ra-1 Mauthner - messenAlexander BilimovicAugust Döring    
 
ERNST MALLY
Untersuchungen zur
Gegenstandstheorie des Messens

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"Auch das  Sein  irgendeines Gegenstandes ist ein  Gegenstand,  unabhängig davon, ob dieser Gegenstand und damit auch das Sein selbst  ist, d. h. tatsächlich  ist oder nicht."

Einleitung

§ 1. Der Begriff der Gegenstandstheorie des Messens

Auf den Namen der Theorie des Messens scheint zunächst die Lehre vom Messen Anspruch zu haben, also ein Wissenszweig, dessen Gegenstand das Messen wäre. Messen ist nun ein Bestimmen eines Gegenstandes hinsichtlich seiner Größe; es ist im wesentlichen ein  psychischer  Vorgang, auf eine  Erkenntnis  abzielend - darum ein Gegenstand  psychologischer  und  erkenntnistheoretischer  Forschung. So gewiß indessen Psychologie und Erkenntnistheorie am Ausbau einer vollständigen Lehre vom Messen beteiligt sind, so wenig sind sie  allein  imstande ihn zu leisten. Denn dem psychischen Vorgang des Messens und der durch ihn zu gewinnenden Erkenntnis steht noch zweierlei gegenüber, das nicht - oder doch nicht notwendig - psychisch und im besonderen kein Erkennen ist: das sind einerseits  die Gegenstände, die gemessen werden  und andererseits die  Tatsachen, die durch das Messen erkannt werden  oder doch erkannt werden sollen. Jene Gegenstände des Messens zu beschreiben und diese durch Messen zu erkennenden Tatsachen systematisch anzuführen und nach Möglichkeit zu erklären, ist die Aufgabe einer Disziplin, die sich als  Gegenstandstheorie des Messens  bezeichnen läßt.

Was durch Messen zunächst erfaßt werden soll, ist irgendeine Tatsache, z. B. daß  a = 2b  ist. Eine solche Tatsache bildet also den nächsten Gegenstand der Messung; nicht in dem Sinne natürlich, als ob sie gemessen würde, sondern als dasjenige, worauf die im Messen zu gewinnende Erkenntnis und damit auch der psychische Vorgang des Messens gerichtet ist, dessen Verlauf in eben dieser Erkenntnis seinen natürliche Abschluß findet. Eine solche durch Messen zu erfassende Tatsache heiße ein  Messungsobjektiv.  -

Jede Messung findet  an etwas  statt; dieses etwas, das gemessen wird, ist das Objekt des Messens oder Messungsobjekt. Auch ist dasjenige,  wodurch  eine Messung ihr Objekt bestimmt, (die Anzahl der Maßeinheiten) ein Objekt; es heiße  bestimmendes Objekt  im Messungsobjektiv. Faßt man die Messungsobjektive, die Messungsobjekte und die bestimmenden Objekte in Messungsobjektiven unter dem Namen der  Messungsgegenstände  zusammen, so ergibt sich für die hier in Angriff zu nehmende Theorie die Bestimmung: Gegenstandstheorie des Messens ist die Lehre von den Messungsgegenständen. Sie könnte also wohl auch Theorie der Messungsgegenstände heißen. Indessen habe ich für die gegenwärtige Arbeit einen Titel vorgezogen, der sie sofort als einen Beitrag zur  Gegenstandstheorie  erkennen läßt und sich so eine allgemeine Charakteristik der Natur und Methode dieser Untersuchung erübrigt.

Die Messungsgegenstände sind vorläufig  psychologisch  bestimmt worde, nämlich durch ihre Relation zum psychischen Vorgang des Messens. Damit ist festgelegt, wovon im folgenden gehandelt werden soll. Die Messungsgegenstände  gegenständlich  zu bestimmen, kann, soweit es möglich ist, nur  Ziel  einer gegenstandstheoretischen Untersuchung von der Art der vorliegenden sein. Bei dieser wesentlich gegenstandstheoretischen Aufgabenstellung sollen Probleme der Psychologie und der Erkenntnistheorie des Messens nicht prinzipiell vermieden, Hilfsmittel, die diese Wissenschaften bieten, wenn nötig, aufgesucht werden.


