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MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Das Realitätsproblem

"Abstrahiert man von allen Beziehungen (z. B. räumlicher und zeitlicher Art), in denen die Gegenstände zueinander stehen, und versucht man dann noch ein Sein derselben festzuhalten, so ist nicht mehr angebbar, wodurch sich dieses Sein vom Nichtsein unterscheidet. Was nirgends ist, niemals ist, nichts wirkt und nichts leidet, ist überhaupt nichts. Es sei zwar möglich, einen Begriff des Seins abstrakt zu bilden, aber dieser bezeichnet nur ein Denkmögliches; tatsächlich besteht das Sein der Dinge für uns allein nur in der Beziehung oder Setzung bestimmter Beziehungen."

"Was das Nichtgedachte vor seinem Gedachtwerden ist, kann überhaupt nicht mit Sinn gefragt werden. Nur in einer unterscheidenden Verknüpfung mit anderen Empfindungen, nur im Zusammenhang eines weitverzweigten Beziehungssystems bedeutet eine einzelne Empfindung überhaupt irgendetwas. Eine Wahrnehmung unterscheidet sich inhaltlich schlechterdings nicht von der bloßen Denkbestimmung; denn was wir auch immer als Inhalt gegebener Wahrnehmungen aussagen mögen, ist als Aussageinhalt notwendig eine Denkbestimmung."

" Die Empfindung ist nicht gegeben, sondern aufgegeben; sie ist nicht das Bekanntes, sondern das Unbekannte, das  X  der Gleichung der Erkenntnis, das niemals im endlichen Fortgang völlig bestimmt werden kann. Somit verweist die Empfindung auf nichts Denkfremdes; jede Frage nach ihrem Wie und ihrem Woher führt immer nur auf den universellen Erkenntniszusammenhang, in welchem sie allein eine Stelle und einen Sinn erhält. Die radikale Trennung von Denken und Empfindung ist so unberechtigt, wie die Losreißung irgendwelcher Erkenntnisfaktoren, die insgesamt in einer unaufhebbaren Korrelation zueinander stehen."


V o r w o r t

Der folgende Vortrag, den ich auf Aufforderung der "Kant-Gesellschaft" in deren Berliner Zweiggruppe am 15. Juni hielt, behandelt denselben Gegenstand, dem ich in einem vor kurzem erschienenen Buch ("Wissenschaft und Wirklichkeit", Leipzig 1912, Bd. 15 der Sammlung "Wissenschaft und Hypothese") eine eingehende Untersuchung gewidmet habe. Auf dieses Buch muß ich für alle Einzelheiten und Ausführungen, insbesondere auch für die Auseinandersetzungen mit den verschiedenen gegnerischen Richtungen verweisen. Hier kam es mir nur darauf an, den Grundgedanken noch einmal in Kürze zu entwickeln. Bei der (nachträglichen) Niederschrift des Vortrages kam mir die lebhafte Diskussion, die sich an jenem Kant-Abend an ihn anschloß, zustatten; ich hoffe durch die vorliegende Ableitung und Formulierung den wesentlichsten der dort hervorgetretenen Einwände und Mißverständnisse zu begegnen. Freilich wurde der Vortrag dadurch so erweitert, daß er den vorgesehenen Umfang, den diese Veröffentlichungen streng innehalten sollen, erheblich überschritt. In der Erwägung aber, daß ursprünglich geplant war, das Thema, um es erschöpfend zu behandeln, auf zwei Vortragsabende zu verteilen, erscheint die Abhandlung nun als Doppelheft.



1. Realurteile und Idealurteile

Es ist die ursprünglichste, jedem entwickelten Denken zugrunde liegende Annahme, daß wir allenthalben von einer Wirklichkeit umfangen sind, in die wir hineingeboren werden, durch welche wir mittels unserer Sinnesorgane Kenntnis erhalten, mit der wir uns im handelnden Leben auseinanderzusetzen haben. Diese wie immer zu formulierende Annahme beherrscht nicht nur die natürliche Weltauffassung; sie wirkt auch in der wissenschaftlichen Weltbetrachtung fort. Für die Erfahrungswissenschaft zumindest ist und bleibt die Wissenschaft dauernd auf einen vom einzelnen Denken unabhängigen Gegenstand bezogen, dessen Erkenntnis eben die Aufgabe der Forschung ist. So wesentlich ist der Erfahrungswissenschaft diese Beziehung, daß in einem System von Aussagen, in welchen ihr Wissen und ihre Erkenntnis niedergelegt ist, die Wirklichkeitsaussagen einen unaufhebbaren Teil, ihre Rechtfertigung geradezu die zentrale Aufgabe in einigen von ihnen bilden. Erkenntnis erschöpft sich nicht in der Herstellung eines Verknüpfungszusammenhangs zwischen vorgestellten Gegenständen, sondern enthält zugleich auch Behauptungen über deren Wirklichkeit oder Unwirklichkeit. Neben die Aussagen, die nur eine begriffliche Beziehung enthalten, treten die Aussagen, die einem Gegenstand Wirklichkeit zu- oder absprechen. Keine Wissenschaft ist bloße Gesetzeserkenntnis; allemal erfordert sie auch eine Untersuchung der Subjekte, von denen die Gesetze gelten. Bezeichnet man diese auf die "Wirklichkeit" der Gegenstände gerichtete Untersuchung als historisch, dann ist jede Erfahrungswissenschaft, auch die abstrakte mathematische Theorie der Naturforschung, historisch. Es ist hier gleichgültig, wie diese beiden wohl zu unterscheidenden Klassen von Urteilen, in welche sich unser Erfahrungswissen (soweit es in Urteilen vorliegt) zumindest methodisch trennen läßt, benannt und des Näheren abgegrenzt werden. Mag man den bloß begrifflichen Sätzen die Wirklichkeitsaussagen als eigentliche Urteile (RIEHL) oder den Beziehungsurteilen Realurteile (von KRIES) oder ganz allgemein den Idealurteilen Realurteile (ERDMANN) gegenüberstellen, so tritt in diesen Klassifikationen jedenfalls die Anerkennung der Eigenart der Wirklichkeitsaussagen und ihrer unaufhebbaren Bedeutung für den Aufbau der Erfahrungswissenschaft hervor.

