Die Abstraktionsleiter | ||||
Terminologische Anstöße
Man darf auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn man sagt: ein klarer Streit über Wirkliches kann sich erst ergeben, nachdem alle Wortstreitigkeiten ausgeschieden sind - am besten, wenn diese ganz unmöglich wären, wenn jede Gefahr eines Mißverständnisses ausgeschlossen wäre. Dann würde jeder durch Worte ausdrücken, was er gedacht hat, der Hörende würde diesen Gedanken richtig reproduzieren und mit seinen eigenen "Ansichten" derselben Sache vergleichen können, wenn er solche hat. Man würde sich verstehen - was im deutschen Sprachgebrauch oft schon so viel heißt wie "übereinstimmen", während es hier nur als die Voraussetzung dafür betrachtet wird, daß man Nicht-Übereinstimmung über die Bedeutung der Wörter. Und eben darum gilt der Streit "um Wörter" für töricht, weil man denkt, daß es unvernünftig sei, "an den Wörtern zu kleben", sie zu "klauben"; denn es müsse dem Vernünftigen gleichgültig sein, ob er etwas so oder so benenne, ob ein Wort in dieser oder jener Bedeutung gebraucht werde. Es scheint leicht und einfach, sich über die Zeichen einig zu werden, wenn man nur wisse, was man bezeichnen will - auf diesem Gebiet, wie auf jedem anderen, wo einer zu seinem eigenen (individuellen) Gebrauch sich ein Zeichen "macht" oder mehrere zu gemeinsamem Gebrauch darüber eine Verabredung treffen, d. h. eine Art von Vertrag schließen, wodurch sich jeder verpflichtet, das Zeichen anzuerkennen, d. h. es in einem bestimmten Sinne anzuwenden und in einem bestimmten Sinne zu empfangen oder zu "verstehen". Gegenüber diesem Bedürfnis nach künstlichen Zeichen mit genau bestimmter Bedeutung besitzen wir nun aber in den Sprachen - und am meisten jeder in seiner "Muttersprache" - System von natürlichen Zeichen mit vielfach unbestimmten, mehr gefühlten als klar und deutlich unterschiedenen Bedeutungen. Freilich verstehen wir einander im Allgemeinen genugsam für Zwecke des täglichen Lebens - und da besonders, wo es Gefühl und Wollen zu erregen gilt (aber auch nur im Allgemeinen: denn wie viel Feindschaft entsteht durch eigentliche und wörtliche Mißverständnisse!). Wenn es sich aber um wissenschaftliches Denken handelt, so ist von jeher für notwendig oder wenigstens für erwünscht gehalten worden, "die Begriffe zu definieren", d. h. zu erklären, in welcher Bedeutung man besondere Wörter anwenden wolle - ob dieses Versprechen auch gehalten wird, bleibt dabei immer noch zweifelhaft. Nach der Absicht des Lehrers oder Schriftstellers liegt darin ein bedingtes Geheiß an den Schüler oder Leser: "wenn du mich richtig verstehen willst, so mußt du diese Wörter in diesem bestimmten Sinn verstehen, d. h. bei jedesmaligem Vorkommen die Gleichung, die ihren Wert ausdrückt (d. i. meine Definition), dir ins Gedächtnis zurückrufen." Wer danach, um dieses ausschließlichen Zweckes willen (den Autor zu verstehen) sich richtet, erklärt damit nicht zugleich, ausch seinerseits die Wörter in jenem Sinn gebrauchen zu wollen. Will und tut er das, so geht er gleichsam eine terminologische Konvention mit dem Urheber jener Definitionen ein. Auf diese Weise können sich viele kleine Sprach-Inseln bilden - in der Philosophie als Sekten oder Schulen bekannt - deren Bewohner jenseits ihrer Grenzen von niemandem verstanden werden, während sie unter sich die Wertzeichen ihrer Begriffe als vollgültig geben und empfangen. In diesem Sinne ist vor 50 oder 60 Jahren der "Hegel-Jargon" berufen gewesen. Hieraus kann sich zunächst ein Zustand ergeben, dem ähnlich, der zwischen verschiedenen wirklichen Sprachen besteht. Man kann aus einer Sprache in die andere übersetzen - aber man weiß auch, daß das immer mangelhaft bleibt, zuweilen so gut wie unmöglich ist: manche Ausdrücke und Wendungen sind "unübersetzbar", warum? weil das eine Volk kein Wort für die entsprechende Sache besitzt und es besitzt kein solches Wort, weil es die Sache nicht kennt, d. h. aber (da es sich hierbei zumeist nicht um materielle Dinge handelt), weil es kein Bedürfnis fühlte, einen gewissen Komplex von Vorstellungen und Gefühlen durch einen Namen zu begreifen. Dies zeigt sich besonders in dem mehr oder minder von Unterscheidung: was man nicht unterscheidet, das sieht man nicht und auch jede Kombination