die Frage aufwerfen, woher WINDELBAND seine Wertgliederung nimmt, so finden wir, daß er als eine  Tatsache  feststellt, daß es nur drei Formen der Beurteilung gibt, "in denen sich der Anspruch auf Allgemeingültigkeit als wesentlicher Bestandteil herausstellt". Wenn also die Aufgabe der Philosophie auch die Prüfung des Anspruches ist, welchen die logische, die ethische und die ästhetische Beurteilung auf Allgemeingültigkeit erheben (Seite 63), so muß einer solchen Prüfung doch die Feststellung der Tatsache vorausgehen, wie viele Formen solcher Beurteilungen es überhaupt gibt - was WINDELBAND auch tut (Seite 62). Das wäre aber eine Beschreibung, die nicht Aufgabe der Philosophie ist. Alle Philosophie beruth demnach auf einer psychologischen Voraussetzung, deren Wahrheit (Allgemeingültigkeit) sich aber erst auf eine philosophische Untersuchung stützen dürfte. Für den Anspruch, den die Ethik und Ästhetik erheben, liegt hierin kein Widerspruch. Denn da die Allgemeingültigkeit, die diese Beurteilungen beanspruchen, nicht die Wahrheit ist, kann ihnen eine Wahrheitsbeurteilung widerspruchslos vorangestellt werden. Bezüglich des Wahrheitswertes geht das jedoch nicht an. Dieser darf nicht mehr als eine Tatsache gefunden werden. Der Wahrheitswert und seine Philosophie muß also aller anderen eventuell noch anzuerkennenden Philosophie vorangehen.

Die Koordination, die WINDELBAND diesen dreierlei Allgemeingültigkeit beanspruchenden Beurteilungen zuteil werden läßt, ist unhaltbar. Wir haben gesehen, daß die Allgemeingültigkeit, welche die Sittlichkeit beansprucht, eine beschränktere ist, als jene, welche die Wahrheitswertung beansprucht. Diejenigen Wertungen, nach welchen ihrem Sinn nach nur gewisse Objekte beurteilt werden können, können unmöglich als ebenbürtige Wertungen neben jener stehen, nach welcher alle Dinge beurteilt werden.

Wenn WINDELBAND (Seite 68) diese Wertungen als koordiniert betrachtet und sagt: "Mit niemandem könnten wir mehr logisch und wissenschaftlich verhandeln, der die Geltung der Denkgesetze leugnete: mit niemandem könnten wir uns sittlich verständigen, der jegliche Pflicht ablehnt" - so ist das wohl richtig, es muß aber auch noch die Tatsache berücksichtigt werden, daß wir uns auch mit niemandem sittlich verständigen könnten, der die Geltung der Denkgesetze leugnet, wogegen wir mit jemandem, der jegliche Pflicht ablehnt, deshalb noch immer logisch und wissenschaftlich verhandeln könnten.

d)  Normen und Naturgesetze.  Die prinzipielle Gegenüberstellung von Urteilen und Beurteilungen macht sich bei WINDELBAND auch in der prinzipiellen Gegenüberstellung von "Normen" und "Naturgesetzen" geltend. "Die Naturgesetze gehören der urteilenden, die Normen der beurteilenden Vernunft an. Die Norm ist nie ein Prinzip der Erklärung, so wenig wie das Naturgesetz je ein Prinzip der Beurteilung." (Präludien, Normen und Naturgesetze, a. a. O., Seite 286) Dem Naturgesetz wird damit ein Platz angewiesen, auf den es gar nicht hingehört. Ein Naturgesetz ist nur in Anwendung der Wahrheitsnormen denkbar; folglich kann das Naturgesetz nicht in einen prinzipiellen Gegensatz zur Norm gestellt werden, sondern es gehört  unter  die Norm.

Zweitens dürften die Naturgesetze nicht in einen Gegensatz zu allen Normen gebracht werden, da sie doch auch als Anwendung nur den Wahrheitsnormen angehören, während die Anwendung der etwa noch existierenden übrigen Normen, so der sittlichen, nicht zu Naturgesetzen führen kann.

Die Naturgesetze verhalten sich also zur Wahrheitsnorm so, wie die sittliche Kasuistik zum Sittlichkeitsprinzip. Die Naturgesetze bilden samt den Beschreibungen die Wahrheitskasuistik. Ein sittliches Urteil verhält sich also zum Sittlichkeitsprinzip so, wie ein Naturgesetz zum Wahrheitsprinzip. Da ferner, wie wir wissen, das Sittlichkeitsprinzip selbst unter das Wahrheitsprinzip gestellt werden muß, so ist es nun ersichtlich, wie sehr die wirkliche Sachlage durch die einfache Gegenüberstellung von Normen und Naturgesetzen, als koordinierten Begriffspaaren, verdunkelt wird.

Das richtige Verhältnis der verschiedenen Normen zu den Naturgesetzen läßt sich in folgender Weise veranschaulichen:



Das Verkennen dieses Verhältnisses von Normen und Naturgesetzen führt zu ganz unhaltbaren Konsequenzen. So gelangt WINDELBAND (Seite 291) von seinem Ausgangspunkt aus unter anderem zu der Ansicht:  "Jede  Norm ist eine solche Verbindungsweise psychischer Elemente, welche durch den naturnotwendigen, gesetzlich bestimmten Prozeß des Seelenlebens unter geeigneten Umständen ebenso wie viele andere und wie auch die entgegengesetzten hervorgerufen werden kann." Und: "alle Normen sind besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen".

Somit würde auch das Wahrheitsprinzip zu einem Spezialfall der Naturgesetzmäßigkeit werden, was doch nicht angeht, da jede Erkenntnis eines naturgesetzmäßigen Geschehens umgekehrt nur als ein Spezialfall der Wahrheitserkenntnis aufgefaßt werden kann.

Die  Anwendungen  des Wahrheitsprinzips (und somit auch die Existenz aller  übrigen  Wertungsprinzipien) können in dieser Weise aufgefaßt werden, das Wahrheitsprinzip selbst aber nicht.

Die "inhaltliche Wahrheit", die Wahrheitskasuistik, ist die eine Möglichkeit im naturnotwendigen Prozeß neben dem Irrtum, nicht aber die Wahrheitsnorm selbst. Diese als Voraussetzung jeder Naturnotwendigkeit kann nicht wieder als eine Möglichkeit in diesem Verlauf angesehen werden.

Hierauf hat bereits RICKERT aufmerksam gemacht, mit dem Nachweis, "daß die Form der Naturgesetzlichkeit nur dann objektive Bedeutung besitzt, wenn sie selbst in einer Norm begründet ist, und daraus folgt, daß es ohne die Anerkennung des Sollens gar kein Müssen im Sinne des naturgesetzlich Notwendigen geben würde." (Der Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage, Seite 240)

e)  Normen und Teleologie.  (Wert und Endzweck). Die Koordination aller Wertprinzipien führt zu der Ansicht, daß alle Normen eine Beziehung auf einen Endzweck, also eine in diesem Sinne zu verstehende teleologische Notwendigkeit ausdrücken. "Jede Beurteilung" - sagt WINDELBAND (Was ist Philosophie, Präludien, Seite 53) - "setzt als Maß ihrer selbst einen bestimmten Zweck voraus" (und Seite 292) "Die logische Gesetzgebung besteht für uns nur unter der Voraussetzung des Zwecks der Wahrheit."

Will man die Wahrheitswertung als einen gesetzten Zweck auffassen, so müßte das Erkenntnisproblem sofort wieder ins Psychologische heruntergezogen werden.

Diese Begrenzung, daß "die logische Gesetzgebung nur unter der Voraussetzung des Zwecks der Wahrheit besteht", bereitet schon deshalb Schwierigkeiten, weil es unmöglich wäre, diesen Zweck  nicht  vorauszusetzen. Die obige Begrenzung hätte nur dann einen Sinn, wenn es möglich wäre, diese Voraussetzung nicht zu machen. Derjenige jedoch, der auf diesen Zweck verzichten wollte, müßte vorerst die Wahrheit dieses Verzichts, also die Wahrheit des Nichtbestehens dieses Zwecks beanspruchen. Es müßte doch eine Instanz geben, die darüber entscheiden sollte, ob der "Zweck der Wahrheit" vorliegt oder nicht, diese Instanz dürfte aber nicht wieder die Wahrheit selbst sein.

Dieser Fehler stammt wieder daher, daß die "übrigen" Normen (- ich ziehe es wieder vor, bloß von der sittlichen zu sprechen -) in Bezug auf einen obersten Zweck aufgefaßt werden können. Da diese Norm sich der Wahrheitswertung unterzuordnen hat, enthält für sie die Erkenntnis, daß sie einen obersten Zweck zur Voraussetzung hat, keinen Widerspruch. Wenn man nun gewöhnt ist, die verschiedenen Wertungen, namentlich die Wahrheits- und Sittlichkeitswertung, als einander koordinierte, ebenbürtige Voraussetzungen nebeneinander zu stellen, so gelangt man leicht dazu, etwas, was für die eine Wertung (die sittliche) seine Richtigkeit hat, auch von der anderen (der logischen) zu behaupten.