Diese allgemeinen Unterscheidungen dürften, zumindest prinzipiell, von jedem philosophischen Standpunkt aus zugestanden werden. Eine grundsätzliche Verschiedenheit der Auffassung erhebt sich aber sofort, wenn nach dem Sinn der Realitätsurteile gefragt wird. Was heißt das, wenn ich sage, daß PYTHAGORAS wirklich gelebt hat, - daß es N-Strahlen gibt, - daß auf dem Mars intelligente Wesen wohnen, - daß die Atome der Chemie oder die Elektronen der Elektrodynamik wahrhaft existieren? Daß in der Aufklärung des Sinnes solcher und ähnlicher Realbehauptungen überhaupt ein Problem, ja ein zentrales Problem aller theoretischen Philosophie liegt, bedarf keiner Rechtfertigung. Aber jeder Versuch seiner Auflösung führt zu Auffassungen, welche gewisse letzte Standpunkt der theoretischen Philosophie einschließen und daher geschichtlich in einer Mehrheit sich bekämpfender Lehren hervorgetreten sind.

Die Frage, wie zwischen ihnen zu entscheiden ist, darf zumindest zunächst nicht in der Form gefaßt werden, daß erörtert wird, ob eine Wirklichkeit, die man aus methodischen Gründen in Zweifel ziehen kann, überhaupt existiert oder ob die Realität der Außenwelt sich beweisen läßt oder nicht. Denn schon, um an der Wirklichkeit zweifeln zu können, muß ich einen Begriff von Wirklichkeit besitzen, mit dem verglichen etwa die sinnlich erfahrbare Welt oder die gedachten Objekte als wirklich oder unwirklich zu bestimmen sind. Im universalen Zweifel des DESCARTES tritt diese Voraussetzung deutlich hervor. Erwägt man ernsthaft und konsequent die Möglichkeit, ob das Leben und das Weltgeschehen ein Traum ist, so ist ein doppeltes möglich. Entweder man bezieht auch den Träumenden in diesen Traum hinein, so daß hypothetisch bleibt, wem der Trauminhalt zuzuschreiben ist; dann hat man der ganzen Welt nur einen anderen Namen, aber nicht einen anderen Charakter gegeben, da in ihr alle Vorstellungsbeziehungen, die in der gewöhnlichen Erfahrung auftreten, unverändert bleiben. Oder aber man hält mit der analogischen Übertragung der Traumbeziehung auch die realistische Voraussetzung, unter der das Träumen im Gegensatz zum träumenden Menschen vorgestellt wird, fest, dann ist zwar kein Wunder, daß aus dem Traumbewußtsein ein reales träumendes Ich gefolgert werden kann, aber es bleibt unbegründet, mit welchem Recht man diese realistische Voraussetzung festgehalten hat. Der Zweifel an der Wirklichkeit wie seine Widerlegung setzen bereits die Kenntnis des Begriffs der Wirklichkeit und seine Anerkennung voraus.

Somit hat die Untersuchung, wenn sie wahrhaft kritisch verfahren will, von einer Analyse des Wirklichkeitsbegriffs und der Auffassung des Sinnes von Realbehauptungen überhaupt auszugehen. Und da darf nun als das Ergebnis der Kritik, die in der Auflösung des ontologischen Gottesbeweises gipfelte, hingenommen werden, daß Realität, die von einem Gegenstand ausgesagt wird, kein Merkmal eines Begriffs ist. Die Bejahung oder Verneinung der Realität eines Gegenstandes ändert an seinem vorgestellten Inhalt nichts, sondern geht auf das Ganze dieses Inhalts.

Seit KANT und HERBART ist für den Akt, durch welchen einem Gegenstand Realität zugesprochen wird, der Name "Setzung" geläufig geworden. Indessen ist hierbei von vornherein ein Mehrfaches zu beachten und sorgfältig zu scheiden. Denn zweifellos ist, daß der Gegenstand jedes Urteils und nicht nur der von Realbehauptungen in einem gewissen Sinn gesetzt wird. Denken schließt immer die Beziehung auf einen Gegenstand ein. Wenn wir denken, denken wir an etwas oder über etwas, und der Bezug auf dieses Etwas ist so wichtig, daß mit seinem Verschwinden auch jedes Denken aufhört. Daher bedarf die Setzung eines Gegenstandes im Sinne einer Realbehauptung noch einer näheren Bestimmung, da sie andernfalls von der bloß gedanklichen Setzung, welche alles Mögliche und Unmögliche einschließen kann, nicht zu unterscheiden wäre. Man kann diesen Tatbestand zur Festlegung einiger Termini benutzen. Sofern unser Denken sich auf einen Gegenstand bezieht und eben dadurch setzt, indem es denselben "meint", über ihn urteilt, von ihm aussagt, möge derselbe als im weitesten Sinn des Wortes "seiend" bezeichnet werden. So ist für das Denken die Zahl  2  in gleicher Weise wie das Energiegesetz oder eine kosmische Masse oder eine historische Persönlichkeit. Genauer läßt sich vielleicht noch dieses Sein als "ideales Sein" charakterisieren, indem es von dem (zunächst nicht erklärten) Begriff des realen Seins unterschieden wird. So besitzen alle Gegenstände unseres Denkens ein ideales Sein, dessen Sinn durch den Terminus der Setzung wohl erläutert werden kann, wenn auch zugegeben werden muß, daß er noch einer näheren Analyse bedürftig und fähig ist. Hier genügt die Erkenntnis, daß die bloße Setzung im Denken einem Gegenstand noch nicht die Realität verleiht, durch welche sich der reale Gegenstand vom bloß gedachten unterscheidet.

Von der Setzung aus läßt sich dem Begriff der Realität kein weiterer Sinn abgewinnen. Es hilft nichts, die Setzung noch weiter als "absolute Setzung" zu fassen, um damit auszudrücken, daß der Gegenstand nicht nur für das Denken oder für etwas überhaupt, sondern "ansich" gesetzt wird. Zwar überschreitet der Begriff der absoluten Position oder sein Korrelat, der Begriff des ansich Seienden, nicht die Kompetenz wissenschaftlicher Begriffsbildung überhaupt, er schließt nicht, wie man wohl gefolgert hat, einen Selbstwiderspruch ein. Denn der Gegenstand ist gegenüber dem Denken in einem logischen Sinn stets transzendent, er wird ja vom Erkennen umschlossen oder in irgendeiner Weise in sich hineingezogen, sondern nur von ihm "gemeint". Daher kann er alles sein und es läßt sich der Begriff eines Gegenstandes bilden, von dem bestimmt wird, daß er nicht nur Gegenstand des Erkennens ist. Aus dem Umstand, daß tatsächlich alles Sein, von dem wir wissen, als Objekt unseres Denkens oder als Gegenstand unserer Anschauung und unseres Erlebens uns entgegentritt, braucht nicht zu folgen, daß sich sein Sein in seinem Objektsein erschöpft. Der Begriff eines absoluten Seins schließt keinen Widerspruch ein, da das Absolute denken noch nicht heißt, es nur als gedacht oder denkbar vorstellen. Der Begriff eines Gegenstandes, von dem gefordert wird, daß er keine Beziehung auf ein Bewußtsein oder Erfahrung einschließt, ist völlig legitim. Aber eine solche Definition ist lediglich negativ. Sie gibt keinen Aufschluß darüber, was nun dieses "absolute ansich Sein" des Seins bedeutet, wenn nicht wieder der Begriff des idealen Seins oder sonst ein Inhalt der Erfahrung substituiert werden soll. So bezeichnet sie nur die Aufgabe, aber nicht ihre Lösung.

