ra-2F. LassalleMacchiavelliNietzscheI. Kornfeld    
 
FRIEDRICH von WIESER
Das Gesetz der Macht

"Wenn der Fürst durch die Waffe herrscht, so herrscht er über sie durch eine innere Macht, die er über die Träger der Waffen hat, diese innere Macht ist die Schlüsselmacht zu seiner äußeren Macht."

"Für alle im Sprachgebrauch ausgesagten Machterscheinungen trifft ohne Ausnahme und auf das genaueste die Deutung zu, die &Spinoza gibt, wenn er die Macht als Herrschaft über das menschliche Gemüt definiert. Die Naturkraft wird zur Naturmacht, wenn ihre Wirkungen unser Gemüt durch ihre Fruchtbarkeit oder ihre Zauber mit Schrecken oder mit Bewunderung erfüllen; die Macht, die ein Freund über den andern, die ein Liebender über die Geliebte gewinnt, geht durch das Medium des Gemüts, und ebenso bedeutet gesellschaftliche Macht die Herrschaft über die Gemüter in der Gesellschaft."

"Die Entscheidungen der äußeren Macht sind alle ohne Ausnahme von inneren Mächten getragen, mögen diese auch, im Hintergrund wirkend, der Beobachtung der Menge entzogen sein und sich nur dem Blick des großen Führers oder späterhin dem rückblickenden Auge des Forschers erschließen. Im letzten Grund kommt es jedoch immer auf die Wirkung im Gemüt an, die unwägbar ist, auch wenn sie überwältigend ist. Die letzten Träger der äußeren Mächte sind immer irgendwelche innere Schlüsselmächte, die den gesicherten Zugang zu ihrem Besitz eröffnen."


Erster Teil
Allgemeiner Aufbau von
Macht und Gesellschaft


I. Äußere und innere Macht

1. Das Gesetz der kleinen Zahl als
innerstes Problem der Macht

Bis ins 18. Jahrhundert hat sich die Kraft fast aller Völker des modernen Europa willig dem Gesetz gefüg, das ihnen eine kleine Zahl von Adelsgeschlechtern oder gar ein fürstlicher Alleinherrscher gab. Der eine oder die wenigen herrschten über die vielen, so gut wie unbestritten galt das Gesetz der kleinen Zahl. In der Antike ist es nicht anders gewesen. Im Orient war das Gesetz der kleinen Zahl fast überall bis zur Sklaverei herabgedrückte Masse dem Gebot ihrer Herren. Sind Griechen und Römer während gewisser Perioden ihrer Geschichte in sich selber auch frei gewesen, so hat sich gerade durch sie das Gesetz der kleinen Zahl umso strenger in den Herrschaften erfüllt, die sie ausbreiteten. Die kleine Zahl der Römer gab einer Welt das Gesetz.

Das Gesetz der kleinen Zahl ist das merkwürdigste Problem, das uns die Geschichte zur Lösung stellt. Es teilt das Schicksal aller großen Probleme, daß man es die längste Zeit gar nicht als Problem empfunden hat. Es war den Menschen durch Jahrtausende hindurch so selbstverständlich, sich dem Gesetz der kleinen Zahl zu beugen, vor dem es kein Entrinnen gab, daß sie sich gar nicht fragten, wie es denn sein kann, daß die kleine Zahl das Übergewicht über die große Menge hat. Als dann schließlich der Gedanke der Volkssouveränität aufkam, gab man sich im so leidenschaftlich hin, daß man erst recht nicht fragte, warum er nicht schon immer gegolten hat. "Das Volk hat geschlafen, aber nun ist es erwacht und von nun an wird die Macht bei den vielen bleiben", mit dieser Formel, die ihr von den Rednern des Tages vorgetragen wurde, gab sich die öffentliche Meinung zufrieden.

Für die proletarischen Denker hat der Gedanke der Volkssouveränität, der ursprünglich von den Denkern des Bürgertums verkündet worden war, eine erhöhte Bedeutung gewonnen, denn  sie  erst fühlten sich als die wahren Vertreter der Masse des Volkes. Dennoch würde man es vergebens erwarten, von ihnen über den Sinn des Gesetzes der kleinen Zahl eine Aufklärung zu erhalten, denn ihnen mßte es ja vor allem daran gelegen sein, gar keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß das Volk allein zur Macht berufen ist. Auf dieses Ziel waren die eindringlichen Untersuchungen gerichtet, die sie über die Macht antstellten. Eine solche Untersuchung, realpolitisch auf die Gegenwart berechnet, ist die Rede "Über Verfassungswesen", mitder LASSALLE seine Agitation eröffnete, der er ebensogut den Titel "Über das Wesen der Macht" hätte geben können; eine solche Untersuchung, auf den geschichtlichen Werdegang der Macht eingestellt, ist MARXens Lehre von der materialistischen Geschichtsauffassung. Aller Reichtum und Glanz dieser Darstellungen darf uns jedoch nicht darüber täuschen, daß in ihnen ein unerklärter Rest übrigbleibt, ein Rest, der geradezu das Wesentliche des Machtproblems betrifft.

LASALLE nennt am Beginn seiner Rede den König in Preußen als eine der realen Mächte. Damit rührt er an das Problem der kleinen Zahl, aber er geht daran vorbei, ohne sich in Gedanken darüber einzulassen. Umso ausführlicher verweilt er bei der realen Macht der Armee. Während er die geschriebene Verfassung Preußens "das Blatt Papier" nennt, bezeichnet er die Kanonen als "jene so wichtigen Verfassungsgrundlagen", was in seinem Sinne so viel sagen will, wie ein wesentliches Stück realer Macht. Er klagt die Demokratie auf das heftigste an, daß man im Jahre 1848 seine Zeit damit verloren hat, sich über eine Verfassung zu beraten, statt sich der Kanonen zu bemächtigen. Man hätte dies nicht ohne weiteres tun können, denn man hätte es zuerst mit den Kanonieren zu tun bekommen, und diese waren damals gut königlich gesinnt. Für das Volk ist die Zeit, sich der Kanonen zu bemächtigen, erst 70 Jahre später gekommen, als der preußische König nach dem Zusammenbruch aufgehört hatte, eine reale Macht zu sein. Wenn der Fürst durch die Waffe herrscht, so herrscht er über sie durch eine innere Macht, die er über die Träger der Waffen hat, diese innere Macht ist die  Schlüsselmacht zu seiner äußeren Macht. Uns über diese Schlüsselmacht  Aufklärung zu geben, hat LASSALLE gar nicht versucht. Er hat uns daher das Wesen der Macht nicht erklärt, ja er ist nicht einmal so weit gelangt, daß er das innerste Problem der Macht auch nur aufgestellt hätte.