Die Unhaltbarkeit dieser Auffassung läßt sich schließlich auch noch dadurch dartun, daß natürlicherweise "die letzte Konsequenz des teleologischen Zusammenhangs der Begriff eines höchsten Zweckes ist". (Vom Prinzip der Moral, Präludien, a. a. O. Seite 387). Ebenso, wie man nun auf diesem Weg für die Ethik zu einem Begriff eines höchsten Zweckes, eines Endzweckes, eines höchsten Gutes gelangen muß, müßte es auch für Logik und Ästhetik solche höchste Zwecke geben. Diese drei Endzwecke müßten voneinander verschieden sein, damit diese drei Disziplinen nicht zusammenfließen. Wir können aber nicht drei Endzwecke annehmen, ohne den Begriff des Endzwecks zu zerstören. Wenn wir hingegen den Begriff eines Endzweckes unter den Wahrheitswert, als einen mittels desselben erkannten, von ihm unterschiedenen subsumieren, so verschwindet der Widerspruch.

Was aus einer solchen Konstruktion für die Möglichkeit eines ästhetischen Wertes folgt, da es doch auch nicht  zwei  mittels des Wahrheitswertes erkannte verschiedene  End zwecke geben kann, habe ich hier nicht zu untersuchen, da ich auf die Existenz eines ästhetischen Wertes nirgends Bezug nehme.

Ich möchte dem Gesagten nur noch die Bermerkung hinzufügen, daß WINDELBAND selbst dieser einheitlichen Auffassung aller Normen als einer "teleologischen Notwendigkeit" gelegentlich untreu wird, indem er (Vom Prinzip der Moral, Präludien, Seite 387) den  logischen  Zusammenhang dem  teleologischen  gegenüberstellt: " ... es lassen sich aus dem Prinzip des Pflichtbewußtseins ... eine Reihe besonderer ... Pflichten ableiten: nur allerdings nicht im logischen, sondern in einem teleologischen Zusammenhang." Diese Unterscheidung würde anerkennen, daß nur die nicht-logischen Werte einen teleologischen Zusammenhang bilden, also der Wahrheitswert im Unterschied zu den übrigen keine Beurteilung nach Maßgabe eines Zwecks ist. Diese Stelle steht also im Widerspruch zu der immer wieder und auch gleich nach dieser Stelle von neuem betonten Auffassung WINDELBANDs, daß alles Werten, auch das logische, einen teleologischen Zusammenhang bildet.

f)  Philosophie und Psychologie.  Selbst auf die Bestimmung des Verhältnisses der Philosophie zur Psychologie, die sonst von WINDELBAND mit besonderer Schärfe und Klarheit durchgeführt wird, müssen aus dem bisherigen ab und zu Schatten fallen.

Der Grundauffassung WINDELBANDs müssen wir diesbezüglich vollinhaltlich beipflichten: "Da wir das Normalbewußtsein nicht ansich, sondern nur in seiner Beziehung zum empirischen Bewußtsein kennen, so bedarf die Philosophie des  Leitfadens  der empirischen Psychologie, um sich in geordneter Weise auf die einzelnen Axiome und Normen zu besinnen." (Kritische oder genetische Methode, Präludien, a. a. O. Seite 350) Mit anderen Worten, es gehört zu jeder inhaltlichen Wahrheit bereits Erfahrung. Aber, daß ein Normalbewußtsein überhaupt vorauszusetzen ist, dieses eine kann nicht mehr am Leitfaden der empirischen Psychologie erkannt werden. Nur dasjenige, was jenem Normalbewußtsein entsprechend ist.

Ist dem aber so, so ist das folgende nicht mehr richtig: "So entnimmt die philosophische Betrachtung der empirischen Psychologie z. B. die Dreiteilung der psychischen Funktionen, welche sich in der Dreizahl der philosophischen Disziplinen wiederholt". (Seite 350)

Das Erkennen ist bereits durch die Voraussetzung des Normalbewußtseins gegeben und muß folglich an die Spitze aller Philosophie gestellt werden, kann also nicht als eine Erfahrungstatsache der empirischen Psychologie entnommen werden. Es ist keine Tatsache der empirischen Psychologie, sondern ihre Voraussetzung.

Schließlich ergeben sich aus dem hier Ausgeführten auch einige Korrekturen von WINDELBANDs Auffassung des Moralprinzips, so sehr seinen Ausführungen im übrigen auch beizupflichten ist.

g)  Vom Prinzip der Moral.  "Die einzelnen Pflichten mögen noch so empirisch bestimmt sein, das Pflichtbewußtsein selbst ist a priori, d. h. es ist durch keine empirische Bestimmung zu begründen und begründet vielmehr selbst erst die Möglichkeit der besonderen Pflichten, welche ihren erfahrungsmäßigen Inhalt durch die jeweiligen Verhältnisse erhalten." (Vom Prinzip der Moral, Präludien, Seite 383)

Es ist hierzu zu bemerken, daß das Pflichtbewußtsein wohl den besonderen Pflichten gegenüber a priori ist und wohl erst die Möglichkeit derselben begründet, daß hingegen die Existenz dieses Pflichtbewußtseins trotzdem Erfahrungstatsache ist. Wir wissen es aus innerer Erfahrung, daß es wahr ist, daß es ein Pflichtbewußtsein gibt.  Das Pflichtbewußtsein ist also a priori für die ethische Wertung, jedoch nicht a priori im Hinblick auf die Wahrheitswertung.  Wir haben bereits gesehen, daß es als Freiheit von aller Lust und Unlust auf diese Begriffe, von denen wir bloß empirische Kenntnisse haben können, Bezug hat.

Wir müssen WINDELBAND wieder vollinhaltlich beipflichten, wo er vor einem Zurückfallen in die genetische Methode warnt. Die Frage nach der Existenz des Moralprinzips ist von der Frage der Art und Weise seines Zustandeskommens zu trennen. Hier interessiert uns nur die Tatsache,  daß  es ein Moralprinzip gibt, nicht die Frage,  wie  es zustande kam und worauf wir Gewicht legen, ist bloß, daß diese Tatsache, dieses a priori der  sittlichen  Wertung, nicht im Verhältnis der Koordination dem a priori der  Wahrheits wertung an die Seite gestellt werde.

Außer der Tatsache des Sittlichkeitsprinzips ist auch noch der jeweilige Inhalt dieses Sittlichkeitsprinzips aus einer inhaltlichen Wahrheitswertung zu entnehmen. Denn das Sittlichkeitsprinzip ist als Wahrheit zwar eine inhaltliche Wertung, d. h. eine Wertanwendung. Als Sittlichkeitsprinzip ist es jedoch lediglich formal, und der Inhalt ist nicht - wie dies auch von WINDELBAND (Seite 385 - 386) hervorgehoben wird - einfach aus diesem Prinzip abzuleiten, sondern es ist erfahrungsmäßig bedingt. Erfahrung bedeutet aber eine inhaltliche Wahrheitswertung.

Da indessen, wie ebenfalls auch von WINDELBAND, (Präludien, Seite 387) betont wird, "das Grundverhältnis der  praktischen  Welt dasjenige von Zweck und Mittel ist", alle Anwendung eines Mittels für einen Zweck aber die Vorstellung eines kausalen Verhältnisses und seiner gesetzmäßigen Geltung voraussetzt, und da - wie wir gesehen haben - eine solche wiederum eine inhaltliche Wahrheitswertung bedeutet: so wird sich jedes konkrete sittliche Werturteil - außer der Voraussetzung des Wahrheitsprinzips - immer in mindestens vier inhaltliche Wahrheitswerturteile zergliedern lassen; nämlich
    erstens  in dasjenige, durch welches die Existenz der Sittlichkeit, also das formale Sittlichkeitsprinzip, gesetzt wird;

    zweitens  in dasjenige, durch welches die "erfahrungsmäßige", "historische" Tatsache des konkreten Inhalts des formalen Sittlichkeitsprinzips gegeben wird;

    drittens  in dasjenige, durch welches die Existenz des zu bewertenden Wollens oder der Vorstellung desselben ausgesagt wird, und

    viertens  in dasjenige, durch welches schließlich die Tatsache der sittlichen Wertung dieses im dritten Urteil gegebenen Wollens festgestellt wird.


3. Rickert

Die Stellung, die sich das Wertproblem in der neueren Philosophie anmaßt, kann es nur behaupten, wenn es sich auch auf die Erkenntnistheorie erstreckt, wenn die Wahrheit Wert ist.

Diesbezüglich ist die Wertauffassung RICKERTs von der größten Bedeutung.