oder Synthese muß als etwas Unterschiedenes und Besonderes vorgestellt werden, um für ein Subjekt überhaupt "da zu sein". So in der Philosophie. Man verlachte im 17. Jahrhundert die quidditas [Washeit - wp] der Scotisten als sinnlos; für die Scotisten - in ihrem System - hatte das Wort aber eine ganz bestimmte Bedeutung. Im 17. Jahrhundert hatte man das Bedürfnis nicht mehr (oder so viel weniger), diesen Sinn zu unterscheiden, d. h. zu denken, man hatte sein Interesse in eine andere Richtung gewandt. Voraussetzung für das Bedürfnis einer gemeinsamen Ausdrucksweise ist ein gemeinsames Interesse und ein darin wurzelndes gemeinsames Denken. Nur insoweit als dieses vorhanden ist, ist es verhältnismäßig einfach und leicht, sich über die Ausdrücke "zu verständigen". Dieses "gemeinsame Denken" bedeutet nicht so viel als "gleiches Meinen" oder "übereinstimmendes Urteilen" - im Gegenteil, es soll ja auch die Basis dafür bieten, daß man über die wirklichen Differenzen des Meinens und Urteilens zur Klarheit also zu Verständigung gelange. Es bedeutet aber, daß man dieselben Gegenstände des Denkens erkennen und anerkennen, oder - in komplizierteren Fällen - daß man die Probleme, die Streitfragen selber, in gleichem Sinne verstehe. Davon sind wir nun auf keinem Gebiet so weit entfernt, wie auf dem der Psychologie und dem mit ihr - wie ich behaupte - ganz und gar verwachsenen der Soziologie; eben darum aber auch in der "eigentlichen" Philosophie, denn diese ist - möge man sie als Logik, als Metaphysik oder als Erkenntnistheorie verstehen - nichts ohne psychologische Fundamente. Besser müßte es dami stehen, wenn das Bedürfnis der Verständigung und also eines gemeinsamen, gleichartigen Denkens allgemein empfunden wäre. Das ist eben nicht einmal zwischen den Teilhabern an derselben Sprache der Fall; geschweige denn zwischen verschiedenen Sprachgebieten, von denen jedes seine eigene gelehrte Sprache ausgebildet hat, seitdem die alte Gelehrtensprache - das Neulateinische - in Verfall geraten ist. Und in keinem ist diese gelehrte Sprache scharf geschieden von der Sprache des täglichen Lebens. Ja, es wird nicht nur für ein Verdienst gehalten, sondern sogar ziemlich ungestüm gefordet, daß wissenschaftliche Werke gerade auf diesen Gebieten "gemeinverständlich" sein sollen: die populären (exoterischen) und die strengen (esoterischen) Darstellungen derselben Gegenstände werden nicht auseinandergehalten. Und doch ist eine Wissenschaft nicht möglich ohne Begriffe, d. h. ohne scharf begrenzte Denkobjekte; dagegen hat die Sprache des täglichen Lebens ein solches Bedürfnis gar nicht: sie ist zwar sehr reich in der Bezeichnung psychischer Wirklichkeiten; aber es sind immer nur die Gefühle, Empfindungen usw. dieser bestimmten redenden Menschen, die sie ausdrücken und wohl auch beschreiben will, aber nicht Gefühle oder Empfindungen an und für sich, die als bei allen Menschen oder sogar Tieren als vorhanden gedacht werden müssen. Da sie immer hauptsächlich auf die Phantasie wirken will, so hilft sich die Sprache des Lebens mit metaphorischen Ausdrücken; und diese gehen in die wissenschaftliche Sprache über, ohne in ihrer Ungenauigkeit erkannt zu werden. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Sprache werden zwar immer neue Versuche gemacht, die Wortbedeutungen zu fixieren. Damit verbindet sich aber allzuoft der Irrtum, als wäre das ebensoviel als das Wesen der Sache zu "erklären". Es wird verkannt, daß Begriffe unter allen Umständen psychische Gebilde sind, die von den Sachen verschieden, diese nur repräsentieren, auch wenn die Sachen selber psychische Tatsachen und Gebilde sind; ferner, daß es zwei Gattungen von Begrifen gibt, die in der Logik wohl als analytische und synthetische unterschieden werden, die aber auch empirische und rationale heißen können: jene erwachsen unmittelbar aus den Vorstellungen, d. h. aus Erinnerungen, sie sind nur Allgemeinvorstellungen, daher je weiter, desto ärmer an Merkmalen, also an Inhalt. Diese, die wohl auch unter dem Namen der Idee oder des Typus auftreten, sind reinere Gebilde des Denkens; ihnen wird der Reichtum eines individuellen Objekts gegeben, das die Allgemeinvorstellung oder den empirischen Begriff repräsentiert, wie dieser die Menge der einzelnen