Auch MARX in seiner materialistischen Geschichtsauffassung ist nicht so weit gelangt. Wir werden MARX beistimmen, wenn er sagt, daß in den Jahrhunderten, die der Besiedlung des Landes folgten, der Grundbesitz der entscheidende Besitz war, und wir werden ihm ebenso darin beistimmen, daß in der Zeit der großen industriellen Entwicklung der Kapitalbesitz entscheidend wurde; wenn er aber dann behauptet, daß in er ersteren Periode Fürst, Adel und Geistlichkeit mächtig sein mußten, weil sie über den Grundbesitz verfügten, und daß sodann die Unternehmer mächtig sein mußten, weil sie über das Kapital verfügten, so können wir ihm nicht mehr folgen, denn er hätte uns erst klarmachen müssen, was klarzumachen er gar nicht versucht, wie es kommen konnte, daß sich der entscheidende Besitz von Land und Kapital nicht immer in der Hand der großen Masse befunden hat. Was der kleinen Zahl die  Schlüsselmacht  gesichert hat, durch die sie über den entscheidenden Besitz verfügen konnte? Darauf kommt es an.


2. Der Sprachbegriff der Macht

LASSALLE und MARX konnten sich, ebenso wie zu ihrer Zeit die Denker der bürgerlichen Freiheitsbewegung, dem Problem der Macht nicht nähern, weil ihnen ein klarer Begriff der Macht fehlte. Sie alle standen im Bann des gemeinen Sprachgebrauchs, in welchem der Gedanke der äußeren Macht voransteht, wie diese durch die große Zahl, durch Waffen oder Reichtum erworben wird. Und doch hätte der Sprachgebrauch eines Besseren belehren können. Denn im  Wort "Macht"  wenn man ihm auf den Grund geht, ist  der tiefste Sinn  der Machterscheinung beschlossen, der die innere Macht mitumfaßt. Das ist der unschätzbare Vorteil, den alle Wissenschaft vom inneren Erleben des Menschen vor den Naturwissenschaften voraus hat, daß für sie der Sprachgebrauch, wenn er nur recht gedeutet wird, er untrügliche Weiser bis in die letzte Tiefe der Erscheinung ist. Die in der Volkssprache niedergelegte Naturbeobachtung ist die Beobachtung des Laien, die von der Naturwissenschaft weit überholt ist; deshalb vermeidet es der methodisch geschulte Naturforscher mit Recht, dem Sinn der Worte der Volkssprache nachzugrübeln, für welche die Sonne immer noch auf- und untergeht; ERNST MACH, der ausgezeichnete Methodiker der Physik, will selbst den Sprachbegriff der  Kraft  nicht mehr gelten lassen. Im Hinblick auf die inneren Erlebnisse des Menschen ist dagegen das Volk mit seinen Aussagen nicht Laie, seine Aussagen sind  Kronzeugnisse,  als die Aussagen derjenigen, die dabei gewesen sind. Der strengste gesellschaftliche Denker wird den Sprachbegriff der Macht gelten lassen müssen, er wird ihn nicht nur gelten lassen müssen, sondern er wird erst seinen Sinn ganz auszuschöpfen haben, bevor er sich der Machterscheinung zuwenden kann, deren Umfang und Gehalt ihm der Sprachbegriff aufschließt.

Wie alle Urwörter der Sprache, die sich auf menschliche Dinge beziehen, hat auch das Wort  Macht  einen schillernden, verwirrenden Reichtum an Sinn. Man versteht es, wenn MAX WEBER den Machtbegriff  amorph  nennt. Was wird nicht alles an äußerer und innerer Macht ausgesagt und von welchen verschiedenartigsten Trägern wird es nicht ausgesagt! Die Träger der äußeren Macht sind meist Personen, entweder Einzelpersonen oder Personengruppen, wie der Fürst, die Adelsgeschlechter, das Volk und seine Parteien, der Staat; innere Macht wird nur in selteneren Fällen auf bestimmte Personen bezogen, wie es z. B. geschieht, wenn man dem großen Religionsstifter oder der Kirche Macht zuerkennt, in aller Regel wird sie als unpersönliche, als anonyme Macht ausgesagt, als eine Macht, die da ist, ohne daß sie bestimmten Personen zuerkannt werden könnte. So verhält es sich bei der Rechtsmacht oder der sittlichen Macht oder bei den Ideen, Strömungen und Bewegungen, denen Macht zugesprochen wird. Diese unpersönliche Art der Aussage darf uns nicht irremachen, alle diese anonymen Mächte haben doch immer ihre persönlichen Träger. Könnte Rechtsmacht oder sittliche Macht bestehen, ohne rechtlich oder sittlich fühlende Menschen? Damit die Ideen Macht haben, müssen immer Menschen in Bewegung sein, die sich ihnen begierig hingeben. Bei allen diesen anonymen Mächten ist jedoch die Zahl derer, die sie tragen, so groß, daß sie nicht mehr zu übersehen ist, und auf jeden einzelnen von den vielen entfällt ein so geringer Anteil an Macht, daß man ihn nicht als Machthaber zählen kann, und darum läßt man dort, wo man anonyme Mächte auszusagen hat, ihre persönlichen Träger fallen, während man die inneren Kräfte, durch welche die Wirkung ausgeübt wird, als ihre Träger nennt. Der gleichen Metonymie [Namensvertauschung - wp] bedient man sich übrigens auch bei den äußeren Mächten, wenn man z. B. von der Macht der Waffen oder des Reichtums spricht, die doch nicht selber Macht in sich haben, sondern nur die Machtmittel, die Werkzeuge sind, durch welche die persönlichen Träger ihre Macht haben. Wenn schließlich der Sprachgebrauch auch noch die Wendung zuläßt, daß jemand oder daß etwas eine Macht  ist,  wenn man z. B. vom Staat sagt, daß er eine Macht, eine Großmacht, ein Weltmacht  ist,  so betrifft diese Wendung nur die Form der Aussage; der Zustand, der ausgesagt wird, ist immer der gleiche. Der Staat  ist  eine Macht, weil er so ist, daß er Macht  hat. 