§ 2. Verhältnis der Gegenstandstheorie
des Messens zur Mathematik

Gemessen werden Gegenstände, die Größe haben. Solche Gegenstände werden wegen ihrer Eigenschaft, Größe zu haben wohl auch selbst "Größen" genannt. In diesem Sinne sind also die Objekte des Messens "Größen". Sie gehören daher in das Gebiet der Mathematik, die ja geradezu als "Wissenschaft von den Größen" definiert wird. Die Mathematik handelt aber nicht nur von den "Größen" selbst, sondern noch viel mehr von den Beziehungen zwischen "Größen", also von jener Klasse von Gegenständen, die oben mit dem Namen Messungsobjektive bezeichnet worden sind. So scheinen alle Messungsgegenstände schon in der Mathematik ihre theoretische Bearbeitung zu finden und es stellt sich das Bedürfnis nach reinlicher Scheidung zwischen dieser Wissenschaft und der Gegenstandstheorie des Messens heraus. - Eine solche Scheidung wird sich im Laufe der weiteren Untersuchung hoffentlich mit genügender Schärfe vollziehen lassen. Vorläufig soll nur gezeigt werden, daß Mathematik und Gegenstandstheorie des Messens verschiedene Wissenschaften sind und zwar ihrem Gegenstand nach und besonders nach der Behandlungsweise ihrer Gegenstände.

In der Mathematik werden Gegenstände, die Größe haben, fingiert, d. h. angenommen und dann jene Beziehungen zwischen ihnen untersucht, die sich aus der Größennatur und aus irgendwelchen weiteren Voraussetzungen über die Größenverhältnisse der angenommenen Objekte ergeben. Ein Objekt der  rechnenden  Mathematik kommt also  nur  seiner Größe nach oder nur als  Quantum  in Betracht. Von allen anderen Eigenschaften des Objektes wird abstrahiert; ja, auch die dem Quantum wesentliche Eigenschaft, seine  Größe,  bleibt ununtersucht. Es wird nicht gefragt,  was  denn die Größe sei und ob sie etwa in anderen Beschaffenheiten des Objekts ihren Grund habe; es genügt zu Beginn der mathematischen Untersuchung durch Angabe eines Kriteriums festzusetzen, was mit einer "Größe" oder einem Quantum gemeint ist, um weiterhin davon handeln zu können. Dem gegenüber verhält sich die Geometrie insofern anders, als sie einerseits nicht Quanta schlechthin, sondern  räumliche  Quanta und andererseits nicht nur räumliche  Quanta sondern auch  Gestalten  des Raumes betrachtet.

Während also die Mathematik, soweit sie tatsächlich "Größenlehre" ist, nur Quanta  schlechthin  und daneben nur noch Raumquanta zu Objekten hat, handelt die Gegenstandstheorie des Messens nicht nur von Quantis, sofern sie Quanta sind, d. h. nur ihrer Größe nach, - sondern von allen jenen Objekten, die zugleich Quanta sind, auch ihren anderen Eigenschaften nach. In der Mathematik werden die Objekte, seien es Quanta oder Raumgestalten, innerhalb gewisser Grenzen frei fingiert, um an ihnen gesetzmäßige Beziehungen zu betrachten. Diese müssen dann in gleicher Weise an  allen  Gegenständen bestehen, die - gleichviel wie sie sonst beschaffen sein mögen - nur die angenommenen Größen oder Gestalten aufweisen. Dagegen sucht die Gegenstandstheorie des Messens aus der Gesamtheit der Gegenstände - sie mögen übrigens sein oder nicht sein - jene hervorzuheben, die Größe haben. Sie untersucht, welche andere Eigenschaften etwa ein Gegenstand haben müsse, damit ihm Größe zukomme; sie fragt nach dem Wesen der Größe; sie macht schließlich jene Tatsachen, welche Mathematik als Objektive an ihren Objekten ermittelt hat, ihrerseits zum Gegenstand weiterer, allgemeiner Gedanken.

Die Theorie der Messungsgegenstände ist als ein Teil der Gegenstandstheorie ein Stück  Philosophie.  Dagegen ist Mathematik keine philosophische Disziplin. Das zeigt schon die Gegenüberstellung von Mathematik und Philosophie der Mathematik. Was nun die Mathematik aus der engeren Gruppe der philosophischen Wissenschaften, trotz unverkennbarer Ähnlichkeiten mit diesen, ausschließt, unterscheidet sicher auch die Mathematik von der Gegenstandstheorie des Messens. Gelegenheit, es nachzuweisen, wird sich im folgenden noch bieten.