"Der Begriff eines absoluten Wertes oder eines transzendenten Sollens" (muß von der) "Transzendentalphilosophie überall zur eigentlichen Basis des Erkennens" gemacht werden (Der Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage, Seite 228). Es ist also von großer Bedeutung, festzustellen, was er unter "Wert" und namentlich unter "absolutem Wert" verstanden haben will. Klipp und klar wird es uns nicht gesagt, und so sind wir gezwungen, die Gedankgengänge RICKERTs, aus denen sich sein Wertbegriff feststellen läßt, zu zerlegen, miteinander zu vergleichen, seine diesbezüglich in Betracht kommenden verschiedenen Stellen einander gegenüberzustellen, um auf diesem Weg zu erfahren, wie der RICKERTsche Begriff des Wertes beschaffen ist. Da erfahren wir nun, daß nicht alle Werte lediglich "subjektive" Gebilde sind, das will sagen, nicht alle Werte sind "vom individuellen empirischen Subjekt" abhängig (Seite 229). Er lehnt die Auffassung ab, nach welcher "alle Werte rein individuelle Gebilde sind und das Problem ihrer überindividuellen Geltung kein wissenschaftliches Problem ist" (Seite 236). Es gibt also nach RICKERT zweierlei Werte: "rein individuelle" (vom individuellen empirischen Subjekt abhängige, sogenannte "subjektive") Werte und überindividuelle oder absolute Werte.

Was ist nun dieses Etwas, der Wert, der diese beiden Unterarten umspannt?

Unter Werten versteht RICKERT jenes alternative Verhalten, jenes "Stellungnehmen", das dem Wollen und Fühlen gemeinsam ist, und welches RICKERT auch beim Urteilen vorfindet. Er unterscheidet zweierlei "psychische Zustände": Erstens solche, "in denen wir uns teilnahmslos betrachtend verhalten"; hierher gehört das einfache Vorstellen. "Solange Vorstellungen nur vorgestellt werden, kommen und gehen sie, ohne daß wir uns um sie kümmern." Zweitens unterscheidet RICKERT psychische Zustände, in denen wir an unserem Bewußtseinsinhalt Anteil nehmen oder - vorsichtiger ausgedrückt - Anteil zu nehmen scheinen". "Wie wir (unsere Vorstellungen) als angenehm oder unangenehm fühlen, wie wir sie begehren oder verabscheuen, wenn wir wollen, so stimmen wir ihnen zu oder weisen sie ab, wenn wir urteilen" (Seite 105). "Wenn (also) eine solche Einteilung der psychischen Vorgänge überhaupt gemacht werden soll, so (muß) das Vorstellen in die eine Klasse, und das bejahende oder verneinende Urteilen mit dem Fühlen und Wollen als zusammengehörig in die andere Klasse gebracht werden" (Seite 106).

Was steckt nun hinter diesem "Anteilnehmen", "Stellungnehmen", "Billigen oder Mißbilligen", diesem "alternativen Verhalten"?

Es wird uns wieder nicht ganz ausdrücklich gesagt, aber es gibt Stellen, die trotzdem keinen Zweifel lassen:
    "Nur Werten gegenüber hat das alternative Verhalten des Billigens oder Mißbilligens einen Sinn. Was ich bejahe, muß mir gefallen, was ich verneine, muß mein Mißfallen erregen. Das Erkennen also ist ein Vorgang, der bestimmt wird durch  Gefühle,  und Gefühle sind psychologisch betrachtet stets Lust oder Unlust. So fremdartig dies klingen mag, daß Lust oder Unlust alles Erkennen leiten, so ist es doch nur die unbezweifelbare Konsequenz der Lehre, daß im vollentwickelten Urteil zu den Vorstellungen eine Beurteilung, d. h. eine Bejahung oder Verneinung hinzutritt, durch welche aus den Vorstellungen überhaupt erst Erkenntnis wird" (Seite 106).
Also: Die Auffassung des Erkennens als einer Bejahung oder Verneinung, als eines alternativen Verhaltens = als einer Stellungnahme zu einem Wert, als eines Wertens, führt nach RICKERT zur unbezweifelbaren Konsequenz, "daß Lust oder Unlust alles Erkennen leiten". Somit ist also dieses zu definierende "alternative" Stellungnehmen zu einem Wert nichts weiter als ein Stellungnehmen nach Lust oder Unlust, und mithin bleibt kein Zweifel mehr übrig, daß die Lust oder Unlust der Wert oder Unwert ist, zu dem beim Werten Stellung genommen wird.

"Diese Wahrheit (gilt) wiederum unabhängig von allen psychologischen Theorien." "Es ist gar nicht denkbar, daß etwas anderes als ein Gefühl uns zur Zustimmung oder Abweisung veranlassen könnte, die in der Bejahung oder Verneinung vollzogen wird." (Seite 107). "Auf welchem erkenntnistheoretischen Standpunkt man auch stehen mag, dies bleibt stets sicher: auf einem Gefühl muß schließlich jede Überzeugung, erkannt zu haben, beruhen, und Gefühle sind es also, welche unsere Erkenntnis leiten. Der Erkenntnisakt selbst kann nur in der Anerkennung des Wertes der Gefühle bestehen, und daraus folgt geradezu:  Erkennen ist Anerkennen oder Verwerfen.  Das konnte nur übersehen werden, solange man das Urteil für ein Zerlegen oder Verknüpfen von Vorstellungen hielt und nicht darauf achtete, daß der eigentliche logische Kern des Urteils, das Bejahen und Verneinen, ein Billigen oder Mißbilligen, ein Stellungnehmen zu einem Wert ist." (Seite 108)

Trotzdem also RICKERT einmal Wert und Lustgefühl gleichsetzt, spricht er aber doch ein andermal von einem absoluten Wert im Gegensatz zu bloß individuellen Werten. Einmal heißt es: "der Begriff des absoluten Wertes muß zur eigentlichen Basis des Erkennens" gemacht werden (Seite 228), dann heißt es wieder, daß "Lust oder Unlust alles Erkennen leiten" (Seite 106. Und diese letzte These sei nur eine unentrinnbare Konsequenz der Auffassung, daß das Erkennen ein Werten ist.

Wir verdanken RICKERT zwar die Einsicht, daß das Erkennen ein Werten ist, aber er hebt nicht hervor, daß es ein absolutes Werten ist, und will sich deshalb darüber, was nun Werten sei, durch eine Analyse des subjektiven Wertes Rat holen. Es ist sein großes Verdienst hervorgehoben zu haben, daß das Wertproblem sich auch über das Erkenntnisproblem wölben muß, doch können wir ihm nicht beipflichten, wenn er in jedem Wert, auch im absoluten, ein alternatives Verhalten, ein Billigen oder Mißbilligen erblickt, welches nur das subjektive Werten kennzeichnet.

Es kann deshalb auch seine Wertkonzeption der Philosophie nicht dasjenige leisten, was sie ihr verspricht.

Nachdem RICKERT die Erkenntnis die Anerkennung eines Wertes genannt, und den Wert mit Lustgefühl gleichgesetzt hat, wird die Frage aufgeworfen: "Wie unterscheiden wir diesen Wert von den anderen Werten, denen gegenüber wir uns zustimmend verhalten?" (Seite 110) RICKERT unterscheidet nun zweierlei Lustgefühle: Einmal solche, denen wir eine Bedeutung nur solange beilegen, als wir sie fühlen (hedonische Bedeutung), und zweitens solche, denen wir eine dauernde Bedeutung, die Bedeutung einer zeitlosen Geltung, beilegen (Evidenz, Urteilsnotwendigkeit) (Seite 111).
    "Die Evidenz also ist zwar, psychologisch betrachtet, ein Lustgefühl, aber sie ist zugleich verbunden mit der Eigentümlichkeit, die anderen Gefühlen fehlt, daß sie einem Urteil zeitlose Geltung verbürgt und ihm damit für uns einen Wert gibt, wie er durch kein Lustgefühl sonst hervorgebracht wird." -

    "Bei jedem Urteil setze ich in dem Augenblick, in dem ich urteile, voraus, daß ich etwas anerkenne, was unabhängig vom momentan vorhandenen Wertgefühl  zeitlos gilt,  und dieser Glaube an die zeitlose Geltung ist es, der die Eigentümlichkeit der logischen Beurteilung, wie wir die Bejahung oder Verneinung nennen wollen, der hedonischen Beurteilung gegenüber ausmacht." (Seite 112)
Die Eigentümlichkeit des Erkennens im Gegensatz zur hedonischen Beurteilung ist also  die Voraussetzung von einem "Etwas",  "das unabhängig vom momentan vorhandenen Wertgefühl zeitlos gilt". Wir haben also beim Erkennen ein Gefühl der Gewißheit, ein Lustgefühl, das RICKERT auch mit dem Namen  Wertgefühl  belegt, und die Anerkennung von etwas davon unabhängigem, und es ist die Anerkennung dieses Etwas, was die Eigentümlichkeit des Erkennens im Gegensatz zur hedonischen Beurteilung ausmacht. Folglich liegt aber der Gegensatz der hedonischen und der logischen Beurteilung nicht innerhalb des Lustgefühls, sondern darin, daß die hedonische Beurteilung bloß aufgrund des Lustgefühls, die logische aber bloß aufgrund eines  davon unabhängigen  Etwas geschieht. Dasjenige, was die logische Beurteilung, das Erkennen ausmacht, ist etwas vom Gefühl unabhängiges. Wenn also die Erkenntnis Anerkennung eines Wertes ist, so ist es ein Wert, der kein Gefühl ist, sondern ein vom Lust-) Gefühl unabhängiger Wert. Dann konnte es aber nicht richtig sein, wenn alles Werten und insbesondere das Erkennen als ein durch das Lustgefühl geleiteter Vorgang aufgefaßt wurde. Bezeichnen wir das Erkennen mit  E,  das Lustgefühl mit  G,  jenen "Glauben an die zeitlose Geltung, der - nach RICKERT - die Eigentümlichkeit der logischen Beurteilung ausmacht", mit  x,  so ist weder  E = G,  noch  E = G + x,  sondern  E = x.  Das Erkennen ist bloß jenes  x,  das zu manchen Gefühlen hinzukommt, bei manchen fehlt. Es ist kein Gefühl, sondern davon sogar unabhängig.

