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ROBERT SAXINGER
Über die Natur
der Phantasiegefühle

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"Wer ein Phantasiegefühl erlebt, fühlt nicht wirklich Freude oder Schmerz. Und ebenso fehlt der Phantasiebegehrung das eigentliche Begehrungsmoment. Dort ist es nur ein gefühlsartiges, hier nur ein begehrungsartiges Vorkommnis."

"Wird der durch die Aktualisierung einer Gefühlsdisposition erzeugte Ausfall an Energie wieder gedeckt, so äußert sich das durch eine Stetigkeit der Gefühlsintensität. Ist die Energiezunahme größer als der Energieverbrauch, so tritt das Gegenteil der Gefühlsdispositionsherabsetzung ein: Die Disposition erfährt eine Steigerung und die derselben entspringenden Gefühlsreaktionen zeigen eine Intensitätszunahme. So erklärt es sich z. B. auf einfache Weise, daß sich die Neigung, die einer Person entgegengebracht wird, mit der zunehmenden Erkenntnis der Vorzüge derselben vertieft."


§ 1. Einleitung

Der enge Zusammenhang zwischen Geistes- und Gemütsleben bringt es mit sich, daß eine auf intellektuelle Vorkommnisse gerichtete Untersuchung unvermeidlich auch auf Fragen des emotionalen Geschehens führt. Die Entdeckung neuer Tatsachen auf intellektuellem Gebiet berührt in der Regel auch die Gefühls- und Willenspsychologie. Dies ist auch bei der Erschließung des Tatsachengebietes der Annahmen durch MEINONG der Fall. (1) Die Untersuchungen des genannten Autors in Bezug auf die Annahmen greifen in mehr als einer Beziehung in die Sphäre der Gemütsbewegungen über. Insbesondere ist es die Frage, welcher Anteil den Gefühlen an den Begehrungen zukommt, die MEINONG durch die Bezugnahme auf die Annahmen zum Austrag bringen will. (2) Gelegentlich der in dieser Richtung sich bewegenden Untersuchungen sah sich MEINONG auf psychische Tatsachen geführt, die sich, obgleich ihnen qualitative Gegensätzlichkeit ebenso zukommt wie den Gefühlen und Begehrungen, dennoch nicht als Gefühle und Begehrungen im eigentlichen Sinn des Wortes charakterisieren ließen. (3)

Von der Existenz solcher Tatsachen kann man sich nach MEINONG einmal durch Beachtung der Erlebnisse an Kunstwerken überzeugen. Alles das z. B., was der Zuschauer mit den Personen des Dramas erlebt, wie Freude, Trauer, Furcht und Hoffnung, Wünsche und Begehrungen ist nicht wirkliche Freude und Trauer, noch eigentliche Furcht und Hoffnung, noch wirkliches Wünschen und Begehren; wohl aber ist es etwas Gefühlsähnliches, Gefühlsartiges, bzw. Begehrungsartiges, Begehrungsähnliches. Weiter sind dann gefühlsartige Zustände insbesondere auf dem Gebiet der Werttatsachen anzutreffen. Sie vertreten dort die Stelle der Wertgefühle: Die Objekte sind nach ihrem subjektiven Wert gewürdigt, wenn ihre Existenz oder Nichtexistenz angenommen und auf die bezügliche Annahme mit gefühlsartigem Phänomen reagiert wird. (4) Gefühlsähnliche und begehrungsähnliche Tatsachen bezeichnet MEINONG als "Phantasiegefühle" bzw. "Phantasiebegehrungen".

Neu entdeckten psychischen Tatsachen gegenüber pflegt sich in der Psychologie in der Regel die Tenden geltend zu machen, dieselben unter feststehende psychische Kategorien unterzubringen und sie womöglich in andere bekannte psychische Phänomene aufzulösen. Diesem Schicksal sind auch die Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen nicht entgangen. Obgleich es schon von anderer Seite geschehen ist, möchte es daher doch nicht überflüssig sein, nochmals ausdrücklich zu sagen, was Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen nach MEINONGs Ansicht sind und was sie nicht sind. (5)

Fassen wir zunächst den negativen Teil der Fragestellung ins Auge. Die Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen sind jedenfalls nicht vorgestellte und nicht angenommene Gefühle und Begehrungen. Das Vorstellung und Annehmen von Gefühlen und Begehrungen kann schon deshalb nicht zur Beschreibung der Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen herangezogen werden, weil Vorstellen und Annehmen, auch wenn es sich auf emotionale Gegenstände bezieht, ein rein intellektuelles Geschehen bleibt, während die fraglichen Phänomene nach dem Zeugnis der inneren Wahrnehmung unzweifelhaft in das Gebiet der emotionalen Erscheinungen einzureihen sind. Außerdem sind Vorstellungen und Annahmen von Gefühlen und Begehrungen, wie MEINONG richtig bemerkt, viel zu farblose psychische Erlebnisse, um eine ausreichende Charakterisierung des bei den Phantasiegefühlen und Phantasiebegehrungen vorliegenden Sachverhaltes zu ermöglichen. (6) Die Phantasiegefühle und Phantsiebegehrungen sind auch nicht wirkliche Gefühle und Begehrungen, die im wesentlichen Annahmen zur psychologischen Voraussetzung haben und sich von anderen Gefühlen und Begehrungen nur durch die Eigenart ihrer intellektuellen Grundlage unterscheiden. Die nähere Begründung dieses Satzes muß den späteren Ausführungen vorbehalten bleiben.