Für alle im Sprachgebrauch ausgesagten Machterscheinungen trifft ohne Ausnahme und auf das genaueste die Deutung zu, die SPINOZA gibt, wenn er die Macht als  Herrschaft über das menschliche Gemüt  definiert. Die Naturkraft wird zur Naturmacht, wenn ihre Wirkungen unser Gemüt durch ihre Fruchtbarkeit oder ihre Zauber mit Schrecken oder mit Bewunderung erfüllen; die Macht, die ein Freund über den andern, die ein Liebender über die Geliebte gewinnt, geht durch das Medium des Gemüts, und ebenso bedeutet  gesellschaftliche Macht  - um die es uns bei unserer Untersuchung zu tun ist -  die Herrschaft über die Gemüter in der Gesellschaft.  Bei der inneren Macht ist diese Beziehung auf das Gemüt, auf das seelische Fühlen und Wollen von vornherein klar; die Rechtsmacht und die sittliche Macht, die Macht des Glaubens, des Wissens, der Ideen und geistigen Bewegungen aller Art und nicht anders die Macht der Gewohnheit und selbst die der äußeren Sitte beruhen auf Eindrücken, die im Gemüt wirken. Gilt dasselbe aber nicht auch für jegliche Bildung äußerer Macht? In ihrem nächsten Sinn scheint äußere Macht nichts anderes besagen zu wollen, als die Verfügung über die äußeren Machtmittel, über die großen Massen, die Waffen oder den Reichtum - alle diese Machtmittel sollen aber auf die eine oder die andere Weise im letzten Ziel die Menschen, auf die sie gerichtet sind, unterwerfen oder irgendwie abhängig machen und also Herrschaft über die Gemüter geben; die großen Massen, über die man gebietet, sollen es durch den überwältigenden Eindruck ihrer Menge, die Waffen sollen es durch Furcht und Schrecken, die sie verbreiten, der Reichtum soll es durch die Genüsse, die er in Aussicht stellt, oder durch den Druck, den er auf den Konkurrenten ausübt, dessen Absatz er bedroht, oder den er auf den Arbeiter ausübt, welchem er die Mittel zur Arbeit bietet oder verweigert. Immer ist also äußere Macht eine Verfügung über äußere Machtmittel mit dem Ziel der Herrschaft über die Gemüter, oder wie wir besser zu sagen haben,  äußere Macht ist Herrschaft über die Gemüter  durch die  Verfügung,  die man über äußere Machtmittel besitzt. Sie ist daher ganz und gar vom  gleichen Wesen mit der inneren Macht,  von der sie sich nur durch die Mittel unterscheidet, die sie gebraucht.


3. Äußere und innere Machtaggregate

Wir dürfen uns auch durch die Bestimmtheit nicht irremachen lassen, mit welcher der Sprachgebrauch die äußere Macht hervorhebt. Wenn man von  Macht  spricht, ohne sie durch einen Zusatz als innere Macht zu erkennen zu lassen, so ist immer äußere Macht gemeint. Äußere Macht ist Macht schlechthin, Übermacht ist überlegene äußere Macht, der Machthaber, der Mächtige ist derjenige, der über äußere Macht verfügt; wird doch die äußere Macht oft geradezu als die entscheidende Macht ausgesagt: "Macht geht vor Recht". Ist damit das Kronzeugnis des Sprachgebrauchs nicht eindeutig zugunsten der äußeren Macht abgelegt? Wenn wir aber alles überlegen, so müssen wir doch erkennen, daß der Sprachgebrauch auch die innere Macht, überall wo er sie aussagt, als  echte  Macht gelten läßt. Wenn der Dichter die Macht des Gewissens aufruft, die innerste Macht, die es gibt, so spricht er nicht im Gleichnis, SHAKESPEARE zeigt uns  Richard III.  in der Wirklichkeit seiner Verzweiflung, die sein Gemüt überwältigt. Daß der Sprachgebrauch der äußeren Macht den Vorrang gibt, erklärt sich zur Genüge daraus, daß sie mit sinnlich wahrnehmbaren Mitteln wirkt, die sich der Beobachtung am deutlichsten darbieten, und daß ihre Entscheidungen, ihre Siege und Niederlagen in ihrer nächsten Wirkung unbestreitbar sind. Die große Masse beugt sich ihnen in stummer Ergebung und selbst das tapfere Herz mag durch sie erschüttert werden, während dagegen die innere Macht oft und oft, namentlich in ihren fast unbemerkbaren ersten Regungen, nur mit leisen Schlägen arbeitet und auch ihre Siege oft und oft so ganz allmählich gewinnt, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit kaum recht zu Bewußtsein kommt. Schließlich sind doch die in die Sinne fallenden Entscheidungen der äußeren Macht alle ohne Ausnahme von inneren Mächten getragen, mögen diese auch, im Hintergrund wirkend, der Beobachtung der Menge entzogen sein und sich nur dem Blick des großen Führers oder späterhin dem rückblickenden Auge des Forschers erschließen. Es ist heute eine beliebte Redensart geworden, von der Rücksicht zu sprechen, die der gewandte Politiker auf die besondere Mentalität seines Gegners zu nehmen weiß, und den Staatsmann zu rühmen, der auch für die Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] Fühlung hat, im letzten Grund kommt es jedoch immer auf Mentalität und Imponderabilien an, denn es kommt immer auf die Wirkung im Gemüt an, die unwägbar ist, auch wenn sie überwältigend ist. Die  letzten Träger der äußeren Mächte  sind immer  irgendwelche innere Schlüsselmächte,  die den gesicherten Zugang zu ihrem Besitz eröffnen. Der äußere Machtverband des Staates, den das Siegervolk auf dem Rücken der unterworfenen Millionen aufrichtet, setzt, um aufrecht bestehen zu können, einen überlegenen inneren Machtverband des Siegervolkes selber voraus, der den festen Kern des Staates bildet; das weite, äußere Machtaggregat der unterworfenen Völker, das durch Furcht und Schrecken zusammengehalten ist, setzt das  innere Machtaggregat des Siegervolkes  voraus, das durch sein Volksgefühl geeinigt ist. Es ist noch eine ganz rohe innere Macht. Sobald im Siegervolk keine Zusammengehörigkeit mehr besteht, so zerfällt das innere Machtaggregat und mit ihm geht auch das darüber aufgebaute äußere Machtaggregat in Brüche.

