p-4W. JerusalemGoedeckemeyerLippsW. Jerusalem    
 
OTTO von der PFORDTEN
Versuch einer Theorie
von Urteil und Begriff

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    I. Einleitung
II. Vorstufe des Urteils
III. Impersonalien und Existenzialsätze
IV. Wesen des Urteils
V. Gültigkeit - Definition
VI. Frage - Negation
VII. Eindruck und Begriff
VIII. Beschreibung und Erklärung

"Irgendeine Art von Realität liegt allen Fiktionen und allen Abstraktis zugrunde und eine abgekürzte Redeweise gestattet die Übertragung, wie des Gedankens, os der Realität auf das kurz Zusammengefaßte."


IV. Wesen des Urteils

Wie schon aus dem bisherigen hervorgeht, kann ich ein wesentliches Merkmal des Urteils  nicht  in seiner Zweiteiligkeit erblicken. Die einfachsten Existenzialsätze, wie die Impersonalien, sind Urteile (1), nur rudimentäre, unvollkommene. Auch bei ihnen findet schon die elementare Trennung in zwei statt: ich und das Ding oder ich und die Bewegung; das  vollkommene  Urteil ist eigentlich dreiteilig; ich, ein Ding und eine Bewegung. (2) Was es von den unvollkommenen unterscheidet, ist die gleichzeitige Beziehung einer Anschauung auf beide Erkenntnisformen zugleich: Ding  und  Bewegung. Ob man dabei z. B. mit WUNDT mehr Gewicht auf die Trennung und Zerlegung der ursprünglich einheitlichen Anschauung bzw. Vorstellung legt oder z. B. mit SIGWART auf die Wiederverbindung und Verknüpfung, ist auch nicht prinzipiell wichtig; der Verknüpfung muß die Scheidung vorangehen.

Wichtig scheint mir, daß sich Subjekt und Prädikat aus den einfachsten Erkenntnisformen Ding und Bewegung erklären lassen; doch muß nicht allemal das Ding zum Subjekt werden. Dies ist nur das regelmäßige, natürlichere, erste; es kann auch aus der Bewegungsvorstellung das Subjekt des Satzes entstehen. Allgemein ist nur Folgendes.

Dem Urteil voraus gehen unbegrenzt viele  Gedanken  (Kombinationen), in denen Anschauungen von Dingen  und  Bewegungen, zunächst ganz  ungeordnet,  zusammengestellt werden. Ob das bewußt geschieht oder nicht, kann nur im einzelnen Fall entschieden werden; jedenfalls  kann  man auch bewußt nur kombinieren. Auch anderes sonst Bewußtes sinkt bei weiterem Denken unter die Bewußtseinsschwelle. (Wirkliches  Vergleichen  setzt schon Urteile voraus.)

Dieses Chaos sondert sich in zwei Reihen: eine Ding- und eine Bewegungsreihe. Das vollkommene Urteil bezieht sich nun immer auf  beide Reihen;  meist in der Weise, daß die Dingreihe das Subjekt, die Bewegungsreihe das Prädikat bildet. Dann wird das Angeschaute einmal  ruhend  in seinem Gesamtzustand aufgefaßt (Subjekt), (3) das anderemal als einzelne seiner verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten herausgehoben (Prädikat). Das ist der gewöhnliche Prozeß; aber er kann auch umgedreht werden. Bleibend sind immer nur die zwei Reihen und die Eingliederung einer Anschauung in beide.

Wir vermögen uns eben einmal auf das Ganze, das andere Mal auf das Einzelne  einzustellen  und beides in Kombinationen zu vereinigen; dasselbe Ding zugleich als Ganzes  und  in einer seiner Wirkungen zu erfassen.  Psychologisch  gefaßt ist diese Doppeltätigkeit und Fähigkeit die eigentümliche Urteilsfunktion.