Aus Überlegungen dieser Art hat LOTZE das reale Sein durch die Einführung des Begriffs der Beziehung zu unterscheiden unternommen. Abstrahiert man von allen Beziehungen (z. B. räumlicher und zeitlicher Art), in denen die Gegenstände zueinander stehen, und versucht man dann noch ein Sein derselben festzuhalten, so sei nicht mehr angebbar, wodurch sich dieses Sein vom Nichtsein unterscheidet. Was nirgends ist, niemals ist, nichts wirkt und nichts leidet, ist überhaupt nichts. Es sei zwar möglich, einen Begriff des Seins abstrakt zu bilden, aber dieser bezeichnet nur ein Denkmögliches; tatsächlich besteht das Sein der Dinge für uns allein nur in der Beziehung oder Setzung bestimmter Beziehungen.

Entwickelt man diesen Gedanken weiter, dann liegt die Funktion der Realitätsbehauptung in der Einordnung der Gegenstände, von denen sie Wirklichkeit aussagen, in einen allgemeinen Beziehungszusammenhang. Das Sein eines Gegenstandes beruth dann in seinem Zusammensein mit anderen in einem sie umfassenden Verknüpfungssystem. Es ist gewiß, daß durch diese Wendung der Sinn der Realitätsurteile bedeutend geklärt wird. Sie bilden keine Ausnahme von dem Satz, daß das Wesen aller Urteile in der Setzung von Relationen besteht; und wenn auch der Begriff "sein" nicht in demselben Sinn wie ein anderer Begriff als Prädikat gebraucht werden kann, so bedeutet er doch in seiner prädikativen Verwendung die Forderung, den Gegenstand ein einem reichhaltigen Beziehungssystem zu denken, und ist daher einer Setzung von Relationen äquivalent.

Ebenso gewiß ist aber, daß hiermit der volle Sinn der Realitätsbehauptungen noch nicht erschöpft ist. Denn schließlich kommt die Frage nach dem Sein, wenn sie bezüglich eines isoliert gesetzten Realitätsurteils durch die Erkenntnis seiner Relationsnatur aufgelöst ist, sofort bezüglich des Beziehungszusammenhangs, in welchen eingeordnet wird, wieder. In welchem Sinn "ist" denn nun dieser Zusammenhang, dem wir die Gegenstände, von denen wir ein mehr als bloß ideales Sein annehmen, einordnen? Besteht das Sein eines Dings nur in seinem Zusammensein mit anderen, in einer wechselbezüglichen Verknüpfung mit ihnen, worin besteht denn das Sein ihrer aller oder des Weltganzen? Indem LOTZE zugibt, daß der mögliche Begriff des abstrakten Seins etwas im wirklichen Sein mitenthaltenes ausdrückt, wenn es auch nicht für sich abgesondert vorgestellt werden kann, gibt er zugleich zu, daß dem Beziehungszusammenhang des Seienden doch ein Eigentümliches innewohnt, durch welches sich derselbe als ein "wirklich" seiender von einem bloß gedachten unterscheidet. Das allgemeine Realitätsproblem ist somit nicht gelöst, sondern nur hineingeschoben; die Untersuchung des einzelnen Realurteils muß sich, da dieses sich als ein wesentlich einordnendes dargestellt hat, nun einem universellen Beziehungszusammenhang zuwenden, in den wir Gegenstände durch unsere wirklichkeitsbehauptenden Aussagen einordnen.

Läßt sich nun aber noch irgendetwas über das spezifische Sein dieses Zusammenhangs ermitteln? Fällt es nicht letztlich mit dem idealen Sein zusammen? Liegt nicht sein einzig unterscheidender Zug von beliebigen bloß als möglich gedachten Gegenständen in seiner logischen Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit? Kann das Weltganze, das alle Einzelwirklichkeiten in seinem Beziehungssystem umfaßt, als etwas anderes als ein im Denken gesetzter und für das Denken notwendig bestehender Verknüpfungszusammenhang gedacht werden?


2. Sein und Denken

Mit dieser Wendung eröffnet sich uns der idealistische Standpunkt, wie er in der Gegenwart am entschiedensten von COHEN und NATORP und ihren Schülern, der sogenannten Marburger Schule, entwickelt worden ist. Nach diesem Idealismus ist nirgends von einem außerhalb des Logischen anzusetzenden Sein zu reden. "Sein" und "wahr gedacht" sind streng identisch. Für das Denken kann es kein anderes Sein als ursprüngliches erdachtes Sein, d. h. ideales Sein geben. Das Weltganze hat keinen anderen Bestand als in den Begriffen und Urteilen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Damit reduziert sich das Realitätsproblem auf das Problem der Objektivität. Was objektiv, d. h. was notwendig und allgemeingültig zu denken ist,  ist  in diesem alle möglichen Sinn des Wortes. Das Realitätsurteil ordnet den fraglichen Gegenstand nur der Urhypothesis eines gesetzlichen Zusammenhangs von gedanklichen Bestimmungen ein.

Will man für die Kategorie der Realität, die als mögliches Prädikat in wissenschaftlichen Urteilen auch aus reinen Ursprungsbegriffen abzuleiten ist, eine besondere Denkfunktion ansetzen, so ist sie nur in einem Infinitesimalverfahren zu finden, durch welches in einem raum-zeitlichen Bezugssystem allererst der Übergang zur Extension, d. h. zur Setzung von Etwas in diesem System, ermöglicht wird. Natürlich darf der Gesamtinbegriff der gedanklichen Bestimmungen, den wir Natur oder Welt nennen, nicht als Schöpfung des psychologischen Subjekts, von welchem ja nur im Zusammenhang der Welt mit Sinn die Rede ist, betrachtet werden. So gewiß wie die Wissenschaft nicht die Summe individueller Vorstellungsakte der Einzelgeister ist, sondern ihnen gegenüber eine Unabhängigkeit und ein festes Gefüge aufweist, so wenig darf der  "logische oder  "methodische oder auch als  "klassisch"  bezeichnete  Idealismus  mit einem psychologischen Idealismus verwechselt werden, der die Welt zum Vorstellungsinhalt eines individuellen Bewußtseins verflüchtigt.

