ra-2SchillerO. KülpeJ. CohnFr. Th. VischerA. DöringW. Conrad    
 
BERTHOLD von KERN
(1848-1941)
Einleitung in die
Grundfragen der Ästhetik

[3/3]

    1. Grundlegende Gesichtspunkte
2. Die elementaren ästhetischen Werte
3. Der Begriff des Schönen
4. Idealistische und realistische Kunst
5. Kants Ästhetik

"Es ist schwer einzusehen, woher ein Zwist zwischen Idee und Wirklichkeit seinen Ursprung nehmen sollte. Für das wissenschaftliche Denken wenigstens besteht ein solcher Zwist nicht. Die Wirklichkeit ist nichts als Tatsache und die Idee hat in ihr ihre Wurzeln, auch wenn sie sich zum hochragenden Baum auswächst. Nicht eine Versöhnung tut not, sondern bloß die Erhaltung der  Einheit  zwischen beiden, die nur durch ein Mißverständnis zerrissen werden kann, durch ein Mißverständnis, das im dogmatischen Schnitt zwischen Seele und Körper, zwischen Geist und Stoff seinen Ursprung hat. Diesen Schnitt zu heilen, ist nicht Sache der  Kunst,  sondern Aufgabe der  Erkenntnis,  die damit zugleich auch das Gefühlsleben und die aus ihm hervorwachsende und ihrerseits wieder befruchtende und entwickelnde Kunst in gesunden Bahnen erhält. Diese Bahnen aber tragen den Wegweiser: Einheit von Wirklichkeit und Idee."


4. Idealistische und realistische Kunst

Die unablösbare Beziehung der Kunst zum Gefühlsleben drückt der Kunst von vornherein und grundsätzlich einen  idealistischen  Charakter auf. Es sind gewissermaßen die Ideen des Gefühlslebens, die in der Kunst zur objektiven Darstellung gelangen. Können wir doch unsere Gefühle, die eine Subjektivität höchster Potenz, die den Kern unseres Ichs repräsentieren, schon in Begriff und Sprache nur sehr unvollkommen darstellen. Wir wenden uns mit ihnen deshalb an die Kunst und an deren reichhaltigere Mittel, durch die wir gleichsam in Umschreibungen von großem Umfang zum Ausdruck dessen gelangen, was in unserem Gefül vor sich geht. Zu solchen Umschreibungen verwenden wir Ideen und sinnliche Vorstellungen, legen diese in sprachlichen, musikalischen, malerischen, architektonischen usw. Symbolen nieder und erwarten von ihnen, daß sie in dem das Kunstwerk aufnehmenden Geist die gleichgearteten Gefühle erwecken, die den Künstler bei seiner Erzeugung beherrscht haben. Die Art und Weise, in der das geschieht, bildet ja den bevorzugten Gegenstand der ästhetischen Literatur der jüngsten Zeit mit ihrer psychologischen Grundrichtung.

Die den Gefühlsaustausch vermittelnden Ideen und Vorstellungen können völlig freien Ursprungs sein wie z. B. in der Musik oder sie können ihren Ursprung in bestimmten Objekten wie Naturinhalten und geschichtlichen Vorgängen haben oder sie können bedingt und gerichtet sein durch den Zweck eines Gebrauchsgegenstandes wie z. B. in der Architektonik. Die ästhetische Gefühlswirkung in ihrer Intensität und Extensität bleibt bei alledem abhängig vom Inhalt und Umfang der sie erzeugenden und durchführenden Idee sowie von der Art, in der diese dem Schauenden durchsichtig und eindringlich gemacht wird und von der Harmonie und Nachhaltigkeit, mit der die Idee das Gefühlsleben anregt, aufrichtet, meistert und zu wachsender Vervollkommnung erzieht. Immer aber handelt es sich unter diesem idealistischen Gesichtspunkt um den  Gefühlswert  der das Kunstwerk beherrschenden  Idee.  Und die Wirkung der die Idee verkörpernden Kunst geht so weit, daß sie in ihrer Kulturarbeit die Menschheit durch die Steigerung des Gefühlslebens zu ästhetischem Verhalten auch solchen Gegenständen und Vorgängen gegenüber heranreifen läßt, die an und für sich nur objektive Realitäten sind. Die Ästhetik in der Naturbetrachtung und in der angewandten Kunst sind die ausgesprochensten Typen jenes idealistischen Entwicklungsvorgangs.