Diese Auffassung besitzt unleugbar eine gewisse Ähnlichkeit mit BENNO ERDMANNs Theorie des Urteils. Nur kann ich mich nicht entschließen, die "logische Immanenz des prädikativ Getrennten" zur Grundlage der Definition zu machen und anzunehmen, daß wir das Prädikat  bewußt  immer im Subjekt  mit  vorstellen. Und das Gebiet des Unbewußten wird man doch gut tun, der Psychologie zu überlassen, selbst wenn man die Urteilsfunktion, wie ich, nur an die Möglichkeit des Aussprechens, nicht auch an die vollzogene Aussage bindet. Das Prädikat ist für unser Bewußtsein jedenfalls etwas neues, anderes, wenn auch nur für die  Richtung  unserer Aufmerksamkeit. Das psychologische Geheimnis, an dem wir Halt zu machen haben, scheint mir eben diese Fähigkeit zu sein,  im  Trennen wieder zu verbinden; diese Doppelfunktion des Denkens gegenüber einer zweifellos in anderem Sinne  einheitlichen  Anschauung. Bliebe es aber bei dieser Einheitlichkeit, so kämen keine Unterscheidungen und Urteile zustande; darum muß man die Trennung in irgendeiner Weise betonen, wofür mir die Worte "Eingliederung in zwei Reihen" der  mildeste  Ausdruck zu sein scheinen, der die irrtümliche Vorstellung eines Verknüpfens von vorher  völlig  Getrenntem ausschließt. (4)

"Gold ist gelb" bedeutet dann die Erfassung des Gold genannten (ursprünglichste Benennung, die  noch kein  Urteil enthält, nur ein  Wort als Zeichen)  Dinges als Ding (Gesamtzustand)  und  in der (mit ihm zusammenhängenden, von ihm ausgehenden) optischen Bewegungsform. (Farbe von bestimmter Schwingungszahl) Aber man kann das Urteil auch umdrehen: "zum Gelben gehört das Gold". Hier wird die aus der Bewegungsreihe abgesonderte Anschauung Gelb zum Subjekt gemacht; von den vielen "gelb" erscheinenden Dingen nenne ich eines Gold. Ein prinzipieller Unterschied der Denktätigkeit liegt da nicht; alle einfachsten Urteile lassen sich so umkehren, was natürlich die Kompliziertheit der Vorgänge bei der Umkehrung ausgebildeter Urteile nicht ausschließt.

Nur wenn man immer an Urteil  über  Begriffe denkt, kann man analytisches und synthetisches (5) Urteil unterscheiden und vieles andere sich anschließende; zum  Wesen  des Urteils kann das alles nicht gehören, weil sonst der Zirkel bleibt, daß Begriffe Urteile erfordern und Urteile Begriffe. Gelb und Gold im elementaren Urteil sind  noch keine  Begriffe, nur  Anschauungen.  (Darüber später im VII. Abschnitt) Beide werden auf ein Ding bezogen und die Anwendung der benennenden Worte bedeutet noch keine Begriffsbildung. (Siehe die Phantasieworte und unvollkommenen Ausdrücke des Kindes.)

Ich sehe das Wesen des Urteils nur in einer Art elementarer Klassifikation, jedoch beim vollkommenen Urteil nicht in  eine,  sondern in zwei Reihen von Anschauungen. Gold ist alles Mögliche, darunter auch gelb; andere Bewegungsformen ergeben glänzend, hart, schwer; übertragene z. B. teuer. Aber gelb ist auch sehr vieles, andere Metalle, ein gelbes Blatt oder Blume usw. Das alles kann in den Kombinationen vorkommen. Ordnung kommt durch das Urteil hinein, das die beiden Reihen  in  einem Ding aufeinander bezieht und verbindet.

Der Hauptunterschied des Urteils von der Kombination (6) beruth in dieser  ordnenden  und  feststellenden  Tätigkeit und in dem damit eng verbundenen Bewußtsein, Absicht und Willen der Gültigkeit. Von dieser handelt der V. Abschnitt.

Daß die Erfassung der Dingreihe zunächst meist die Subjekte liefert, die der Bewegungsreihe die Prädikate, liegt darin begründet, daß wir überhaupt zuerst die Ding-Vorstellungen bilden. (7) Zu einer solchen ist nur  eine  Anschauung nötig; zu einer Kombination, die zu einem Urteil führt, mindestens drei: ein Ding und zwei Bewegungen, die unterschieden werden müssen und von denen eine dann bestimmt verbunden wird. Zum Beispiel wird das Kind zu einem Urteil über den Geschmack seiner Milchflasche erst dann gelangen, wenn ihm einmal statt süßer aus Versehen sauer gewordene Milch gereicht wurde. Die beiden Dinge werden als Milch identifiziert; die chemische Bewegung (Gaumenreiz) ist beide Male eine andere. Prinzipiell gilt dies auch umgekehrt von einer Bewegung und zwei Dingen; z. B. es donnert: der wirkliche Donner oder ein übers Pflaster rollender Wagen; Entscheidung: das Geräusch stammt vom Wagen. Um aber den Geschmack zum Subjekt machen zu können (z. B. süß ist Brei, Obst, Milch, vieles andere schmeckt sauer; zur Reihe des Süßen gehört auch der Apfel: süß ist [auch der] Apfel), sind  tatsächlich  meist eine Anzahl von Dingen und Bewegungen nötig; die Umkehrung ist das Mühsamere, Sekundäre.