Die Eigenart gegenstandstheoretischer Forschung bringt es mit sich, daß auch ein spezielleres Gebiet der Gegenstandstheorie nicht anders zu behandeln und darzustellen ist, als von den allgemeinsten zugänglichen Gesichtspunkten, daher unter Voraussetzung der wichtigsten Tatsachen der  allgemeinen Gegenstandstheorie.  Beim gegenwärtigen Stand dieser Wissenschaft erwuchs daraus für den Bearbeiter eines solchen Spezialgebietes die Aufgabe, das Erforderliche an allgemeiner Gegenstandstheorie von Grund auf auch  darzustellen,  da eine solche Darstellung zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit der Öffentlichkeit noch nicht vorgelegen hat. Dieser Aufgabe nach Kräften zu genügen, habe ich den messungstheoretischen Untersuchungen die  "allgemeinen Feststellungen"  des ersten Kapitels vorangeschickt.


I. Kapitel
Allgemeine Feststellungen

§ 3. Über Gegenstände im allgemeinen. Objekt und Objektiv.

Alles, was etwas ist, heißt ein Gegenstand.(1) - Das Gebiet der Gegenstände umfaßt also schlechthin alles, ohne Rücksicht darauf, ob es gedacht oder nicht gedacht oder ob es überhaupt denkbar ist. Insbesondere ist es auch nicht eine Bestimmung des Gegenstandes, daß er  ist,  also existiert oder besteht. Jeder Gegenstand ist  etwas,  aber nicht jedes Etwas  ist. 

Jeder Gegenstand  ist  entweder oder er  ist nicht.  Aber jeder Gegenstand ist  irgendwie beschaffen.  Es hat also jeder Gegenstand, gleichviel ob seiend oder nicht seiend, ein  Sosein. Das Sosein eines Gegenstandes ist unabhängig von dessen Sein.  - Ein allwissender Mensch z. B.  ist  allwissen, auch wenn er  nicht existiert;  die Gerade  ist  die Linie konstanter Richtung. (2) auch wenn sie  nicht existiert;  Gleichheit zwischen zwei Brüdern  ist  Gleichheit und irgendwie beschaffen, so daß sie sich von Verschiedenheit,  Ähnlichkeit  und allem anderen unterscheidet, auch wenn sie  nicht besteht. 

Das Sosein ist (wie jeder Gegenstand) ein Gegenstand, auch wenn es nicht besteht (d. h. ist). Diese Unabhängigkeit vom Sein hat es mit allen anderen gemein. Auch das  Sein  irgendeines Gegenstandes ist ein  Gegenstand,  unabhängig davon, ob dieser Gegenstand und damit auch das Sein selbst  ist, d. h. tatsächlich  ist oder nicht. Neben dieser allgemeinen Unabhängigkeit der Gegenstandsnatur oder des Gegenstandseins (Etwas-seins) vom Sein hat aber das Sosein noch die besondere Unabhängigkeit, daß es sein kann, obwohl sein Gegenstand nicht ist. Dadurch unterscheidet es sich wesentlich vom  Sein  eines Gegenstandes. Dieser Gegensatz zwischen Sein und Sosein läßt sich folgendermaßen formulieren: Das  Sein  eines Gegenstandes  ist,  wenn der Gegenstand  ist;  das  Sosein  eines Gegenstandes ist  in seinem Sein  vom  Sein  des Gegenstandes  unabhängig. 

Die Unabhängigkeitsbeziehung zwischen Sosein und Sein ist nicht rein umkehrbar:  Das Sein eines Gegenstandes ist von dessen Sosein nicht unabhängig.  Es genügt zum Erweis die Tatsache zu konstatieren, daß etwas eventuell nicht  sein  kann,  weil  es ein  Sosein  hat, das sein Sein ausschließt. Das ist bei jedem Gegenstand mit widersprechenden Bestimmungen der Fall. Das "runde Viereck"  ist nicht, weil  es rund und viereckig ist.