Es ist nun nicht uninteressant zu bemerken, daß diese Lösung des Realitätsproblems durch den "klassischen" Idealismus den rein methodischen Charakter desselben, den er so entschieden betont, in eigener Weise beeinflußt. Wird geltend gemacht, daß in der Annahme von selbständigen, sozusagen dinglichen Subjekten und Objekten, aus denen eine Wechselwirkung zwischen Erfahrung und Wissenschaft hervorgehen, unkritische, weil nicht gerechtfertigte und nicht nach ihrem Sinn geklärte Realbehauptungen enthalten sind, wird weiter hervorgehoben, daß die Aufhebung der vor der Erkenntnis seienden Dinge solange nicht genügt, als nicht auch ihr notwendiges Gegenglied, das erkennende Subjekt, seines metaphysischen Seins-Charakters entkleidet wird, dann ist nicht zu verkennen, daß damit nicht sowohl die Erkenntniskritik von allen absoluten Voraussetzungen losgelöst, sondern vielmehr sie selbst in eine Erkenntnis des Absoluten verwandelt wird. Denn gibt es außer dem logischen Zusammenhang weder Dinge noch ein Ich, welche vielmehr nur in ihm als gedankliche und in strenger Korrelation zueinander stehende Gegensätze zu scheiden sind, ist er somit weder als ein Produkt des Objektes noch des Subjektes noch ihrer Wechselwirkung zu begreifen, da jede Vorstellung von einem Produkt und von Wirkung und Ursache ebenfalls nur in seinem Rahmen und unter seinen Bedingungen möglich ist, dann ist er eben das einzigste, was es überhaupt gibt, wird die Welt mit Einschluß aller Subjekte und Objekte in ihr zu einem sich entfaltenden Logos. Eine panlogistische Metaphysik ist die unabwendbare Konsequenz einer jeden Logik, die sämtliche Realbehauptungen auf logische Relationen reduziert. Wird der Ursprung alles Wissensinhaltes im reinen Denken oder vielmehr im rein Gedachten (denn von der Denktätigkeit der psychologischen Subjekte ist zu abstrahieren, da diese ja immer nur wieder durch ein Denken zu bestimmen und erfassen sind) gefordert, dann ist das reine, ideale Sein das einzige, von dem die Rede sein kann, dann ist die Bahn beschritten, die unweigerlich von KANT zu HEGEL führt, wobei von untergeordneter Bedeutung ist, wie die Methode zur Erkenntnis der Entfaltung des Logos im einzelnen ausgeführt, ob sie etwa als ewig abschlußlos behauptet wird. Entweder ist das denkende Ich oder der Geist der Schöpfer zwar nicht der logischen Gesetzlichkeit selbst, wohl aber des gedanklichen Systems, das wir Welt nennen, dann liegt es dieser Welt als ein Absolutes voraus; oder es bildet, wie es der methodische Idealismus verlangt, nur ein Glied in diesem System, dann ist eben dieses System das Absolute.

Nun ist gleichgültig, wie über diesen metaphysischen Charakter der "Logik des Ursprungs" zu urteilen ist, ob weiter die besonderen Schwierigkeiten, die in ihr angelegt sind und sich besonders in der Zeitlehre zusammenziehen, ihre wissenschaftliche Durchführbarkeit gefährden. Auch wenn man sich auf die rein kritische Fragestellung beschränkt, lassen sich durchgreifende Einwände nicht unterdrücken, Einwände, die gerade für die in ihm ausgesprochene Auffassung des Seins von entscheidender Bedeutung sind.

Zunächst muß hervorgehoben werden, daß dem Bestimmungszusammenhang, den wir Welt nennen, auch dann, wenn wir ihn vorläufig als einen rein gedanklichen betrachten, Merkmale zukommen, welche ihn von anderen möglichen (zu denen hier nicht die Wertsysteme zu rechnen sind) unterscheiden. Das wichtigste ist, daß diesem Zusammenhang, wieweit auch die Freiheit in der hypothetischen Setzung seiner einzelnen Bestimmungsstücke geht, im ganzen Einzigkeit zukommen muß. Diese Einzigkeit drückt sich aber vor allem in seiner Bestimmtheit aus, die, wenn sie auch nie in abschließender Weise zu erfassen sein sollte, doch allen einzelnen Bestimmungen Richtung und Ziele gibt. Unsere Welt ist, um mit LEIBNIZ zu sprechen, nur eine unter den möglichen Welten; und wenn jede möglich Weltvorstellung unter gewissen logischen Voraussetzungen, nämlich den Bedingungen einer synthetischen Einheit, stehen muß, so unterscheidet sich die unsrige noch durch eine Determination, welche - und das ist von höchster Bedeutung - nicht allein aus den logischen Bedingungen einer möglichen Weltvorstellung zu gewinnen ist. Diese "heteronome" [abhängig von anderen Einflüssen - wp] Determination tritt etwa in der Wahl des zugrundegelegten Raumsystems, der spezifischen Naturgesetzlichkeit, den empirischen Konstanten, den ersten anzusetzenden Kollokationen [Anordnung der Reihenfolge - wp], der Verteilung der Massen usw. hervor.

Nicht darum handelt es sich, ob die Forderung einer solchen Determination, also die Notwendigkeit ein Raumsystem zugrunde zu legen, gewisse Konstanten einzuführen, usw. aus logischen Gründen dargetan werden kann, sondern welche bestimmten Werte, etwa die Dreidimensionalität des euklidischen Raums, die numerischen Konstantenbestimmungen usw. ihnen genügen. Die Wechselbezogenheit, die gegenseitige Verfestigung und Beziehung aller Erkenntniselemente zueinander, die Möglichkeit des jederzeitigen Ersatzes der jeweilig gewonnenen Bestimmungen durch andere, dieser ganze hypothetische Charakter des immer werdenden, nie vollendeten Erkenntnissystems darf nicht vergessen machen, daß es als Ganzes noch von etwas anderem als dem Gesetz der Methode und den Prinzipien eines einmütigen und eindeutigen Zusammenhangs abhängig ist.

Dieses andere pflegt in der Regel als Erfahrung, d. h. als Empfindung, Wahrnehmung und Versuch bezeichnet zu werden. Wie verhält sich nun der gedankliche Zusammenhang, in den wir durch Realitätsurteile Gegenstände einordnen, zur Erfahrung? Wird durch sie der klassische oder methodische Idealismus ernsthaft gefährdet oder liegt nicht vielleicht in der Beziehung auf sie diejenige Qualität, welche ihm eine über den Charakter des idealen Seins herausreichende Bedeutung gibt? Denn hier ist, wenn irgendwo der Punkt, an dem ein Denkfremdes einzugreifen scheint, wo unserer Erkenntnis ein Gegebenes, das sie nicht aus ihrer eigenen Arbeit, aus ihren eigenen Mitteln erworben hat, entgegenzutreten scheint.