Was die Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen nach der Anschauung MEINONGs sind, wurde schon eingangs angedeutet: Sie sind gefühlsähnliche und begehrungsähnliche Tatsachen. Wer ein Phantasiegefühl erlebt, fühlt nicht wirklich Freude oder Schmerz. Und ebenso fehlt der Phantasiebegehrung das eigentliche Begehrungsmoment. Dort ist es nur ein gefühlsartiges, hier nur ein begehrungsartiges Vorkommnis. Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen sind, wie MEINONG dartut, eigenartige emotionale Gebilde, denen ähnlich wie den Annahmen auf intellektuellem Gebiet, im emotionalen Bereich eine stellvertretende Rolle zukommt. Sie sind also wie die Gefühle und Begehrungen, wie die Vorstellungen, Annahmen und Urteile letzte Tatsachen. (7)

Entgegen dieser Auffassung vertritt WITASEK in seiner jüngst erschienenen Ästhetik die Ansicht, daß die Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen nicht psychische Tatsachen sui generis [eigener Art - wp] darstellen, sondern wirkliche Gefühle und Begehrungen sind, die sich nur durch ihre Provenienz [Herkunft - wp] von anderen Gefühlen und Begehrungen unterscheiden. (8) Es ist nun die Aufgabe der folgenden Untersuchung, zu zeigen, daß die Phantasiegefühle nicht wirkliche Gefühle und die Phantasiebegehrungen nicht wirkliche Begehrungen, sondern letzte Tatsachen sind.


§ 2. Sonderstellung der Phantasiegefühlsdispositionen

Die Ansicht WITASEKs über die Phantasiegefühle ist kur folgende: Die Phantasiegefühle sind Annahmegefühle, also Gefühle, welche Annahmen zur psychologischen Voraussetzung haben. Der Unterschied zwischen Phantasiegefühlen und Urteilsgefühlen besteht nur darin, daß diese Urteile für jene Annahmen die intellektuelle Grundlage abgeben. Die innere Betrachtung des emotionalen Faktors bei den Gefühlsarten zeigt, von Intensitätsgraden abgesehen, keine Verschiedenheit. Die psychologische Voraussetzung des Phantasiegefühls, die Annahme überträgt ihre Eigenart auch auf das ihr zugeordnete Gefühl. Die Urteilsgefühle stehen in Beziehung zur Wirklichkeit, die Phantasiegefühle gründen sich auf bloßen Schein. Daraus erklärt es sich, daß die letzteren, genau genommen, weder freuen noch schmerzen. (9)

Die Anschauung WITASEKs stimmt, wie man sieht, mit der MEINONGs in einem wesentlichen Punkt überein, nämlich darin, daß die Phantasiegefühle nicht freuen und nicht schmerzen. Den Phantasiegefühlen mangelt also zugestandenermaßen gerade das, was sonst emotionale Erscheinungen zu Gefühlen macht. Schmerz und Freude gehören zum Wesen des Gefühls und nimmt man sie weg, so hebt man das Gefühl selbst auf. Daß ein Gefühl schmerzt oder freut, kommt demnach nur auf Rechnung des emotionalen Faktors eines Gefühlszustandes und besteht nicht in der Gefühlsvoraussetzung. Also kann auch das Fehlen dieser beiden Momente in einem emotionalen Zustand nicht auf Besonderheiten der intellektuellen Grundlage, sondern nur auf die Andersartigkeit des emotionalen Faktors gedeutet werden. Gibt man zu, daß die Phantasiegefühle weder freuen noch schmerzen, so kann man nicht zugleich behaupten, daß der emotionale Faktor bei den Phantasiegefühlen und Urteilsgefühlen keine Verschiedenheit aufweise. Diese Unzukömmlichkeit vermeidet die Theorie MEINONGs, indem nach ihr die Phantasiegefühle überhaupt keine wirklichen Gefühle sind.

So sehr auch Erwägungen dieser Art zugunsten des MEINONGschen Standpunktes sprechen, so wird durch sie das "Phantasieproblem" doch keineswegs abgelöst. Hierzu bedarf es noch eingehenderer Untersuchungen. In erster Linie wird zu erheben sein, ob für die den Annahmen zugeordneten emotionalen Regungen, welche MEINONG als Phantasiegefühle bezeichnet und die WITASEK für Annahmegefühle hält, eigene Dispositionen in Anspruch zu nehmen sind oder ob diese emotionalen Erscheinungen und die Urteilsgefühle aus einer und derselben Quelle entspringen. Diese Frage ist insofern von Wichtigkeit, als durch ihre Entscheidung in gewisser Beziehung das Schicksal des Problems mitbestimmt wird. Haben wir Gründe, anzunehmen, daß die einer Annahme und einem Urteil über dasselbe Objektiv entsprechenden emotionalen Reaktionsweisen sich als die Leistungen einer und derselben Disposition darstellen, dann steht von dieser Seite der Ansicht WITASEKs nichts im Wege. Wenn dagegen die mit den Annahmen verknüpften Gemütsbewegungen, die Phantasiegefühle auf eigenen Dispositionen beruhen, dann eröffnet sich die Aussicht, die Eigenart dieser Phänomene aus der besonderen Beschaffenheit ihrer Dispositionen zu verstehen.

