p-4cr-2ra-1W. T. MarvinVeryckenTh. NagelJ. GuttmannE. König    
 
RICHARD BAERWALD
Die Objektivierung
der subjektiven Vorstellung

[Darstellung und Geschichte eines
erkenntnistheoretischen Denkfehlers]

[ 1 / 3 ]

"Das realistische Erkennen ist eine Beziehung. Zu jeder Beziehung ist Zweierlei notwendig: eine Unterscheidung mehrerer Glieder und eine Verbindung derselben, Trennung auf der einen, Zusammenhang auf der anderen Seite. So besteht auch das Erkennen aus zwei Gliedern, zwischen denen eine Gleichheit, Ähnlichkeit oder Proportionalität besteht. Wer aus dem Erkennen eine dieser beiden Bestimmungen, Zweiheit und Entsprechung, wegnehmen will, zerstört den Begriff."

"Parmenides und Plato wollten das sinnliche Erkennen entwerten, und das Denken im Wert zu steigern. Warum man sich aber, wenn man dieses Erkennen aufheben will, keine Sorge deswegen macht, ob man dabei die Objekte verloren hat, diese Frage liegt wohl auf der Hand.


Einleitung

§ 1. Unter den philosophischen Disziplinen bietet außer der Philosophiegeschichte keine so große und eigentümliche Schwierigkeiten als die Erkenntnistheorie. Die Schuld an diesem Übelstand trägt einerseits ihr Unvermögen, konkret zu sein; der einzelne Fall pflegt in ihr nicht deutlicher und faßlicher zu sein als der allgemeine Satz, und dem Autor, der sich gern auch die sinnliche Vorstellung des Lesers als Bundesgenossing des Verständnisses gewinnen möchte, bleibt in diesem Fall nur das Surrogat des Beispiels: das Gleichnis. Ferner aber hat die Erkenntnistheorie es mit einem Abbilden oder Reflektieren zu tun, und diesem haftet jederzeit etwas Verwirrendes an. Tritt man in eine Halle, in welcher sich Spiegel gegenüberhängen und sich selber und einander und alles Dazwischenstehende in einer langen Reihe widerspiegeln, so daß man sich in eine endlose Gallerie versetzt glauben könnte, dann bedarf man stets erst eines Moments der Sammlung, um sich zu vergegenwärtigen, was man vor sich hat. Ähnlich verwirrend ist es, über die Vorstellung der Vorstellung eines Dings nachzudenken oder einen Satz auf sich selber zurückzubeziehen - ein Fall, der in der Erkenntnistheorie jeden Augenblick wiederkehrt.

Kein Wunder also, daß erkenntnistheoretische Untersuchungen stets zu zahlreichen Denkfehlern Anlaß boten, welche sich oft von Buch zu Buch fortpflanzten und das ganze Denken so durchsetzten, daß es kaum mehr möglich war, ihnen zu entgehen. Ja, einige dieser Fehler scheinen in der Natur des menschlichen Denkens begründet zu sein. Sie machten die wichtigsten Worte, welche den Erkenntnisvorgang illustrieren, von Anfang an zweideutig und lagen gleich geheimen Schlingen in der Sprache verborgen. Man hätte es mit großer Sicherheit voraussagen können, daß ihnen früher oder später einmal die Philosophie zum Opfer fallen mußte, und daß es ihre Bestimmung war, eine große Rolle in derselben zu spielen.

Diese Fehler, als allgemeine und gesetzmäßige Erscheinungen, können Gegenstände wissenschaftlicher Forschung sein. Ihre Darstellung würde sich als ein Appendix [Anhang - wp] der Logik ansehen lassen.

§ 2. In diesem Sinne möchte ich den hauptsächlichsten der beschriebenen Denkfehler - ich nenne ihn die Objektivierung der subjektiven Vorstellung - zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit machen. Wenngleich ich ihn in der Geschichte der Philosophie werde nachzuweisen haben und wir auf diese Weise nebenher auch ein Bild seiner Entstehung und Entwicklung bekommen werden, so ist unser Ziel doch kein historisches. Das einzelne Vorkommen des Fehlers bei diesem oder jenem Philosophen dient uns nur als Beispiel und als Mittel, auf induktivem Weg eine Übersicht seiner allgemenen Erscheinungs- und Wirkungsweise zu gewinnen. Der historische Teil dieser Schrift macht deshalb auch keinen Anspruch darauf, erschöpfend zu sein.

Aus dem gleichen Grund ist unsere Aufgabe auch keine kritische; freilich scheint sie das ganz unmittelbar zu sein, selbst dann, wenn eine Kritik einzelner philosophischer Ansichten nicht unsere eigentliche Absicht ist; heißt es denn nicht, dieselben bekämpfen und für falsch erklären, wenn man zeigt, daß sie sich auf einen Denkfehler gründen?

Ich glaube, ein solcher Schluß von der Begründung oder Entstehung einer philosophischen Ansicht auf ihre Berechtigung ist nicht ohne weiteres gestattet. Zunächst pflegen der Gründe, die zu einer Theorie geführt haben, mehrere zu sein; in diesem Fall beweist die Mitwirkung eines Denkfehlers am Zustandekommen der betreffenden Ansicht gar nichts für oder gegen dieselbe. Ferner ist der Fall nicht selten, daß eine richtige Ahung, über deren eigentliche Veranlassung man sich nicht klar geworden ist, nachträglich auf zweifelhafte, nur  ad hoc [für den Moment - wp] hervorgesuchte Gründe gestützt wird. Der Kampf gegen Gründe kann daher nie zur ausreichenden Widerlegung einer Ansicht dienen, sondern nur zu der Einsicht führen, daß dieselbe besser begründet werden müßte, um gültig zu sein. So können wir uns den Philosophemen gegenüber, die wir zu besprechen haben werden, völlig objektiv verhalten, ohne uns durch eine ungewollte Polemik von unserem eigentlichen Ziel ablenken zu lassen.

§ 3. Ehe wir uns mit der geschichtlichen Betrachtung selbst befassen, wird es nötig sein, die Begriffe zu verdeutlichen, mit denen wir es zu tun haben. Die Objektivierung der subjektiven Vorstellung besteht in einer Verwechslung von Begriffen der Erkenntnisbeziehung und hat dieselben ihrerseits mannigfach verfälscht und verändert. Um aber das Anormale zu verstehen, muß man zuerst das Normale begriffen haben, zum pathologischen Studium muß man schon anatomische und physiologische Kenntnisse mitbringen. So wird es auch unsere Aufgabe sein, die Erkenntnisbegriffe in ihrer ursprünglichen Gestalt zu betrachten, ehe wir ihren Veränderungen unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Aus demselben Grund werden auch einige Bemerkungen über den Idealismus nötig sein, denn auch dieser hat zahlreiche Einwirkungen von Seiten der Objektivierung der subjektiven Vorstellung erfahren. Sodann wollen wir sehen, worin dieser Denkfehler selbst besteht, und gleichzeitig einen anderen, den des "unmittelbaren Erkennens" erörtern, da derselbe stets mit dem ersteren verbunden auftritt.


Die ursprünglichen Begriffe des Erkennens

§ 4. Die erkenntnistheoretische Ansicht des naiven Menschen ist der Realismus, d. h. die Annahme, daß unseren subjektiven Vorstellungen eine äußere Wirklichkeit entspricht. Da nun die Begriffe - wenn auch nicht immer die Worte - des Erkennens meist ohne eine Beihilfe der Wissenschaft im Volksbewußtsein gebildet worden sind, so ist es natürlich, daß sie realistisch sind und sich in der einen oder anderen Weise auf eine äußere Wirklichkeit beziehen. Das ist der Grund, weswegen im Folgenden die realistischen Erkenntnisbegriffe zugrunde gelegt werden. Keineswegs will ich mich dadurch in den Streit zwischen Idealismus und Realismus einmischen und mich für den letzteren entscheiden. Denn dieser Streit liegt mir fern, und ich will versuchen, mich hier so viel wie möglich auf den Indifferenzpunkt zwischen beiden Ansichten zu stellen.

§ 5. Das realistische Erkennen ist eine Beziehung. Zu jeder Beziehung ist Zweierlei notwendig: eine Unterscheidung mehrerer Glieder und eine Verbindung derselben,  Trennung  auf der einen,  Zusammenhang  auf der anderen Seite. So besteht auch das Erkennen aus zwei Gliedern, zwischen denen eine Gleichheit, Ähnlichkeit oder Proportionalität besteht. Wer aus dem Erkennen eine dieser beiden Bestimmungen, Zweiheit und Entsprechung, wegnehmen will, zerstört den Begriff.