In der Tat knüpfen fast alle realistischen Gedankengänge an diese Bezogenheit der Wissenschaft auf die sinnliche Erfahrung an. Aber wie auch über ihre Folgerungen zu urteilen ist, so muß zugegeben werden, daß die bloße Berufung auf die Tatsache der Empfindung noch nicht zu einer Preisgabe des methodischen Idealismus führt. Denn auch dieser kann die Empfindung als Unterlage der wissenschaftlichen Forschungsarbeit ohne Korrektur seiner Prinzipien würdigen. Freilich erfährt dabei die Empfindung eine eigentümliche Interpretation, wird auch sie in den funktionalen Zusammenhang des Erkenntnisganzen mit hineingezogen, der durch eben diese Erweiterung seinen Charakter von Selbstgenügsamkeit nicht einbüßt. Die Empfindung, so wird ungefähr eingewandt, ist ansich nichts vor allem Denken und unabhängig von ihm nichts Bestimmtes. Was das Nichtgedachte, Nichterkannte vor seinem Gedacht- oder Erkanntwerden ist, kann überhaupt nicht mit Sinn gefragt werden. Nur in einer unterscheidenden Verknüpfung mit anderen Empfindungen, nur im Zusammenhang eines weitverzweigten Beziehungssystems bedeutet eine einzelne Empfindung überhaupt irgendetwas. Eine Wahrnehmung unterscheidet sich inhaltlich schlechterdings nicht von der bloßen Denkbestimmung; denn was wir auch immer als Inhalt gegebener Wahrnehmungen aussagen mögen, ist als Aussageinhalt notwendig eine Denkbestimmung. Für den Forscher mag eine Wahrnehmung nach ihrem Inhalt mit ihrer Positivität ihm gegeben erscheinen; aber im Zusammenhang der Forschungsarbeit betrachtet bezeichnet die Wahrnehmung nur eine Stufe im Stufengang der Erkenntnis. Ihre Eigenart liegt darin, daß sie die Forderung der allseitigen Determination zum Ausdruck bringt. Sie ist nicht das letzte, wohin Erkenntnis strebt, sondern bildet nur einen Ansatz im Erkenntnisfortgang, der eine weitere Determination fordert. Die Empfindung ist nicht gegeben, sondern  aufgegeben;  sie ist nicht das Bekanntes, sondern das Unbekannte, das  X  der Gleichung der Erkenntnis, das niemals im endlichen Fortgang völlig bestimmt werden kann. Somit verweist die Empfindung auf nichts Denkfremdes; jede Frage nach ihrem "Wie" und ihrem "Woher" führt immer nur auf den universellen Erkenntniszusammenhang, in welchem sie allein eine Stelle und einen Sinn erhält. Die radikale Trennung von Denken und Empfindung ist so unberechtigt, wie die Losreißung irgendwelcher Erkenntnisfaktoren, die insgesamt in einer unaufhebbaren Korrelation zueinander stehen. Und schließlich kann eine solche Trennung immer nur wieder in einem Erkenntniszusammenhang erfolgen, welcher die zu trennenden Teile als gemeinsame Glieder umfaßt. So wenig widerstreitet dieser Idealismus dem gesunden Empirismus der positiven Forschung, daß er gerade wegen der Wechselbezogenheit aller Erkenntnisfaktoren die durchgängige und strenge Bezogenheit von Denken und sinnlicher Erfahrung fordert. Ja, wenn zumeist in seiner Darstellung der Ausgang von dem im Urteil sich vollziehenden Denken gewonnen wird, so liegt vermöge der inneren Einheit des Systems auch die Möglichkeit vor, von der Empfindung auszugehen, um zur gleichen Grundansicht zu kommen, daß alle Erkenntnisarbeit darin besteht, die in der Empfindung gesetzte Aufgabe durch die Entwicklung all der Relationen, innerhalb welcher die Empfindung erst Bedeutung erhält, zu lösen.

Hier ist nun von Belang, ob durch diese oder ähnliche Ausführungen die methodische Funktion der Empfindung für den Erkenntnisfortgang hinreichend charakterisiert ist oder nicht. Es läßt sich die Frage nicht abweisen, ob durch sie die schon erkannte Notwendigkeit, die Determination des Erkenntnisganzen von einem Denkfremden abhängig vorzustellen, welche Abhängigkeit in der Beziehung der Erkenntnis auf die Empfindung eine Bestätigung zu erhalten schien, widerlegt ist. Diese Frage muß verneint werden. Selbst wenn die Empfindung nur als Aufgabe der Erkenntnis gewertet wird, so bleibt ihr doch ein Doppeltes, das niemals aufgehoben oder zu einem bloßen Moment herabgedrückt werden kann. Auch als Aufgabe ist sie gegeben, nämlich aufgegeben, und andererseits wird sie in einem Bewußtsein von uns erfaßt, das spezifischer Natur ist, und sich niemals in eine bloße Relationssetzung auflösen lassen will.