Das vollkommene Urteil kann aber nicht nur durch die Festlegung von Kombinationen entstehen, sondern auch durch das Zusammenlegen zweier unvollkommener Urteile; (siehe das Automobilbeispiel im 1. Abschnitt.) Dies ist ein spezieller Fall; denn das Urteil kann und wird in den meisten Fällen direkt auf die Gedankenkombination folgen und muß nicht den Umweg über zwei unvollkommene Urteile nehmen. Daß dieser aber psychologisch richtig ist und vielleicht in den Anfangszuständen des menschlichen Denkens öfter vorkam, scheint mir die sogenannte  copula  in den Existenzialsätzen zu beweisen. Sie ist ein  Rest  vom ursprünglich vorhergehenden einfachsten Existenzialurteil  A ist;  dazu tritt ein Impersonale (Verbalsatz)  B  und es entsteht  A  ist  B. 

Es ist klar, daß wir nun im fertigen  A  ist  B  nicht mehr das  Bewußtsein  haben, die Existenz des  A  hervorzuheben und zu fordern, dennoch schwingt noch etwas von dem früher einmal (Urzustand, Kind) bedeutungs- und wertvollen Urteil "A ist" in der Kopula mit, gleichsam ein Abglanz früherer Bedeutung. Heute und für Erwachsene, denen die Existenz aller in Frage kommenden Dinge selbstverständlich ist, fühlt niemand mehr das Bedürfnis, die Existenz eines zu besprechenden  A  ausdrücklich zu betonen, außer in den Fällen, wie beim Automobil-Beispiel, wo etwas Neues in Erscheinung tritt. Daraus aber nun zu folgern, das "ist" der Kopula dürfe gar nichts mehr vom Begriff "Existenz" oder "Sein" in sich enthalten, weil dieser in den meisten Fällen selbstverständlich geworden ist, scheint mir nicht richtig. Dieses "ist" der Kopula bedeutet immer noch das Sein des Subjekts, unterstreicht und betont es nur nicht mehr, wie in den einfachsten Existenzialsätzen (A ist); dadurch sinkt dieser Existenzialausdruck scheinbar zu einer "Kopula", einer gedankenlosen Verbindungsformel zwischen Subjekt und Prädikat herab. Das beweist nicht, daß sie immer gedankenlos war.

In einem Satz wie "Gott ist gut" haben wir noch ein Beispiel der ursprünglichen Bedeutung. Wer die Existenz Gottes leugnet, wird niemals sagen "Gott ist"; es wird demgegenüber zuerst die fragliche Existenz des Subjekts festgestellt, dann ein Prädikat von ihm ausgesagt (Bewegungsreihe in der Übertragung auf Geistiges): gerecht, allmächtig, allwissend oder - gut. Würde die Kopula  nicht  als Rest eines Existenzialsatzes zum Subjekt gehören, so müßte man sie zum Prädikat ziehen. Aber niemand wird diesen Satz so trennen: "Gott! - - ist gut", sondern "Gott ist - - gut". Allgemein wird unser Sprachgefühl niemals in einem Satz  A  ist  B  einen Einschnitt hinter  A  machen, sondern nach "ist".

Diese Auffassung wird besonders von SIGWART lebhaft bekämpft und im Anschluß an FICHTE und JOHN STUART MILL (8) eine  Zweideutigkeit der Kopula  behauptet; SIGWART (9) hält die Bemerkung HERBARTs: "das Urteil  A  ist  B  enthalte keineswegs die Behauptung, daß  A  sei, denn von  A  für sich allein und von seinem Dasein, seiner Gültigkeit sei gar keine Rede" für unzweifelhaft richtig. "Sie hätte nie bestritten werden sollen."

Demgegenüber ist zu sagen, daß, wenn einem Urteil über  A  Gültigkeit zugesprochen werden soll, doch die Existenz von  A  eine selbstverständliche Voraussetzung bildet, mag das Urteil  mit oder ohne  Kopula gebildet sein. Wenn das Urteil "die Sonne scheint"  Gültigkeit  besitzen soll, so muß es eine Sonne geben.