Diesem Idealismus steht im Widerstreit der Meinungen, wie ich bereits in den einleitenden Bemerkungen erwähnt habe, ein ästhetischer  Realismus  gegenüber, der als seinen Grundzug den engsten Anschluß an die Wirklichkeit der Natur und des Lebens betont. Welche Bewandtnis hat es nun mit diesem Realismus hinsichtlich seines ästhetischen Werts? In seinen gemäßigten Formen widerspricht er dem Idealismus in keiner Weise, sondern bringt den durchaus richtigen Grundsatz zum Ausdruck, daß es unserem  Gefühlsleben  widerspricht, auch wenn es seinen höchsten Leistungen gilt, völlig losgelöst und herausgerissen zu werden aus dem Zusammenhang mit jener Wirklichkeit des Lebens, in der es seinen Ursprung hat und seinen festen Halt findet. Auch der Idealismus kann einseitig werden und so eine Einseitigkeit bedeutet eine Verarmung und Verödung. Ja, er kann geradezu entarten, wenn er das Gefühlsleben in Stücke reißt durch die Entfremdung von der Wirklichkeit und durch ihre Mißachtung. Er teilt dann das Geschick der metaphysischen und der religiösen Ausschreitungen, die in der Mißachtung des weltlichen Lebens gipfeln. Demgegenüber ist der ästhetische Realismus ein bewährtes Kampf- und Korrekturmittel gegen idealistische Übertreibungen, insofern er betont, daß die ästhetische Idee sich nicht von der Wirklichkeit loslösen kann, ohne unwahr zu werden und damit ihren ästhetischen Wert zu verlieren, mit anderen Worten ohne ihre Wirkung auf das Gefühlsleben einzubüßen. Das wäre ja eine Verflüchtigung der ästhetischen Idee, die ihren Untergang bedeuten würde.

Schon mit der historischen Vergangenheit, die durch Vermittlung der Geschichtswissenschaft ein Teil unseres Geistesinhalts geworden ist, läßt sich das ästhetische Gefühl nicht entzweien, sondern weist historische Mängel und Entstellungen auch in den Erzeugnissen der Kunst zurück; es wird durch eine solche in der Einheit seines geistigen Besitzstandes gestört. Ebenso wird es auch durch alle anderen Übertreibungen oder Unwahrheiten gegenüber der realen Wirklichkeit gestört. Darstellungen aus dem Volksleben, welche diesem nicht entsprechen oder Darstellungen aus dem individuellen Leben, die sich als Übertreibungen kennzeichnen, erregen unseren Widerspruch auch im gefühlsmäßigen Kunstgenuß. In noch höherem Maße gilt das für Naturdarstellungen. In allen diesen Fällen kann die realistische Kunst sogar eine ästhetischen Eigenwert, nämlich den Gefühlswert der Wahrheit, für sich in Anspruch nehmen. Die Beleuchtung geschichtlicher Vorgänge sowohl wie die Darstellung von Naturinhalten, wenn sie wahr sind und unseren Gefühlen Anhaltspunkte bieten, sich in solche Inhalte zu vertiefen, wirken allein schon aus diesem Grund auf unser Gefühlsleben in anregendem und erweiterndem Sinne ein und das besonders dadurch, daß sie das Wesentliche hervorzuheben und eigenartig zu betonen imstande sind. Es liegt in ihnen nicht bloß Wiedergabe und nicht bloß Nachahmung, sondern Auswahl, die auf den Gefühlswert aufmerksam macht. So haben sie bei aller Realität ästhetischen Wert. Nur müssen die Grenzen beachtet werden. Es dürfen uns nicht realistische oder naturalistische Dinge vor Augen geführt werden, die unseren idealistischen Gefühlsbestand verletzen, sie dürfen das wenigstens nicht ohne einen versöhnenden, die Einheit unseres Gefühlslebens wiederherstellenden Ausgleich. Dazu kommt weiterhin, daß der einseitige ästhetische Realismus die Realität der geistigen Werte vergißt, daß er ihren objektiven Seinswert nicht erkennt und sie als bloße subjektive Hirngespinste abtun zu können vermeint, denen keinerlei Rechnung getragen zu werden braucht. Hier sind wir angelangt bei dem Gegenstück der idealistischen, nämlich bei der realistischen Vereinseitigung, Verödung und Entartung. Sie erreicht ihren tiefsten Stand im ästhetischen Naturalismus, der die Wirklichkeit in schroffster Form behandelt und jede Idealisierung grundsätzlich als kunstwidrige Fälschung brandmarkt. Das ist es, wogegen der Idealismus sich mit gutem Recht verwahrt.