Was aber der Erkenntnisbeziehung vor manchen anderen Beziehungen eigen ist, ist die starke Betonung des ersteren Moments, der Trennung. Während dieselbe bei der Identität, dem Ineinander und ähnlichen Beziehungen fast ganz zurücktritt, beweisen bei der Erkenntnisbeziehung schon die Worte  Objectum  und  Gegenstand daß hier auf das Auseinander der Glieder Gewicht zu legen ist.

§ 6. Nicht das ganze Subjekt, nicht der ganze erkennende Geist ist dem Objekt ähnlich, sondern nur ein Teil desselben oder ein Vorgang an demselben, nämlich die subjektive Vorstellung. Diese ist also das Mittel der Werkzeug, mittels dessen das Subjekt die Erkenntnisbeziehung zwischen sich und dem Objekt herstellen kann. Wichtig ist es nun für uns, die Verschiedenheit der Verhältnisse zu erkennen, in denen das Subjekt zur subjektiven Vorstellung einerseits, zum Objekt andererseits steht. Zwischen Subjekt und subjektiver Vorstellung besteht nämlich ein Substantialverhältnis - die Vorstellung ist ein Vorgang im erkennenden Geist (1) - zwischen Subjekt und Objekt dagegen eine Erkenntnisbeziehung. Das Subjekt  hat  die subjektive Vorstellung, und mittels derselben  erkennt  sie das Objekt.

Es ist übrigens kein Pleonasmus [Doppelmoppel - wp] wenn wir von einer subjektiven Vorstellung sprechen. Eine Vorstellung ist ein absolutes Ding, das innerhalb verschiedener Beziehungen verschiedene Stellen einnimmt, also bald subjektiv, bald objektiv sein kann. Sah ich gestern eine Eiche, so war die Vorstellung des Baumes in mir Erkenntnismittel, also subjektiv. Erinnere ich mich heute, die Eiche gesehen zu haben, so ist dieselbe gestrige Vorstellung mein Objekt, und meine jetzige Erinnerung vertritt die Stelle der subjektiven Vorstellung.

§ 7. Noch eine zweite Unterscheidung werden wir gebrauchen, diejenige zwischen den Begriffen des Objekts und des "wirklichen Dings". Beide sind eigentlich nur zwei Schattierungen eines Begriffs, denn beide bezeichnen dasjenige, was mit dem Subjekt in einer Erkenntnisbeziehung steht. In Folgendem aber liegt ihr Unterschied. Wir hatten oben als die beiden Momente der Erkenntnisbeziehung die Zweiheit, das Auseinandersein der Glieder und ihre Entsprechung kennengelernt. Der Begriff des Objekts nun betont mehr das letztere, der des "wirklichen Dings" mehr das erstere Moment. "Objekt" kann man definieren als ein außer uns existierendes Ding, welches aber mit uns in einer Erkenntnisbeziehung steht und uns nur deswegen interessiert, das "wirkliche Ding" dagegen als ein Betrachtendes, dessen Wesen aber nicht etwa durch seine Eigenschaft, betrachtet zu werden, erschöpft wird, sondern welches auch ganz unabhängig von uns existieren könnte. Bei dem Wort "Objekt" denkt man ausschließlich oder überwiegend an  die  Eigenschaften des betrachteten Dings, welche sich in der subjektiven Vorstellung wiederfinden, d. h. erkennbar sind, beim "wirklichen Ding" mehr an die unerkennbaren, welche das Ding mit der subjektiven Vorstellung nicht gemein hat.

Aus diesen letzten Worten geht schon hervor, daß man nicht sagen darf, das "wirkliche Ding" als solches wird erkannt; denn man kann doch nicht ein Ding mit Einschluß seiner unerkennbaren Eigenschaften erkennen. Noch falscher aber ist es, zu sagen, das "wirkliche Ding" wird gar nicht erkannt; es gehört ja doch zu den Erkenntnisbegriffen und setzt also immer das Bestehen einer Erkenntnisbeziehung voraus. Sage ich z. B.: Was dieser Tisch wirklich ist, erkenne ich nicht" - nun, so steht dieses Wirkliche, von dem ich rede, eben in keiner Erkenntnisbeziehung zu meiner Vorstellung vom Tisch, ist also auch gar nicht der wirkliche Tisch, sondern etwas ganz anderes, ich weiß nicht, was (2). Das allein Richtige ist, daß das "wirkliche Ding"  teilweise  erkannt wird; oder wenn man doch vom Erkennen des Wirklichen sprechen will, so darf man damit nicht das Wirkliche  als solches  meinen, sondern nur die Tatsache bezeichnen, daß zwischen ihm und dem Subjekt überhaupt eine Erkenntnisbeziehung stattfindet, wenn auch keine vollständige.

Im übertragenen Sinne sagt man wohl auch, eine subjektive Vorstellung sei  wirklich  und nicht imaginär, wenn sie auf irgendeine Weise mit einem äußeren Objekt zusammenhängt. Dagegen schließt der Begriff der materialen  Wahrheit  (in einem realistischen Sinn) noch den Zusatz ein, daß diese Übereinstimmung eine fehlerfreie ist.


Idealismus

§ 8. Der Idealismus verneint das Vorhandensein einer äußeren, unseren subjektiven Vorstellungen entsprechenden Welt. Es ist wohl ohne eine weitere Erklärung offenbar, daß damit alle, oder fast alle soeben behandelten Begriffe für ihn unverwendbar werden; sie alle beziehen sich ja in der einen oder anderen Weise auf das Verhältnis dieser Außenwelt zum Subjekt. Vor allem muß dem Idealismus der Begriff des Objekts fehlen, der ja nichts anderes enthält als die erkannte Außenwelt selbst.

§ 9. Allein wenn der Idealismus auch ganz neuer Begriffe bedarf, so herrscht zwischen diesen und den vorhin betrachteten doch eine gewisse Entsprechung, dergestalt, daß man sagen kann, dieser oder jener neugebildete Begriff nehme innerhalb des Idealismus dieselbe Stelle ein, wie dieser oder jener alte innerhalb des Realismus.

In solchen Fällen ist es sehr natürlich, daß die gewohnten, für die realistischen Begriffe üblichen Termini auf die entsprechenden idealistischen mit übertragen werden. Der Idealismus beschäftigt sich z. B. mit demselben Vorgang, den der Realismus Erkennen oder Wissen nennt; sehr natürlich also, daß auch der erstere ihn mit diesen Worten bezeichnet, aber er muß sich dabei bewußt sein, daß er das Wort in einer ganz verändertren Bedeutung gebraucht, daß "Erkennen" bei ihm soviel heißt wie "Dinge nachbilden", sondern wie "Vorstellungen produzieren". Wo das Bewußtsein dieser Unterscheidung nicht ganz klar ist, da liegt die Gefahr nahe, daß die alten Worte gleichsam abfärben und die neuen Begriffe, deren Etikette sie sein sollen, ins Realistische hinüberschillern. Am sichersten wäre es, man würde die entsprechenden realistischen und idealistischen Begriffe durch Beiworte unterscheiden und spräche von realistischem und idealistischem oder immanentem Erkennen.

§ 10. Noch eines dieser Begriffspaare ist für uns von Interesse, das der "Wahrheit". Der dem Realismus eigene Begriff materialer Wahrheit war, wie wir oben sahen, zu definieren als "fehlerfreie Übereinstimmung der subjektiven Vorstellung mit dem Objekt". Der Idealismus kennt kein Objekt im realistischen Sinn, also auch keine Übereinstimmung mit ihm, keine Wahrheit der bezeichneten Art.

"Aber", würde der Realist hier einwenden, "dann ist ja der Idealismus selbst nicht wahr! Dann ist er weiter nichts als ein Skeptizismus, dessen Natur es ist, das Denken und somit sich selbst aufzuheben."

Hierauf würde der Idealist antworten: "Auch ich habe eine Wahrheit, die mich veranlaßt, all das als gültig anzuerkennen, was auch Du dafür ansiehst. Aber meine Wahrheit ist anderer Art als die deine. Du hältst solche Gedanken für wahr, die in Dir entstehen durch einen von den Dingen auf Dich ausgeübten  äußeren  Zwang, mittels dessen deine Vorstellungen eben mit diesen Dingen übereinstimmen können. Auch ich fühle diesen Zwang, der "dagegen ist, daß meine Erkenntnisse auf das Geratewohl oder beliebig bestimmt sind", aber ich halte ihn für einen  inneren  Zwang, ausgeübt durch apriorische Gesetze. Was durch diese geordnet ist, ist wahr.