Nun hat man versucht, eine Theorie aufzustellen, welche das Urteil "die Sonne scheint" in "die Sonne ist scheinend" verwandeln würde. SIGWART tut das kurzerhand als antiquiert ab; tatsächlich kann man  nicht alle  Verbalsätze in Existenzialsätze umwandeln; sie scheiden sich in zwei Gruppen. Sagt man "dieser Papagei spricht", so heißt das "er  ist  ein sprechender", erzählt aber jemand: (dort im Saal)  spricht  Professor  X,  so ist dies  rein  verbal gemeint und will nicht aussagen, Professor  X  könne sprechen, sei sprechend. Die Existenz des Professors wird aber auch in diesem Fall mitbehauptet.

Ebenso sind "die Sonne scheint", "der Hase läuft" reine Verbalurteile, aus der Bewegungsreihe hervorgehend; hier ist das Primäre ein Impersonale: "es läuft" - ein Hase; "es scheint - die Sonne"; "es spricht" - der Professor  X. 

Gerade umgekehrt liegt also die Sache: in  allen  Urteilen wird die Existenz des Subjektes  mitbehauptet;  in den Existenzialsätzen tut dies die copula, weil sie von den einfachen Urteilen der Form  A ist  stammen; in den Verbalsätzen, die von den Impersonalien stammen, ist zunächst die Bewegung beobachtet und festgehalten und deren Existenz mitbehauptet. Sie kommt im Verbum zum Ausdruck; die Aufmerksamkeit ist hier nicht auf die Existenz des Subjekts, sondern des Prädikats gerichtet gewesen. Viel eher als in "die Sonne ist scheinend" könnte man diese echten Verbalsätze auflösen in: "das Scheinen der Sonne ist"; "das Laufen des Hasen ist" (sehe ich); "das Sprechen des Professors ist" (höre ich). (10)

Ebendahin gehören abstrakte Sätze, wie das von SIGWART zitierte: "Große Seelen verzeihen Beleidigungen". Die natürliche Auflösung ist: "wer allein vermag Beleidigungen zu verzeihen?" Antwort: große Seelen. Die Vorstellung einer Handlungsweise, einer psychischen Bewegung, ist das erste; das Subjekt wird dazu gefunden.

Ganz allgemein aber findet SIGWART bei den Abstraktis und der Phantasie entstammenden Subjekten die größte Schwierigkeit, der Kopula eine Bejahung der Existenz zuzugestehen. Diese Schwierigkeit fällt weg, wenn man festhält, daß allen Abstraktis Realitäten zugrunde liegen,  von denen  sie abstrahiert sind. Ich muß hierauf noch näher eingehen, weil SIGWART gerade in solchen reinlogischen Fragen großes und verdientes Ansehen genießt.

Ein Hauptbeispiel: "Der Pegasus ist geflügelt" sollte meines Erachtens Veranlassung geben, als einen Grundsatz der Logik zu proklamieren, sprachlich  falsche  Sätze nicht als Beweismittel zu verwenden. Für sich allein stehend,  ohne  weiteren  Zusammenhang,  ist dieser Satz einfach Unsinn. Wenn ich sage: "ANTIGONE ist schwarz" oder "DIANA ist gefleckt" - so ist das gleichfalls Unsinn.  Nicht aber  in folgenden Sätzen: "Das Gemälde stellt ANTIGONE und ISMENE dar, die sich schon durch ihre Haarfarbe unterscheiden. ANTIGONE ist schwarz, ISMENE blond"; oder aber: "unser Förster kauft sich einen neuen Hund und nennt ihn Diana. Diana ist gefleckt und langhaarig" ...

Der Gebrauch des Präsens "ist" rechtfertigt sich hier durch die Realität des Bildes und des Hundes. Ganz ebenso ist ein Satz unanfechtbar: "HESIOD hat ein Pferd erdichtet, das er Pegasus nennt. Der Pegasus ist geflügelt". Ohne einen solchen oder ähnlichen Zusammenhang darf man die Kopula  ist  nicht gebrauchen; es genügt auch: "der Pegasus des Hesiod ist".