Die Erfahrung zeigt, daß sich den Annahmen stets dort Phantasiegefühle hinzugesellen, wo die Überzeugung von der Wirklichkeit Urteilsgefühle auslösen würde. (10) Diese Tatsache scheint für die Möglichkeit zu sprechen, daß Urteil und Annahme bei einer und derselben Gefühlsdisposition als Gefühlserreger fungieren können. Die Annahme steht dem Urteil nahe; sie ist eine dem Urteil verwandte, demselben ähnliche psychische Erscheinung. Es wäre also ganz gut denkbar, daß die Annahme auch berufen ist, das Urteil, insofern es als Dispositionserreger für eine Gefühlsdisposition fungiert, zu vertreten und die Rolle des Dispositionserregers zu übernehmen. Unter diesem Gesichtspunkt würde die Aktualisierung einer Gefühlsdisposition lediglich davon abhängen, daß ein bestimmtes Objektiv gegeben ist. Für die Tatsache der Aktualisierung bliebe es sich gleich, ob das Objektiv durch eine Annahme oder durch ein Urteil erfaßt würde. Intensitätsverschiedenheiten der durch Annahme und Urteil ausgelösten Gefühlserregungen könnten allenfalls aus der Verschiedenheit des Annahme- und Urteilsaktes erklärt werden.

Dieser Auffassung kommt auch der Umstand zustatten, daß auf dem Gebiet des Vorstellens, insoweit dasselbe in Bezug auf das Gefühlsleben steht, ein analoges Verhältnis anzutreffen ist. Bekanntlich pflegen sich die Gefühle den Gegenständen nicht bloß dann zuzuwenden, wenn sie durch Wahrnehmungsvorstellungen erfaßt werden, sondern auch dann, wenn sie mittels Phantasievorstellungen gegeben sind. (11) Die Tatsache nun, daß der Wahrnehmungsvorstellung und der Phantasievorstellung des gleichen Gegenstandes in der Regel gleiche oder ähnliche Gefühle zugeordnet sind und daß den Vorstellungen der reproduktiven Phantasie eine Gefühlswirkung nur dann zukommt, wenn die Wahrnehmungsvorstellung vom gleichen Gegenstand gefühlserregend wirkt, läßt auf das Vorhandensein gemeinsamer Gefühlsdispositionen schließen, für welche einmal die Wahrnehmungsvorstellung, ein andermal die Phantasievorstellung als Dispositionserreger fungiert. Dieser Analogie kommt aber nicht allzuviel Beweiskraft zu, denn es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die psychologische Forschung einmal auf Tatsachen gerät, die die Aufstellung einer eigenen Klasse von Dispositionen für Gefühle, welche den Phantasievorstellungen zugeordnet sind, erheischt. Mag diese Möglichkeit eine noch so entfernte sein, die Einsicht in sie belehrt uns jedenfalls, daß aus dem Umstand, daß mit den Annahmen dort Phantasiegefühle auftreten, wo die Urteile von wirklichen Gefühlen begleitet wären, nicht unbedingt auf die Gemeinsamkeit der den Phantasiegefühlen und Urteilsgefühlen zugrunde liegenden Dispositionen geschlossen werden darf.

Die Frage, ob Phantasiegefühle und Urteilsgefühle auf gemeinschaftliche Dispositionen zurückgehen, kann nur so zur Entscheidung gebracht werden, daß Fälle aufgezeigt werden, in welchen sich Urteil und Annahme auf das gleiche Objektiv beziehen, die zugehörigen Gefühlsreaktionen sich aber nicht so gestalten, wie sie sich unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Gefühlsdisposition gestalten müßten. Gibt es Tatsachen dieser Art, dann werden wir ohne weiteres für die Phantasiegefühle eigene Dispositionen annehmen können. In dieser Beziehung sei nur folgendes angeführt. Das sich Hineindenken in vergangene Situationen trägt manchmal deutlich einen lust- oder unlustartigen Charakter an sich, obgleich wir aus Erfahrung wissen, daß eine neuerliche Verwirklichung des Gedachten (Angenommenen) keine Gefühle auszulösen vermöchte. Wer sich z. B. in die Vergnügungen der Jugendzeit im Geiste zurückversetzt, der erlebt etwas lustähnliches, auch wenn das, was ihm seinerzeit Lust verschaffte, längst seinen Reiz für ihn verloren hat. Das Bewußtsein, bestimmte Handlungen vollbringen zu sollen, ist gegenwärtig nicht mehr von Freude begleitet, obgleich dieselben Handlungen einstmals lusterregend wirkten und auch der Gedanke an sie freudig bewegte. Ja, es kann sogar der Fall eintreten, daß dieses Bewußtsein sich nicht nur nicht lustvoll, sondern geradezu unlustvoll gestaltet. Annahme und Urteil beziehen sich hier auf das gleiche Objektiv und doch ist die Gefühlswirkung beider gänzlich verschieden. Es gibt also Tatsachen, welche zeigen, daß die Phantasiegefühle aus anderen Dispositionen stammen als die Urteilsgefühle. Wir müssen demnach mit der Sonderstellung der Phantasiegefühlsdispositionen Ernst machen und für die Phantasiegefühle eigene Dispositionen in Anspruch nehmen.