 Sein  und  Sosein  werden von MEINONG (3) als  Objektive  bezeichnet und allen anderen Gegenständen als  Objekten im engeren Sinne  gegenübergestellt. Jeder Gegenstand, der nicht Objektiv, d. h. Sein oder Sosein ist, ist also ein  Objekt im engeren Sinne.  Dagegen können alle Gegenstände überhaupt als  Objekte im weiteren Sinne  bezeichnet werden.

Ein Gegenstand, der  ist,  ist das Objekt seines Seins; ein Gegenstand, der nicht ist, das Objekt seines Nichtseins. (4) Ein Gegenstand, der irgendwie ist oder der  so ist,  ist das Objekt seines Sosein. - Als Objekti eines Seins oder eines Soseins kann auch ein  Objektiv  auftreten. Wenn z. B. das Sein des  A ist,  so ist das Sein des  A  das Objekt eines Seinsobjektivs. Wenn das Sosein des  A  ist oder besteht, so ist das Sosein des  A  das Objekt eines Seinsobjektives. Aber das Sein ist auch als Objekt eines (anderen) Objektives gleichwohl ein Sein, also ein Objektiv, ebenso das Sosein auch als Objekt eines (anderen) Objektives ein Sosein, also ein Objektiv. Ein Objektiv als Objekt eines anderen Objektives heiße ein  "Objektiv in Objektstellung."  (5)


§ 4. Arten des Soseins. Mögliche und unmögliche Gegenstände.

 Ein Sosein, dessen Bestand  (Sein)  das Sein seines Objektes ausschließt, heißt ein widersprechendes Sosein.  Aus der Bestimmung des widersprechenden Soseins ergibt sich, daß ein Gegenstand mit widersprechendem Sosein nicht sein kann. Ein solcher Gegenstand heiße ein  unmöglicher  Gegenstand. Ein unmöglicher Gegenstand ist z. B. ein rundes Viereck. Es kann nicht  sein, weil  es rund und viereckig ist; sein Sosein schließt also sein Sein aus, es ist widersprechend. Jeder Gegenstand, dessen Sosein sein Sein nicht ausschließt, kann sein; er heiße darum ein  möglicher Gegenstand. Möglich  sind also  alle  Gegenstände mit  nicht widersprechendem Sosein. 

Ein  Sosein  ist - wie irgendein anderer Gegenstand -  unmöglich,  wenn es ein Sosein hat, dessen Bestand sein Sein ausschließt (also wenn es ein widersprechendes Sosein hat). Ein widersprechendes Sosein eines Soseins ist: einen Gegenstand zu haben, der  nicht so ist.  So ist das Rundsein eines Viereckigen, d. h. eines Gegenstandes, der viereckig ist, ein unmögliches Sosein. Denn es hat seinerseits das  widersprechende  Sosein: das Rundsein von etwas zu sein, das  nicht  rund ist. Das Rundsein des Viereckigen ist, als ein  unmögliches  Sosein, vom Rund- und Viereckigsein des "runden Vierecks" wohl zu unterscheiden. Denn dieses letztere ist zwar ein  widersprechendes,  aber  kein unmögliches  Sosein. Unmöglich ist nur, daß ein Viereck rund sei, dagegen ist nicht unmöglich, sondern vielmehr  notwendig,  daß ein rundes Viereck rund und viereckig sei. - Mit dem  Sosein  des unmöglichen Gegenstandes dürfen ferner auch seine  Qualitäten  nicht verwechselt werden. (6) Am unmöglichen Gegenstand, der selbst nicht besteht, bestehen auch seine Qualitäten nicht. Es  besteht  zwar,  daß  das runde Viereck  rund  und viereckig ist (d. h. sein Sosein); allein die  Qualität der Kreisgestalt  und die  Qualität der Vierecksgestalt  besteht an diesem Gegenstand nicht und die Gesamtqualität des unmöglichen Gegenstandes, die man etwa "Viereckig-Rundheit" nennen könnte, besteht überhaupt nicht.


§ 5. Arten des Soseins. Reale und ideale Gegenstände.

Es gibt zwei charakteristisch verschiedene Arten des Seins, die von MEINONG unter den Bezeichnungen  "Existenz"  und  "Bestand"  auseinandergehalten werden. (7) Zu ihrer Unterscheidung lassen sich nicht direkte Merkmale anführen. Indessen sind sie dadurch indirekt gekennzeichnet, daß Existenz nur aposteriorischer Erkenntnis (durch Erfahrung), Bestand apriorischer Erkenntnis zugänglich ist. Nach der Art des Seins, dessen ein Gegenstand fähig ist, können die Gegenstände in  reale  und  ideale  eingeteilt werden.