Sonst  muß  man sagen: der Pegasus  soll  geflügelt sein, wurde geflügelt vorgestellt und dgl. Das gleiche gilt von der Abänderung: "der Pegasus ist eine mythologische Fiktion". Wiederum muß es heißen (oder aus dem Zusammenhang hervorgehen) "der Pegasus des Hesiod". Das  Gedicht des Hesiod,  in dem der Begriff Pegasus vorkommt, ist aber eine Realität. Das Buch kann in meinem Bücherschrank stehen; und HESIOD hat gelebt. Die Kopula will nicht der mythologischen Fiktion Existenz zusprechen, sondern HESIOD und seiner Dichtung. Ist dergleichen allbekannt, so kann man sich erlauben, ohne weiteres "ist" zu gebrauchen; so vielleicht in Griechenland beim Pegasus, bei uns etwa bei MEPHISTOPHELES. Niemand will ihm Existenz zusprechen, jedermann weiß, daß ihn GOETHE erdichtet hat, wenn er sagt: "Mephisto  ist  eine wirkungsvolle Bühnenfigur".  Vor  GOETHE konnte ein solcher Satz nicht gesprochen werden.

Wir gestatten die Anwendung des Präsens "ist" auch noch in einem anderen Fall, wo korrekter jedesmal "war" stünde: bei Subjekten der Vergangenheit. Die  heute  noch vorhandenen Realitäten für den Ichthyosaurus sind ein paar Knochen - für den Kaiser NERO ein paar Bücher. Ganz korrekt wäre es, jedesmal "war" zu sagen, wenn etwas über beide ausgesagt werden soll; dennoch nehmen wir keinen Anstoß an Sätzen, wie: "NERO ist ein römischer Kaiser" oder "der Ichthyosaurus ist ein vorzeitliches Tier",  weil  das Prädikat deutlich auf die Vergangenheit hinweist, genügend orientiert. Sätze dagegen, wie: "NERO  ist  blutdürstig" oder "der Ichthyosaurus  ist  gefräßig" sind, ohne Zusammenhang hingesetzt, einfach falsch; ganz ebenso wie "der Pegasus ist geflügelt".

Auch die "Seeschlange" besitzt eine zugrunde liegende Realität: die gedruckten Berichte der Seefahrer oder Zeitungsschreiber, die von ihr handeln. Ganz ebenso die Atome (im Beispiel: sind wirklich existierende Körper) in den Büchern über Physik. Die Kopula bejaht hier die Realität der Physiker, die von Atomen handeln, diesen Begriff aufgestellt haben; das Prädikat bringt die Zustimmung zu deren Theorien. (11)

Irgendeine Art von Realität liegt allen Fiktionen und allen Abstraktis zugrunde und eine abgekürzte Redeweise gestattet die Übertragung, wie des Gedankens, so der Realität auf das kurz Zusammengefaßte. So bedeutet: "Selbsthilfe ist verboten - Maßhalten ist schwer": "es gibt Menschen, die sich selbst helfen wollen; dieses Tun ist verboten". "Es gibt Menschen, die gerne maßhalten würden, dabei aber finden, daß es schwer ist." Hier wird die Existenz der menschlichen Handlungen behauptet, die im Abstraktum zusammengefaßt sind; nicht aber, wie JORDAN meint, die Existenz der Prädikate; denn verboten und schwer sind sehr viele Dinge und das ist der gleichgültigere Teil eines solchen Urteils. Die copula sagt, daß es überhaupt Menschen gibt, die maßhalten wollen. Niemand wird sagen: "Fliegen ist verboten" oder "Vollkommenheit ist schwer" - denn es gibt weder fliegende noch vollkommene Menschen, also keine zugrunde liegende Realität.

Wenn aber SIGWART endlich den Satz anführt: "ein viereckiger Kreis ist ein Widerspruch" oder "wahre Freunde sind zu schätzen", so kämpft er gegen etwas, was niemand je behauptet hatte, nämlich daß die Kopula auch noch die Gültigkeit jedes beliebigen vorgesetzten Prädikats  mit  behauptet. Sie behauptet die Existenz eines Kreises und solcher Menschen, die man Freunde nennt; die Urteile aber bedeuten: ein Kreis ist, wenn man ihn viereckig nennt, ein Widerspruch; Freunde, falls sie wahr sind, sind zu schätzen. Der Kreis allein ist kein Widerspruch. Es sind  zwei  Urteile  ineinandergeschoben.  (12)

Die abgekürzte Redeweise ist häufig eine Art von  Sprachfaulheit,  deren Erzeugnisse man besonders im Deutschen gern antrifft, deren Beispiele man aber logischen Fragen nicht zugrunde legen sollte. (13) In sprachlich tadellos gebildeten Existenzialsätzen wird man auch jedesmal eine zugrunde liegende Realität finden können, die durch die Kopula bejaht wird.