Das Fehlerhafte dieses RICKERTschen Gedankenganges läßt sich auch noch auf einem anderen Weg zeigen:

Das erkenntistheoretische Subjekt, der eigentliche Ausgangspunkt des RICKERTschen Gedankenganges, wird als "Bewußtsein überhaupt" allem Bewußtseinsinhalt entgegengestellt, d. h. "allem was Objekt werden kann, also auch allem individuellen Seelenleben" (Seite 26). "Das Bewußtsein ist keine transzendente Seele, es ist überhaupt keine Realität" (Seite 49). "Sein Begriff ist lediglich als ein Grenzbegriff zu verstehen" (Seite 24). Nun soll trotz alledem "das theoretische Subjekt als ein bejahendes oder verneinendes Subjekt aufgefaßt werden" und es soll "das Verhältnis des Bejahens und Verneinens zu den anderen Bestandteilen des Seelenlebens allseitig festgestellt" werden (Seite 103). So gelangte dann RICKERT zu seiner oben wiedergegebenen Zweiteilung von teilnehmenden und teilsnahmslosen psychischen Zuständen und zu dem Ergebnis, das Erkennen sei auch ein Teilnehmen, ein Werten usw.

Der Widerspruch im Gedankengang RICKERTs, wonach der Wert, der im Erkennen anerkannt wird, einmal als etwas überindividuelles, letztes, absolutes, ein andermal als etwas individuell bedingtes, aufgefaßt wird, steckt bereits hier.

Entweder, es ist das erkenntnistheoretische Subjekt als ein urteilendes (wertendes) Subjekt zu denken (Seite 147) - dann darf aber der Wert, der im Urteil anerkannt wird, nicht das Lustgefühl sein - oder jeder Wert geht in ultima analysi [letzte Analyse - wp] auf ein Lustgefühl zurück, dann hätte es aber keinen Sinn, das erkenntnistheoretische Subjekt als ein wertendes (urteilendes) aufzufassen.

Wenn unser Standpunkt richtig ist, so muß sich das am deutlichsten zeigen, sobald es versucht wird, anhand des RICKERTschen Wertbegriffs das Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Philosophie zu bestimmen. RICKERT findet, wenn die Erkenntnis ihrem innersten Wesen nach ein Anerkennen von Werten ist, so ist es "nicht mehr möglich, den prinzipiellen Gegensatz zwischen dem theoretischen Menschen, der nichts anderes als Wahrheit erstrebt und dem wollenden Menschen, der danach strebt, seine Pflicht zu tun, in jeder Hinsicht aufrecht zu erhalten. Auch wer Wahrheit will, ordnet sich einem Sollen unter, ebenso wie der Mensch, der seiner Pflicht gehorcht." (Seite 230).

    "Aus unserem Begriff des Erkennens folgt, daß die letzte Basis des Wissens ein  Gewissen  ist. Es kommt dies im Gefühl der Urteilsnotwendigkeit zum Ausdruck und leitet unser Erkennen, wie das Pflichtbewußtsein unser Wollen und Handeln. So erhalten die Begriffe des Gewissens und der Pflicht im System der Philosophie eine zentrale Stellung. Sie erweisen sich als der letzte Grund, nicht nur der wollenden, sondern auch der rein theoretischen Betätigung" (Seite 231).
Aber selbst diese Gleichsetzung des logischen und des ethischen Gewissens, diese Erklärung des einen Unbekannten (des logischen Sollens) durch ein anderes Unbekanntes (das ethische Sollen) ist noch bei weitem nicht der letzte Schritt. Wir erfahren ferner, "daß das logische Gewissen nur eine besondere Form des ethischen Gewissens überhaupt ist" (Seite 234).
    "Der Nachweis, daß im Logischen das Sollen begrifflich früher ist, als das Sein, führt zur Lehre vom  Primat der praktischen Vernunft  in des Wortes verwegenster Bedeutung. Die Anerkennung des logischen Sollens ist eine Art Pflichterfüllung überhaupt, und dadurch nimmt der Grundbegriff der Ethik, das Gewissen, zugleich teil an der logischen Dignität des Wahren oder an der absoluten Unbezweifelbarkeit." (Seite 234)
Erstens muß demgegenüber hervorgehoben werden, daß der Grundbegriff der Ethik, das Gewissen, nicht an der logischen Dignität des Wahren teilnehmen kann, wenn das Wahre seine eigene Dignität von der Pflichterfüllung herleiten muß. Diese Dignität des Wahren ist ja bereits zerstört, wenn "das logische Gewissen nur eine besondere Form des ethischen Gewissens ist". Die Wahrheit wird demnach durch die Ethik geschaffen.

Es wurde hierdurch der Wert nunmehr als Pflicht definiert, was erstens wiederum keine eigentliche Definition ist, weil wir jetzt erst wieder danach zu fragen hätten, was Pflicht sei, was uns aber nicht gesagt wird; zweitens ist die Schwierigkeit auch noch nicht behoben, wie Wert zugleich Pflicht und Lustgefühl sein kann.

Dies dahingestellt gelassen, enthält die Auffassung des logischen Sollens als einer Pflicht die Bedeutung, daß dadurch nunmehr die Ethik an die Spitze der Philosophie gestellt wurde, die Erkenntnistheorie aber der Ethik untergeordnet wird. Wir erfahren zwar gar nichts darüber, was der Unterschied zwischen jenem Pflichterfüllen, welches ein logisches Sollen genannt wird, und anderen Formen der Pflichterfüllung; da "die Anerkennung des logischen Sollens  eine  Art der Pflichterfüllung überhaupt ist" (Seite 234, so müßte eine Theorie, die uns über das logische Sollen unterrichten will, sich natürlich auch der Aufgabe unterziehen, zu zeigen,  worin  sich das logische Sollen von anderen Arten der Pflichterfüllung unterscheidet. Wenn nur einfach gesagt wird, worin sich das logische Sollen von anderen Formen der Pflichterfüllung unterscheidet, so ist das Erkenntnisproblem eigentlich noch immer ungelöst. Wenn am Ende einer Erkenntnistheorie das logische Sollen auf das ethische zurückgeführt wird, so ist das kein Ende, sondern ein neuer Anfang.

So viel steht jedoch fest, daß durch eine solche "Zurückführung" die Erkenntnistheorie unter die Ethik zu stehen kommt, der Wahrheitswert ein ethischer Wert wird, und wenn nun nach all dem die Philosophie als Wertwissenschaft, als die Wissenschaft vom Sollen von der Geltung der Werte, bezeichnet wird (Seite 235), so kann das nunmehr allein  die  Bedeutung haben, daß das Sollen Pflicht, Wertwissenschaft also Pflichtwissenschaft, Ethik bedeutet.

Ganz sonderbar mutet es an, wenn auf der nächsten Seite (Seite 236) trotzdem behauptet wird: "die Grundlagen der Erkenntnistheorie bedeuten zugleich die Grundlagen der gesamten Philosophie", insofern dieselbe den Nachweis liefert, daß man nicht alle Werte als rein individuelle Gebilde auffassen könne.

Noch sonderbarer aber ist die Zumutung, die RICKERT an uns richtet, nachzuforschen, ob außer dem Wahrheitswert, der nur für den wissenschaftlichen Menschen existiert, auch noch andere Werte von absoluter Geltung existieren. Um diese Frage zu beantworten, soll sich die Philosophie an die Geschichte wenden. "So allein kann sie erfahren, was alles für sie zum Problem wird." "Ihre Gliederung kann (die Philosophie) nicht erkenntnistheoretisch deduzieren." "Aber die Berechtigung, das Geschichtliche nicht nur geschichtlich, sondern auch "kritisch" auf seinen übergeschichtlichen Gehalt zu untersuchen, empfängt sie von der Erkenntnistheorie."