Durch diese Auffassung gewinnt nun auch die oben angeführte Tatsache, daß den Annahmen dort Phantasiegefühle zugeordnet sind, woe die Urteile wirkliche Gefühle hervorrufen würden, eine andere Bedeutung. Aus dieser Tatsache ist nämlich jetzt zu folgern, daß der Bestand der Phantasiegefühlsdispositionen in gewissem Sinne von dem der Urteilsgefühlsdispositionen abhängig ist. Man müßte sich begnügen, zu konstatieren, daß zwischen den beiden Arten von Dispositionen überhaupt eine Abhängigkeitsbeziehung besteht, wenn nicht eine weitere Tatsache zur Verfügung stünde, die eine nähere Determinierung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den in Rede stehenden Dispositionen gestattete. Ich meine die Erfahrung, daß die Phantasiegefühle die Urteilsgefühle häufig überdauern und sogar noch auftreten, wo die letzteren längst erloschen sind. Zieht man diese Tatsache in Betracht, dann gelangt man zu dem Ergebnis, daß sich die Abhängigkeit der Phantasiegefühlsdispositionen von den Urteilsgefühlsdispositionen nur auf die Begründung der ersteren erstrecken kann: der Bestand von Dispositionen zu Urteilsgefühlen bildet die Voraussetzung der Entstehung der Phantasiegefühlsdispositionen.


§ 3. Die Eigenart der Phantasiegefühlsdispositionen

Durch die Feststellung, daß die Dispositionen zu Phantasiegefühlen mit den Dispositionen zu Urteilsgefühlen nicht kurzweg identische sind, ist noch keineswegs erwiesen, daß die Phantasiegefühle nicht wirkliche Gefühle, genauer Annahmegefühle sind. Es ist aber klar, daß, wenn die Phantasiegefühle wirkliche Gefühle sind, für sie auch gewisse Gesetzmäßigkeiten, welchen alle Gefühle ausnahmslos unterliegen, gelten müssen. Die nächsten Untersuchungen werden sich also in dieser Richtung bewegen müssen.

Unsere Gefühle zeigen sich im großen und ganzen ziemlich veränderlich und diese Veränderlichkeit findet zunächst einmal im Gesetz der Abstumpfung ihren Ausdruck. Die allumfassende Geltung dieses Gesetzes könnte vielleicht insofern in Zweifel gezogen werden, als es bekanntlich Fälle gibt, in welchen sich die Gefühle stets gleich zu bleiben scheinen oder wo eher eine Zunahme als ein Abnahme der Gefühlsstärke im Laufe der Zeit zu bemerken ist. Wenn man jedoch bedenkt, was Gefühlsabstumpfung im Grunde ist, so kann es nicht schwer fallen, das Vorkommen solcher Tatsachen mit dem Gesetz der Abstumpfung in Einklang zu bringen. Gefühlsabstumpfung ist Gefühlsdispositionsherabsetzung (Energieverbrauch). Aber nicht jede Gefühsdispositionsherabsetzung ist Gefühlsabstumpfung. Die durch das Auftreten von aktuellen Unlustgefühlen bewirkte Herabsetzung von Lustgefühlsdispositionen z. B. ist nicht Gefühlsabstumpfung. Nur jene Herabsetzung der Gefühlsdisposition ist als Gefühlsabstumpfung zu bezeichnen, die in der Natur der Disposition selbst ihren Grund hat. Aufgehalten wird die Herabsetzung der Gefühlsdisposition durch Faktoren, die im Sinne einer Verstärkung auf die Gefühlsdisposition wirken (Energiezufuhr). Wird der durch die Aktualisierung einer Gefühlsdisposition erzeugte Ausfall an Energie wieder gedeckt, so äußert sich das auf Seiten des Dispositionskorrelates durch eine Stetigkeit der Gefühlsintensität. Ist die Energiezunahme größer als der Energieverbrauch, so tritt das Gegenteil der Gefühlsdispositionsherabsetzung ein: Die Disposition erfährt eine Steigerung und die derselben entspringenden Gefühlsreaktionen zeigen eine Intensitätszunahme. So erklärt es sich z. B. auf einfache Weise, daß sich die Neigung, die einer Person entgegengebracht wird, mit der zunehmenden Erkenntnis der Vorzüge derselben vertieft. Das Gleichbleiben der Gefühle und die Steigerung der Intensität derselben bedeuten also nicht Ausnahmen vom Gesetz der Gefühlsabstumpfung: Sie sind nur Momente, die der Ausdruck dafür sind, daß Kräfte walten, welche den natürlichen Verfall der Gefühle oder eigentlich genauer der Gefühlsdispositionen aufhalten und ihn gelegentlich zu paralysieren vermögen.