Erwägt man all das, so löst der ganze Streit zwischen ästhetischem Idealismus und Realismus sich in ein Mißverständnis von Einseitigkeiten auf. Beide Prinzipien sind berechtigt, sobald sie sich gegenseitig anerkennen und ergänzen, andernfalls laufen beide Gefahr, sich in unfruchtbare Wüsten zu verirren, in denen auch unser Gefühlsleben keine Nahrung findet. Denn das Gefühlsleben versagt, wenn ihm der einheitliche Zusammenhang gestört wird. Der einseitige Realismus erzeugt eine gefühllose, der einseitige Idealismus eine weltfremde Kunst; in beiden Fällen aber geht der Kunstwert in bloße Technik über, welcher die Wirkung auf das Gefühlsleben gänzlich mangelt, - wofern nicht die Technik als solche, die Darstellungsweise, einige dürftige Gefühlstöne erregt.

Zu Unrecht übrigens meint der ästhetische Idealismus, in der Kunst die Wirklichkeit mit der Idee zu versöhnen. Denn es ist schwer einzusehen, woher ein Zwist zwischen Idee und Wirklichkeit seinen Ursprung nehmen sollte. Für das wissenschaftliche Denken wenigstens besteht ein solcher Zwist nicht. Die Wirklichkeit ist nichts als Tatsache und die Idee hat in ihr ihre Wurzeln, auch wenn sie sich zum hochragenden Baum auswächst. Nicht eine Versöhnung tut not, sondern bloß die Erhaltung der  Einheit  zwischen beiden, die nur durch ein Mißverständnis zerrissen werden kann, durch ein Mißverständnis, das im dogmatischen Schnitt zwischen Seele und Körper, zwischen Geist und Stoff seinen Ursprung hat. Diesen Schnitt zu heilen, ist nicht Sache der  Kunst,  sondern Aufgabe der  Erkenntnis,  die damit zugleich auch das Gefühlsleben und die aus ihm hervorwachsende und ihrerseits wieder befruchtende und entwickelnde Kunst in gesunden Bahnen erhält. Diese Bahnen aber tragen den Wegweiser: Einheit von Wirklichkeit und Idee.

Im Zusammenhang hiermit ist auch die BERGSONsche Intuition noch erwähnenswert, mittels derer BERGSON die Wirklichkeit unmittelbarer als durch Begriffe und dann in ihrem wahrsten, unaufhörlich schöpferischen Wesen zu erfassen glaubt, sich in sie einfühlend und sie miterlebend. Genau dasselbe hat schon vor BERGSON die spekulative Ästhetik, insbesondere SCHELLING und SCHOPENHAUER, von der  Kunst  gesagt und auch andere Auffassungen der Gegenwart sagen, die Kunst enthülle die in der Wirklichkeit waltenden Ideen und gebe unmittelbar - nicht auf dem Umweg eines zergliedernden und abstrahierenden Denkens - den ästhetischen Wert wieder, der schon in der objektiven Wirklichkeit selber enthalten sei. Das alles sind Irrtümer, die der Berichtigung bedürfen. Was BERGSON unter Intuition und intuitiver Erkenntnis versteht und was jene ästhetischen Anschauungen unter den Aufgaben und Leistungen der Kunst verstehen, das ist lediglich die  gefühlsmäßige  Umdeutung der Wirklichkeit, sei es der realen oder der idealen. Wir verfolgen das Wirklichkeitsgeschehen mit unseren Gefühlen, projizieren unser eigenes Gefühlsleben in die Wirklichkeit hinein und objektivieren es in ihr und in ihren Gegenständen. Die vermeintliche Intuition und ebenso die Kunst nimmt es nun einfach aus der so umgedeuteten Wirklichkeit wieder heraus und hat bei alledem nichts gewonnen als unsere eigenen Gefühle.