Vorstellungen, aus denen er "abgezogen ist. Die Gattung (B) verhält sich zur Gattung (A) wie auf einem speziellen (alltäglichen) Gebiet ein Maßstab zur bloßen Allgemeinvorstellung eines Längenmaßes. Der Armut an Merkmalen entspricht hier der Mangel eines materiellen Substrats; ohne dieses ist nur eine Schätzung möglich, z. B. nach der durchschnittlichen Länge eines männlichen Fußes (welche Vorstellung auf einer unbestimmten Menge von erfahrungsmäßig bekannten Füssen beruth). Eine eigentliche Messung geschieht schon, wenn ich meinen individuellen Fuß als Maßstab gebrauche; was aber durch die Messung in der Regel erreicht werden soll, wird erst möglich, wenn eine bestimmte Länge, an einem bleibenden individuellen Gegenstand verifizierbar und korrigierbar, soziale Gültigkeit als Maßlänge erworben hat, z. B. der rheinische Fuß, von dem ein Modell aufbewahrt wird. Und eine neue Aufgabe ist sodann, ein allgemein gültiges Längenmaß mit den Maßen anderer Größen in ein System zu bringen. In der Psychologie werden, soviel ich sehe, die beiden Gattungen von Begriffen noch nicht gehörig unterschieden; und soweit als eigentliche Begriffe zur Anwendung gelangen, kommen sie über das Stadium der individuellen Füße nicht hinaus oder kommen höchstens dem in einer Landschaft, einem kleinen Verkehrsgebiet gültigen Maßstab gleich. Oder, wie EUCKEN in seiner trefflichen, grundlegenden "Geschichte der philosophischen Terminologie" sich vor 25 Jahren mit einem anderen Gleichnis ausdrückte, die Kunstausdrücke (der philosophischen Schulen) sind wie Scheidemünze: sie haben keinen Kurs außerhalb ihres engen Bezirkes. EUCKEN hat, wenn ich nicht irre, kein besonderes Gewicht darauf gelegt, die Begriffe von ihren Ausdrücken zu unterscheiden; wohl aber hebt er selbst hervor, daß es immer verschiedene Denkweisen sind, die sich in den verschiedenen Terminologien reflektieren. Und ich meine, daß jeder wissenschaftlich Denkens sich hierüber zur Klarheit kommen sollte, daß es zweierlei ist: Begriffe bilden und sie benennen. (1) Und darüber, daß es vor allen Dingen wichtig ist, in Betreff des Wesens und Inhaltes der notwendigen und zweckmäßigen Begriffe sich zu einigen. Da kommen zu den Begriffen der Wirklichkeit die rein logischen Hilfsbegriff hinzu, die auf psychologische gleichermaßen wie auf materielle Gegenstände Anwendung finden. Die Bearbeitung und Feststellung dieser Begriffe - wie notwendig und zufällig, möglich und wahrscheinlich, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel - war es eigentlich, die unter den alten Namen der Metaphysik oder "ersten Philosophie" oder Ontologie gesucht wurde und jetzt in der "Erkenntnistheorie" ein neues Obdach gefunden hat, nachdem jene Namen - hauptsächlich durch ihre Verbindung mit theologischen Vorstellungen - in Verruf geraten sind. Hier liegen nun die Kunstausdrücke selber in jeder Sprache fest und wegen ihrer Übersetzung aus einer Sprache in die andere kann kaum ein Zweifel entstehen. Umso mehr wird eine übereinstimmende und genaue Fixierung ihres Inhalts vermißt; umso weniger wird erkannt, daß es nicht darauf ankommt, zu entdecken, was sie etwa in irgendwelchem Sprachgebrauch tatsächlich bedeuten, sondern zu statuieren, was sie, um für einen bestimmten wissenschaftlichen Gebrauch tauglich zu sein, bedeuten sollen. Und daß die Begriffe für mannigfachen Gebrauch modifiziert werden müssen, welche Modifikationen denn auch durch differenzierte Ausdrücke unterschieden werden müssen. Nächst EUCKEN, der nur in einem (mir nicht zu Gesicht gekommmenen Artikel des "Monist" (1896) das Thema wieder aufgenommen hat, ist es eine englische Frau, VICTORIA LADY WELBY, der das Verdienst zukommt, mit großer Energie, ja mit einer edlen Leidenschaft, das Mißliche der bestehenden Zustände dargestellt und auf einen vernünftigen "sinnreichen" Gebrauch der Sprache zu Zwecken der Erkenntnis gedrungen zu haben. Sie möchte eine eigene Disziplin begründen und das Verständnis dafür schon durch den Schulunterricht anbahnen, die sie "Sensifics", das Studium des Sinnes, nennt, nämlich des Sinnes, der Wörter überhaupt haben können und den sie haben sollten; daraus müsse methodisch erlernt werden, wie ein Gedanke am treffendsten, am zweckmäßigsten und am schönsten ausgedrückt werde.