Wir wollen diese neue Art der Wahrheit  immanente  Wahrheit nennen (3). Nicht unnötig erscheint es, darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht mit der sogenannten "formalen Wahrheit" identisch ist, nach welcher der logisch richtige Gedanke als wahr gilt. Allerdings gehört die formale Wahrheit zur immanenten als Teil oder subordinierter [untergeordneter - wp] Begriff; denn auch die logischen Gesetze üben ja einen inneren Zwang aus. Aber sie ordnen nur Gedanken, während es die Aufgabe der immanenten Wahrheit ist, auch Anschauungen gültig zu machen. Der innere wang, welcher mich nach Ansicht des Idealisten veranlaßt, jetzt diesen Tisch zu sehen, ist kein logischer, macht aber trotzdem die Vorstellung des Tisches zu einer wahren.

KANT nennt unseren Begriff nur selten Wahrheit, sondern meist empirische Realität, und ebenso scheint HERBART unter "Wirklichkeit" eine immanente Wahrheit zu verstehen (4). Wir hatten oben gesehen, daß Wirklichkeit in einer übertragenen Bedeutung einen der "Wahrheit" sehr änlichen Begriff ausdrückte, nämlich gleichfalls den Zusammenhang einer Vorstellung mit einem äußeren Objekt. Kein Wunder daher, daß der innere Zwang, die apriorische Gesetzmäßigkeit gleich geeignet ist, den idealistischen Parallelbegriff sowohl der Wirklichkeit wie auch der Wahrheit abzugeben, gleich geeignet, um Reales von Geträumtem oder Erdichtetem, wie um Wahres von Irrtümlichem und Falschem zu sondern.

Gleich hier mag noch erwähnt werden, daß der Übergang der Realität in ihre neue, immanente Bedeutung sich nicht so leicht und ungestört vollzogen hat, wie es hier den Anschein haben könnte, ja daß er heute noch nicht ganz vollendet ist. Die Schuld daran trägt der Denkfehler, welcher den Gegenstand dieser Arbeit bilden soll, und dem wir uns nunmehr zuwenden wollen.


Objektivierung der subjektiven Vorstellung

§ 11. Wenn man auf einen Satz stößt, wie dieser: "Wir erkennen nicht die wirklichen Dinge, sondern nur unsere Vorstellungen, und nur diese können unsere Objekte sein", wie soll man denselben auslegen?

Nach dem Obigen scheint die Deutung auf der Hand zu liegen: Wir haben es hier mit den idealistischen Parallelbegriffen des Erkennens und des Objekts zu tun. Wenn das immanente Erkennen soviel bedeutet wie Vorstellungen produzieren, so kann man natürlich sagen, man erkennt die Vorstellungen. Und da innerhalb des Realismus das Erkannte  Objekt  heißt, hier aber die Vorstellungen das Erkannte sind, so kann man sie in Anbetracht der Entsprechung realistischer und idealistischer Begriffe wohl auch als "Objekt" bezeichnen, d. h. natürlich als immanentes oder ideaistisches Objekt.

In diesem Sinn, scheint mir, pflegt man den Satz, daß wir unsere subjektiven Vorstellungen erkennen (denn nur bei diesen kann er auffällig sein), zu lesen, und daher kommt es wohl, daß man an demselben noch niemals oder doch nur sehr selten Anstoß genommen hat. Allein bei näherer Betrachtung zeigt es sich, daß in vielen Fällen die Annahme, als hätten wir es hier mit einem immanenten Erkenntnis- und Objektbegriff zu tun, verfehlt ist.

§ 12. Erstens nämlich war der erste, bei dem wir den Satz vorfinden werden, JOHN LOCKE, ein konsequenter Realist, und auch sein Nachfolger in dieser Angelegenheit, BERKELEY, besaß nur einen teilweisen und noch sehr unentwickelten Idealisms. Es ist also ganz unwahrscheinlich, daß diese beiden schon den immanenten Erkenntnisbegriff- und Objektbegriff besaßen.

Noch gewisser wird diese Ansicht, wenn wir die Geschichte der genannten Begriffe verfolgen. Die immanenten Begriffe standen den realistischen nicht von Anfang an so fertig gegenüber, wie wir sie hier aufgezählt haben, sondern wir sehen den Übergang der letzteren in die ersteren erst bei KANT in einer komplizierten, langen Entwicklung sich vollziehen. Speziell beim Objektbegriff werden wir selbst die mannigfachen Phasen zu beobachten haben, in denen er sich in seiner immanenten Form näherte, ohne sie selbst heute schon vollständig erreicht zu haen. Wäre diese schwierige Entwicklung nötig gewesen, wenn der immanente Erkenntnis- und Objektbegriff schon bei LOCKE und BERKELEY vollständig festgestanden hätte?

Und drittens: Der Satz, daß wir unsere Vorstellungen erkennen, tritt bei LOCKE wie bei BERKELEY auf wie aus der Pistole geschossen, ohne Einführung, ohne Erklärung, ohne eine Definition der beteiligten Begriffe. Hätten sie hier an das immanente Erkennen gedacht, so könnten wir Modernen sie wohl verstehen, die wir von der Arbeit der großen Idealisten profitieren; was aber hätten ihre zeitgenössischen Leser dazu sagen sollen, die diesen Begriff, der dem realistischen Erkennen ja doch absolut unähnlich ist, noch nie zuvor angetroffen hatten. Wenn die beiden genannten englischen Denker so völlig neue Begriffe einführen wollten, ist es dann nicht wahrscheinlich, daß sie sich die Mühe gemacht hätten, dieselben zu definieren?

Diese drei Gründe liefern den, wie mir scheint, sicheren Beweis dafür, daß LOCKE, BERKELEY und zum Teil auch noch KANT bei dem Satz: "Wer erkennen unsere (subjektiven) Vorstellungen" nicht das immanente, sondern noch das alte realistische Erkennen im Auge hatten.

§ 13. Ist das aber der Fall, dann enthält der Satz bei den genannten Autoren einen Fehler. Wie sollte man sich denn wohl denken, daß unsere subjektiven Vorstellungen realistisch erkannt, abgebildet, widergespiegelt werden. Das wäre ja fast so, als wollte man sagen: "Der Spiegel spiegelt nicht den vor ihm stehenden Gegenstand, sondern dessen Spiegelbild." Damit die subjektive Vorstellung vom Subjekt abgebildet werden könnte, müßte sich in diesem doch ein ihr Ähnliches finden, welches eben als Abbild dienen könnte. Dann brauchten wir also für die Erkenntnis der subjektiven Vorstellung noch einmal eine subjektive Vorstellung, und dieses Verfahren ließe sich  in infinitum [unendlich - wp] wiederholen. (5)

Wir hatten in der Ausführung über die realistischen Begriffe - und nur diese werden uns aus den soeben angegebnen Gründen im Folgenden interessieren - gesehen, daß das Subjekt die subjektive Vorstellung  hat  und mit ihr das Objekt  erkennt.  Der Fehler, mit dem wir es hier zu tun haben, besteht also darin, daß das Haben mit dem Erkennen, daß das zwischen Subjekt und subjektiver Vorstellung herrschende Substantialverhältnis mit der Erkenntnisbeziehung verwechselt wird. Da diese Verwechslung den Erfolg hat, die subjektive Vorstellung fälschlich zum Objekt zu machen, so nenne ich sie "Objektivierung (Objektmachung) der subjektiven Vorstellung" (OdsV). Dies ist der Denkfehler, der uns in der vorliegenden Schrift beschäftigen soll.

Zwei Gedankengänge sind es namentlich, die zur OdsV führen. Wir wollen sie nacheinander betrachten.

§ 14. Erstens nämlich entsteht der Fehler dadurch, daß man sich in den Begriffen  vergreift,  weil die für das Verhältnis von Subjekt und subjektiver Vorstellung unpassende Erkenntnisbeziehung durch besondere Umstände verführerisch nahe gelegt ist.

Wenn z. B. durch den Idealismus die Begriffe des realistischen Erkennens und Objekts verloren gegangen und die entsprechenden immanenten noch nicht gebildet sind, so fällt es schwer, diese altgewohnten Begriffe zu missen. Sie haften noch im Kopf des Philosophen und suchen nach einer Verwendung, und da sonst nichts mehr da ist, was man Objekt nennen oder vom Subjekt erkannt werden könnte, so verfällt man auf die subjektive Vorstellung. Man beginnt den Satz: "Wir erkennen nicht die wirklichen Dinge, sondern -", und statt daß man nun fortfahren würde, "wir erkennen gar nicht" oder "wir  haben  bloß Vorstellungen", liegt es vielmehr im Zug des Denkens und es viel bequemer zu sagen, "sondern wir erkennen nur unsere Vorstellungen". Das Verlockende des Fehlers wird hier wohl jeder empfinden.