Das Kunstwerk gibt also keinerlei Wirklichkeit wieder, sondern den Niederschlag der von ihr in uns geweckten Gefühlsvorgänge und diesen Niederschlagt in Formen, die der Wirklichkeit entlehnt sind. Schon in der Wahl der Formen und noch mehr in der Art ihres Ausbaus oder Umbaus liegt die künstlerische Wirkung der  Gefühlsidee,  welche der realen Wirklichkeit gegenüber fallen läßt, was ihr nicht von Gefühlswert erscheint, hinzufügt, was ihr zu fehlen scheint und umbaut, was in der Wirklichkeit nicht dem Gefühl entspricht. Darüber hinaus erzeugt sich auch gänzlich frei, was sie nicht in der Wirklichkeit vorfindet, um dem Gefühl zum Ausdruck zu verhelfen und findet auch damit Anerkennung, wofern sie nicht die Wirklichkeit gefühlswidrig entstellt oder mißbrauch oder gänzlich außer Augen läßt. So bleibt bei allen Zugeständnisse an den Realismus der übergeordnete Wert in der Kunst ein idealistischer und wir können zusammenfassen und abschließend ihr Wesen dahin feststellen, daß  die Kunst eine sinnlich-objektive Darstellung unseres Gefühlslebens ist. 


5. Kants Ästhetik

In dem kurzen Überblick, den ich Ihnen hiermit geben konnte, habe ich die Ästhetik als eine Angelegenheit unseres Gefühlslebens behandelt und das Gefühlsleben in seinen Beziehungen zum Tatbestand unserer Kunsterzeugnisse untersucht. Ich habe auch die herrschenden Streitfragen und deren geschichtliche Beziehungen berührt, dabei aber eines Namens kaum Erwähnung getan, der unserer heutigen Vereinigung ihr Gepräge gibt: KANT. Ich habe es deshalb nicht getan, um es hier am Schluß mit umso größerer Bestimmtheit und Begründung aussprechen zu können, daß die erlangten Ergebnisse in voller Übereinstimmung stehen mit dem, was KANT in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft niedergelegt hat.

Sehen wir völlig ab von seinen Ausgangspunkten, von den Wegen, die er eingeschlagen hat und vor allem von den Begriffen und Definitionen, die er dabei verwendet hat, fassen wir vielmehr die Ergebnisse, zu denen er gelangt ist, in einfachster Form und Redewendung zusammen, so dürfen wir KANTs Lehre etwa folgendermaßen skizzieren: hervorgerufen wird im Subjekt der Eindruck der Schönheit dadurch, daß die formale Zweckmäßigkeit in der Verknüpfung der Teile des Objekts, ohne begrifflich gedacht und verstanden zu werden, ein angemessenes harmonisches Spiel der Seelenkräfte, eine gefühlte Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand bewirkt; wegen des interesselosen d. h. von keiner sinnlichen Begier getrübten Wohlgefallens an dieser inneren subjektiven Harmonie erteilen wir dann dem äußeren Objekt das Prädikat "schöne"; Kunst ist die Hervorbringung solcher Objekte. OTTO LIEBMANN, (1) dem ich die voraufgegangenen Worte entnommen habe, bezeichnet KANT mit Recht als  psychologischen  Ästhetiker. Noch vollständiger vielleicht würde er zu kennzeichnen sein als psychologischer Ästhetiker in kritischem Gewand. Nicht nur das, was sie sind, erlangen seiner klaren Meinung nach Objekte einen ästhetischen Wert, sondern lediglich durch die Art, wie sie auf uns wirken, wie sie von uns nachempfunden werden, durch die Art, in der sie unser  Gefühlsleben  wachrufen und aufrühren.

Die Ästhetik mit dem Gefühlsleben in Beziehung zu setzen, ist zwar schon vor KANT versucht worden und führt andeutungsweise auf MENDELSSOHN zurück, jedoch ist erst KANT es gewesen, der in breiter Ausführung diesem Gedanken Nachdruck gegeben und in der deutschen Philosophie zur Geltung gebracht hat. Jedenfalls war jene Tat von grundlegender Bedeutung. In diesem Vortrag habe ich ihr einen erläuternden Ausbau zu geben versucht und zugleich jene Auffassungsweise bis in die biologischen Bedingungen hinein verfolgt, um sie auch von dieser Seite zu stützen und in ihrer Berechtigung zu erhärten. Des weiteren kann ich noch hinzufügen, daß die Bezugnahme auf KANT und dessen eigenartige Wendungen - trotz mancher Abweichungen im Einzelnen - die vorgetragene Auffassung nur noch durchsichtiger und einleuchtender macht.