Wie soll uns die Geschichte die Gliederung der Werte liefern, da sie uns doch nicht sagen kann, was ein Wert ist. Erst müssen wir doch wissen, was ein Wert ist, bevor wir welche in der Geschichte oder in der Kultur auffinden können. Und wenn die Wahrheit nur als eine Form der Pflicht nachgewiesen wurde, der Wert also der Pflicht gleichgesetzt wurde, welchen Sinn kann da die Frage haben, ob außer dem Wahrheitswert noch  andere  Werte auftreten? Es können doch nur andere Pflichten gemeint sein. Und welchen Sinn kann es nach dem Gesagten noch haben, die in der Geschichte etwa auftretenden Wertansprüche erkenntnistheoretisch, das heißt anhand der Erkenntnistheorie, zu prüfen und somit die Erkenntnistheorie wieder an die Spitze der Philosophie zu stellen?
    "Die Wissenschaft ist doch nur ein Teil eines größeren Zusammenhangs, den wir  Kultur  nennen, und im Kulturleben treten, abgesehen von dem bereits genannten ethischen Grundbegriff, noch andere Werte ebenfalls mit dem Anspruch auf Notwendigkeit und Verbindlichkeit für alle auf." (Seite 236 - 237)
Der Wert wurde aber diesem ethischen Grundbegriff gleichgesetzt; wie kann es da noch "abgesehen von diesem ethischen Grundbegriff" "noch andere Werte" geben. Es wurde ja (Seite 231) den Begriffen "des Gewissens und der Pflicht im System der Philosophie eine zentrale Stellung" angewiesen. Von dieser zentralen Stellung erhielt die Philosophie ihre Bezeichnung Wertwissenschaft. In demselben Moment, in dem wir uns nach "noch anderen Werten" umsehen, ist es um die zentrale Stellung dieser Begriffe in der Philosophie geschehen und es ist nicht einzusehen, wie dann noch mit der Erkenntnistheorie, die ja auf diese zentralen Begriffe zurückgehen soll, entschieden werden könnte, ob irgendein Kulturprodukt "ein Wert" ist.

Wir erfahren aber auch von RICKERT, daß "jede Wissenschaft, also auch  jeder Teil der Philosophie,  den logischen Normen unterworfen ist" (Seite 238). Die Ethik aber wird als ein Teil der Philosophie genannt. (Seite 232)

Ist die letzte Basis des Wissens ein Gewissen (Seite 231) und ist dieses logische Gewissen nur eine besondere Form des ethischen Gewissens überhaupt (Seite 234), so ist doch vielmehr die Erkenntnistheorie den ethischen Normen unterworfen. Dann kann es aber keinen Sinn haben, wieder die Erkenntnistheorie über die Ethik zu stellen und die Ethik den logischen Normen zu unterwerfen.

Schließlich wird sowohl das logische Sollen, als das zentrale ethische Gewissen dem Wollen unterstellt.  Die Geltung  (!) des Pflichtbewußtseins beruth für den wollenden Menschen  in letzter Hinsicht  (!) auf einem Willensentschluß,  weil  (?) jeder, um gewissenhaft und pflichtgemäß zu handeln, erst gewissenhaft und pflichtgemäß handeln  wollen  muß" (Seite 232, 233). "Aber ein solcher Entschluß ist die Voraussetzung auch des theoretischen Erkennen" (Seite 233). "Wer Wahrheit nicht  will,  für den ist die Geltung des transzendentalen Sollens nicht zu begründen." "Die Erkenntnistheorie setzt ein Wissen-Wollen voraus" (Seite 139). "Es beruth auch das Erkennen in  letzter Hinsicht  auf einem Willensentschluß" (Seite 233).

Nun ist aber der Satz: "Wer Wahrheit nicht  will,  für den ist ihre Geltung nicht zu begründen" - widersprechend, denn die Feststellung dessen, ob jemand Wahrheit will, beansprucht ja selbst Wahrheit. Ob jemand Wahrheit will oder nicht, ist eine Tatsachenfrage, also nur mittels der Wahrheit festzustellen.

Es hat bereits NELSON (Über das sogenannte Erkenntnisproblem, Seite 554 darauf hingewiesen, daß RICKERT hier "die psychologischen Realgründe des Urteilens mit den logischen Gründen der Wahrheit des Urteils verwechselt". "Der Wille zur Wahrheit ist nicht mehr und nicht weniger eine logische Voraussetzung jeder Wissenschaft, wie etwa das Essen und Trinken und alle übrigen leiblichen und seelischen Verrichtungen, deren Ausbleiben die Unmöglichkeit, Urteile zu fällen und Wissenschaft zu treiben, zur Folge haben würde, weil ohne sie der Mensch überhaupt nicht leben, geschweige denn sich wissenschaftlich betätigen könnte."


4. Nelson

Auch NELSON gelangt zu dem Resultat: "Eine Begründung der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis ist ... unmöglich" (Erkenntnisproblem, Seite 444). "Es gibt eine unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft" (Kritische Methode, Seite 18 und "Über die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis kann kein Streit sein, sondern nur darüber, welches die unmittelbare Erkenntnis ist" (Seite 19).

Von dieser unmittelbaren Erkenntnis ist nach NELSON die mittelbare Erkenntnis oder die Erkenntnis durch Urteile oder Reflexion zu unterscheiden, welche die unmittelbare Erkenntnis bereits zur Voraussetzung hat (Erkenntnisproblem, Seite 523).

Die unmittelbare Erkenntnis bezeichnet NELSON kurz als  Vernunfterkenntnis,  die mittelbare Erkenntnis durch Urteile hingegen als  Reflexions-  oder  Verstandeserkenntnis  (Seite 524.

Die Vernunfterkenntnis kommt aber nicht für sich, sondern nur durch eine Vermittlung der Verstandeserkenntnis zum Bewußtsein (Seite 545) ("Es ist ein Vorurteil, daß der Unmittelbarkeit der Erkenntnis die Unmittelbarkeit des Bewußtseins  um  die Erkenntnis entsprechen muß." (Seite 548)

Dadurch wird aber die Aussage, daß etwas Vernunfterkenntnis sei, nur durch eine Verstandeserkenntnis möglich. Demjenigen, was als Vernunfterkenntnis bezeichnet wird, können wir doch nicht mehr Kraft beimessen, als jener Verstandeserkenntnis, welche uns die Vernunfterkenntnis als solche zeigt. Da Verstandeserkenntnis möglicherweise Irrtum enthalten kann, wir aber nur durch die Vermittlung einer solchen wissen können, ob etwas Vernunfterkenntnis ist, können wir keine unbedingt irrtumsfreie Kenntnis davon haben, was eine Vernunfterkenntnis ist und was nicht.

Denn die Wahrheit einer Vernunfterkenntnis könnte zwar nicht in Frage stehen, aber wohl die Wahrheit jener Verstandeserkenntnis, die uns einen Satz als Vernunfterkenntnis bezeichnet.

Der Fehler liegt darin, daß NELSON außer der Vernunfterkenntnis als "regulativem Prinzip", noch eine  inhaltliche  Vernunfterkenntnis haben möchte und zu dieser durch Verstandeserkenntnis gelangen will.

Ich kann in der angeblichen Verbesserung, die die Friesische Schule an der Kantischen Vernunftkritik üben will, keine solche erkennen, sondern werde vielmehr durch dieselbe nur an die Wahrheit eines kantischen Satzes erinnert: "Nun ist es zwar sehr einleuchtend, daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen kann, und daß das bestimmende Selbst (das Denken), vom bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt) wie von der Erkenntnis vom Gegenstand unterschieden ist. Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer, als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekt dieser Gedanken zu halten." (Kr. d. r. V., ROSENKRANZ, Seite 319 - 320)

Diesem Schein unterliegt aber NELSON, wenn er (Kritische Methode, Seite 25) sagt: "die Erkenntnis ist jederzeit eine innere Tätigkeit. Als solche ist sie aber selbst ein Gegenstand, nämlich Gegenstand der inneren Erfahrung, und kann als solcher studiert werden." Ebenso Seite 531, Erkenntnisproblem: "Wir müssen diese unmittelbare Erkenntnis erst künstlich zum  Gegenstand  einer Untersuchung machen." Die unmittelbare Erkenntnis a priori wird (Seite 532) als "ein individuelles Faktum" angesehen. "Individuelle Fakta werden aber a posteriori erkannt." Wenn es angeht, die oberste Voraussetzung aller Erkenntnis als ein individuelles Faktum anzusehen, dann ist dieses Kunststück allerdings möglich. Damit aber verfalle ich dem Schein, "die Einheit der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekt dieser Gedanken zu halten", und versuche dadurch dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, selbst als Objekt zu erkennen.


5. Münsterberg

MÜNSTERBERG geht von der Voraussetzung aus: "Alles Bewerten und Vorziehen setzt  offenbar  (?) einen Willen voraus, der Stellung nimmt und Befriedigung sucht" (Philosophie der Werte, Seite 8): Der Wert wird der Natur gegenübergestellt, eben weil diese "ohne Beziehung zum Wollen des Beschauers gedacht wird" (Seite 60). MÜNSTERBERG unternimmt auch nicht den geringsten Versuch, um diese Behauptung zu stützen, sie wird als eine "offenbare" zum Ausgangspunkt genommen.

Durch den synonymen Gebrauch der Ausdrücke "Bewerten" und "Vorziehen" wird aber noch  mehr  als offenbar angenommen. Auch auf Seite 13 ist von einem Bewußtseinsinhalt die Rede, der nicht bevorzugt oder abgelehnt, kurz nicht bewertet werden kann. Das Vorziehen, Bevorzugen oder Ablehnen ist einfach ein Wollen oder Nichtwollen.