Eine weitere Veranlassung, sich in den Begriffen zu vergreifen, liegt in der Zweideutigkeit fast aller Ausdrücke, deren man sich für die realistischen Erkenntnisbegriffe bedient. Perzipieren (perceive) bedeutet einerseits "eine Vorstellung in die Seele aufnehmen", andererseits "ein äußeres Objekt betrachten". Ich kann daher sowohl sagen "ich perzipiere die Vorstellung des Baumes" als auch "ich perzipiere den Baum". Und ebenso bezeichnen die Substantiva  Vorstellung, Anschauung, Erkenntnis, Begriff, Idee  zwar meist die subjektive Vorstellung, aber oft auch das Objekt (ganz abgesehen natürlich von der Selbstanschauung). Es mag hier nur daran erinnert werden, daß z. B. LOCKE mit "idea" fast ebenso oft die Qualitäten der Dinge wie auch deren geistiges Abbild bezeichnet. Daß hier die OdsV gleichsam vorbereitet lag, ist klar, und wir werden an unsere einleitende Ausführung (§ 1) erinnert, welche diesen Denkfehler als einen im Wesen des Denkens und der Sprache begründeten hinstellte.

§ 15. Die oben genannten Worte sind übrigens nicht bloß zwei-, sindern sogar vierdeutig. Sie können erstens das Objekt, zweitens die ganze subjektive Vorstellung, drittens den Vorstellungsakt derselben, viertens ihren Inhalt bezeichnen (6). Hier wird uns vielleicht die Frage entgegentreten, mit welcher der drei letzten Bedeutungen denn die erste, objektive verwechselt worden ist.

Darauf ist zu antworten: Wo Denkfehler begangen werden, pflegt unklar gedacht zu werden, es ist also nicht wahrscheinlich, daß man beim Begehen der OdsV so feine, begriffliche Unterscheidungen vorgenommen hat wie die hier geschilderten. Höchstens könnte das bei KANT der Fall sein, aber bei diesem tritt auch eine Korrektur des Fehlers ein, wie wir noch sehen werden. Außerdem ist die Frage für uns ziemlich unwichtig, denn da die ganze subjektive Vorstelung ebenso wie ihr Akt und Inhalt zum Subjekt in einem Substantialverhältnis steht, so läuft die OdsV immer auf eine Verwechslung von Substantial- und Erkenntnisbeziehung hinaus, behält also ihren Charakter bei, welchen der drei Vorstellungsbegriffe man auch als den objektivierten betrachten mag.

§ 16. Wenden wir uns nun zum zweiten Irrweg, der die Philosophen zur OdsV führte. Auch das "unmittelbare Erkennen" wurde nämlich eine Veranlassung, diesen Denkfehler zu begehen; wir werden daher zunächst zusehen müssen, was das unmittelbare Erkennen ist.

Von jeher war den Philosophen die Kluft zwischen Subjekt und Objekt wegen der Erklärungsschwierigkeiten, die sie veranlaßt, ein Dorn im Auge. Wie kam denn unsere Vorstellung dazu, auf ein äußeres Ding hinzuweisen? War dieser Hinweis nicht mehr unsicher? Warum sollte man ihm denn glauben?

Dieser Zweifel wird gelöst, wenn die Kluft zwischen Subjekt und Objekt verschwindet, wenn das Erkennen "unmittelbar" wird. Das heißt, das Objekt soll im  Subjekt  sein und zu ihm gehören, wobei dann freilich nichts Wunderbares oder Zweifelerregendes mehr darin läge, wenn es von ihm erkannt würde. Wie allerdings dieses  Darinsein  zu denken ist, da doch das Wesen des realistischen Erkennens und seiner Begriffe, des Subjekts und Objekts, wie wir in § 5 gesehen haben, gerade in ihrer  Gegenüberstellung,  ihrem  Auseinandersein  besteht, das ist das Geheimnis derjenigen Philosophen, welche das unmittelbare Erkennen erfunden haben, also namentlich SCHOPENHAUERs. Das Objekt ist im Subjekt - das wäre ganz ebenso, wie wenn der gespiegelte Gegenstand im Spiegelglas stecken muß, um gespiegelt zu werden. Dieses Gleichnis zeigt uns klar, wie das Auseinandersein, die Gegenüberstellung eben das Wesen des realistischen Erkennens ausmacht.

§ 17. Heißt es nun, daß Objekt sei im Subjekt, so ist das ursprünglich draußenstehende Objekt in das Subjekt hineingezogen worden. Wir sehen also im "unmittelbaren Erkennen" das Widerspiel der OdsV, nämlich eine Subjektivierung des Objekts.

Würde das Objekt vollständig subjektiviert, dergestalt, daß es sich ganz in eine subjektive Vorstellung verwandelt, dann läge kein Fehler vor. Das ist aber nicht der Fall. Wenn es heißt: "Das Objekt wird unmittelbar erkannt", so ist einerseits das Objekt in das Subjekt hineingezogen worden, und darum ist es diesem eben unmittelbar; andererseits aber heißt es noch immer Objekt und soll noch immer erkannt werden, beides Worte, die eine Mittelbarkeit, ein Auseinandersein involvieren. Das Objekt steht ursprünglich zum Subjekt in einer Erkenntnisbeziehung; wird es in das Subjekt hineingezogen, so verwandelt sich dieselbe in ein Substantialverhältnis, aber diese Verwandlung ist keine vollständige und darum keine widerspruchslose, weil die Erkenntnisbeziehung sich in den Worten  Objekt  und  Erkennen  noch erhalten hat. Es findet sich also hier eine Erkenntnisbeziehung, wo Substantialität am Platz wäre, oder mit anderen Worten, wir haben hier wieder eine OdsV vor uns; nur ist die Verwechslung hier nicht wie bei ihrer erstbeschriebenen Entstehungsart Resultat eines  Sich-vergreifens,  sondern der eine Begriff  ist stehen gelassen worden,  wo der andere ihn hätte verdrängen müssen. Da man unter dem unmittelbar gewordenen, im Subjekt bestehenden Objekt stets die subjektive Vorstellung versteht, so ist das Resultat der Verwechslung in beiden Fällen dasselbe, nämlich das Erkanntwerden der subjektiven Vorstellung.

§ 18. Es bedarf wohl kaum noch einer besonderen Erwähnung, daß hier, wie überall, wo wir von der OdsV sprechen, das Erkennen und Objekt in einem realistischen Wortsinn gemeint sind. Faßt man sie immanent, das erstere als Produzieren der Vorstellung, das letztere als die produzierte Vorstellung selbst, dann ist natürlich das Objekt im Subjekt darin und wird unmittelbar erkannt. Beim immanenten Erkennen fehlt ja die ganze Kluft zwischen Subjekt und Objekt, durch deren versuchte Hinwegräumung der Fehler des unmittelbaren Erkennens entstand.

Überhaupt muß hervorgehoben werden, daß alle von uns zu betrachtenden Denkfehler verschwinden, sobald man an die Stelle der realistischen Begriffe die immanenten einsetzt. Wir werden im Verlauf dieser Arbeit sehen, wie diese Korrektur sich tatsächlich in der Geschichte der Philosophie vollzog.

§ 19. Wir haben soeben gesehen, wie mit der OdsV, wenn sie auf die zweite von uns betrachtete Art entsteht, das "unmittelbare Erkennen" als  Ursache  verknüpft ist. Aber auch wenn der Denkfehler auf die erstbeschriebene Weise entsteht, ist er stets vom unmittelbaren Erkennen begleitet, doch ist dasselbe in diesem Fall eine  Folge.  Wenn nämlich die subjektive Vorstellung fälschlich  Objekt  genannt wird, so bleibt sie doch immer noch eine Vorstellung in unserem Geist. Das sogenannte Objekt befindet sich also  im Subjekt,  oder mit anderen Worten, es wird unmittelbar erkannt.

Wo wir es also mit der OdsV zu tun haben werden, da wird stets das unmittelbare Erkennen, bald als ihre Ursache, bald als ihre Folge, auch dabei gefunden werden. Der erstere Denkfehler kommt nicht vor ohne den zweiten.

Die bisherigen theoretischen Ausführungen werden zum Verständnis unseres historischen Teils genügen. Lassen wir uns nun von diesem über die Äußerungs- und Wirkungsweise der OdsV ausführliche Auskunft geben!


Locke

§ 20. Soweit ich die Objektivierung der subjektiven Vorstellung (OdsV) in der philosophischen Literatur nachzuweisen vermag, findet sie sich das erste Mal am Anfang des vierten Buches "Essay concerning human understanding". Die ersten Worte desselben lauten: "Da die Seele - nur ihre eigenen Vorstellungen zum unmittelbaren Gegenstand hat und sie nur diese betrachten kann usw."