Gegen die Gefühle allerdings verhielt sich die  Psychologie  der kantischen Zeit noch spröde und schenkte ihnen wenig Beachtung. In seiner Ausdrucksweise sind sie daher nur spärlich enthalten, umso mehr aber gravitiert nach ihnen der Inhalt seiner ästhetischen Kritik. Wenn wir dem Rechnung tragen, so finden wir für seine großenteils so schwülstigen und fremdartig anmutenden Ausführungen eine wesentlich einfachere und durchsichtigere Darstellungsform. KANT betont in diesem Sinne das harmonische Verhalten unseres Gefühlslebens beim ästhetischen Genuß, führt das Urteil der Schönheit auf eine harmonische Anregung des Gefühlslebens zurück und versteht unter seinem Grundbegriff der Zweckmäßigkeit ästhetischer Objekte nichts anderes, als eine Zweckmäßigkeit für das betrachtende Subjekt, als Zweckmäßigkeit in Ansehnung unseres Gefühlslebens d. h. Übereinstimmung mit ihm. Er geht dabei über das individuelle Subjekt hinaus und wendet sich an ein überindividuelles, an ein allgemein menschliches Subjekt, an die allgemein menschliche Eigenart der Gefühlsvorgänge, die in der einheitlichen Harmonie ihr befriedigendes Gleichgewicht finden und gründet auf diesen allgemeingültigen Charakter des Gefühlslebens die Apriorität der ästhetischen Urteile, das notwendige Gefallen des Schönen, das ästhetische Ideal in seiner unbedingten Geltung, wie die Kunst es darzustellen unternimmt.

Eine inhaltsreiche Entwicklung hat seit den Zeiten KANTs die wissenschaftliche Ästhetik durchgemacht. Zwischen kritischer und spekulativer Grundlegung, zwischen Formästhetik und Gehaltsästhetik, zwischen analysierender und normativer Behandlungsweise hat sie hin und her geschwankt, bald objektiven, bald subjektiven Gesichtspunkten nachgehangen, bald mehr zum Intellekt oder zum Gefühl Beziehungen gesucht oder auch zu voluntaristischer Mystik Zuflucht genommen und schließlich das psychologische und biologische Gebiet bevorzugt, um das ästhetische Schaffen und Genießen sowie den Kunstwert zu ergründen und in seinem Wesen festzustellen. So sehen wir, daß die Ästhetik trotz ihres jugendlichen Alters Stein auf Stein gehäuft und alle nur irgend denkbaren Seiten vertreten und zur Erörterung gebracht hat. Jedenfalls geben diese nur dem Anschein nach so verworrenen Wege zu der allgemeingültigen Bemerkung Anlaß, daß aller wissenschaftliche Streit sein Ziel erreicht hat, wenn er die möglichen Gesichtspunkte bis in ihre äußersten Konsequenzen verfolgt und ihnen die gebührende Beachtung gesichert hat, ohne daß deshalb die Gesichtspunkte selber sich zu widersprechen brauchen oder auch nur voneinander loszulösen sind. Unter dem übergeordneten Gesichtspunkt, den ich in diesem Vortrag vertreten habe, daß der ästhetische Gehalt auf einem  Zusammenwirken  von Objekt und Gefühl beruth, daß er erst aus diesem Zusammenwirken hervorsprießt, schießen alle jene Strahlungen der Theorie in einem einheitlichen Mittelpunkt zusammen, finden in ihm ihre Rechtfertigung und ihren Ausgleich und erweisen sich als Teilinhalte eines  hochzusammengesetzten  Vorgangs, den wir unter den Begriffen der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen Wertes zu verstehen haben.
LITERATUR Berthold von Kern, Einleitung in die Grundfragen der Ästhetik, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) OTTO LIEBMANN, Analysis der Wirklichkeit, 1876, Seite 540