Von den möglichen Gegenständen sind alle, die existieren können, real.  Real ist also alles, dessen Sosein seine  Existenz  nicht ausschließt. Daher zunächst  alles Wirkliche:  ein Haus, das existiert, ein Gefühl, das existiert, irgendein Vorgang, der sich  "wirklich"  ereignet. Real ist aber auch dasjenige Nichtwirkliche, das seiner Natur nach, d. h. seinem Sosein nach, existieren (oder wirklich sein) könnte: z. B. der "goldene Berg".

Von den möglichen Gegenständen sind alle, die nicht existieren können, ideal.  Ideale Gegenstände  bestehen  entweder oder  können  bestehen. Ideal ist also alles, dessen Sosein seine Existenz (nicht aber seinen Bestand) ausschließt. Das Möglichsein eines idealen Gegenstandes ist die Fähigkeit zu  bestehen.  - Verschiedenheit, Ähnlichkeit, die Tatsache, daß 3 + 2 = 5 ist, können ihrer Natur nach nicht existieren; aber Verschiedenheit und Ähnlichkeit  kann bestehen  und die Tatsache, daß 3 + 2 = 5 ist,  besteht  notwendig. Ebenso besteht notwendig Verschiedenheit zwischen Blau und Gründ, Ähnlichkeit zwischen denselben Gegenständen.

Die hier nur auf die möglichen Gegenstände eingeschränkten Bestimmungen der Realität und Idealität ließen sich mit geringen Modifikationen auch auf die  unmöglichen  ausdehnen. Da sich jedoch zu jeder, noch so allgemeinen Gesetzmäßigkeit immer eine unendliche Anzahl unmöglicher Gegenstände finden läßt, die sich ihr nicht fügen, scheint mir eine Einbeziehung der unmöglichen Gegenstände in ihrer Gesamtheit nur von geringem Wert zu sein.


§ 6. Momente am Soseinsobjektiv.
Sein als Bestimmung.
(8)

Das Soseinsobjektiv hat einen Gegenstand, den es bestimmt.  Der Gegenstand, den ein Soseinsobjektiv bestimmt, heiße sein Objekt oder sein Bestimmungsgegenstand. 

Jedes Soseinobjektiv bestimmt sein Objekt  durch einen Gegenstand,  welcher der  bestimmende Gegenstand  des Objektives heiße.

Das Sosein selbst kann auch als  Bestimmung  seines Objektes bezeichnet werden. - Im Soseinsobjektiv, das durch das Urteil oder die Annahme "dieses Ding ist ein Hebel" erfaßt wird, ist der als "dieses Ding" bezeichnete Gegenstand der Bestimmungsgegenstand, Hebel der bestimmende Gegenstand, das Hebelsein dieses "Dinges" seine Bestimmung. Im Soseinsobjektiv: "der Himmel ist blau", ist Himmel der Bestimmungsgegenstand, blau der bestimmende Gegenstand, das Blausein des Himmels seine Bestimmung.

Der bestimmende Gegenstand steht dem Sosein in charakteristisch anderer Weise gegenüber als der Bestimmungsgegenstand. Er befindet sich nicht in Objektsposition zum Sosein und kann darum auch nicht "Objekt" oder "Gegenstand"  des Soseins  genannt werden. Er macht vielmehr gleichsam einen Teil des Soseins aus und steht im Objektiv dem Bestimmungsgegenstand (oder dem Objekt des Objektivs) gegenüber. (9) Der bestimmende Gegenstand im Sosein kann darum, sofern er ein Objekt (d. h. kein Objektiv) ist, als ein  "Objekt in Objektivstellung"  bezeichnet werden und bildet so ein Gegenstück zum Objektiv, das als Gegenstand eines (anderen) Objektivs oben (10) "Objektiv in Objektstellung" genannt wurde.