§ 21. Welches sind die Veranlassungen, die LOCKE hier zum Begehen des Denkfehlers gezwungen haben? Nun, es liegt hier der erste im theoretischen Teil (§ 14) geschilderte Gedankengang vor, LOCKE vergreift sich in dem zwischen dem Subjekt und seiner Vorstellung herrschenden Verhältnis und erfaßt statt der Substantialität die Erkenntnisbeziehung. Eine solche Vertauschung pflegt, wie wir oben sahen, durch besondere Umstände begünstigt zu werden; durch welche es im vorliegenden Fall geschah, das wollen wir sogleich näher betrachten.

ARISTOTELES sagt in Buch IV, Kap. 29 seiner Metaphysik: "Falsch nennt man eine Sache, und zwar erstens, weil die Verbindung (= zwischen den Begriffen) fehlt oder ganz unmöglich ist." Die Wahrheit bestände hiernach also nicht in der Übereinstimmung von Vorstellung und Ding, sondern in der Verbindung der Begriffe oder Vorstellungen untereinander.

Diese Definition der Wahrheit beeinflußte LOCKEs Erklärung des Wissens. Er sagt (Buch IV § 2): "Das Wissen ist die Auffassung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Vorstellungen. Das ist die Definition des ARISTOTELES, verbunden mit einer OdsV. Was LOCKE wohl in erster Linie zur Annahme der aristotelischen Erklärung bewog, war der Wunsch, daß die Mathematik, welche er für  a priori  hielt und deren wirkliches Sein außerhalb des Geistes er bestritt, nichtsdestoweniger als Wissen und Wahrheit gelten möchte.

In den oben zitierten Worten des ARISTOTELES und LOCKEs nun blitzt, vielleicht zum ersten Mal in einer solchen Klarheit, der Gedanke einer immanenten Wahrheit auf, welche ja eben in der gesetzmäßigen Verbindung und Übereinstimmung der Vorstellungen besteht. Und da die "immanente Wahrheit" auf das Engste mit den Anschauungen des Idealismus verknüpft ist, so gelang es auch LEIBNIZ in seiner Kritiker dieser Ausführung LOCKEs, das Prinzip des "Transzendentalen Idealismus" KANTs vollkommen zu formulieren: "Der Grund der Wahrheit liegt in der Aufeinanderfolge, wonach die Erscheinungen der Sinne geradeso verbunden werden, wie die Vernunftwahrheiten es erfordern." (Nouveaux essais sur l'entendement humain, Buch IV, Kap. 4, Erste Antwort des Theophilus)

Daß LOCKE aus der Definition der Wahrheit den Begriff des äußeren Objekts herausgeworfen hatte, darin lag für ihn eine Nötigung, denselben auch bei der Definition des Wissens zu meiden. Dann aber durfte er nicht sagen, daß wir  etwas  wissen, durfte er nicht von einem Wissensobjekt reden - ausgenommen, wenn er bereits den Begriff des immanenten Wissens und Erkennens gehabt hätte, was aber, wie wir sahen und sehen werden, so gut wie ausgeschlossen ist. - Dies nun war ihm nicht klar; er hatte doch ein Bedürfnis, von einem Gewußten zu reden, und da er kein wirkliches Objekt vorfand, machte er eben die subjektiven Vorstellungen zum Betrachteten. So wurde bei LOCKE der Idealismus zu einer Bedinungung und Veranlassung der OdsV, während wir bei seinen Nachfolgern gerade den umgekehrten Fall beobachten werden.

LOCKEs Idealismus ist nun zwar eine Eintagsfliege und wird bald wieder aufgegeben. So sagt er (Kap. 4, § 2): "Wenn unser Wissen mit dem Wissen der Vorstellungen endet und nicht weiter reicht, so kann das ernsteste Nachdenken darüber hinaus so wenig helfen, wie die Träume eines verrückten Gehirns." § 3: "Unser Wissen ist insofern wirklich, als eine Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit der Dinge besteht." Ist hier aber mit dem Idealismus wieder gebrochen worden, so ist damit doch die OdsV nicht beseitigt, wie der Anfang des Zitats beweist.

§ 22. Die OdsV zeigt sich also hier auch innerhalb des Realismus und sogleich gewahren wir eine wichtige Folge derselben. Während die eigentliche realistische Erkenntnisbeziehung  zwei  Glieder hat, Subjekt bzw. subjektive Vorstellung und Objekt, erhält sie durch die OdsV  drei.  Denn dem Subjekt wird jetzt die subjektive Vorstellung als Objekt gegenübergestellt, das alte Objekt aber hört auf, als solches angesehen zu werden und diesen Namen zu führen, es ist jetzt nur noch das "wirkliche Ding" ("reality of things" nennt es LOCKE in der soeben zitierten Stelle). Wir hatten in der Beschreibung des Realismus gesehen, daß die Namen  Objekt  und  wirkliches Ding  denselben Begriff bezeichneten, nur betonte der erstere mehr den Zusammenhang, der letztere mehr die Unabhängigkeit vom Subjekt. Jetzt ist das alte Objekt nur noch "wirkliches Ding", es ist also dem Subjekt ferngerückt; es erscheint als ein geheimnisvolles Etwas hinter dem neuen Pseudo-Objekt, und je geheimnisvoller es wird, desto mehr beginnt es, die Rolle des fünften Rades am Wagen zu spielen. - Diese Bemerkungen sollen schon auf die folgende Entwicklung hinweisen.


Berkeley
I. Nachweis und Gründe der OdsV bei Berkeley

§ 23. Erschien bei LOCKE die Objektivierung der subjektiven Vorstellung (OdsV) noch mehr auf der Oberfläche, und hatte sie hier noch keinen wesentlichen Einfluß auf den Bau des ganzen Systems, so wirkte sie schon weit tiefer bei seinem Nachfolger BERKELEY. Auch bei ihm erscheint sie sogleich in den ersten Zeilen des ersten Kapitels seines Hauptwerkes "Treatise on the principles of human knowledge".
    "Jedem, der einen Blick auf die  Gegenstände  der menschlichen Erkenntnis wirft, leuchtet ein, daß dieselben teils den Sinnen gegenwärtig eingeprägte  Ideen  sind, teils Ideen, welche durch das Aufmerken auf das, was die Seele leidet und tut gewonnen werden."
Hier also sind die Ideen, die Vorstellungen Gegenstände, Objekte der Erkenntnis.

§ 24. Wie aber kam die OdsV hier zustande? - Abgesehen davon, daß BERKELEY sie eben von LOCKE übernommen hat. - Der zweite Abschnitt läßt uns hierüber keinen Zweifel:
    "Dieses perzipierende, tätige Wesen ist dasjenige, was ich Gemüt, Geist, Seele oder mich selbst nenne. Durch diese Worte bezeichne ich nicht irgendeine meiner Ideen, sondern ein von ihnen allen ganz verschiedenes Ding, worin sie existieren, oder, was dasselbe besagt, wodurch sie perzipiert werden."
Deutlicher kann man wohl nicht merken lassen, daß man das Substantialverhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Vorstellung mit der Erkenntnisbeziehung verwechselt und dadurch die OdsV herbeiführt. Statt zu sagen, die Ideen  sind  im Ich oder das Ich hat die Ideen, sagt BERKELEY: "Das Ich  erkennt, perzipiert  die Ideen" und fügt dann ganz unschuldig hinzu: "Was dasselbe besagt."

Allerdings wird diese Verwechslung doch wieder verhüllt durch den Doppelsinn des Wortes  perceive, perzipieren,  das ebensowohl bedeutet: "Eine Vorstellung in die Seele aufnehmen" als auch: "Ein Objekt betrachteen". Aber gerade dadurch, daß dieses zweideutige  perceive  den Fehler verschleiert, vergrößert es die Gefah, ihn zu begehen. (Siehe § 14)

§ 25. Die OdsV hat aber bei BERKELEY noch eine weitere Veranlassung. Sie erscheint als Folge der Verwechslung von Subjekt und Geist, subjektiver Vorstellung und Vorstellung überhaupt.

Wiederum haben wir hier einen jener Fehler vor uns, denen das menschliche Denken mit einer gewissen Notwendigkeit verfällt, und die bedeutsame Rolle, die er namentlich bei BERKELEY und SCHELLING gespielt hat, macht ihn zu einem der wichtigsten. Da es ziemlich schwierig ist, ihn nachzuweisen, so müssen wir hier notgedrungen ausführlicher auf ihn eingehen, obgleich wir dadurch von unserer eigenen Straße etwas abweichen.