Es fragt sich nun, wie sich die Phantasiegefühle zum Gesetz der Abstumpfung verhalten. Lassen sich an den Phantasiegefühlen solche Veränderungen wahrnehmen, aus welchen geschlossen werden muß, daß sie gleich den anderen Gefühlen unter das erwähnte Gesetz fallen? Die Frage kann durch eine Betrachtung empirischer Fälle entschieden werden. Wer sich z. B. in Lebensgefahr befindet und die Gefahr erkennt, der erlebt ein intensives Unlustgefühlt, dessen psychologische Voraussetzung das auf die Gefahr gerichtete Existenzialurteil ist. Der Betreffende kann nun in zweifacher Weise an den Sachverhalt, nachdem er in die Vergangenheit gerückt ist, herantreten. Er kann sich sagen: mein Leben war unter diesen oder jenen Umständen bedroht. In diesem Fall ist es ein Urteil, durch welches der Tatbestand erfaßt wird. Derjenige, der sich seinerzeit in Gefahr befunden hat, kann sich aber auch das Geschehene vergegenwärtigen, indem er sich im Geiste in die gefahrdrohende Situation hineinversetzt und die Ereignisse als sich gegenwärtig abspielende annimmt. Hier tritt dann, wie ersichtlich ist, an die Stelle des Urteils die Annahme. Im ersten Fall haben wir auf der emotionalen Seite ein Urteilsgefühl, im zweiten ein Phantasiegefühl zu verzeichnen. Jenes wird nach und nach schwächer und erlischt endlich gänzlich; dieses erhält sich dauernd. Das sich Hineindenken in die damalige Situation trägt immer ein unlustartiges Gepräge an sich, welches sich auch dann noch bemerken läßt, wenn das vorerwähnte Urteilsgefühl infolge der Abstumpfung längst erloschen ist. Ein weiteres gutes Beispiel, aus dem entnommen werden kann, daß die Phantasiegefühle unverändert bleiben, während sich die Urteilsgefühle abstumpfen, entlehne ich der WITASEKschen Darstellung. "Wer einen lieben Lebensgefährten," - sagt WITASEK, - "durch den Tod verloren hat, fühlt deutlich, wie schön es wäre, wenn er noch lebte." (12) Der lustartige Charakter des Gedankens, der Gefährte lebe noch, beruth jedenfalls auf einem Phantasiegefühl, das sich von der Trauer um den erlittenen Verlust, einem Urteilsgefühl, deutlich abhebt. Jeder weiß, daß auch die intensivste Trauer mit der Zeit einer ruhigen Stimmung Platz macht. Das Trauergefühl stumpft sich eben ab. Das gilt auch im vorliegenen Fall. Das Phantasiegefühl dagegen bleibt unverändert bestehen. Der Gedanke, der Gefährte lebe noch, behält seinen freundlichen Charakter auch dann bei, wenn die Trauer um den Verstorbenen bereits gebrochen ist.

In den beiden, eben erwähnten Fällen haben wir das Verhalten der Phantsiegefühle mit dem der Urteilsgefühle verglichen. Da es sich in diesem Zusammenhang aber um den allgemeinen Nachweis handelt, daß die Phantasiegefühle sich nicht so wie die Gefühle im eigentlichen Sinn des Wortes verändern, empfiehlt es sich, auch noch einen Vergleich zwischen Phantasiegefühl und Vorstellungsgefühl anzustellen. Denken wir uns etwa einen ästhetisch gebildeten Menschen, der aus irgendwelchen Anlässen genötigt wäre, ein und dasselbe Kunstwerk Tag für Tag zu betrachten und sich in dasselbe zu versenken. Es ist leich einzusehen, daß der Beschauer des Kunstwerkes in diesem Falle gar bald eine Beeinträchtigung des ästhetischen Genusses, des ästhetischen Gefühles bemerken würde. Zugleich würde derselbe aber auch noch wahrnehmen können, daß die emotionale Seite am Erfassen des im Kunstwerk veranschaulichten Gegenstandes sich stets unverändert zeigt. Das Hineindenken in das, was durch das Kunstwerk zum Ausdruck gebracht werden soll, ruft immer die gleiche emotionale Erscheinung, genauer ein Phantasiegefühl hervor, das im Gegensatz zum ästhetischen Gefühl keinerlei Veränderung aufweist. Auch aus diesem Beispiel erhellt sich deutlich die Disparität [Ungleichheit - wp] im Verhalten der Phantasiegefühle und der wirklichen Gefühle.

Die Phantasiegefühle unterscheiden sich also von den anderen Gefühlen durch das Merkmal der relativen Unveränderlichkeit. Nun war oben darauf hingewiesen worden, daß dort, wo sich wirkliche Gefühle längere Zeit hindurch unveränderlich erhalten, das Hereinwirken von Faktoren angenommen werden müsse, welche die Gefühlsdispositionen verstärken. Man könnte daher versuchen, die Unveränderlichkeit der Phantasiegefühle in der gleichen Weise zu erklären, wie das bei den eigentlichen Gefühlen geschehen ist. Zu diesem Zweck müßte man natürlich die Momente, welche verstärkend auf die den Phantasiegefühlen zugrunde liegenden Dispositionen einwirken, aufzeigen können. Und zwar müßte man annehmen, daß diejenigen Faktoren, die auf die Disposition der wirklichen Gefühle verstärkend einwirken, auch bei den Phantasiegefühlsdispositionen eine Kräftigung herbeizuführen vermögen. Dagegen läßt sich leicht zeigen, daß Tatsachen, die den Gefühlen neue Nahrung geben, auf die Gestaltung der Phantasiegefühle nicht den geringsten Einfluß nehmen. Die Trauer um einen Verstorbenen z. B. kann durch den Anblick einer Photographie desselben wieder intensiver werden. Aber das, was hier das Trauergefühl neu aufleben macht, was also die Gefühlsdisposition im Sinne einer Verstärkung beeinflußt, das ist in Ansehung des Phantasiegefühls, welches mit dem Gedanken an den Dahingeschiedenen als einen noch Lebenden verknüpft ist, vollständig wirkungslos. Der Anblick des Bildes mag der Anlaß zur Betätigung der Annahmefunktion in der gedachten Richtung sein; aber zum Phantasiegefühl trägt er nichts bei, was auf eine Verstärkung der Phantasiegefühlsdisposition hindeuten würde.