Das Sosein (oder die Bestimmung) ist eine  Eigenschaft  des Gegenstandes, den es bestimmt.  Der durch sein Sosein bestimmte Gegenstand  heiße der  Eigenschaftsgegenstand  des Soseins. - Der Eigenschaftsgegenstand ist seinem Bestimmungsgegenstand gegenüber (relativ) bestimmt (er ist der Bestimmungsgegenstand  mit  der Eigenschaft des Soseins); der Bestimmungsgegenstand ist seinem Eigenschaftsgegenstand gegenüber (relativ) unbestimmt (ihm fehlt noch die Bestimmung des Soseins). Zum Beispiel: Dieses Ding ist ein Hebel. Das Hebelsein ist eine Eigenschaft dieses Dings.  Dieses Ding das ein Hebel ist,  ist der Eigenschaftsgegenstand der Bestimmung Hebelsein. Es ist gegenüber dem Gegenstand "dieses Ding" (relativ) bestimmt; das letztere, als der Bestimmungsgegenstand, ihm gegenüber (relativ) unbestimmt.

Bestimmungsgegenstand kann jeder Gegenstand sein, insbesondere auch ein Gegenstand, der Eigenschaftsgegenstand (eines anderen Soseins) ist. Ein  A,  das  B  ist, ist ein Eigenschaftsgegenstand. Derselbe Gegenstand kann nun Bestimmungsgegenstand in einem Soseinsobjektiv sein:  A,  das  B  ist, ist  C,  usw. ohne Ende. Da also der Eigenschaftsgegenstand eines Soseins außer der Bestimmung durch dieses Sosein (in dem eben charakterisierten Fall) noch mehrere Eigenschaften haben kann, so heiße die Bestimmung,  deren  Eigenschaftsgegenstand er ist, seine  Haupteigenschaft  (zum Unterschied von den übrigen Eigenschaften). Zum Beispiel: Dieses Ding, das ein Hebel ist, ist schwer. Das Schwersein ist Haupteigenschaft ihres Eigenschaftsgegenstandes: "hebelseiendes Ding, das schwer ist". Haupteigenschaft des Eigenschaftsgegenstandes "dieses Ding, das ein Hebel ist" ist dagegen das Hebelsein.

Eine Bestimmung, deren Bestimmungsgegenstand vollständig unbestimmt ist, heiße eine  reine Bestimmung.  (11)

Ein Eigenschaftsgegenstand, dessen Bestimmungsgegenstand vollständig unbestimmt ist, heiße ein  reiner  Eigenschaftsgegenstand.

Eine Bestimmung, deren Bestimmungsgegenstand ein irgendwie bestimmter Gegenstand (12) ist, heiße eine  determinierte Bestimmung.  Ihr Eigenschaftsgegenstand ist ein  determinierter Eigenschaftsgegenstand. 

Die Bestimmung eines reinen Eigenschaftsgegenstandes (die seine Haupteigenschaft ist) heiße (insbesondere) eine  Grundeigenschaft. 

Eine reine Bestimmung ist z. B.: "daß etwas  B  ist" oder das "B-sein von etwas" oder "B-sein" schlechthin. (13) Ein reiner Eigenschaftsgegenstand ist "etwas, das  B  ist", z. B. "etwas, das rot ist" oder "etwas Rotes". Determinierte Bestimmungen sind: "daß  A B  ist" oder das  B-sein  des  A",  z. B. "daß dieser Körper eine Kugel ist" oder das Rundsein dieses Körpers. Ein determinierter Eigenschaftsgegenstand ist: "A welches  B  ist", z. B. "dieser Körper, der eine Kugel ist."

Bestimmungsgegenstand, bestimmender Gegenstand und Eigenschaftsgegenstand sollen unter der Bezeichnung der "Momente am Seinsobjektiv" zusammengefaßt werden.