Wenn die Empfindung dem Denken allererst die Aufgaben stellt, dann tritt hierin eine Orientierung des Denkens an etwas außer ihm liegenden hervor, durch welche es sozusagen nicht nur angeregt wird, sondern zugleich Richtung und Bestimmung erhält. In der Abhängigkeit von den gegebenen Aufgaben wird eine spezifische Gebundenheit des Denkens sichtbar, welche grundsätzlich von der allgemeinen Gesetzlichkeit des Denkens zu unterscheiden ist. Denken heißt natürlich immer sich binden oder vielmehr den Gegenstand als gebunden, d. h. als bestimmt vorstellen. So weist jede Erkenntnis notwendig ein Gefüge auf, das aber wegen seines Ursprungs aus der Gesetzlichkeit des Denkens nicht über dasselbe hinausreicht und deshalb autonomen Charakter beanspruchen kann. Hier aber handelt es sich um eine spezifische Gebundenheit, die innerhalb des Rahmens der allgemeinen Gesetzlichkeit die gesetzliche Bestimmung des Gegenstandes leitet, den wir Natur oder Welt nennen, und da sie aus den autonomen Bedingungen des Erkennens nicht abzuleiten ist, als heteronom bezeichnet werden muß. Ist aber die Empfindung eine Erkenntnisforderung, sind in ihr die Aufgaben des Denkes gegeben, dann muß sie auch die Bestimmtheit zumindest besitzen, ohne welche keine Aufgaben möglich sind. Bloße Fragezeichen sind noch keine Fragen; die allgemeine und unbestimmte Forderung, überhaupt etwas zu bestimmen, ist auch dann keine Erkenntnisaufgabe, wenn selbst die Bestimmungsmittel alle bekannt und abgeleitet sind. Strenggenommen darf daher die Empfindung nicht als das  X  der Gleichung der Erkenntnis bezeichnet werden. Nur das Erkenntnisergebnis, das begrifflich bestimmte Objekt verdient nach der Grundanschauung des methodischen Idealismus in dieser mathematischen Analogie die Bezeichnung des Unbekannten. Die Empfindung dagegen ist, wie bedingt sie auch auftritt und wie notwendig alle Aussagen von ihr auf Denkbestimmungen gehen, mehr als ein schlechthin Unbekanntes, ein bloßes  X denn sonst önnte sie nicht einmal Aufgabe sein. Im Bild einer Gleichung der Erkenntnis ist durch die Beziehung des zu bestimmenden Gegenstandes, des  X,  auf eine Empfindung durch diese zugleich die Form der Gleichung wie die Wahl ihrer Elemente bestimmt; im Ansatz der Gleichung, wie hypothetisch er auch ist, prägt sich diese Bezogenheit auf eine empfindungsdeterminierte Aufgabe aus. Dem entspricht, daß sich im Auftreten von Empfindungen eine Faktizität bekundet, die, wie sie vom Denken auch gedeutet werden mag, als solche niemals in eine bloße Stufe des logischen Prozesses verwandelt werden kann. Die Empfindung ist nicht nur eine Forderung, sondern bereits die Erfüllung. Nur von einem Standpunkt fragender Erkenntnis kann sie als Aufgabe der Erkenntnis gedeutet werden; in der Anschauung des Lebens und der Kunst erweist sie ihre Selbstgenügsamkeit. Sie ist daher schon eine vollzogene Synthese. Unternimmt das Denken die Primitivität dieser Synthesen durch vollkommenere Formen zu ersetzen, so bleibt es dauernd am Faktum der ursprünglichen Synthesen, welche nicht aus ihm hervorgebracht sind, gebunden. Das Hervortreten von Empfindungen ist auch dann kein Denkerzeugnis, keine logische Konsequenz, kein Produkt der Methode, wenn wir zu den hervortretenden Empfindungen durch Denken und in einem methodischen Zusammenhang gelangen. Untersuche ich eine Reihe von Handschriften, die in den verschiedenen Archiven Europas aufbewahrt sind, suche ich durch einen Vergleich der Verschreibungen, des Papiers und der Tinte ihr Abhängigkeitsverhältnis zueinander zu ermitteln, bemühe ich mich, die abgewaschene oder wegradierte Schrift eines Palimpsestes sichtbar zu machen und zu lesen, dann hat das alles nur Sinn und Verstand, sofern ich dabei festen methodischen Grundsätzen folge. Erforscher ich die Gestaltung eines Gebirges, unternehme ich aus der Beschaffenheit der Gesteinsausbildung in den verschiedenen Schichten und Teilen ursprüngliche Faltungen und Überschiebungen zu erkennen, rekonstruiere ich aus gefundenen Bruchstücken fester Skelette, Zähne, Schalen, Versteinerungen ausgestorbene Formen der Tier- und Pflanzenwelt, so führt das Verfahren nur dann zu einem Ziel, wenn es von Ideen des zu Erreichenden geleitet ist, wenn methodisches Denken es trägt. Aber darum ist die auf einem halb verkohlten Papyros sichtbar werdende Schrift ebensowenig wie die gefaltete Erdrinde oder das fossile Geschöpf eine bloße Denkschöpfung. Auch KOLUMBUS folgte auf seiner kühnen Fahrt gedanklichen, sogar sehr wissenschaftlichen Überlegungen; aber das neue Land, das er entdeckte, blieb ihm und uns allen kein bloßer Gedanke. Methode muß bei der Arbeit sein, aber das heißt nicht, daß alle Arbeit und alles durch Arbeit Gefundene nur ein Denkprodukt ist. Natürlich muß jede Bestimmung, die für das Denken gelten soll, durch ein Denken gerechtfertigt werden; aber daß jede Bestimmung daher eine bloße Denkbestimmung sein soll, ist eine ebenso unbegründete Behauptung, wie, daß es Bestimmtheit nur im Denken geben kann. Setzt jede Empfindung, um zu einem deutlichen Bewußtsein gebracht zu werden, Identifikationen und Unterscheidungen voraus, so ergeben bloße Identifikationen und Unterschiedssetzungen niemals eine Empfindung.

Daher beweisen, wie man zu sagen pflegt, Tatsachen, d. h. letzthin Empfindungen doch recht viel. Natürlich entscheiden sie nur über vorgedachte Möglichkeiten, aber sie entscheiden doch, wofür die Vorausberechnung von Dingen und Ereignissen, wie die bekannte Vorausberechnung des Neptun, ein unwiderlegliches Zeugnis geben. Die zum Zweck der Erklärung der Uranusstörungen unter Beibehaltung des Gravitatiosgesetzes ersonnene Hypothese eines bisher unbekannten Sterns fand ihre Bewahrheitung schließlich einzig darin, daß GALLE in einem gewissen Augenblick eine gewisse Lichtempfindung hatte. Wäre sie bei ihm und den ihm folgenden Beobachtern ausgeblieben, dann hätte die ersonnene Hypothese der störenden Masse oder die zugrunde gelegte im Gravitationsgesetz sich aussprechende Auffassung von einem dynamischen Zusammenhang unseres planetarischen Systems aufgegeben werden müssen. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die Deutung des von GALLE empfundenen Lichteindrucks schon wiederum ein sehr vielseitig entwickeltes System von funktionalen Beziehungen voraussetzt. Die Entdeckung des Nepton ist mehr als eine bloße Entdeckung von Systembeziehungen, sie bedeutet vielmehr eine inhaltliche Bereicherung unserer Erfahrung. Es ist daher unzureichend, das allein wirklich zu nennen, das in der Totalhypothese der widerspruchsfreien Einheit der Natur allseitigen Bestand hat; notwendig gehört dazu auch die unmittelbare oder irgendwie vermittelte Legitimation durch die sinnliche Empfindung, ohne welche innerhalb der Totalhypothese der widerspruchsfreien Einheit der Natur unter den möglichen Durchführungen und möglichen individuellen Ausprägungen nicht entschieden werden könnte. Das aber heißt, die Empfindung stellt nicht nur der Erkenntnis Aufgaben, sondern ist zugleich, wenn auch nicht allein, Richterin über deren Lösung. Am greifbarsten tritt die Funktion der Empfindung in der Determination unseres Erkenntnissystems etwa durch empirische Konstantenbestimmungen hervor. Diese sind niemals durch bloßes Denken zu ermitteln, sie erfordern immer die methodische Befragung der Natur, die uns ihre Antworten in den Empfindungen gibt. Es mag fraglich sein, ob nicht schon die Gebundenheit unserer Raumauffassung ihren anschaulichen Charakter dokumentiert. Daß aber die empirischen Exponenten unserer Erfahrungswissenschaften in der Erfahrung und zwar in der sinnlichen Anschauung wurzeln, kann solange keinem Zweifel unterliegen, als bis es gelungen ist, auch nur eine empirische Konstante aus dem "reinen" Denken allein, ohne Verunreinigung durch eine Empfindung, zu ermitteln.