Vielleicht wird man sich auf die kurze Dauer der Phantasiegefühle berufen und behaupten, daß diese psychischen Erscheinungen nie lange genug andauern, um Abstumpfung nach sich ziehen können. Gegen diesen Versuch, sich die Unveränderlichkeit der Phantasiegefühle zu erklären, spricht vor allem die Tatsache, daß es auch eigentliche Gefühle gibt, die sich trotz kurzer Dauer abstumpfen und bei welchen die mit der Abstumpfung im Zusammenhang stehenden Veränderungen der Beobachtung keineswegs entgehen. Wenn also die Phantasiegefühle so wie die anderen Gefühle der Abstumpfung unterlägen, so müßten auch bei ihnen, obgleich sie nur von kurzer Dauer sind, die Folgen der Abstumpfung zutage treten. Weiter ist gegen den in Rede stehenden Einwand anzuführen, daß die kurze Dauer der Phantasiegefühle in Ansehung der Abstumpfung durch häufige Wiederholung ersetzt werden kann. An oftmals auftretenden Phantasiegefühlen müßten sich unbedingt die fraglichen Veränderungen zeigen. Allein das ist nicht der Fall. Man kann ein Phantasiegefühl, so oft man will erzeugen, ohne eine merkliche Veränderung an demselben wahrzunehmen. Das Merkmal der Unveränderlichkeit, das die Phantasiegefühle auszeichnet, deutet also entschieden daraufhin, daß die Phantasiegefühle nicht in der Art und Weise wie die wirklichen Gefühle dem Gesetz der Abstumpfung unterworfen sind.

Ein wichtiges Moment, durch welches auch Veränderungen der Gefühle herbeigeführt werden, liegt im Auftreten aktueller Gefühle, indem letztere die Gefühlsumgebung, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, mehr oder weniger in Mitleidenschaft ziehen. Aktuelle Gefühle beeinflussen je nach ihrer Intensität und Dauer andere Gefühlsreaktionen insofern, als sie den diesen zugeordneten Dispositionen Energie entziehen und so deren Aktualisierung erschweren, bzw. für längere oder kürzere Zeit unmöglich machen. Man vermag sich erfahrungsgemäß im Zustand tiefer Trauer über nichts zu freuen und umgekehrt pflegt man in frohen Stunden über Unangenehmes leichter hinweg zu kommen. (13)

Nach der Ansicht WITASEKs nehmen die Phantasiegefühle in dieser Beziehung keine Ausnahmestellung ein. Ihre Entstehung soll durch das Vorherrschen aktueller Gefühle gehemmt werden und sie sollen auch andere Gefühle zu beeinträchtigen vermögen. "Im Zustand ernstlicher, tiefer Unlust," - sagt WITASEK, - "ist man nur mit größter Anstrengung und ärgstem Widerwillen, ider Regel aber gar nicht imstande, ein lustvolles Phantasiegefühl zu aktualisieren; gelingt es aber doch einmal, so ist die wirkliche Unlust bereits gebrochen. Umgekehrt fällt es jedem schwer, sich in die Gemütslage eines Elenden und Traurigen zu versetzen, solange er sich im Zustand höchster freudiger Erregung oder ausgelassener Heiterkeit befindet und auch da tut es der Ernst-Lust Abbruch, wenn es trotzdem geschieht." (14) Es fragt sich nun, ob diese Auffassung WITASEKs richtig ist und die Phantasiegefühle und wirklichen Gefühle sich tatsächlich gegenseitig beeinflussen.

Die Phantasiegefühle haben mit anderen emotionalen Tatsachen das gemein, daß sie wie diese auf intellektuelle Vorgänge gestellt sind. Es ist daher einleuchtende, daß, wer ein Phantasiegefühl erzeugen will, die intellektuelle Grundlage ins Bewußtsein rufen muß und daß dort, wo die Aufnahmefunktion auf Hindernisse stößt, auch die Entstehung des zugehörigen Phantasiegefühles in Frage gestellt ist. Nun wird durch Erfahrungen im weitesten Umkreis bestätigt, daß Vorstellungen und Gedanken, welche von intensiven oder dauernden Gefühlen getragen werden, die Tendenz zu öfterem Auftauchen und längerem Beharren im Bewußtsein besitzen und durch andere Gedanken schwer verdrängt werden. (15) Aus diesem Grund ist es auch schwierig, sich im Zustand intensiver Lust oder Unlust in Situationen hineinzudenken, die zu den herrschenden Gefühlen in keiner Beziehung stehen. Ist aber das Annehmen gehemmt, so kann sich auch das Phantasiegefühl, das unter günstigeren Umständen auftreten würde, nicht entwickeln. Die Tatsache, daß es in intensiven Gefühlszuständen nicht oder nur schwer gelingt, ein Phantasiegefühl zu erzeugen, erklärt sich so auf einfache Weise. Wie man sieht, handelt es sich hier nicht um eine direkte Einwirkung aktueller Gefühle auf Phantasiegefühle, genauer um eine von den ersteren bewirkte Herabsetzung der diesen zugrundeliegenden Dispositionen, sondern um intellektuelle Vorgänge, von welchen das Auftreten der emotionalen Folgeerscheinungen abhängt. Also kann die Tatsache, daß es in Zuständen intensiven Fühlens erschwert oder überhaupt nicht möglich ist, Phantasiegefühle zu erzeugen, nicht als Argument zugunsten der These dienen, daß die Entstehung der Phantasiegefühle ebenso wie die anderer Gefühle durch den herrschenden Gefühlszustand verhindert wird und die Frage, ob ein Einfluß aktueller Gefühle auf Phantasiegefühle stattfindet, muß unabhängig von dieser Tatsache erwogen werden.