Auch das  Sein  kann Bestimmung eines Gegenstandes und insofern, im weitesten Sinnes des Wortes, eine  Eigenschaft  sein. Als Bestimmung des durch das Sein bestimmten  Eigenschaftsgegenstandes  ist es vom (tatsächlichen) Sein des  Bestimmungsgegenstandes  unabhängig. Durch das Objektiv "A ist" ist der Eigenschaftsgegenstand "A, welches ist" oder "seiendes A" gegeben. Wenn auch  A  (der Bestimmungsgegenstand) tatsächlich  nicht  ist, so ist doch tautologisch feststehend, daß das Sein des Eigenschaftsgegenstandes  "seiendes A" besteht.  Durch ein Urteil: "das seiene  A  ist" ist über das (tatsächliche) Sein oder Nichtsein von  A  (des Bestimmungsgegenstandes) ebensowenig geurteilt wie durch das hypothetische Urteil: "wenn  A  ist, so ist es". - Es besteht eine Analogie zwischen Sein und Sosein als Bestimmungen. Das Sein des nichtseienden  A  ist ein  unmögliches  Objektiv oder eine  unmögliche  Bestimmung wie das Rundsein des Nichtrunden oder des Viereckigen. Aber das "Sein und Nichtsein" des "A, welches ist und nicht ist"  besteht,  ebenso wie das "Rund- und Viereckigsein des "A, welches rund und viereckig ist." Eben  weil  das  A  ein seiendes und nichtseiendes  A ist,  ist es ein unmöglicher Gegenstand. Das Sein und Nichtsein des "A, welches ist und nicht ist" ist zwar eine  widersprechende,  aber keine unmögliche Bestimmung - so wie das Rund- und Viereckigsein des "runden Vierecks".

Es gilt demnach  allgemein  (für Seins- und Soseinsobjektive):  Die Bestimmung des Eigenschaftsgegenstandes besteht.  (14)  A,  welches ist, ist: das Sein des seienden  A  besteht;    B  ist ist  B:  das B-sein des B-seienden  A  besteht;  A,  welches ist und nicht ist, ist und ist nicht: das "Sein- und Nichtsein" des "A, welches ist und nicht ist" besteht;  A,  welches  B  und nicht-B ist,  ist B  und nicht-B: das "B- und nicht B-sein" des "A, welches  B  und nicht-B ist" besteht. Der Satz, daß die Bestimmung des Eigenschaftsgegenstandes besteht, ist  tautologisch. 

Ist die Bestimmung  widersprechend,  so ist der Eigenschaftsgegenstand  unmöglich;  seine Haupteigenschaft ist ein  unmögliches  Objektiv am  Bestimmungsgegenstand.  Ein "A, welches ist und nicht ist" ist unmöglich; seine Haupteigenschaft, "das es ist und nicht ist", ist ein unmögliches Objektiv am  Bestimmungsgegenstand A  (aber ein  bestehendes  am Eigenschaftsgegenstand "A, welches ist und nicht ist"). Für den Fall des Soseins gelten die analogen Beispiele. (15)