Dadurch wird der Wert auch von MÜNSTERBERG gleich beim allerersten Schritt als ein Wollen angesehen. Da aber MÜNSTERBERG außer dieser "offenbaren" Voraussetzung, daß der Wert ein Wollen ist, ebenfalls gleich feststellt, daß der Begriff des Wertes auch das schlechthin Gültige, das Unpersönliche, das Unbedingte sei (Seite 3), so ergibt sich natürlich die Frage, wie sich diese beiden Voraussetzungen in Einklang bringen lassen? Denn unter einem Wollen wird ja gewöhnlich etwas eminent persönlich Bedingtes, etwas Willkürliches verstanden, so sehr, daß der eine Ausdruck, durch den die Sprache den Gegensatz zur Unbedingtheit bezeichnet, das Wort "Willkür", gerade vom Wollen genommen ist. Wie soll nun der Wert sowohl ein Wollen, als auch eine Allgemeingültigkeit bedeuten, wie kann er sowohl jenes Relative, als auch dieses Absolute, das gleichermaßen im Wertbegriff stecken soll, enthalten?

MÜNSTERBERG macht also - wie wir leicht erkennen können - die Inhalte des subjektiven und des absoluten Wertes, das Begehren, Wollen oder Verzichten einerseits und die Allgemeingültigkeit andererseits, zu "offenbaren" Voraussetzungen des Wertbegriffs. Er verkennt, daß diese Eigenschaften nicht Voraussetzungen des Wertbegriffs sind, die zusammen bestehen müssen oder sollen, sondern daß er da zwei Voraussetzungen von zwei verschiedenen Begriffen vor sich hat, die nichts anderes miteinander gemein haben, als daß bei beiden eine elementare psychische Erscheinung als Maßstab anderer Dinge dient.

MÜNSTERBERG versucht nun diesen Widerspruch durch die Einführung des kantischen Begriffs der  freien Willkür  zu lösen. Bei MÜNSTERBERG heißt er "reines Wollen".

MÜNSTERBERG erklärt vorerst "die Willensbefriedigung als solche ist überhaupt von Lust und Unlust unabhängig" (Seite 73). "Die Verwirklichung des Gewollten ist ansich Befriedigung, ohne Rücksicht darauf, ob das Erreichte Lust gewährt" (Seite 73. "Lust und Unlust drücken dagegen die Beziehungen des Reizes zur Persönlichkeit aus" (Seite 69). "Wenn der vorgestellte Reiz gefühlsbetont ist, so regt er den Willen zur Verwirklichung an; entsteht der Wille, ohne daß der vorgestellte Reiz eine Beziehung zum Gleichgewicht der Persönlichkeit hat, so wird die Erfüllung des Willens ohne Lust oder Unlust vonstatten gehen, nicht aber deshalb mit geringerer Befriedigung" (Seite 69).

MÜNSTERBERG meint also, wenn er uns zeigen kann, daß es einen "reinen" Willen gibt, so hat er den Widerspruch zwischen Wollen und Allgemeingültigkeit, der nach ihm im Begriff "des" Wertes stecken soll, gehoben. Natürlich könnte ihm auch ein solcher Nachweis nichts nützen; denn auch das "reine" Wollen bliebe eine Tatsache, die dem Wahrheitswert untergeordnet wäre, während der Wahrheitswert auf kein Wollen, auch auf kein "reines",  "zurück geführt" werden darf, da er bereits zur Feststellung des "reinen" Wollens notwendig wäre und somit wohl der Wahrheitswert die Voraussetzung selbst eines solchen "reinen" Wollens, nicht aber dieses Wollen die Voraussetzung des Wahrheitswertes sein könnte.

Wir können also schon aufgrund dieser Überlegungen die Wertkonstruktion MÜNSTERBERGs als gescheitert ansehen.

Zum Überfluß kann auch noch nachgewiesen werden, daß MÜNSTERBERG nicht einmal die Bedingung erfüllt, die nach seinen eigenen Ansprüchen nötig ist, damit der Wert als ein reines Wollen angesehen werden kann.

Wer sich hierfür interessiert, lese die folgenden Seiten, wem dieser Nachweis gleichgültig ist, der kann ihn ruhig übergehen.

Es gibt nach MÜNSTERBERG zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Willen, den von lust- oder unlustbetonten Vorstellungen geleiteten - wie ersichtlich, die "tierische Willkür" KANTs - und einen anderen, den MÜNSTERBERG den "reinen Willen" nennt und der nicht von lust- oder unlustbetonten Erregungen gelenkt wird (Seite 70); das wäre also die "freie Willkür" KANTs. Der erstere ist bedingt, persönlich, relativ; der letztere unpersönlich, und die Befriedigung, die er gewährt, allgemeingültig, absolut.

Dies alles wird von MÜNSTERBERG als Vorfrage bezeichnet (Seite 69), denn "wir wissen noch gar nicht, ob es einen reinen Willen überhaupt geben kann" (Seite 70). Und auf Seite 74 wird diese eigentliche Frage, die nach der Erledigung der Vorfrage nunmehr gelöst werden soll, nochmals in folgender Weise gestellt: "So bleibt uns dann die tieferrührende andere Frage: was bewegt uns, etwas zu wollen, das ohne Beziehung zu Lust und Unlust steht, auf das Gleichgewicht unseres persönlichen Seins also keinen Einfluß besitzt?"

Ist es nun möglich, daß eine Lösung dieser Frage, auf die MÜNSTERBERG das ganze Wertproblem zugespitzt hat, die also die ganze Last seiner "Philosophie der Werte" zu tragen hat, folgendermaßen erledigt wird:
    "Die volle Antwort sei nun sofort gegeben und betont; von ihr aus muß sich alles weitere entwickeln. Ja, es gibt einen grundsätzlichen Willensakt, von dem wir nicht lassen wollen, und der doch nichts mit unserer Lust und unserem Leid zu schaffen hat; der Wille, daß es eine Welt gibt, daß unser Erlebnisinhalt also uns nicht nur als Erlebnis zu gelten habe, sondern sich in sich selbst unabhängig behauptet. Von hier aus muß sich alles erleuchten. Hier ist die eine ursprüngliche Tathandlung, die unserem Dasein ewigen Sinn gibt und ohne die das Leben ein schaler Traum, ein Chaos, ein Nichts ist."
Diese Erledigung darf uns an diesem wichtigen Punkt nicht genügen. Es wäre nach der Disposition MÜNSTERBERGs zu beweisen gewesen, daß dieser Wille zur Welt mit Lust und Unlust grundsätzlich nichts zu schaffen hat. Dies ist nun nicht geschehen. MÜNSTERBERG selbst legt diesbezüglich einige Vermutungen nahe. Ist es vielleicht nicht die Unlust, die mit einer Auffassung des Lebens als "schalen Traum" einhergeht, die uns zum Wollen einer Welt veranlaßt? Ängstigt uns nicht das "Chaos", das "Nichts", dem wir sonst verfallen würden? Ist das Systemlose, das Verworrene, das Sinnlose des Weltalls und unserer ganzen Existenz nicht ein unlustbetonter Gedanke, dem wir gerne entrinnen möchten? Ja, dürften wir das Leben selbst als ein Chaos, als etwas Sinnloses bezeichnen? Selbst da wäre ja die Anwendung eines Wertes, eine Behauptung, die für sich Wahrheit beanspruchte. Es ist ja nicht einmal richtig, daß derjenige, der diesen Willen zur Welt nicht faßte, "alles Erleben nur just als ein persönliches Erfahren auffassen dürfte" (Seite 74). Nicht einmal das könnte er. Müßte uns aber bei dieser Unmöglichkeit des Erkennens nicht ein wahres Schwindelgefühl, ein unsagbares Unbehagen erfassen?

MÜNSTERBERG hat auch nicht den geringsten Beweis dafür erbracht, daß sein "Wille zur Welt" mit unserer Lust und unserem Leid nichts zu tun hat. Folglich können wir uns mit seiner Definition, laut welcher der Wert der Befriedigung dieses "reinen" Willens sei, nicht einmal nach seinen eigenen Ansprüchen und ganz abgesehen von unserem obigen prinzipiellen Einwand zufrieden geben.

Die Vermeidung dieses eben behandelten Fehlers der Werttheorie läßt uns auch eine ebenfalls sehr verbreitete Folge dieses Fehlers vermeiden. Wird der Wert als ein Wollen aufgefaßt, so wird er der "wertfreien" Natur gegenübergestellt, weil diese "ohne Beziehung zum Wollen des Beschauers gedacht wird." (Seite 60). Diese Gegenüberstellung der "wertlosen Natur" einerseits und der Welt der Werte andererseits ist der Werttheorie nur zu geläufig.

"Natur ist nur ein anderer Name für die Gesamtheit der grundsätzlich wertfreien Dinge" - sagt MÜNSTERBERG (Seite 9). Er meint: "Die Objekte sind wertfrei, denn da sie nur voneinander abhängig sein sollen, kann nichts an ihnen von der Stellungnahme eines Subjekts abhängig gedacht werden; die wissenschaftlichen Urteile aber, die sich mit diesen wertfreien Objekten befassen, sind Bewertungen" (Seite 17).