Bei den zu dauernder Herrschaft begabten Siegervölkern verfeinert sich im Laufe der Entwicklung die rohe innere Macht, mit der sie ihre Laufbahn beginnen. Die Erfahrung des Kampfes sagt ihnen, daß sie ihre Siege mehren und sichern, wenn sie sich bei ungebrochenem Mannessinn dem Befehl der erfolgreichen Führer unterordnen, und sie sagt wohl auch dem führenden Adel, daß er am besten tut, sich dem gewaltigen Kriegsfürsten unterzuordnen, der Sieg auf Sieg häuft. Am Ende geht die Entwicklung dahin, daß ein aufgeklärtes fürstliches Regiment auch das äußere Machtaggregat der Unterworfenen mit innerer Macht durchdringt und bindet, indem es die Untertanen zu Bürgern wandelt. So entstand die reale Macht des Königs in Preußen, von der LASSALLE spricht. Sie war nach außen, den fremden Staaten gegenüber, auf die Furcht der Waffen gegründet, nach innen, dem Volk gegenüber, auf Ehrfurcht und Vertrauen, wie dies BISMARCK in seine "Gedanken und Erinnerungen" so treffend darlegt. Der "Rocher de bronce" [eherne Fels - wp], auf den die Hohenzollern pochten, war wie der Fels, auf den CHRISTUS sie Kirche baute, ein Aggregat innerer Macht. Er war minder fest wie der kirchliche Bau, der heute noch steht; mit der Macht des preußischen Königs war es vorüber, sobald die Masse des Volkes dem obersten Kriegsherrn, der im Weltkrieg versagt hatt, nicht mehr Ehrfurcht und Vertrauen entgegenbringen konnte.


4. Die Aufgabe der
Geschichtsschreibung

Die Geschichtsschreibung hat damit begonnen, daß sie von Siegen und Niederlagen des eigenen Volkes und dann auch der fremden Völker erzählte, von denen man Kunde hatte, und daß sie im Zusammenhang damit vom Aufbau und Niederbruch der Staaten erzählte und von den Königen, Feldherrn und Staatsmännern, die bei diesen Ereignissen die Führer der Völker gewesen waren. Die Geschichte dieses Sinnes ist die Geschichte der auffälligsten von den äußeren Mächten, nämlich der Kriegsmächte und der Staatsmächte. Später hat man auch der wirtschaftlichen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit zugewendet, da man die Bedeutung erkannte, welche die wirtschaftlichen Volkskräfte für den Sieg im Krieg und für das Gedeihen des Staates besitzen; allerdings ist man nich so weit gekommen, daß man es vermocht hätte, die geschichtliche Entfaltung der Wirtschaftsmächte deutlich zu erkennen und in einen festen Zusammenhang mit der Staatsgeschichte zu bringen. Auch in das Gebiet der inneren Mächte ist man sodann eingedrungen, wo man die kirchliche Macht als Gegenmacht des Staates in die Darstellung aufzunehmen sich gezwungen sah. Bei der geschichtlichen Erzählung blieben die beteiligten Massen meistens im Hintergrund, alles Licht fiel auf die großen Führer. Das Studium und die Darstellung ihrer Charaktere war eine Aufgabe, an der sich die Kunst des Geschichtsschreibers besonders gern versuchte.

Es ist noch nicht lange her, daß man es müde wurde, von Kriegen, Kriegsfürsten und Feldherrn zu berichten, und sich mehr und mehr der Entwicklung von Zivilisation und Kultur zuwandte, indem man diese entweder mit der äußeren Staatsgeschichte verband oder geradezu für sich behandelte. Es möge mir Verfasser gestattet sein, daß ich in aller Kürze der Meinung Ausdruck gebe, daß die Geschichtsschreibung trotz dieser Wendung noch immer nicht zur vollen Erfassung ihrer Aufgabe fortgeschritten ist. Gerade das Wichtigste über die inneren Mächte hat uns die Geschichtsschreibung noch nicht gesagt, die uns anstelle der alten militärpolitischen Staatengeschichte innerhalb ihres Rahmens über die innere Macht nicht mehr zu sagen wüßte, als wir sonst in Geschichtswerken über die schönen Künste, über Religion, Dichtung und Wissenschaft zu lesen bekommen. Eine solche Geschichtsschreibung hat uns noch durchaus nicht darüber belehrt, in welchem Maß die inneren Mächte zum  Aufbau  der menschlichen Gesellschaft beitragen. Wissenschaft und Kunst erschöpfen ihre gesellschaftliche Wirkung nicht darin, daß sie unser Leben schmücken, sie festigen es auch, und mehr noch als  sie  tun dies die inneren Mächte des Glaubens und der Sittlichkeit. Während die äußeren Mächte die äußeren Machtaggregate aufbauen, bauen die inneren Mächte als deren Schlüsselmächte die inneren Machtaggregate auf, die der tiefste Halt aller Gesellschaft sind. Die Geschichtsschreibung darf ihr Werk nicht als beendete ansehen, bevor es ihr nicht gelungen ist, uns zu erzählen, wie der gesellschaftliche Aufbau sich im allmählichen Werden durch die  Wechselwirkung von äußeren und inneren Mächten  bis zur heutigen Höhe aufgerichtet hat.