Von der Tatsache, daß auch eine  widersprechende  Bestimmung an ihrem Eigenschaftsgegenstand  besteht,  sein Sein aber ausschließt, da sie einem  bestehenden  Bestimmungsgegenstand gegenüber selbst ein  unmöglicher  Gegenstand ist, mach die Erkenntnis häufigen und wichtigen Gebrauch. In vielen Untersuchungen - z. B. in mathematischen, bei Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen - z. B. in mathematischen, bei Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen auf ihre "innere" Haltbarkeit, usw. - ist die Frage zu beantworten, ob ein Gegenstand, der gegebenen Bedingungen genügt, d. h. ein Eigenschaftsgegenstand von gegebener Haupteigenschaft, bestehe oder nicht. Der Widerspruch in der Bestimmung ist häufig nicht direkt erkennbar. In solchen Fällen wird von der gegebenen Haupteigenschaft des in Frage stehenden Gegenstandes auf andere, notwendig mitgegebene Bestimmungen, d. h. aus dem  Bestand  der ersteren auf den  Bestand  der letzteren geschlossen. Wird nun das Widersprechende (oder die Widerspruchslosigkeit) der Bestimmung evident, so ist auch die Unmöglichkeit (oder die Möglichkeit) des Eigenschaftsgegenstandes erwiesen. Ist andererseits von einem Gegenstand  A  bekannt, daß er  besteht  und es handelt sich darum, diesen Gegenstand (a priori) näher zu bestimmen (z. B. die Wurzeln einer Gleichung, von der es ihrer Natur nach mögliche Lösungen geben muß, nach ihrem Vorzeichen und dgl.), so geschieht dies häufig in folgender Form: "Wäre  A B,  so wäre  A  auch  C  usf. Dann wäre  A  auch  X;  wenn aber  A X  wäre, so wäre es unmöglich. Nun ist  A  möglich: also ist  A  nicht  B."  Die Bestimmung, daß  A  nicht  B  ist, genügt nun häufig (z. B. im oben herangezogenen Fall der Frage nach dem Vorzeichen einer Zahl). Oder es wird geschlossen: "Wäre  A  nicht  B,  so wäre es  M  ... Dann wäre es auch  Y;  wenn aber  A Y  wäre, so wäre es unmöglich usw.: also ist  A tatsächlich B."  Der "Irrealis" dieser hypothetischen Schlüsse drückt aus, daß dem gemeinten Gegenstand  A  die angenommenen Bestimmungen (B, bzw. nicht  B  zu sein) nicht tatsächlich (also urteilsweise) zugeschrieben werden. (16)  Gegenständlich  aber liegt die Tatsache vor, daß ein Eigenschaftsgegenstand  A  mit der Bestimmung  B,  (bzw. nicht  B)  zu sein, unmöglich, daher  nicht  der gemeinte bestehende Gegenstand  A  ist: an diesem bestehenden  A  ist die fragliche Bestimmung unmöglich, daher ihr kontradiktorisches Gegenteil notwendig. - Die Wichtigkeit des  "indirekten Beweises"  ist ein Zeugnis, daß die unmöglichen Gegenstände nicht nur für die Gegenstandstheorie, sondern auch für die Praxis der Erkenntnis von ganz bedeutendem Interesse sein können.
LITERATUR - Ernst Mally, Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des Messens in Alexius von Meinong (Hg), Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Die Bedeutung des Wortes "Gegenstand", die obiger Definition zugrundeliegt, ist auch von MEINONG (in seinem Erkenntnistheoriekolleg des Wintersemesters 1903/4) hervorgehoben worden.
    2) Vgl. ALOIS HÖFLER, Zur Analyse der Vorstellungen von Abstand und Richtung. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. X, Seite 230
    3) ALEXIUS MEINONG, Über Annahmen, Kapitel VII
    4) Das Nichtsein ist wie das Sein ein Seinsobjektiv.
    5) Wesentlich Übereinstimmendes in MEINONGs schon erwähntem Erkenntnistheoriekolleg.
    6) Näheres darüber in § 9. Vorläufig genügt zur Unterscheidung das Beispiel.
    7) Vgl. zu diesem § MEINONG, Über Gegenstände höherer Ordnung etc., Zeitschrift für Psychologie, Bd. XXI, insbesondere Seite 198f
    8) In diesem und den nächstfolgenden Paragraphen sollen einige allgemeine Gruppen von Gegenständen nach ihrem Wesen und nach ihren wichtigsteen Beziehungen charakterisiert werden. Mit Rücksicht auf diese Aufgabe und auf die wesentlichen Vereinfachungen, die sich aus ihrer allgemeinen Bearbeitung für die spätere Behandlung speziellerer Probleme ergeben, mag auch die Menge von definitorischen und termionologischen Festsetzungen in diesen Abschnitten entschuldigt werden.
    9) Im Objektiv "A ist B" steht das "ist B" (oder das B-sein) und darin auch das  B  dem  A  so gegenüber, wie im Seinsobjektiv "A ist" das "ist" (oder das Sein).
    10) § 3
    11) Der Bestimmungsgegenstand einer reinen Bestimmung ist selbst nicht Eigenschaftsgegenstand - und zwar, wie mir Rücksicht auf Festsetzungen in § 8 gleich bemerkt werden mag, weder expliziter, noch auch impliziter Eigenschaftsgegenstand.
    12) Also expliziter oder impliziter Eigenschaftsgegenstand (vgl. unten § 8).
    13) Ebenso auch "Sein von etwas" und "Sein" schlechthin. (vgl. weiter unten).
    14) Der oben, in § 3, bemerkte Gegensatz zwischen Sein und Sosein bezüglich der Abhängigkeit vom Sein des Gegenstandes besteht gleichwohl. Denn das  Sosein  eines unmöglichen, daher  nichtseienden  Gegenstandes  besteht;  das Sein eines unmöglichen oder  nichtseienden  Gegenstandes  besteht nicht,  denn es ist selbst unmöglich.
    15) Eine  Anwendung  dieser wohl leicht unfruchtbar erscheinenden Feststellungen wird sich später, z. B. in Kapitel V, § 29 ergeben.
    16) Vgl. MEINONG, Über Annahmen, § 20