MÜNSTERBERG stellt sich dieses Verhältnis folgendermaßen vor: Dem Natursystem geht eine Wirklickeit voran, in der die Denktätigkeit selbst eine Bewertung bekundet. Durch diese bewertende Denktätigkeit wird nun die wirkliche Welt zu einem Natursystem umgedacht, in dem es keine Bewertungen gibt. "Der Naturforscher" - sagt MÜNSTERBERG (Seite 17) - "muß die Welt mit logischer Notwendigkeit wertfrei denken, um sie kausal zu denken."

Das Natursystem soll also einerseits ein Denksystem, ein System wissenschaftlicher Urteile, also ein System von Bewertungen sein, und andererseits soll es gerade infolge dieser Bewertungen in diesem System von Bewertungen keine Werte geben. Die Welt würde durch diese Bewertungen wertfrei. "Mit logischer Notwendigkeit wertfrei denken", wäre gleichbedeutend mit: als wertfrei bewerten. Indem der Naturforscher die Welt bewertet, kann er sie doch nicht auch zugleich nicht bewerten, d. h. wertfrei denken. Auch das "kausal denken" kann uns nicht stören, denn jeder kausale Satz ist nur eine  konkrete Anwendung  des Wahrheitswertes. Das Natursystem ist also in allen seinen Teilen eine fortwährende Anwendung des Wahrheitswertes.  Es ist eine Wertkasuistik. 

Die Annahme von einem wertfreien Natursystem ist mit der Annahme eines Wahrheitswertes unvereinbar. Gibt es einen solchen, so ist das kausale Natursystem nichts anderes, als die Zusammenreihung einer Menge von Wahrheitsurteilen zu einem System. Soll es eine wertfreie Natur geben können, so dürfte die Wahrheit kein Wert sein; dann könnten wir den Werturteilen die bloßen Wahrheitsurteile gegenüberstellen und könnten auf diese Weise zu einer wertfreien Natur gelangen. Ist aber die Wahrheit ein Wert, so kann es kein wertfreies Natursystem geben, sondern dasselbe ist ein System von Bewertungen, d. h. Anwendungen des Wahrheitswertes.

Die beliebte Gegenüberstellung der Natur und der Werte ist hauptsächlich gegen den Naturalismus gerichtet. Zum Nachweis, daß es unmöglich ist, alle Werte in der Natur unterzubringen, werden die Werte und die wertfreie Natur in einen unüberbrückbaren Gegensatz gestellt. Es genügt aber zur Zurückweisung des Naturalismus vollauf, wenn darauf hingewiesen wird - wie MÜNSTERBERG dies auch tut - daß der Begriff der Natur den Begriff des Wahrheitswertes voraussetzt. Daraus folgt bereits, daß der Begriff des Wertes nicht aus einem wertfreien Natursystem hervorgehen kann, sondern daß umgekehrt das Natursystem den Begriff des Wertes voraussetzt. Damit ist der Naturalismus bereits vollständig zurückgewiesen, und es ist zu diesem Zweck gar nicht mehr nötig, aber auch gar nicht zulässig, dieses Natursystem auch noch als ein wertfreies anzusehen. Wert und Natur sind keine Gegensätze, denn Natur ist Wertanwendung.


6. Simmel

In einer Beziehung gelangt SIMMEL in seiner "Einleitung in die Moralwissenschaft" zu einem dem oben Ausgeführten verwandten Standpunkt, insofern er sich zu der Auffassung bekennt, daß es sich nicht mit Worten sagen läßt, was das Sollen eigentlich ist. "Es gibt keine Definition des Sollens" (Seite 8). Hingegen wird das Verhältnis des Sollens zum Sein und zum Wollen bei SIMMEL nicht richtig erkannt. "Das Wollen, das Hoffen, das Können, das Sollen - all das sind gewissermaßen Zwischenzustände und Vermittlungen zwischen dem Nichtsein und dem Sein" (Seite 8). Das Sollen "betrifft Vorstellungen, denen wir das Sein noch absprechen - und die dennoch nicht in der Gleichgültigkeit des Nichtseins verharren" (Seite 9). Das Sollen wie auch das Wollen können ebensogut auf existente, wie auf hervorzubringende also noch nicht seiende Dinge Bezug haben. Eine vollbrachte Tat kann ebenso gut als eine gesollte, wie auch als eine zu vollbringende erkannt werden. Auch darf das Sein, das Wollen und das Sollen nicht auf dieselbe Stufe gestellt werden, wie es SIMMEL tut, indem er sie alle als Gefühle bezeichnet, welche die Vorstellung begleiten (Seite 8). Und ebensowenig glücklich ist die Bemerkung SIMMELs, daß das Sollen "ein Denkmodus" ist, "wie das Futurum und das Präteritum, oder wie der Konjunktiv und der Optativ; durch die Form des Imperativs hat die Sprache diesem Verhalten Ausdruck gegeben" (Seite 9). Die Form des Imperativs kann ebensogut ein Wollen, wie auch ein Sollen decken, sie bedeutet bloß einen Befehl, wobei es ganz gleichgültig bleibt, ob dieser bloß einem Wollen entspringt, oder ob er auch einem Sollen konform ist. Ferner verleiht SIMMEL die Würde einer elementaren, weiter nicht analysierbaren psychischen Funktion zu freigiebig. "Hoffen" und "Können" dürften nicht hierher gezählt werden (Seite 8). Das Hoffen kann nämlich ganz gut durch andere elementare Funktionen umschrieben werden. Einerseits steckt im Hoffen auch immer ein Wollen; was ich nicht haben möchte, kann ich auch nicht hoffen. Zweitens enthält es auch ein Wissenselement, die Annahme einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Eintreffens irgendeines Ereignisses, wobei die volle Sicherheit desselben nicht vorhanden sein darf. Das Können aber ist die Realisierbarkeit irgendeiner Handlung durch eine Person, es bedeutet also die Erkenntnis der Möglichkeit des Eintretens eines Kausalzusammenhangs, die Erkenntnis von einer Person als einer möglichen Ursache von etwas.

In diesem Zusammenhang mag noch Erwähnung finden, daß der Satz, wonach "diese Unerklärtheit des Sollens zweifellos zu seiner Würde und psychologischen Kraft erheblich beiträgt" (Seite 18), schon deshalb nicht richtig sein kann, weil ja sonst dieselbe Würde auch dem Wollen, welches diese Unerklärtheit mit dem Sollen vollkommen teilt, zukommen müßte, was jedoch nicht der Fall ist.

Natürlich läßt sich das Verhältnis der verschiedenen Werte zueinander von diesen Grundlagen aus nicht richtig entwickeln. "Bei jedem Bestimmten, was ich - soll, Logischem, Ästhetischem, Politischem, bedarf es des Kompromisses mit anderen Ansprüchen. Nur das sittliche Sollen verlangt keinen Kompromiß, weil es der zusammenfassende Name für das Sollen überhaupt ist. Es ist gleichsam das Hauptbuch, in welches die aus der Rechnungsführung für die einzelnen Branchen resultierten Werte übertragen werden, um den Wert des Ganzen durch Summierung und Balanzierung zu ergeben." (Seite 45) Der logische Wert würde hierdurch unter den sittlichen gestellt; auf die absolute Durchführung des logischen Wertes sei zu verzichten, um auch den übrigen, z. B. "ästhetischen oder politischen Werten ein Maß an Kraft und Hingebung zuteil werden zu lassen". Also es hätte der sittliche Wert darüber zu entscheiden, wie weit der logische durchgeführt werden darf. Wogegen doch der sittliche Wert an die Durchführung des Logischen, an das richtige Denken gar nicht heran kann, umgekehrt aber eine absolute Durchführung des Logischen sogar Voraussetzung für jede Bestimmung der sittlichen Forderung ist. SIMMEL begeht hier den Fehler, daß er den sittlichen Wert des Strebens nach dem Wahrheitswert vom Wahrheitswert selbst nicht gehörig unterscheidet. Ob etwas wahr ist oder nicht und ob ich ein einem gegebenen Fall zur Aufsuchung der Wahrheit sittlich verpflichtet bin, sind ganz verschiedene Fragen. Der "politische" Wert hingegen ist gar nichts anderes, als ein Anwendungsgebiet, ein Spezialfall des Sittlichen, also kein selbständiges Wertgebiet.

Schließlich gelangt auch SIMMEL wieder in den alten  circulus  hinein, "daß das Sollen doch ein Wollen ist" (Seite 60). "Ob wir das, was uns von außen oder innen befohlen wird, auf Motive hin wollen, die uns freudig oder schmerzlich sind, ist eine andere Frage, aber wollen müssen wir es, sonst würden wir es unter keinen Umständen tun" (Seite 61). Als ob es auch zum Begriff des Sollens gehörte, ob wir es auch tun! Um es zu tun, müssen wir es freilich auch wollen, aber um es zu sollen, brauchen wir es nicht gewollt zu haben. Und nur hierauf kommt es an. Wenn die prinzipielle Entgegengesetztheit des Sollens und des Wollens nur auf einem falschen Sprachgebrauch beruhte, wie SIMMEL meint, wenn das Sollen doch nur ein Wollen wäre, so wäre sein Ausgangspunkt, nach welchem es sich nicht sagen läßt, was das Sollen eigentlich sei, und laut welchem es keine Definition des Sollens gebe (Seite 8) doch offenbar falsch, denn es müßte einfach nur gesagt werden, was für ein spezielles Wollen das Sollen ist.