Wenn Gedanken und Vorstellungen, welche mit den herrschenden Gefühlszuständen in keinem Zusammenhang stehen, sich den Eintritt ins Bewußtsein erzwingen, so zeigt sich, daß die diesen Gedanken und Vorstellungen sonst zugeordneten Gefühlsregungen ausbleiben. (16) Anders steht die Sache dagegen bei den Phantasiegefühlen. Wenn sich die Annahme durchzuringen vermag, dann stellt sich auch das Phantasiegefühl trotz des herrschenden Gefühls ein. Belege für diese Behauptung sind leicht beigebracht. Wer sich z. B. über die Erreichung eines gesteckten Zieles freut und in froher Stimmung annimmt, er habe das Ziel nicht erreicht, der kann bemerken, daß diesem letzten Gedanken ein unlustartiger Charakter anhaftet, der sich auch den herrschenden Lustgefühlen gegenüber behauptet. Weiters ist aus dem oben angeführten Fall, daß jemand den Verlust eines Lebensgefährten betrauert und sich dabei denkt, wie es wäre, wenn der Verstorbene noch lebte, deutlich zu ersehen, daß sich das Phantasiegefühl unbeschadet der intensiven Trauer einstellt. Denn der Gedanke, der Freund lebe, trägt auch dann ein lustartiges Moment an sich, wenn er im Zustand tiefster Trauer ins Bewußtsein tritt.

Diese Beispiele zeigen, daß die Phantasiegefühle von den aktuellen Gefühlen nicht beeinflußt werden und vorhandene Gefühlszustände ihre Erzeugung nicht stören. Aber auch eine Einwirkung in der umgekehrten Richtung findet nicht statt. Die Phantasiegefühle beeinträchtigen in keiner Weise die wirklichen Gefühle und wenn sie während intensiver oder anhaltender Gefühlszustände auftreten, so ist die herrschende Unlust oder Lust keineswegs durchbrochen. Die Beobachtung zeigt vielmehr nur die Koexistenz der Phantasiegefühle und wirklichen Gefühle. (17) Die Trauer um den Verlust des Freundes wird durch die Annahme, daß er lebt, nicht gehindert. Und ebensowenig wird der Ärger eines Vaters über die Faulheit seines Sohnes durch die Annahme, daß der Sohn durch redliche Arbeit zu guten Erfolgen geführt werde, nicht gemildert. Endlich büßt derjenige, der sich des Gelingens seiner Bemühungen erfreut, an wirklicher Lust nichts ein, wenn er sich vorstellt, das Erstrebte nicht erreicht zu haben.

Nun gibt es auch Tatsachen, welche gegen den hier vertretenen Standpunkt zu sprechen scheinen, daß von den Phantasiegefühlen keine Einwirkung ausgehe, durch welche die wirklichen Gefühle berührt werden. Wo dies aber dennoch der Fall ist, führt eine genauere Analyse immer auf intellektuelle Vorgänge oder auf anderweitige Gefühlsfaktoren, auf deren Rechnung die Steigerung oder Beeinträchtigung der wirklichen Gefühlszustände zu setzen ist. Bekanntlich erfährt die Trauer, wenn man annimmt, das Unglück hätte nicht stattgefunden, eine Steigerung. Fürs erste möchte man hier wohl geneigt sein zu meinen, daß das aus dem Annahmeverfahren entspringende Phantasiegefühl das Trauergefühl verstärkt. Allein es zeigt sich, daß das die betreffende Annahme begleitende Phantasiegefühl keineswegs das Agens ist, das den Gefühlszuschuß bewirkt, Wenn wir nämlich annehmen, das Unglück hätte sich nicht zugetragen, so pflegen wir uns das Geschehene mit viel größerer Anschaulichkeit und Klarheit zu vergegenwärtigen, als das bei der Fällung des Urteils, das Unglück habe sich ereignet, der Fall ist. Die Phantasietätigkeit ist der Anlaß zu einer Wiederbelebung der Erinnerung an das unglückliche Ereignis und diese Auffrischung des Gedächtnisses hat dann eine Zunahme des Trauergefühls zur Folge. Die Verstärkung des Unlustgefühls beruth also auf einem intellektuellen Geschehen. Das letztere verursacht eine Steigerung des wirklichen Gefühls und nicht das Phantasiegefühl.