Die Geschichtsschreibung setzt sich jedenfalls ins Unrecht, wenn sie überhaupt aufhören will, von Schlachten und Siegen zu berichten, selbst wenn durch diese die Kulturvölker sich der vernichtenden Angriffe ihrer barbarischen Gegner erwehrten. Die Perserkriege darzustellen, hat nicht nur lokalpatriotisches Interesse für den griechischen Erzähler gehabt, denn diese Kriege bezeichnen eine der großen Wendungen im tausendjährigen Ringen der westlichen und östlichen Völker. Wenn es einem zur Kultur berufenen Volk glückt, in schwerem Kampf seine Unabhängigkeit zu wahren, so ist ein solcher Erfolg kulturgeschichtlich noch bedeutsamer als kriegsgeschichtlich. Der Sieg gegen ATTILA auf den katalaunischen Feldern hat die sinkende römische Kultur noch für eine kurze Frist gesichert und zumindest die schlimmste der zerstörenden Mächte von ihr abgewendet. Der Sieg, den KARL MARTELL bei Tours und Poitiers über die aus Spanien hervorbrechenden Araber erfocht, hat der werdenden Kultur des Abendlandes ihre freie Zukunft gesichert. Der Sieg in der Türkenschlacht vor den Mauern von Wien eröffnete die Wendung, in deren Folge das erstarkte Abendland den verloren gegangenen Südosten von Europa wiedergewann. Der antiken Kultur haben ALEXANDER, SCIPIO und CÄSAR den weiten Bereich und die lange Dauer ihrer Geltung erobern müssen, ohne die sie nicht die Unterlage der modernen Kultur hätte werden können. Das durch das Schwert gegründete Römerreich ist die notwendige Vorstufe für die römische Kirche, und das will sagen, für die entscheidende Verbreitung des Christentums gewesen.

Die Größe der Herrschaft, welche die äußeren Mächte über die Gemüter ausüben, erkennt man daran, daß auch die innersten Mächte nicht umhin können, sich ihrer als letzter Auskunft, als  ultimum remedium  [letztes Heilmittel - wp] zu bedienen. Die inneren Mächte haben den Trieb der Ausdehnung geradeso in sich, wie ihn die Machtbegierde des Eroberervolkes oder des kriegerischen Dynasten in sich hat. Jede leidenschaftliche Überzeugung ist von dem Verlangen begleitet, sich andern mitzuteilen, um sie zu bekehren: "Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über." Sobald eine treibende Überzeugung auf eine andere stößt, die sich nicht zu ihr bekehren will, so entbrennt der Kampf der Geister, und falls dieser Kampf sich mit geistigen Waffen nicht austragen läßt - und gegen eine Überzeugung des  Herzens  gibt es keine Argumente - so drängen die aufgeregten Gemüter dazu, ihn mit kriegerischen und anderen äußeren Machtmitteln auszukämpfen. Ideen, die ihrer ganzen Anlage nach auf tiefen Frieden gestellt sind, münden, falls sie sich mit widerstreitenden Ideen begegnen, am Ende in einen mörderischen Krieg. Die von CHRISTUS eingesetzten Apostel sind ausgezogen, um mit feurigen Zungen die frohe Botschaft des ewigen Friedens zu verkünden, der den Menschen gebracht ist; stark durch die Kraft des Glaubens haben die Christen den Waffen der Verfolger getrotzt, die nur ihre Körper, nicht aber auch ihre Seelen treffen konnten, aber eben dieser unbezähmbare Drang hat dazu geführt und dazu führen müssen, daß man dem andern nicht den Frieden bewahren wollte, der im Unglauben verharrte oder im Aberglauben abfiel. Wer der Lehre widerspricht, der man aus innerstem Herzen anhängt, macht einen selber im Glauben irre, welcher das heiligste Besitztum des Menschen ist, und er gilt daher als der gefährlichste aller Gegner. Darum hat die Inbrunst der religiösen Idee die Greuel der Albigenserkriege und die Inquisition zur Folge gehabt. Die Protestanten waren nicht weniger hartnäckig in ihrem Glauben als die katholische Kirche, darum hat sich nach der Reformation der erbitterte Gegensatz der alten und der neuen Kirchen, die alle den Frieden lehrten, im Dreißigjährigen Krieg entladen, welcher der Weltkrieg des 17. Jahrhunderts geworden ist. Der moderne Freiheitssinn liebt es, die Kirche wegen ihres Willens zur Gewalt anzuklagen; hat aber nicht die moderne Freiheitsbewegung, die das Reich der Vernunft aufrichten wollte, selber in einem Willen zur Gewalt geendet? Der Rest des Reiches der Vernunft war die Guillotine, der Bürgerkrieg und die lange Reihe der äußeren Kriege bis hin zu NAPOLEON, zu denen die Nation durch den Expansionstrieb der Freiheitsidee fortgerissen wurde. Das ganze Zeitalter der modernen Kultur ist,  weil mit neuen Ideen, so auch mit Ideenkriegen  gefüllt. Hätte das moderne wissenschaftliche Denken sich in einer großen Weltanschauung vollendet, die auch die Massen hätte ergreifen können, so hätte es auch unausweichlich zu einem Ideenkrieg führen müssen. Die sittlichen Ideen haben sich von den religiösen Ideen noch nicht so weit abgetrennt, daß sie selbständig in die Menschengeschichte eingegriffen hätten, dafür erregen die wirtschaftlichen Ideen ununterbrochen den wirtschaftlichen Kampf, der, selbst dort, wo er nur mit wirtschaftlichen Mitteln ausgefochten wird, doch nicht weniger Opfer fordert als der Kampf mit Waffen. Und wie oft hat nicht der Gegensatz der wirtschaftlichen Interessen den Kampf der Waffen selber herausgefordert, und mit welchen Gefahren droht er nicht noch für die Zukunft!

Und doch bringt das  ultimum remedium  der äußeren Mächte  keine endgültige Entscheidung  im Reich der inneren Mächte, keine Idee kann auf dem Schlachtfeld niedergerungen werden, es sei denn, daß man die Menschen und Völker vollends vernichtet, die ihre Träger sind. Der Dreißigjährige Glaubenskrieg hat den Besitzstand der streitenden Bekenntnisse nicht verändert. Was aber das Schwert nicht vermochte, hat die neue Idee der Aufklärung getan, welche beiden Religionsparteien durch den Abfall der Geister empfindlichen Abbruch getan hat. Das durch die Aufklärer errichtete Reich der Vernunft ist durch die Diktatur NAPOLEONs beseitigt worden, dessen Cäsarentum durch die heilige Allianz besiegt wurde, stärker aber noch als die Heere der heiligen Allianz war die durch die Bildungsbewegung getragene demokratische Idee. AMOS COMENIUS, der Begründer der Elementarschule, der im Dreißigjährigen Krieg von Haus und Heimat vertrieben wurde, hat in der Geschichte dauerhaftere Bahnen gezogen als WALLENSTEIN und GUSTAV ADOLF. Im Laufe der Geschichte wächst der Anteil, den die inneren Mächte am gesellschaftlichen Aufbau haben, und vielleicht wird einmal der Tag kommen, an welchem das  ultimum remedium  der äußeren Macht nicht mehr aufgerufen zu werden braucht, weil die inneren Mächte beruhigt ins Gleichgewicht gekommen sind. Kann eine Geschichtsschreibung vollständig sein, welche die eine oder die andere der beiden aufbauenden Mächte vernächlässigt?