Damit erfährt das Realitätsproblem eine bedeutende Wendung. Denn wenn der von den Bedingungen des Erkennens unabhängige Erfahrungsgehalt, der uns zunächst in der Empfindung entgegentritt, zumindest als Aufgabe gegeben und als solche anerkannt wird, dann heißt das doch, daß das Erkenntnisproblem nicht mit rein logischen Mitteln behandelt werden kann, daß seine Auflösung nicht nur den Bezug auf etwas Außerlogisches einschließt, sondern daß es als Problem überhaupt erst durch diesen Bezug möglich wird. Schon darum kann der Realitätsbegriff nicht als Moment innerhalb der methodisch aufzubauenden Erkenntnis, als Modalitätsstufe oder sonstwie betrachtet werden, da er vielmehr aller Erkenntnisarbeit gegenüber selbständig ist, da nur durch ihn Erkenntnisarbeit möglich wird, weil sie Aufgaben erhält.

Dieses vermag die Empfindung aber nur zu leisten, weil sie uns in einem Bewußtsein gegeben ist, das, wie immer es auch mit Urteilen verschmolzen ist, in letzter Instanz ein eigenes ist. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Empfindung nur in einer Relation zu anderen von uns erfaßbar, jedes Urteil über Empfindungen nur durch den Bezug auf Beziehungssysteme logischer Provenienz [Herkunft - wp] sinnvoll ist. Aber darum ist die Empfindung selbst noch keine Relation. Das theoretische Denken mag sich mit der Setzung von Systembeziehungen zwischen Beziehungspunkten, die keine andere Bestimmung als durch die zwischen ihnen bestehende Beziehung besitzen, begnügen lassen; in der sinnlichen Erfahrung treten uns dagegen die Empfindungen als ein erfülltes durchaus bestimmtes, durch kein Denken aufzuhebendes Etwas entgegen. Der theoretische Naturforscher ist vielleicht berechtigt, im Atom, dem Elektron usw. nur vorläufige Haltepunkte für die Fixierung seines ihn allein interessierenden Gesetzeszusammenhangs zu sehen, Haltepunkte, die in jedem Augenblick durch andere ersetzt werden könnten. Der Ton dagegen, den ich in diesem Augenblick höre, die Farbe, die ich in diesem Augenblick empfinde, sind in voller Präsenz und Anschaulichkeit da; ich muß sie in ihrer Präsenz und Anschaulichkeit respektieren; sie werden niemals etwas anderes, wie ich auch über die Ursachen ihrer Entstehung denke, wie ich die Hypothesen ihrer Erklärung ändere. Durch alle diese Züge charakterisiert sich das Empfindungsbewußtsein als ein eigentümliches, das dem urteilenden Bewußtsein, von dem es freilich nur in Abstraktion losgelöst werden kann, selbständig gegenübertritt.

Mit dieser Einsicht ist aber viel gewonnen. Das Wichtigste ist, daß die vom klassischen oder methodischen Idealismus geforderte Einbeziehung der Empfindung in das Erkenntnissystem, in welchem sie nur einen zu anderen Erkenntnisfaktoren korrelativen Teil darstellen soll, daß der "Erfahrungsmonismus" preisgegeben werden muß. So gewiß die Welt der Empfindungen immer in eine Welt der theoretischen Deutungen eingebettet ist, so wenig es jemals gelingen wird, sie als den Inbegriff einer reinen Erfahrung restlos von aller intellektuellen Verarbeitung zu isolieren, so ist doch in ihr ein Kern und Bestand enthalten, der von grundsätzlich anderer Provenienz als das logische Denken ist. Alle Objektivität unserer Erkenntnis stammt aus der Gesetzlichkeit des Logischen und ist nur durch diese zu begründen; aber der konkrete Erkenntnisgehalt folgt nicht aus ihr. Wie er uns in der Empfindung in unmittelbarer Anschaulichkeit und Präsenz entgegentritt, kann er zwar nicht von uns erfaßt werden, da jede Fassung objektivierender Funktionen bedarf. Aber das ist eben das Entscheidende, daß uns in der Empfindung ein Wissen von etwas gegeben ist, das nicht als ein Moment in der Objektivation bestimmt werden kann, sondern dasjenige darstellt, das aller Objektivation Inhalt und Bestimmtheit verleiht. Begrifflich lassen sich jedenfalls Empfindung und Denken als zwei selbständige Faktoren sondern und zwar als Faktoren, die nicht nur wechselbezügliche Momente in einem einmütigen Erkenntnisgefüge sind, sondern die sich als nach Art und Wesen verschiedene Weisen unseres Bewußtseins darstellen.