Was ferner die "anderweitigen Gefühlsfaktoren" anbelangt, welche hier in Betracht kommen, so sind in erster Linie darunter Urteilsgefühle gemeint. (18) Wer ein einträgliches Geschäft besitzt, wird, falls er sich in ungünstige Geschäftsverhältnisse hineindenkt, eine unlustartige Regung verspüren, kurz, ein Phantasiegefühl erleben. Wenn sich nun an dieses Annehmen aus irgendeinem Grund die Vermutung knüpft, daß der Rückgang des Geschäftes in absehbarer Zeit wirklich erfolgen werden, so knüpft sich an dieses Wahrscheinlichkeitsurteil begreiflicherweise ein wirkliches Unlustgefühl. Dieses aus der Reflexion über die Möglichkeit der Verwirklichung des Gedachten fließende Urteilsgefühls und nicht das Phantasiegefühl kann und wird die herrschende gute Stimmung beeinträchtigen und die Freude am Geschäftsbetrieb dämpfen. (19)

In zweiter Linie kommen dann die Gefühle in Betracht, die zum Annahmeakt im selben Verhältnis stehen, wie die sogenannten Wissensgefühle zum Urteilsakt. Diese letzteren Gefühle sind bekanntlich Urteilsgefühle, bei welchen der Urteilsakt für das Gefühl entscheidend ist. (20) Das Wissen als solches freut, der intellektuellen Betätigung selbst entspringt die Lust. Die Wissensgefühle bilden demnach eine spezielle Gruppe der Tätigkeitsgefühle, zu welchen alle Gefühle gehören, die unmittelbar mit der Ausübung physischer und psychischer Tätigkeit verbunden sind und die sich nicht dem Gegenstand der Tätigkeit zuwenden. Das Annehmen ist eine intellektuelle Tätigkeit und es ist nicht einzusehen, warum nicht auch dieser Art geistiger Betätigung Gefühle zukommen sollen. In der Tat gibt die Erfahrung auch die Beweise an die Hand, daß dem wirklich so ist. Im Bereich des Spiels und der Kunst ist der Entfaltung der Annahmefunktion vielseitige Gelegenheit gegeben. Und bekanntlich ist es häufig das Spiel überhaupt, gleichviel, welches es ist, das Freude macht. Aber auch die schöpferische Phantasie ist für den, der damit ausgestattet ist, eine unmittelbare Quelle der Lust, indem schon ihre Betätigung als solche, abgesehen von dem, was sie schafft, Genuß in sich birgt. (21)

Die Untersuchung hat also ergeben, daß die Phantasiegefühle weder andere Gefühle beeinträchtigen, noch eine von aktuellen Gefühlen ausgehende Einwirkung erfahren. Wären die Phantasiegefühle Annahmegefühle, also wirkliche Gefühle, so müßten einerseits ihre Dispositionen durch das Auftreten intensiver oder dauernder Gefühle in Mitleidenschaft gezogen werden und andererseits könnte auch ihre Existenz nicht spurlos an den Dispositionen zu wirklichen Gefühlen vorübergehen. Gerade die Tatsache, daß weder bei den Phantasiegefühlen, noch bei den wirklichen Gefühlen solche Veränderungen angetroffen werden, welche auf eine gegenseitig bewirkte Herabsetzung der betreffenden Dispositionen schließen lassen würden, kann nicht anders erklärt werden, als daß man eine besondere Beschaffenheit der Phantasiegefühlsdispositionen annimmt. Auch die oben nachgewiesene Tatsache, daß die Phantasiegefühle außerhalb des Gesetzes der Abstumpfung stehen, deutet darauf hin, daß die Dispositionen zu Phantasiegefühlen von denen zu wirklichen Gefühlen wesentlich verschieden sind. Emotionale Dispositionen aber, auf welche die Gesetze des Gefühlslebens keine Anwendung finden, sind überhaupt nicht mehr Gefühlsdispositionen und deren Leistungen nicht Gefühle, sondern eben Tatsachen sui generis [eigener Art - wp].
LITERATUR - Robert Saxinger, Über die Natur der Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband 2, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) ALEXIUS MEINONG, Über Annahmen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Ergänzungsband II, Leipzig 1902
    2) MEINONG, Über Annahmen, a. a. O. Seite 212f
    3) MEINONG, Über Annahmen, a. a. O. Seite 233f
    4) MEINONG, Über Annahmen, a. a. O. Seite 246f
    5) Vgl. B. GROETHUYSEN, Das Mitgefühl, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 34, Seite 245. - WITASEK, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Seite 107f
    6) MEINONG, Über Annahmen, a. a. O. Seite 236
    7) MEINONG, Über Annahmen, a. a. O. Seite 233 und 238
    8) STEPHAN WITASEK, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Seite 114
    9) WITASEK, a. a. O. Seite 113 - 119
    10) Vgl. WITASEK, a. a. O. Seite 112
    11) Vgl. WITASEK, a. a. O. Seite 196
    12) WITASEK, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Seite 113
    13) Vgl. meinen Aufsatz: Über den Einfluß der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 27, Seite 25
    14) WITASEK, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Seite 118 und 119, Anmerkung
    15) Vgl. meine oben angeführte Abhandlung, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 27, § 3
    16) Vgl. SAXINGER, Über den Einfluß der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung, § 2
    17) Über die Koexistenz der Gefühle findet sich einiges in meinem Aufsatz: Dispositionspsychologisches über Gefühlskomplexionen, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 30, Seite 399f
    18) Vg. WITASEK, Ästhetik, Seite 306f und 313f
    19) In solchen Fällen wird das Phantasiegefühl leicht übersehen. Für eine erste Orientierung über die Phantasiegefühle empfiehlt es sich daher, sich an Beispiele zu halten, in welchen die begleitenden Urteile und Gefühle fehlen, die Phantasiegefühle aber rein hervortreten und nicht erst durch eine Analyse herausgearbeitet werden müssen.
    20) MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894, Seite 36, § 12
    21) Vgl. hierzu WITASEK, Ästhetik, Seite 202. Nach WITASEK entbehrt aber der Akt der Annahme der gefühlsanregenden Kraft.