5. Äußere und innere Mächte im Weltkrieg

Auch der Weltkrieg war nicht bloß ein Interessenkrieg, sondern zugleich ein wahrer Ideenkrieg, es hat sich in ihm nicht nur um große praktische Vorteile, sondern um bewegende Gedanken gehandelt, welche die Geister erheben und zu Opfern bereit machen. Der Weltkrieg ist durch den Gegensatz der nationalen Ideen entzündet worden, die aus der atemlosen Entwicklung der Volkswirtschaften ihre gesteigerte Spannung erhalten haben. Nationale Kulturmacht und Wirtschaftsmacht, beides innere Mächte, aus dem Frieden geboren und auf Frieden gestellt, haben sich gedrängt gefühlt, ihre Gegensätze in Waffen auszutragen, weil alle großen und kleinen Kulturnationen bis zur höchsten Spannung von ihnen erfüllt waren. Nur als  Ideenkrieg  hat der  Weltkrieg  seine ungeheuren Verhältnisse annehmen können, kein Dynast hätte einem Kulturvolk so maßlose Opfer an Gut und Blut zumuten dürfen, als die Nationen es selber in der Erregung der Gemüter getan haben. Auch NAPOLEON hat den Franzosen nur deshalb die Lasten seiner Kriege aufbürden können, weil er die Heere der Revolution vorfand, die noch des Expansionstriebes der Freiheit voll waren, und weil er die französische Nation durch die Idee der Weltherrschaft zu berauschen vermochte.

Dem nächsten Anschein nach hatte die Entente ihren Sieg nur ihrer Überlegenheit an äußeren Machtmitteln zu danken, ihrer Überzahl an Streitern, an Waffen und sonstigen Kriegsmitteln, zumla an den lebenswichtigen Gütern des Volkskonsums. Bei genauerem Zusehen erkennt man, daß hier wie sonst die Ideen die Träger der Kampfmittel waren und die Tragfähigkeit der Ideen den Ausschlag gegeben hat. Die Entente hat durch die werbende Kraft der nationalen Idee eine Anzahl von Nationen zum Kampf gewonnen, die sich zunächst noch fern gehalten hatten, und sie hat insbesondere durch die werbende Kraft der von ihr aufgerufenen demokratischen Idee die entscheidende Hilfe der Vereinigten Staaten gewonnen, deren Massen von ihren kapitalistischen Führern nicht anders hätten in Bewegung gesetzt werden können.

Wie zuerst bei den Russen die sozialistische Idee die Front zersetzte, so ist dies später auch bei den Mittelmächten geschehen, und das national-gemischte Österreich-Ungarn ist überdies noch durch die Wühlarbeit der nationalen Idee zersetzt worden. Wäre der Wille zum Krieg bei den Völkern der Mittelmächte durch alle Schichten hindurch bis zum Ende so entschlossen geblieben, wie er es zu Anfang an war, so hätten sie sich der Überzahl der Gegner, so groß diese war, vielleicht doch so weit zu erwehren vermocht, um einen Frieden der Selbsterhaltung durchzusetzen. Die Kriegsnot war jedoch für die von der Hungerblockade heimgesuchten Bürger der Mittelmächte fast unerträglich geworden, und in folgenschwerer Verblendung versäumten es die obersten Führer, die militärischen und politischen Folgerungen aus dieser Tatsache beizeiten zu ziehen. So kam es, daß der Sieg, den die Entente an der Front nicht zu gewinnen vermochte, durch den Zusammenbruch an der Front und der innere Zusammenbruch folgten.

Wie bei allen Ideenkriegen, wird auch beim Weltkrieg der Sieg der Waffen, so überwältigend er scheint, nicht die letzte Entscheidung bringen. Schon heute ist die öffentliche Meinung auch in den Siegerländern darin unsicher geworden, auch dort leidet man darunter, daß der Friede, den man diktierte, kein Friede ist, und wer weiß, ob man nicht auch dortschließlich erkennen wird, daß die  Schuld am Frieden,  den man genau zu überlegen volle Zeit hatte und der doch kein Friede werden kann, weit schlimmer ist als die am Krieg, den alle gefürchtet hatten und von dem doch alle überrascht wurden.

Sollten die Kulturnationen keiner inneren Bewegung mehr fähig sein, die den von allen ersehnten Frieden bringen wird? In Indien hat GANDHI mit seiner Idee des nationalen Widerstandes ohne Gewalt den großartigen Versuch einer inneren Machtwirkung unternommen, der, abgesehen von den religiösen Bewegungen, jemals unternommen worden ist. Er hat Erfolge erreicht, die niemand erwartete, er hat Hindus und Mohammedaner vereinigt, er hat die bewunderungswürdige Herrschaft über sich selber erwiesen, der Bewegung Halt zu gebieten, als er fürchtete, daß sie im Begriff ist, in Gewalt umzuschlagen, und er hat das Wunder getan, die Menge zum Gehorsam zu bringen, wenn er ihr Halt gebot, er hat schließlich auch der englischen Regierung, die ihm zunächst mit Geringschätzung begegnete, Respekt abgenötigt. Es mag dahingestellt bleiben, ob es ihm gelingen wird, die überwiegende Mehrheit der Inder für seine Idee zu gewinnen und dauernd bis zum Sieg zusammenzuhalten, es mag dahingestellt bleiben, ob der Widerstand ohne Gewalt, in den sich das Naturell des Inders begibt, auch dem härteren Willen der europäischen Masse abgerunden werden kann. Gewiß aber beweist die Mächtigkeit, welche die indische Bewegung heute schon erlangt hat, daß innere Bewegung höchster Ergriffenheit, wie sie in den Zeiten von BUDDHA, ZOROASTER und CHRISTUS über die Erde gegangen sind, auch heute noch zur Wirklichkeit werden können und nicht nur den Erinnerungen der Geschichtskenner oder den Träumen der Schwärmer angehören.