§ 26. Geist und Vorstellung sind ansich absolute, Subjekt und subjektive Vorstellung dagegen Beziehungsbegriffe. Der Geist kann, wenn er in eine Erkenntnisbeziehung eintritt, Subjekt, die Vorstellung eine subjektive Vorstellung werden, aber ebensogut können sie, in der Selbstbetrachtung nämlich, auch Objekte sein. Die Differenz der Begriffe ist hiernach wohl klar.

Unter den Stellen, in denen BERKELEY die erwähnte Verwechslung begeht, greife ich die erste heraus. Im dritten Kapitel seines Hauptwerkes schreibt er:
    "Daß weder unsere Gedanken, noch unsere Gefühle, noch unsere Einbildungsvorstellungen außerhalb des Geistes existieren, wird ein jeder zugeben. Es scheint aber nicht weniger evidenz zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen nicht anders existieren können, als in einem Geist, der sie perzipiert."
Es ist, wie gesagt, schwierig, den Nachweis einer Verwechslung von Geist und Subjekt zu erbringen, weil die Stellen, an denen sie sich zeigt, ansich ganz richtig sind und nur dann den Irrtum des Verfassers offenbaren, wenn man sie im Zusammenhang liest. Auch hier müssen wir uns daher erst darüber aufklären, worauf BERKELEY mit seinen Ausführungen hinauswill. Wenn wir materielle Dinge erkennen, so behauptet er, es sei nichts da als unsere Vorstellungen des Dings, kein äußeres, ihnen entsprechendes Objekt. Warum das? Weil Berkeley die Kluft zwischen subjektiver Vorstellung (idea) und Objekt unüberbrückbar findet, weil er das letztere für eine Abstraktion von der subjektiven Vorstellung hält und alle Abstraktionen als bedeutungslos zurückweist.

Während aber BERKELEY die Existenz objektiver materieller Dinge leugnet, scheint er diejenige objektiver geistiger Dinge als selbstverständlich hinzunehmen. Denn er spricht über sie und sagt, sie existieren. Er weiß also etwas von ihnen, hat subjektive Vorstellungen von ihnen und nimmt an, die geistigen Dinge, Gedanken und Gefühle,entsprechen diesen seinen Vorstellungen. Ist denn etwa das geistige Ding keine Abstraktion von der sie betrachtenden Vorstellung? Ist zwischen beiden keine Kluft? Man sollte doch denken, es sei eine, und der Psychologe wird uns sogar sagen, sie sei viel größer als ei der Betrachtung materieller Dinge; denn die innere Beobachtung ist schwerer und unsicher als die äußere. Warum findet also BERKELEY nur in der letzteren Schwierigkeiten?

Aufschluß darüber gibt die vorliegende Stelle. BERKELEY nimmt die objektive Existenz der Gedanken und Gefühl als selbstverständlich hin, denn dieselben sind ja  "im Geiste".  Nur die materiellen Objekte beunruhigen ihn, weil sie nicht "im Geiste" sind.

Aber, müssen wir wieder fragen, was hilft uns das? Wird denn die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, jene Kluft, um derentwillen zuvor die materiellen Objekte aufgegeben wurden, irgendwie geringer, wenn die betrachtete Vorstellung "im Geist" ist? Wir sahen doch schon soeben, daß dies nicht der Fall ist.

Aber allerdings, es ist der Fall, wenn man "im Geist" für gleichbedeutend hält mit "im Subjekt", wenn man Geist mit Subjekt verwechselt. Sind die in Frage stehenden Vorstellungen und Gefühle im Subjekt, dann ist die ganze Kluft zwischen ihnen und dem Subjekt verschwunden und belastet uns nicht mehr.

Ähnliche Stellen, in denen die Verwechselung von Geist und Subjekt, wenn auch unklar, zutage tritt, finden wir in Kapitel 29 Anfang und Kapitel 30 Anfang. Verräterisch ist hier wie in der oben zitierten Stelle namentlich der Umstand, daß sich BERKELEY nur zwei Kategorien von Ideen gegenüberstellt, Ideen der äußeren Sinne, welche die materiellen Dinge darstellen, und selbstproduzierte, freie Ideen der Phantasie; dagegen fehlen die Ideen von geistigen Dingen, Ideen des inneren Sinnes. Warum fehlen sie? Weil derjenige, für den alles Geistige, eben weil es  im Geist  ist, zugleich auch als  im Subjekt  bestehend gilt, weil dieser, sage ich, nicht erst eine innere, anschauende Funktion braucht, welche Geistiges betrachtet, das bedeutet, "es ins Subjekt hineinträgt".

Die hier angeführten Gründe werden wohl genügen, das Vorhandensein der Verwechslung von Subjekt und Geist bei BERKELEY zu sichern. Wir können uns nicht länger mit dieser episodischen Erörterung aufhalten, welche zu ihrer erschöpfenden Erledigung eine besondere Abhandlung für sich in Anspruch nehmen würde.

§ 27. In welcher Weise nur fördert die besprochene Verwechslung die OdsV?

Das ist unschwer einzusehen. BERKELEY stellt die Vorstellungen und Gefühle, die nur im Geist sind, auf eine Stufe mit den subjektiven sinnlichen Vorstellungen, die im Subjekt sind. Die ersteren können in einem vollen Realistischen Sinn  Objekte  heißen, und wenn BERKELEY sagt, daß wir sie perzipieren, so darf dieses Wort hier soviel bedeuten wie  anschauen  oder  betrachten.  Kein Wunder also, daß er nun auch die letzteren, obgleich sie doch  subjektive  Vorstellungen sind, zu Objekten macht und sie betrachten läßt.

§ 28. Aus all diesen Gründen, geht mit großer Gewißheit hervor, daß BERKELEY die OdsV begangen hat, und daß bei ihm der Satz: "Die Ideen sind unsere  Objekte"  nicht in einem immenenten Wortsinn aufzufassen ist. Kaum ist es noch nötig, darauf hinzuweisen, daß BERKELEY in Kapitel 36 die Ideen "affizieren" (they are affecting) läßt, was man doch im Grunde nur von äußeren, d. h. realistischen Objekten sagen kann.


II. Berkeleys erkenntnistheoretischer Standpunkt

§ 29. Die OdsV [Objektivierung der subjektiven Vorstellung] findet sich bei BERKELEY auf jeder Seite, aber immer in der gleichen Form, so daß es keinen hätte, weitere Stellen zu zitieren. Umso wertvoller und bedeutender aber sind ihre Folgen für das ganze System, sie ist mit eine Hauptveranlassung des BERKELEYschen Idealismus, dem wir daher hier einige Aufmerksamkeit zuwenden müssen.

BERKELEYs erkenntnistheoretischer Standpunkt läßt sich am besten als Immaterialismus, ersteres nämlich auf dem Gebiet der geistigen, letzteres auf dem der materiellen Welt.

"Halber Idealisms! Das ist ein Unding!" wendet man hier vielleicht ein. Man gibt entweder die Existenz einer mit uns zusammenhängenden Außenwelt zu, dann ist man Realist, oder man leugnet sie, dann ist man Idealist. Sie zugleich zugeben und leugnen, das geht nicht an. Denn wenn derjenige, welcher einsieht, daß die objektive und die subjektive Welt sich nicht in allen Fällen und in jeder Beziehung decken, gleich "halber Idealist" heißen sollte, so gäbe es überhaupt keinen Realisten; die teilweise Verschiedenheit beider Welten kennt ja auch der naive, unwissenschaftliche Mensch, da er den Begriff des Irrtums hat.

Das mag wahr sein, aber gerade bei BERKELEY liegen besondere Umstände vor, derentwegen man seine Leugnung der materiellen Außenwelt doch als einen teilweisen Idealismus auffahren muß. Diese Ansicht steht nämlich bei ihm ganz isoliert, sie und die Annahme der geistigen Außenwelt bilden zwei Gedankenkreise in seinem Geist, zwischen denen es keine Verbindung gibt, und die, so sehr sie einander widerstreiten, sich doch nicht ins Gehege kommen.

Auf diese auffallende Tatsache wird wohl jeder Leser des BERKELEYschen Hauptwerks in der einen oder anderen Weise aufmerksam werden. Wenn man das Buch beginnt, glaubt man, einen ziemlich vollständigen Idealismus vor sich zu haben; manche der Gründe, mit denen die Verwerfung der materiellen Außenwelt motiviert wird, sprechen ebenso gut gegen die geistigen Objekte - so z. B. die schon erwähnte Ansicht, daß die undenkenden Dinge leere Abstraktionen sind - und würden uns, wenn wir ihnen nachgingen, zu einem "konsequenten Solipsismus" (7) führen.

Daher dann die "Überraschung" des Lesers bei der in Kapitel 29 übermittelten "unerwarteten Nachricht" (8), daß es außer unserer Seele noch andere Seelen gibt. Hier springt BERKELEY aus seinem idealistischen in seinen realistischen Gedankenkreis hinüber, und das Erstaunen des Lesers markiert eben die Unvermitteltheit beider.