LITERATUR - Otto von der Pfordten, Versuch einer Theorie von Urteil und Begriff, Heidelberg 1906
    Anmerkungen
    1) Auch die Zustimmung Ja (oder Nein) zu einem Urteil ist selbst ein Urteil, aber eingliedrig. Nur kommt dieser ganz extreme Fall für die Theorie nicht in Betracht.
    2) Geht man in der atomistisch-psychologischen Zerlegung noch weiter (wie z. B. HANS CORNELIUS, Theorie der Existenzialurteile, Seite 21f), so wird  nur  das Urteil "dies ist" wahrhaft eingliedrig, alle anderen Urteile aber werden x-gliedrig, da alle Relationen zu früheren, wenn auch gleichlautenden Wahrnehmungen und Benennungen  mitgedacht  werden. Sicher gehen jedem Urteil viele Wahrnehmungen (und Kombinationen) voraus; nur die logische  Form  berechtigt, von ein- und zweigliedrigen Urteilen zu sprechen.
    3) Vgl. WUNDTs "schöpferische Synthesis" beim Vorstellen eines Dings (System, Seite 314)
    4) Vgl. auch WUNDT, Völkerpsychologie I, 1, Seite 560f
    5) KANT sagt: "Erfahrungsurteile sind ingesamte synthetisch". (Kritik der reinen Vernunft, Seite 40, Anmerkung) Ich spreche hier  nur  von Erfahrungsurteilen und lasse dahingestellt, ob es andere gibt.
    6) Im weiteren Verlauf des Denkens kann man natürlich auch fertige  Begriffe  nur kombinieren, ohne gleich zu urteilen. Das Verhältnis bleibt das gleiche.
    7) Vgl. WUNDT, Völkerpsychologie I, 2, Seite 372
    8) Nach C. BÄUMKER, Besprechung von ERDMANNs Logik in den Göttingische Gelehrten Anzeigen 93, II, Seite 745f, geht dieser doppelte Seinsbegriff bis auf ARISTOTELES zurück (Seite 774). Der vom Verfasser (Seite 771) gesuchte umfassende Gattungsbegriff usw. scheint mir der  Gedanke  (Kombination) zu sein.
    9) SIGWART, Logik I, 3. Auflage, Seite 124f, § 17
    10) In diesem Sinn werden auch die Impersonalien zu Existenzialsätzen, in denen die Existenz der Bewegung (ohne copula) behauptet wird. Siehe ERDMANNs Logik I, Seite 312
    11) Die Logik soll den Sinn eines grammatikalischen Gebildes zugrunde legen, nicht einen etwa aus den Worten allein herauszupressenden Widersinn (Sophismen).
    12) Ebenso in dem bei BÄUMKER erwähnten Urteil: der große Schlüssel paßt; Sinn: einer der Schlüssel ist groß; dieser paßt. Analog in ähnlichen Fällen.
    13) So wenn sich SIGWART weiterhin mit dem Satz plagt: "das Feuer brennt nicht". Es brennt nicht, ein richtiges Impersonale: angeschaute Bewegung der Flamme, die negiert wird, liegt zugrunde; gedankenlos ist dann anstelle des richtigen Feuerungsmaterials (Holz, Kohle) das Feuer selbst zum Subjekt genommen, weil es so bequem, nicht "zur Hand", aber "zur Zunge" ist. - Ähnlich: "der Mensch  kann  wachen oder schlafen". Der Satz sagt  nichts;  der Mensch kann noch tausend andere Dinge; können ist falsch gebraucht; nur: "der Mensch  muß  entweder wachen oder schlafen", Sinn: tertium non datur [ein Drittes gibt es nicht. - wp] ist hier deutsch; das "kann" nur eine Faulheit. Auch die licencia poetica [dichterische Freiheit - wp] ist bei Beispielen zu beachten; soll GOETHEs: "bin weder Fräulein, weder schön, kann" usw. beweisen, daß man nicht "entweder - oder"sagt, sondern "weder - weder" und das Kaufmannsdeutsch richtig ist: "habe Ihre Offerte erhalten, beeile mich usw." Damit erledigen sich zahlreiche ungeeignete Beispiele.