6. Realpolitik und Ideenpolitik

Die großen Realpolitiker, die am Eingang und am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Weltpolitik gemacht haben, NAPOLEON und BISMARCK, haben beide die Ideologien ihrer Zeit mit Verachtung abgewiesen, nichts wäre aber verkehrter als die Meinung, daß NAPOLEON nur durch seine starken Bataillone und Bismarck nur durch Blut und Eisen gesiegt hat. Während sie die Ideologien abwiesen, haben sie wirkende Ideen der Zeit klar erkannt und für ihre Politik genützt.  Jede große Realpolitik ist auch immer Ideenpolitik,  sie arbeitet zugleich mit Waffen und sonstigen äußeren Machtmitteln, wie sie mit den inneren Mächten, welche die Menschen beherrschen. Kein Staatsmann wäre groß zu nennen, der sich nicht auch der wirksamen Ideen der Zeit zu seinen Zwecken bedient hätte.

Die Ideologien sind als Buchideen entstanden, als bloße Hirnidee, wenn man so sagen darf, wie sie der Geist der Opposition erzeugt, der sich gegen den Druck der alten Gewalten auflehnt, aber doch dem Leben fremd ist, weil er seine Vorstellungen nach erträumten Idealen bildet. Die Ideologien der französischen Revolution waren die konstruierten Ideen des reinen Vernunftmenschen, aber nicht die lebendigen Ideen des Franzosen der Wirklichkeit, der aus seiner geschichtlichen Umgebung nicht ganz heraus konnte. Diese konstruierten Ideen waren reich genug, um den Widerstand gegen die überlebten geschichtlichen Mächte vollen Halt zu geben und die Menschen mit dem Mut zu neuen Zielen zu erfüllen, sie waren jedoch der Wirklichkeit doch zu wenig angepaßt, um sich in dauernde Ordnungen umsetzen zu lassen. Nach dem ersten Glücksrausch des revolutionären Erwachens fand sich die französische Nation in einen tragischen Konflikt gestürzt: gesellschaftliches Denken und gesellschaftliches Handeln wollte sich nicht zusammenfinden. Da hielten sich die Besonnenen zurück, weil sie sich über ihre Wege nicht schlüssig werden konnten, und die Führung der Geschicke blieb bei den Verblendeten, denen das tönende Wort über alles ging und die, um die Herrschaft des Wortes durchzusetzen, dem die Gemüter der Menge nicht mehr folgen wollten, das Äußerste an Schrecken aufbieten mußten. NAPOLEON war der Mann dazu, nicht nur den revolutionären Ausartungen durch Gewalt ihr Ende zu bereiten, sondern zugleich dem guten Sinn der Bewegung genugzutun, indem er als Realpolitiker das verwirklichte, was von ihren Wünschen realisierbar war. Er erkannte mit unfehlbarer Sicherheit die lebendigen Bedürfnisse der französischen Volksseele, er gab der französischen Verwaltung ihre bleibende Ordnung, er schuf das bürgerliche Gesetzbuch, - es trägt nicht nur seinen Namen, sondern atmet auch seinen Geist - das dem Rechtsempfinden des französischen Volkes seinen klaren Ausdruck gibt. Er hat der französischen Nation ihre Einheit, er hat dem Begriff der Nation seine Gestalt gegeben. Wie zutreffend er den französischen Charakter verstand, beweist am anschaulichsten das kleine Bändchen der von ihm gestifteten Ehrenlegion, an dem sich die französische Gesellschaft noch heute nach allen Stürmen der Geschichte erkennt und an dem sie festhalten wird, solange es Franzosen gibt. In Deutschland gewann er sich die Mitwirkung der landesherrlichen Idee, die er auf Kosten des Reiches stärkte; daß er seine Eroberungen in Italien festhalten konnte, dankte er seinem Verständnis der italienischen nationalen Idee, der er den ersten politischen Ausdruck verlieh. Sein Verhängnis war der unbezähmbare Machttrieb, der ihn sich nicht daran genügen ließ, der CÄSAR Frankreichs zu sein, sondern ihm das unerreichbare Ziel wies, der Imperator der Welt zu werden. Sein Glück verblendete ihn, so daß er den Widerstand aller geschichtlichen Ideen des alten Europa aufrührte, bis zuletzt die starken Bataillone gegen ihn waren; sie waren stark nicht so sehr durch ihre Zahl, denn gegen die Überzahl hatte er oft genug gesiegt, sondern sie waren es durch den nationalen Geist, der sie befeuerte, während die durch endlose Kriege erschöpften Franzosen sich in ihren Gemütern von ihm abwendeten und selbst seine Marschälle den Glauben an ihn verloren.

Wie NAPOLEON die Ideologie der französischen Revolution, so hat BISMARCK die demokratische Ideologie des Jahres 1848 geringschätzig zurückgewiesen, indem er richtig empfand, daß sie der Gesinnung der Masse des preußischen Volkes und der deutschen Nation nicht gemäß ist. War er aber nicht doch der Vollender der Ideen der Paulskirche? Er hat die richtigen Mittel gefunden, um sie durchzusetzen, die das Parlament der gebildeten Männer vergebens gesucht hatte. Er sah es klar vor sich, daß, um die deutsche Einigung zu vollenden, auch noch äußere Machtmittel angewendet werden mußten, welche die durch die Geschichte gegebenen Widerstände zu überwinden hatten, und er wußte, daß die Machtmittel, die er brauchte, ihm durch die Überlieferungen der preußischen Regierung und des preußischen Volkes in die Hand gegeben waren, er wußte, daß der preußische Landwehrmann dem Ruf des Königs zu den Waffen in Treue folgen wird. Sein klarer Blick ließ ihn zugleich nicht im Zweifel, daß er, um bis zum Ende zu kommen, die Gefühle der besiegten Süddeutschen und Österreichs schonen mußte, war er soch dabei, sein Leben zu beenden, wenn es ihm nicht gelingt, den König zu einem billigen Frieden mit Österreich zu überreden. Dadurch erreichte er es, daß Kaiser FRANZ JOSEF sich im französischen Krieg neutral verhielt, und er erreichte später den noch größeren Erfolg, dem Deutschen Reicht durch den Zweibund seinen geschichtlich berufenen Verbündeten zu sichern. Sein verhängnisvoller Fehler war, daß er beim Friedensschluß mit Frankreich dem Drängen der preußischen Generale nicht zu widerstehen vermochte, die ein Stück des französisch nationalen Bodens begehrten, um damit einen militärischen Anfangsvorteil für den nächsten Krieg zu haben, den sie eben dadurch herausforderten.