Wie war es möglich, fragen wir, daß diese beiden Gedankengruppen so nebeneinander hergehen konnten, ohne sich gegenseitig zu stören? Wenn es erlaubt ist, mit einer Hypothese zu antworten, so würde ich sagen: Die Verwechslung von Geist und Subjekt hielt sie auseinander. Sie ermöglichte trotz der idealistischen Einwürfe gegen die objektive Materie die Beibehaltung der objektiven geistigen Innenwelt und von hier bis zur Annahme der objektiven Existenz der geistigen Welt überhaupt war der Weg nicht weit. Doch das ist, wie gesagt, eine Hypothese.

Da also die Leugnung der materiellen Außenwelt in BERKELEYs Denken isoliert dastand, dürfen wir sie einen teilweisen Idealismus nennen. Was ist damit gewonnen? Ist es nicht ein müßiger Streit um Worte, ob wir sie so oder anders nennen?

Doch nicht! Es ist uns darum zu tun, den bedeutsamen Einfluß zu ergründen, den die OdsV auf das Zuständekommen und die Gestaltung des Idealismus gehabt hat. Kann uns nun in dieser Hinsicht der Einfluß der OdsV auf BERKELEY als Beispiel dienen? Dürfen wir, wenn wir beobachten, daß dieser Denkfehler an der Abstoßung der  materiellen  wirklichen Dinge bei BERKELEY beteiligt ist, daraus den Schluß ziehen, daß er einen Einfluß auf die Abstoßung der wirklichen Dinge  überhaupt,  d. h. auf den Idealismus hat? Ja, wenn BERKELEYs Lehre ein halber Idealismus ist, so dürfen wir es. Dies zu zeigen war die Absicht dieser Erörterung.

Wenn ich im folgenden der Bequemlichkeit halber von der Leugnung des "wirklichen Dings" bei BERKELEY spreche, so wird man mich nicht so mißverstehen, als ob ich nicht wüßte, daß es sich bei BERKELEY selbst nur um die materiellen, nicht um die geistigen wirklichen Dinge handelt; aber es ist uns eben um das allgemeine Gesetz und nicht um das einzelne Beispiel, um den Idealismus überhaupt und nicht um sein unvollkommenes Auftreten in BERKELEYs Philosophie zu tun.


III. Wirkungen der OdsV bei Berkeley

§ 30. Worin, fragen wir weiter, besteht nun die Wirkung der OdsV auf das System BERKELEYs.

Wir hatten oben das dreigliedrige, aus Subjekt, Objekt und wirklichem Ding bestehende System betrachtet, welches die Folge der OdsV war. Dasselbe finden wir auch bei BERKELEY wieder, und zwar erkennen wir bei ihm sehr deutlich, wie infolge der OdsV das wikliche Ding aufhören mußte, als Objekt zu gelten. In Abschnitt XVIII heißt es bei ihm:
    "Durch unsere Sinne haben wir nur die Kenntnis unserer Sinnesempfindungen, aber die Sinne lehren uns nicht, daß Dinge außerhalb des Geistes existieren."
Präziser würde dieser Satz lauten: "Wir erkennen unsere Ideen, aber wir erkennen nicht die Dinge." Dieselbe Verwechslung von Substantialverhältnis und Erkenntnisbeziehung, von Haben und Erkennen, die BERKELEY sagen läßt: "Wir  erkennen  die Ideen", weil wir sie  haben - dieselbe Verwechslung läßt ihn auch sagen: "wir  erkennen  die Dinge  nicht",  weil sie eben  nicht  in uns  haben (sondern vielmehr wirklich erkennen). Erkennen wir aber die Dinge nicht, so bedeutet das, sie sind nicht mehr Objekt, die Ideen sind jetzt Objekt an ihrer Stelle.

Wir hatten oben auch bereits gesehen, daß das alte Objekt, zum bloßen "wirklichen Ding" degradiert, in diesem dreigliedrigen System eine sehr gefährdete Position hatte. Die alte Frage: "Wie kommt das Subjekt dazu, über sich hinaus auf das Objekt zu deuten?" wurde dringender, da die Kluft zwischen dem Subjekt und dem alten Objekt durch das Dazwischentreten des neuen Pseudoobjekts noch verbreitert wurde. Was das wirkliche Ding einfach das Betrachtete, so schien es nicht so sehr verdächtig, war es ein geheimnisvolles Etwas hinter dem Bertrachteten, dann mußte man sich fragen: "Wie komme ich eigentlich zu einem wirklichen Ding?" Und da sich in der Tat kein Grund für dasselbe finden läßt, mußte man in Verlegenheit geraten, man mußte sich skeptischen Gedanken nähern. Wenn es keine Wahrheit gab als diejenige, welche in der Erkenntnis des wirklichen Dings bestand, dann war die ganze Wahrheit sehr zweifelhaft. BERKELEY selbst spricht dies aus (LXXXVIII):
    "Solangae wir undenkenden Dingen eine Existenz zuschreiben, ist es uns nicht bloß unmöglich, mit Evidenz die Natur eines wirklichen undenkenden Dinges zu erkennen, sondern auch nur dies, daß ein solches existiert."
Ich sage nicht, daß die OdsV diese Zweifel schuf, sie haben vielmehr ihren Ursprung in den Erklärungsschwierigkeiten der realistischen Erkenntnis; aber ich glaube gezeigt zu haben, daß sie dieselben begünstigte.

Aus der Skepsis konnte man also anscheinend nur heraus, indem man eine andere Art der Wahrheit findet als die realistische, eine Art der Wahrheit, welche das wirkliche Ding nicht braucht, so daß man sich dieses unbequemen Begriffs entledigen konnte; die reine immanente Wahrheit hätte sich bieten sollen, aber es fand sich nur ein Surrogat derselben (Kapitel XXXVI), und dieses gewährte ebensowenig wie jene eine ausreichende Befriedigung für den realistischen Trieb des Menschen.

§ 31. Da führte dieselbe OdsV, welche die Verlegenheit teilweise geschaffen hatte, auch deren Abhilfe herbei. Sie hatte ja einen Ersatz für das wirkliche Ding, nämlich ihr Pseudo-Objekt. Das Erkanntwerden dieses Objekts durch das Subjekt, das bot eine realistische Wahrheit ohne das wirkliche Ding, das bot alles, was man brauchte. Darin liegt ja eben das Wesen der OdsV, daß sie zwischen Subjekt und subjektiver Vorstellung dasjenige Verhältnis herstellt, welches zu Recht nur zwischen Subjekt und äußerem Objekt besteht; sie ermöglichte es also, dieses letztere zu entbehren und doch jenes Verhältnis, die realistische Erkenntnisbeziehung, zu behalten. Wäre das alte Objekt aus dem Wagen der Erkenntnisbeziehung herausgefallen, als es noch dem Subjekt gleichberechtigt gegenüber saß, so hätte man es sicher vermißt und wieder einsteigen lassen. Aber es war verdrängt durch das Pseudo-Objekt der OdsV, es hatte, zum wirklichen Ding degradiert, auf dem Tritt des Wagens Platz nehmen müssen. Was Wunder, daß es bei einigen heftigen Sprüngen, die der Wagen machte, herunterfiel, was Wunder, daß man sich auch nicht einmal nach ihm umsah, da ja sein Platz im Wagen besetzt war und das Subjekt Gesellschaft hatte!

Dieses Gleichnis soll u. a. verdeutlichen, daß die OdsV nicht die Ursache, sondern nur die Bedingung für den Abfall des wirklichen Dinges war. Die wirklichen Ursachen desselben, die Sprünge des Wagens, wurden bei BERKELEY durch die Gründe gebildet, die er im ersten Teil seines Hauptwerkes gegen die Annahme der "undenkende Dinge" angibt, und ferner durch theologische Rücksichten. Allein es kann fraglich sein, ob diese direkten Ursachen ohne eine Mithilfe der OdsV imstande gewesen wären, das wirkliche Ding abzuwerfen.

§32. Hätte BERKELEY die OdsV mit ihrem realistischen Schein nicht gehabt, hätten ihm nach dem Verlust des wirklichen Dings plötzlich die jedem Menschen fast unentbehrlichen Begriffe und Worte  Objekt, Betrachten  und  Anschauung  gefehlt - denn die entsprechenden immanenten Begriffe besaß er ja noch nicht - so hätte er sich bei seinem Idealismus schwerlich beruhigt, er hätte sich gedrungen gefühlt, das verlorene Objekt wiederzugewinnen, und hätte dieses Ziel auf zwei Weisen erreichen können.