Mir waren diese Vorarbeiten - außer dem Buch EUCKENs - unbekannt geblieben, als ich im gleichen Jahr (1897) auf die - wie ich erst später erfuhr, von LADY WELBY gestellte - Preisaufgabe stieß, die eine Erörterung der Ursachen bestehender "Unklarheit und Verworrenheit in der philosophischen und psychologischen Terminologie" und Angabe der Richtungen, in denen Abhilfe gesucht werden dürfe, verlangte. Ein internationaler Gerichtshof, in dem Deutschland durch Prof. KÜLPE, England durch SULLY und STOUT vertreten wurde, war dafür eingesetzt. Die Erläuterung legte hauptsächlich Wert darauf, daß eine Klassifikation der verschiedenen Arten, in denen ein Wort oder anderes Zeichen Bedeutung haben kann, vorgetragen werde. Demnach habe ich im ersten Teil meiner Arbeit (4) (die durch einstimmiges Votum den Preis erhielt) über Zeichen im allgemeinen und Worte insonderheit ausführlich gehandelt; in zweiten die sachlichen und historischen Ursachen des bestehenden Zustandes und im dritten die Richtungen erörter, in denen eine Verbesserung erwartet werden darf. Am Schluß habe ich darauf hingewiesen, daß der zunehmende internationale Charakter aller Wissenschaft das Bedürfnis einer allgemeingültigen Terminologie immer lebhafter ins Bewußtsein rufen werde und daß nur aus dem Bedürfnis heraus Suchen und Finden der richtigen Mittel entspringen könne. Schon werde durch diejenigen Zeitschriften, die in mehreren Ländern gelesen werden und durch internationale Kongresse mancher Keim zu einer universalen Verständigung gelegt. Diese werde aber nur gedeihen können vermöge einer gemeinsamen Sprache, einer Weltsprache; der Terminologie freilich könne daneben auch durch graphische Darstellungen geholfen werden. Als Weltsprache empfehle sich immer noch am meisten die nie ganz als solche ausgestorben, im wissenschaftlichen Gebrauch noch vor 200 Jahren in Übung war, das Neu-Lateinische; da es auch immer noch, durch seine unbegrenzte Fähigkeit, sich griechische Wortformen anzupassen, die technische und wissenschaftliche Terminologie beherrsche. Um aber mit solchen Mitteln Erfolge zu haben, dazu sei nicht allein Wille und Fähigkeit, sondern Autorität notwendig.
1) Vor sprachlichen Ungeheuern schreckt die Chemie nicht zurück - und tut ihrer Popularität dadurch keinen Eintrag -, wenn sie den Ursprung neuer Synthesen in Kunstwörtern anzudeuten sucht, die die Länge einer ganzen Zeile gewinnen. Sie ist aber durch ihr vorzügliches Buchstaben- und Ziffern-System immer in der Lage, die kompliziertesten Namen im gewöhnlichen Gebrauch entbehrlich zu machen. 2) VICTORIA WELBY, Grains of Sense, London 1897, Seite XI und 146. Ein so geistreiches und unterhaltendes, wie ernsthaftes und unterrichtendes Büchlein. Neuerdings zieht die Autorin den Ausdruck Significs vor und will das Studium der Zeichen schlechthin und ihrer Werte zu einer pädagogischen und ethischen Bedeutung erheben. Besser dürfte ein dem Griechischen entlehnter Name, etwa Semantik, sich diese Idee anpassen. 3) ANDRÉ LALANDE, Le langage philosophique et l'unité de philosophie. 4) Sie ist in englischer Übersetzung, die von Mrs. BOSANQUET mit großer Sorgfalt angefertigt wurde, im "Mind" (Juli und Oktober 1899, Januar 1900) gedruckt worden. |