Diese Verletzung der nationalen Idee hat sich im Weltkrieg furchtbar gerächt. Im Zeitalter der nationalen Idee kann keine große Nation auf ihre ungeschmälerte Selbsterhaltung verzichten. Das national Selbstbewußtsein drängt die Gemüter zu Machtaggregaten zusammen, die sich durch die in ihnen unablässig wirkenden anziehenden Molekularkräfte immer wieder zusammenschließen, mögen sie auch auf kürzere oder längere Zeit durch die Einbrüche überlegener äußerer Mächte zerrissen werden. Durch die Nachhaltigkeit ihres nationalen Gefühls haben die Italiener und die Polen trotz aller Niederlagen über die großen Mächte triumphiert, die sich in ihre Stammesgebiete zu teilen gedachten. Wird sich die Kraft der nationalen Selbsterhaltung nicht auch an der deutschen Nation bestätigen?


7. Kraft und Macht

Jede Macht setzt als ihre Unterlage eine Kraft voraus. Dadurch, daß die Wirkungen der Kraft im Bewußtsein wahrgenommen werden, werden Gefühl und Wollen angeregt; zu den Wirkungen, welche die Kraft ihrem Naturgesetz gemäß bis dahin ausgeübt hat, tritt nun die Wirkung aufs Gemüt hinzu, um derentwillen man ihrem Träger Macht zuerkennt. Es ist ein anderes, die natürlichen Wirkungen der Kraft zu erkennen, und ein anderes, die Größe der Macht zu empfinden, die sie auf das Gemüt ausübt. Der Ballistiker vergleicht rechnerisch die Elevation, die Geschwindigkeit und die Schlagwirkung der Geschosse oder die Tragweite der Geschütze, in der Schlacht erst kommt die Wirkung auf das Gemüt zur Geltung, um die es dem Feldherrn zu tun ist. Der Techniker schätzt die Wirkung der Wasserkraft nach den Pferdekräften ein, mit denen sie arbeitet, auf dem Markt erst kommt durch das Mittel der Preise die Wirkung auf das Gemüt der Nachfrage zur Geltung, um die es dem Unternehmer zu tun ist. Nicht nur die äußeren Naturkräfte, sondern auch die persönlichen Kräfte, die in der Wirtschaft aufgewendet werden, muß man nach ihrer äußeren Leistung veranschlagen, der Unternehmer vergleicht rechnerisch kühl die Leistung des Arbeiters mit der der Maschine, und im sozialistischen Zukunftsstaat wird man dies auch nicht unterlassen dürfen. Es gilt nicht anders für alle persönlichen Kräfte welcher Art auch immer, die für einen praktischen Zweck eingesetzt werden. Immer muß die Wirkung nachgeprüft werden, die ihnen als Mittel zum Zweck zukommt; erst darauf, daß sie sich als Mittel zum Zweck bewährt haben, folgt der Eindruck im Gemüt, der sie mit dem Nimbus der Macht umgibt.

Bei jenen inneren Kräften, die mit ihrer Wirkung unmittelbar auf das Bewußtsein zielen, wie bei der Verstandeskraft, die Erkenntnis bringen soll, oder bei der moralischen Kraft, die den Willen läutern soll, wird schon der Akt der Kraftleistung von Regungen des Gemüts begleitet, doch muß man auch hier Kraft und Macht grundsätzlich klar auseinanderhalten. Auch hier hat überall die Kraft ihre Technik. Was ist die Logik anderes als die Technik des Verstandes?

Der Soziologe, der es unternimmt, die Wege der Macht zu zeigen, muß die Kräfte kennen, die sich in der Gesellschaft in Macht umsetzen, und er muß in seiner Darstellung von ihnen ausgehen, aber er wird es sich nicht zur Aufgabe machen, das Gesetz darzustellen, nach welchem die Kräfte wirken, noch wird er auf ihre Ursprünge und das Gesetz ihrer Entfaltung zurückgehen. Eine so weit ausgedehnte Aufgabe müßte seine Fähigkeiten übersteigen, wie ihr auch die Aufnahmefähigkeit der Leser nicht gewachsen wäre. Er muß es den Technikern überlassen, zu zeigen, in welcher Folge die Menschen sich die Naturkräfte für ihre Arbeit nutzbar gemacht haben, er muß es den Philosophen und den Moralisten überlassen, die allmähliche Entwicklung der moralischen und intellektuellen Energien klarzumachen, er selber hat genug zu tun, wenn er das  Gesetz der Macht  erkennen lehrt,  zu der sich die Kraft wandelt,  indem ihre Wirkungen die Gemüter in Bewegung setzen. Das Gesetz der kleinen Zahl stellt fest, daß die Kraftwirkungen der vielen nur einigen wenigen als Macht zugerechnet werden; der siegende Feldherr empfängt seine Macht nicht schon allein durch seine eigene Leistung, sondern immer auch durch die Leistung der Soldaten, sowie der erfolgreiche Unternehmer die seinige durch die Leistung seiner Arbeiter. Es gibt noch eine Reihe anderer Gesetze, welche die Umsetzung gesellschaftlicher Kraft in Macht betreffen. Die Theorie der Macht hat eine ebenso schwierige wie bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, wenn sie die Probleme lösen will, die durch diese Gesetze gestellt sind.
LITERATUR - Friedrich Wieser, Das Gesetz der Macht, Wien 1926