Erstens hätte er umkehren und die objektive Materie wieder annehmen können; die Beibehaltung der objektiven Geisteswelt, der Begriff der "notions", denen er einen vollkommen realistischen Erkenntniswert gab, bauten ihm goldene Brücken für diesen Rückzug.

Oder noch wahrscheinlicher hätte er eine andere Wendung genommen. BERKELEY nahm (Kapitel 29) eine Verursachung und Leitung unserer sinnlichen Ideen durch Gott an. So realistisch nun zwar, wie wir auf den ersten Blick diesen Gedanken deuten möchten, ist er nicht. Man ist geneigt zu einer solchen Auffassung, daß unsere Ideen diejenigen Gottes anschauen und die letzteren  Objekte  der ersteren sind, ähnlich wie es MALEBRANCHE in seinem okkasionalistischen System [der Gelegenheitsursachen - wp] behauptet. Dafür aber gibt BERKELEY nirgends einen klaren Anhaltspunkt, er stellt zwischen unseren Ideen und Gott immer nur eine Kausal-, nirgends eine Erkenntnisbeziehung her, ja er verwahrt sich sogar gegen den Okkasionalismus (Kapitel 71 und 148). Hätte er dagegen die OdsV nicht gehabt und demgemäß ein Bedürfnis nach der Annahme äußerer, unseren sinnlichen Ideen entsprechender Objekte gehabt, so ist es wahrscheinlich, daß er den Okkasionalismus nicht so von der Hand gewiesen hätte, sondern ein Anhänger desselben geworden wäre.

Man vergleiche hiermit die starke Betonung, die BERKELEY in Abschnitt 35 und 36 darauf legt, daß sein System den Begriff der Realität nicht zerstört. Diese Tatsache beweist einerseits, wie lebhaft das realistische Gefühl in BERKELEY war, und andererseits, daß er die Befriedigung desselben in einer dem Okkasionalismus sehr ähnlichen Weise suchte.

§ 33. Wir haben gesehen, wie mit Hilfe der OdsV das alte Objekt abgestoßen und das neue Pseudo-Objekt als Ersatz an seine Stelle gesetzt worden ist. Ist der Idealismus, dessen Entstehen wir so beobachtet haben, nun über alle Bedenken hinaus? Nein, denn es erhebt sich noch eins: Ob das Pseudo-Objekt nicht an denselben Fehlern leidet, derentwegen das alte Objekt aufgegeben wurde.

Die Frage: "Wie kommt das Subjekt dazu, über sich hinaus auf ein Objekt zu weisen?" hatte Zweifel erregt, welche die direkte Veranlassung des Idealismus und der Abstoßung des wirklichen Dings geworden waren. Aber der nun eintretende Idealismus hatte ja wieder Subjekt und Objekt. Mußten sich denn nicht hier dieselben Zweifel wieder regen?

Nein, denn zwischen dem neuen Subjekt und Objekt herrschte ja unmittelbares Erkennen, welches, wie wir sahen, mit der OdsV jederzeit verknüpft ist; zwischen ihnen lag also keine Kluft, die erst zu überbrücken gewesen wäre.

BERKELEY selbst spricht allerdings nirgends vom unmittelbaren Erkennen, aber er behauptet, mit dem Abfall des wirklichen Dings oder der Materie ist der Skeptizismus beseitigt. Damit deutet er schon an, daß das Erkanntwerden der Ideen durch die Seele keine Zweifel bietet, daß es unmittelbar ist. Denn das war eben der Erfolg dieser Unmittelbarkeit, zu verhindern, daß die Zweifel an der realistischen Erkenntnisbeziehung bei einem neuen Subjekt und Objekt aufs Neue hervortraten.

Auch hier haben wir wieder die Wirkung der OdsV. Freilich wirkt sie nicht direkt, aber sie bestellt ihren Untergebenen, das unmittelbare Erkennen, zum Schutz und zur Erhaltung des von ihr teilweise geschaffenen Idealismus.


IV. Was wissen wir jetzt über das allgemeine
und gesetzmäßige Verhalten der OdsV?

§ 34. Vergegenwärtigen wir uns nun noch einmal im Allgemeinen die beiden Hauptmomente der Einwirkung der OdsV auf den Idealismus.
    1) Die OdsV verfälschte den Idealismus. Wir hatten in § 8 gesehen, daß es innerhalb des Idealismus kein Objekt im realistischen Sinn geben kann. Die OdsV aber führt ein solches Objekt in ihn ein und verwandelt ihn in einen realistisch schillernden Pseudo-Idealismus.

    2) Die OdsV ermöglichste oder beförderte zumindest den Idealismus, und zwar gerade dadurch, daß sie ihn verfälschte. Denn durch ihr Pseudo-Objekt befriedigt sie scheinbar den realistischen Trieb des Menschen und bringt dessen Einspruch zum Schweigen.
§ 35. Der Realist und der Idealist werden sich diesem Faktum gegenüber verschieden verhalten. Der erstere wird aus demselben ebenso wie aus den beständigen Rückfällen des Idealismus in den Realismus den Schluß ziehen, daß sich der reine fehlerfreie Idealismus gar nicht denken läßt; er wird hierin eine aposteriorische Bestätigung seiner apriorischen Bedenken gegen denselben erblicken. Der Idealist wird nicht so weit gehen, aber es doch sonderbar finden, daß das Zustandekommen des modernen Idealismus gerade von einem Denkfehler unterstützt wurde; er wird hierin einen der Fälle sehen, in welchen falsches Rechnen zufälligerweise ein richtiges Resultat geliefert hat.

§ 36. Hier wird man nun vielleicht fragen: "Wenn in der neueren Philosophie die OdsV zum Zustandekommen des Idealismus nötig war, warum hat der antike Idealismus sie nicht gebraucht?"

Ich antworte: Weil der antike Idealismus ganz anders geartet war und ganz andere Ziele verfolgte als der moderne. Seine Tendenz war eine negative; PARMENIDES und PLATO wollten das sinnliche Erkennen entwerten, und das Denken im Wert zu steigern. Warum man sich aber, wenn man dieses Erkennen aufheben will, keine Sorge deswegen macht, ob dabei die Objekte verloren hat, diese Frage liegt wohl auf der Hand. Demgegenüber war die Tendenz des modernen Idealismus eine positive; er wollte ein Erkennen schaffen, das besser, zweifelloser war als das früher angenommene, und darum durfte er dem realistischen Bedürfnis nicht in Gesicht schlagen, darum brauchte er ein realistisches Objekt.

LITERATUR: Richard Baerwald, Die Objektivitation der subjektiven Vorstellung, Jena 1893
    Anmerkungen
    1) Wird das Vorhandensein einer geistigen Substanz geleugnet, so wird dieses Verhältnis ein anderes; für uns hat diese Frage kein Interesse, es kommt uns nur darauf an, festzustellen, daß das Verhältnis des Ich zur subjektiven Vorstellung nicht gleich der Erkenntnisbeziehung ist.
    2) Da das "unerkennbare Wirkliche" ein Widerspruch in sich selbst ist, so ist auch der kantische Ausdruck "Ding ansich", sonst die prägnanteste Bezeichnung des wirklichen Dings, für uns nicht verwertbar; denn aus dem Ding-ansich ist bei KANT zuletzt ein unerkennbares  X geworden.
    3) Der Ausdruck ist WINDELBAND nachgebildet, welcher in seinem Aufsatz "Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre von Ding ansich" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Seite 260) die "immanente Methode, Erkenntnis zu begründen", als das Hauptverdienst KANTs hinstellt. Dagegen versteht er in den "Präludien" (Seite 131) unter "immanenter Wahrheit" eine bloße Vorstufe des kantischen Begriffs und definiert diesen als "Normalität des Denkens". Als Wahrheit schlechthin bezeichnet ihn auch SIGWART (Logik I, § 8), während er ebd. § 14 wohl mehr an die formale Wahrheit denkt. Vgl. auch LIEBMANN, "Analysis der Wirklichkeit", Seite 251-252.
    4) HERBART, Metaphysik II, § 197
    5) Es wäre verfehlt, hier etwa den Ausweg zu suchen, daß man den Vorstellungsinhalt an die Stelle des Objekts, den Vorstellungsakt an die der subjektiven Vorstellung stellt; denn der letztere ist dem ersteren in keiner Beziehung ähnlich, kann ihn also nicht abbilden.
    6) vgl. LIEBMANN, "Analysis der Wirklichkeit", zweite Auflage, Seite 169.
    7) OTTO LIEBMANN, Analysis der Wirklichkeit, zweite Auflage, Seite 29. - ÜBERWEG, Anmerkung zu Berkeleys "principles" Nr. 42
    8) LIEBMANN, a. a. O., Seite 29