Diese Unterscheidung darf natürlich nicht durch die Gegenbemerkung angefochten werden, daß sie selber wiederum nur unter den Bedingungen des Erkenntnisganzen möglich ist und daher eine sinnvolle Bedeutung nur im Rahmen einer objektiven Weltansicht besitzt. Nichts ist falscher als das. Die Trennung von Empfinden und Denken setzt ebensowenig eine objektivierende Wissenschaft, wie die der einzelnen Empfindungen und Empfindungsklassen voneinander voraus. Nur solange der Begriff der Empfindung dogmatisch, etwa im Sinne irgendeiner psychologischen oder physiologischen Theorie gefaßt und in einem Sinnesorgan oder im psychophysischen Subjekt lokalisiert gedacht wird, könnte mit einem Schein der Berechtigung eingewandt werden, daß der Rückgang auf sie den Hinabstieg zu einer Erfahrungswissenschaft bedeutet, deren Ergebnisse naturgemäß nicht in einer Untersuchung der Bedingungen möglicher Erfahrung überhaupt angezogen werden dürfen. Wäre dies richtig, dann wäre jede Erkenntnistheorie (wie man das auch behauptet hat) einem unheilvollen Zirkel verfallen; denn jede von ihnen setzt eine gewisse Denkerfahrung und entsprechende Scheidung von Elementen innerhalb dieser voraus. So ist beispielsweise die Trennung von Denkakt und Denkinhalt, welche eine der Grundannahmen des logischen Idealismus ist, nur durch eine Analyse der Denkerfahrung zu begründen. Jede Herausarbeitung des "reinen" Denkens schließt sehr bestimmte Rücksichten auf die nicht reinen Teile der Erfahrung ein. Nur durch die Besinnung darauf, daß wir denken, vermögen wir, wie es BENNO ERDMANN scharf und treffend formuliert hat, zu erkennen, wie wir denken. Dieser gefährliche Zirkel, der in der Notwendigkeit jeder Erkenntnistheorie enthalten ist, auf gewisse Erfahrungsunterlagen zurückzugreifen, wird nicht dadurch behoben, daß man die psychologische Analyse nur als eine Vorstufe gelten läßt, während die Erkenntniskritik nicht dem Ursprung, sondern dem Rechtsgrund in der Verwertung der durch die psychologische Analyse gewordenen Elemente für den Aufbau unserer Erkenntnis gilt. Angenommen, daß hiermit alle Schwierigkeiten beseitigt werden, dann sind auch alle Bedenken entkräftet, welche sich gegen die Verwertung der Empfindung richten; denn auch sie erstrebt keine genetische Erklärung, sondern kritische Würdigung. Aber damit ist schließlich nicht allzuviel geleistet. Wirklich beseitigt wird die Gefahr dieses vernichtenden Zirkels nur durch die Einsicht, daß die phänomenologische Scheidung des Erfahrungsbestandes in zu sondernde Klassen von Phänomenen eine Objektivierung derselben nicht voraussetzt, d. h. ebensowenig von ihnen etwa nur im Sinne von subjektiven Phänomenen handelt. Bei der Unterscheidung von Denkvorgang und Denkinhalt, von logischer und psychologischer Gesetzmäßigkeit, von Denkbestimmung und von Empfindungsbewußtsein kommt die Hypothese eines Gesetzeszusammenhangs der Natur überhaupt nicht in Betracht. Analysen dieser Art, für welche HUSSERL und STUMPF den zweckmäßigen Namen einer Phänomenologie vorgeschlagen haben, setzen die Anwendung gegenständlicher oder konstitutiver Kategorien nicht voraus; sie bedienen sich nur der reflexiven Kategorien, um das in der unmittelbaren Erfahrung Enthaltene zu einem distinkten Bewußtsein zu erheben, ohne dieses in seinem Charakter zu ändern. Aber wie man nun auch über die methodische Eigenart der Phänomenologie denken mag; das Eine ist ersichtlich, daß der Rückgang auf das Empfindungsbewußtsein nur eine legitime Erweiterung desselben Verfahrens darstellt, dessen jede Erkenntnistheorie sich zur Ermittlung der von ihr zu verwendenden Elemente bedienen muß und daher so berechtigt ist wie Erkenntnistheorie überhaupt.

Der logische Idealismus, der die Autonomie des Logischen für alle Erkenntnis durchführen will, findet seine erste Grenze an der Autonomie des sinnlichen Bewußtseins, das auch er prinzipiell, als aufgebendes Bewußtsein, anerkennen muß, das aber nicht als ein gleichförmiges  X,  sondern als ein Mannigfaltiges und Bestimmtes erfahren wird. Die Einheit der Erfahrung, die er fordert, ist nicht gleichbedeutend mit der Einheit der Erfahrungsweise, als welche ihm allein eine Bestimmung durch das Denken erscheint. Die Erfahrung ist uns vielmehr in verschiedener Art zugänglich und jede dieser Arten bedeutet für uns eine selbständige Quelle des Wissens.

Daher ist es dann auch berechtigt, zur Präzision des in den Erfahrungswissenschaften verwandten Wirklichkeitsbegriffs den Bezug auf die Sinnesempfindungen ausdrücklich als ein auszeichnendes Merkmal mit aufzunehmen. Der Zusammenhang, in welchen wir durch Realitätsurteile Gegenstände einordnen, wird dann durch das Merkmal seiner Gebundenheit an die sinnliche Erfahrung zu charakterisieren sein, in welcher uns ein Gegenstand in noch anderer Weise als in einer gedanklichen Erfassung, nämlich anschaulich, erscheint.

Bezeichnet das ideale Sein die allgemeinste Eigenschaft aller Gegenständlichkeit, die Gegenstände als Objekte des Denkens besitzen, so mag zu weiteren terminologischen Scheidung "Existenz" ein allseitig bestimmtes ideales Sein oder ein ideales Sein in einem bestimmten Zusammenhang genannt werden; in diesem Sinne "existieren" die Gegestände der Mathematik. Sie sind, sie existieren, wenn sie widerspruchsfrei mit den Grundgesetzen gebildet und allseitig bestimmt sind, daher existieren auch komplexe Größen ebenso wie reelle. Aber Existenz im Sinne der Erfahrungswissenschaften ist das nicht. Die Behauptung, daß es Schwefelwasserstof oder Marsmenschen gibt, ist logisch nicht gleichwertig der Behauptung, daß es √-1 gibt. Die Realitätsaussagen schließen den freilich noch der näheren Erläuterung bedürftigen Bezug auf die Sinneswelt ein. Die Existenzaussagen der Mathematik sind unabhängig von aller Sinnlichkeit und gehen auf bloß ideales Sein.

Diese Beziehung unseres Erkenntniszusammenhanges auf die Empfindung liegt letztlich auch HERBARTs Begriff der absoluten Position zugrunde. Wo immer HERBART erläutert, wie wir es machen sollen, etwas als seiend zu setzen, antwortet er: Setzet es so, wie Ihr ursprünglich in der Empfindung gesetzt habt und mischt nichts ein, was diese Art der Setzung stören könnte. In der Empfindung ist die absolute Position vorhanden, ohne daß man es merkt; im Denken muß sie erst erzeugt werden; das Denken setzt nur versuchsweise und mit Vorbehalt der Zurücknahme; auf diesen Vorbehalt Verzicht leisten heißt etwas für seiend zu erklären. Und ähnlich greift KANT in seinen verschiedenen Erklärungen des Realitätsbegriffs, den er von der Kategorie der Realität sorgfältig schied, auf die Wahrnehmung zurück, welche unmittelbar etwas Wirkliches im Raum beweist oder vielmehr das Wirkliche selbst ist. Daher ist nach ihm wirklich alles, was nach materialen Bedingungen der Erfahrung mit der Empfindung zusammenhängt.

Sie wäre dann im Anschluß an diese und ähnliche in der Geschichte hervorgetretenen Anschauungen der Zusammenhang, in welchen wir durch Realitätsurteile Gegenstände einordnen, als Wahrnehmungszusammenhang zu bezeichnen, der eben darum, weil er in seinen Elementen von uns unmittelbar empfunden, d. h. in einer anderen als gedanklichen Weise von uns erfaßt wird, mehr als ein bloß gedachter ist.

LITERATUR: Max Frischeisen-Köhler, Das Realitätsproblem, Berlin 1912