Da wir unsere Wollungen als gesollte und nichtgesollte unterscheiden, so können wir das Sollen nicht in ein Wollen auflösen. Und über dieses Bedenken können uns keinerlei, wie immer geartete Hypothesen über das Genetische des Sollens hinweghelfen. Auch die Bezugnahme auf einen "Willen der Gattung, der Gruppe" (Seite 63) kann uns hier nichts helfen, denn wir haben es ja mit dem Verhältnis des Individualwillens zum Sollensgefühl zu tun. Sollte es sich auch herausstellen, was hier ganz dahingestellt bleiben kann, daß das Sollensgefühl genetisch auf die soziale Tatsache eines Gruppenwillens zurückzuführen sei, so könnte uns eine solche oder irgendein andere genetische Erklärung doch gar nichts über den Vorrang des Sollens gegenüber dem Wollen beweisen, und wir könnten zum Begriff eines ethischen Wertes, eines Sollens, doch nicht vom Wollen her, sondern nur dann gelangen, wenn wir dieses ethische Werten vorerst  als eine vom Wollen grundverschiedene  psychische Funktion des Individuums kennen, gleichviel, woher sie stammt.


7. Krueger

Der Erkenntnis, daß selbst der sittliche Wert kein Wollen sein kann, ist bereits FELIX KRUEGER (Der Begriff des absolut Wertvollen, Leipzig 1898) insofern nahe gekommen, als er sich veranlaßt sah, die EHRENFELSische Wertdefinition, nach welcher das Wesen des Wertes im Begehren zu suchen ist, zurückzuweisen (Seite 33). Es "unterscheidet sich" jedoch nach KRUEGER, "eine Wertung von einer einzelnen aktuellen Begehrung" nur "durch das Moment der (relativen)  Konstanz."  Er bezeichnet "die Wertungen im Gegensatz zu den einzelnen Begehrungsakten kurz als konstante Begehrungen". Dabei ist unter Konstanz nicht etwa die bloße zeitliche Dauer eines Begehrens zu verstehen, derart, daß ein einzelner Willensakt, dessen Ablauf längere Zeit in Anspruch nimmt, als Wertung bezeichnet würde,, im Gegensatz zu einem kürzere Zeit dauernden; sondern das Charakteristische des "konstanten" Begehrens besteht in einem  konstanten Zusammenhang  zwischen meinem Begehren und einem bestimmten psychischen Tatbestand" (Seite 35). "Wertungen sind konstante Willenstatbestände im Sinne eines  regelmäßigen  Auftretens der entsprechenden Begehrungen" (Seite 36).

Unter Wertung wäre also demnach nicht eine längere Zeit in Anspruch nehmendes, sondern ein regelmäßig auftretendes Begehren zu verstehen. KRUEGER versucht also den Wert vom Begehren loszumachen, aber es gelingt ihm nicht. Er ist nahe dran, auf die richtige Spur zu gelangen, aber er verfehlt sie schließlich doch. Er spricht zwar von selbst von der "Tatsache des Wertens", von der "psychischen Fähigkeit oder Funktion des Wertens" (Seite 50, 51 61 usw.), aber diese Anläufe zu einer Erkenntnis des sittlichen Wertes werden wieder dadurch zunichte, daß diese Tatsache als eine regelmäßige Wiederholung von Begehrungen aufgefaßt wird. Er faßt das sittliche Werten sozusagen doch nur als "eine dritte Dimension des Willenslebens" auf, indem zur Intensität und zur Dauer der von Fall zu Fall erwarteten Lust auch noch die regelmäßige Wiederholung dieses Erwartens hinzutritt. (Seite 49)

So kommt KRUEGER vom Begriff des Wollens schließlich doch nicht los. Es fehlt hier noch an der Erkenntnis, daß das sittliche Werten eine ebenso selbständige und eigenartige Funktion des Seelenlebens ist, wie das Wollen. Wie wir vom Wollen folglich nicht sagen können, was es "eigentlich" ist, sondern unsere innere Erfahrung von demselben nur durch den Gebrauch einiger Synonyma sprachlich auszudrücken vermögen, so verhält es sich auch mit dem Begriff der seelischen Funktion des Wertens. Wir können das Wollen wohl ein "Begehren" oder ein "Streben" nennen, es ist damit aber nicht mehr gesagt, als bereits im Ausdruck "Wollen" steckt. So können wir gelegentlich auch das Werten als ein Beurteilen, oder als ein Richten, als das Bezeichnen des Richtigen umschreiben, aber es ist mit all diesen Beschreibungen nicht mehr gesagt, als daß es eine eigenartige Funktion des Wertens gibt. Und daran müssen wir festhalten. Wir dürfen dieselbe nicht als den Spezialfall irgendeiner anderen eigenartigen Funktion auffassen, denn damit hörte sie auf, eine eigenartige Funktion zu sein. Sobald das Werten eine wie immer geartete Willenstatsache würde, wäre es ums Werten geschehen, und wer es mit welchen Begrenzungen immer als irgendeine spezielle Modifikation des Wollens aufzufassen sucht, der bringt sich um die Möglichkeit des richtigen Verständnisses dieser Tatsache.

Es ist das Kolumbus-Ei der Werttheorie, daß das Werten kein Wollen, Begehren oder Streben, sondern eine davon grundverschiedene, eigenartige seelische Funktion ist, durch welche eine Allgemeingültigkeit ausgedrückt wird, was durch ein Wollen niemals geschehen kann.

Der zweite Kardinalfehler der Werttheorie ist bei KRUEGER noch weniger vermieden, sondern bereits durch den Titel des Werkes angedeutet: Der Begriff des absolut Wertvollen wird bloß als Grundbegrif der Moralphilosophie gefaßt. Als das Grundproblem aller Moralphilosophie wird (Seite 3) die Frage bezeichnet: "Welches ist das  unbedingt  gültige Prinzip der moralischen Beurteilung, d. h. der Werturteile über menschliches Wollen? Oder was daselbe sagt (?): Was hat für den Menschen  absoluten Wert?"  Es wird hier der Fehler begangen, daß eine Bewertung, die vorausgesetztermaßen nur auf das Wollen Bezug haben soll, ohne weiteres mit der absoluten Bewertung auch aller anderen möglichen Objekte gleichgesetzt wird.

Umgekehrt dürften wir wohl sagen, daß dasjenige, was für alles uns Denkbare absoluten Wert hat, auch für das menschliche Wollen absolut gültig sein muß; nicht aber, daß der Maßstab der Richtigkeit des Wollens auch der absolute Maßstab für die Beurteilung alles anderen sei.

Es ist unter solchen Umständen nur natürlich, daß KRUEGER (Seite 68) "die schwierige Frage des Verhältnisses zwischen Sittlichkeit und Erkenntnis" offen lassen will, obschon jemand, dem es um die Feststellung des Begriffs des absolut Wertvollen zu tun ist, dieselbe nicht offen lassen dürfte. Von diesem Ausgangspunkt aus ist sie natürlich schwer. Denn ist einmal die Sittlichkeit zum absolut Wertvollen geworden, so kann der Erkenntnis natürlich kein anderer Platz zugewiesen werden, als entweder außerhalb des absolut Wertvollen, was doch nicht angeht, oder innerhalb der Sittlichkeit. Und dann müßte natürlich die Bestimmung des Verhältnisses der beiden zueinander "weit in die angewandte Ethik hineinführen", also die Erkenntnistheorie müßte zu einer ethischen Kasuistik werden, anstatt daß, wie im obigen, das absolut Wertvolle mit der Wahrheit identifiziert und folglich der Platz der Ethik innerhalb der Wahrheitswertung angewiesen würde.

Damit mögen auch die widerspruchsvollen Wendungen zusammenhängen, laut welchen - nachdem einmal (Seite 6) "die psychische Fähigkeit des Wertens" als "das unbedingt Wertvolle" festgestellt wurde - noch vom unbedingten "Wert des Wertens" (Seite 77) und von einer "Energie des Wertens" (Seite 79) also von einem Maßstab der Größe des absolut Wertvollen gesprochen wird.

LITERATUR - Felix Somlo, Das Wertproblem, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 146, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Ich finde es sehr bezeichnend, daß in der ersten Ausgabe der Kr. d. r. V. (Seite 27, ROSENKRANZ) unter den Begriffen, die als Beispiele solcher Moralbegriffe angeführt werden, die empirischen Ursprungs sind, auch die Willkür erwähnt wird. Die Grundbegriffe der Moralität "gehören nicht in die Transzendentalphilosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßte." In den späteren Ausgaben (siehe Seite 711, Zusatz VII, ROSENKRANZ) ist die Willkür, als Beispiel eines empirischen Begriffes, weggelassen, jedenfalls mit Rücksicht auf Seite 618 (ROSENKRANZ), wo zwischen  tierischer  und  freier  Willkür unterschieden wird, d. h. zwischen einer Willkür, die nur durch sinnliche Antriebe bestimmt wird, und einer, "welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann."