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FRIEDRICH THEODOR VISCHER
(1807-1877)
Das Schöne und die Kunst
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"Ja, wenn du am End' auch manches erkennen kannst: zu was soll nun das gut sein? Was nützt mir das? Es verderbt, es zersetzt nur die reine Lust am Schönen und die Fähigkeit, es zu schaffen. Man reflektiert und mäkelt zu viel. Alles Schöne ist naiv und will naiv aufgefaßt und hervorgebracht sein. Mit eurer Wisserei und Gescheitheit nehmt ihr dem Menschen das Restchen Natur, das in seinem Geist noch übrig ist."

Aber auch wer sich wirklich zum Menschen gebildet hat, auch der wird gegenüber dem Schönen nicht immer übereinstimmen mit anderen, die mit ihm auf gleicher Höhe stehen. Das Kunstwerk wirkt eben auf unendlich viele und unendlich verschieden geartete Individualitäten. Jede hat ihre Grenzen, ihre bestimmt angeborenen Neigungen. Es ist ganz natürlich, daß dem einen mehr der romanische und gotisch und weniger der griechische Stil gefällt, den der andere vorzieht. Aber von dem, welcher zum Menschen, d. h. zur Harmonie seines Sinnes- und Seelenlebens sich entwickelt hat, ist doch wenigstens zu verlangen, daß er etwas wirklich Schönes, das ihm persönlich weniger zusagt, nicht schlechtweg geringschätze und einfach verwerfe. Er soll wenigstens begreifen, daß andere es für schön halten können.

Man hört da oft:  de gustibus non est disputandum  [über Geschmack soll man nicht streiten - wp] Damit werden wir auf einen anderen Punkt geleitet, auf den Begriff  Geschmack. 

Früher wurde für Ästhetik das Wort Geschmackslehre gebraucht, so noch von KANT. Das ist aber falsch. Geschmack und Schönheitssinn sind zweierlei. Geschmack bezieht sich zunächst auf das bloß Angenehme und findet seine wahre Anwendung nur in untergeordneten Sphären, für die keine Gesetze aufzustellen sind. Ganz frei geben wir das Geschmacksurteil nur im engsten Sinne, als Zungenempfindung. Nur hierin ist reine Zufälligkeit und Unbestimmbarkeit. Der eine mag Fische, der andere nicht. Nun wird aber die Bezeichnung Geschmack auch auf Gebiete übertragen, wo die Kunst hineinragt; und da lassen wir das Urteil nicht ganz frei. Kleider, Möbel, Geräte sind zunächst Sachen des Bedarf und der Bequemlichkeit. Aber es bekundet sich darin der persönliche Geschmack des einzelnen. Für Kleiderfarben, Zimmerausstattungen gibt es keine Polizei. Wir lassen darin jedem seine Art und richten nicht streng. Dennoch sagen wir von einem Menschen über seinen Anzug und Hausrat: er hat keinen Geschmack. Und damit geben wir zu, daß es auch hierin feste Normen gibt, daß sich die Gesetze der rein ästhetischen Sphäre, der Kunstwelt auch auf dieses Gebiet erstrecken. Das Farbengesetz ist etwas Objektives. Wer dagegen geht, von dem sagen wir: er hat keinen Geschmack.

Nun wieder von der selbständigen Kunst. Es kann ein Kunstwerk in seinen wesentlichen Teilen schön sein und doch Geschmacklosigkeiten enthalten an gewissen Stellen der Peripherie, in relativ untergeordneten Nebenpartien, bis in die hinein des Künstlers Phantasie nicht reicht.

Der Geschmack schafft kein Kunstwerk, aber er hält, wenn es entsteht, das Ungeziemliche ab von ihm. Das Wort bezieht sich nur auf den Saum am Gewand des Schönen. Durch Geschmack ist z. B. nie eine großartige Komposition, nie ein erhabenes Monument entstanden, aber wo es in den Einzelheiten auszuführen war, da war auch Geschmack notwendig. Wir erkennen es wohl, wo ein Künstler von genialem Schöpfungstrieb gegen den Geschmack fehlt; und das tut das Genie nicht selten.

Darauf bezieht sich ein Distichon SCHILLERs:
    "Warum will sich Geschmack und Genie so selten vereinen?
    Jener fürchtet die Kraft, dieses verachtet den Zaum."
So verachten MICHELANGELO und RUBENS den Zaum; und es geht bei ihnen nicht ab ohne allerlei Verstöße gegen den Geschmack. In ihrer Urgewalt, was kümmert sie's, wenn sie Takt und Zartsinn befremden! SHAKESPEAREs manierierte Vergleiche sind zuweilen positiv abgeschmackt. Er zahlt darin der Mode seiner Zeit Tribut. Abgeschmackt ist stärker als geschmacklos, jenes das konträre, dieses nur das kontradiktorische Gegenteil von Geschmack. Geschmacklosigkeit ist bloß der Mangel an Geschmack. Für das eine wie für das andere sind wir auch im Element des Genius nicht blind. Kinderpietät gehört in keine Welt, wo es heißt: "reif sein ist alles."

Nun mag aber schließlich der Gegner sagen: ja, wenn du am End' auch manches erkennen kannst: zu was soll nun das gut sein? Was nützt mir das? Es verderbt, es zersetzt nur die reine Lust am Schönen und die Fähigkeit, es zu schaffen. Man reflektiert und mäkelt zu viel. Alles Schöne ist naiv und will naiv aufgefaßt und hervorgebracht sein. Mit eurer Wisserei und Gescheitheit nehmt ihr dem Menschen das Restchen Natur, das in seinem Geist noch übrig ist.

Naivität ist im Schönen Grundbegriff, Grundgesetz. Wie steht es damit in der heutigen Generation? Befindet sie sich etwa doch im Zustand jener edlen Unmittelbarkeit, die für den Genuß des Schönen vorausgesetzt wird? Ich glaube nicht. Zu sagen, daß man heute nach dieser Seite mehr oder weniger verbildet sei, wäre wohl stark, denn die Barbarei des Publikums in Kunst, Musik, Poesie geht meist ins ganz Grobe. Aber man hat andererseits so viel gehört und gelesen von Kritik, von Kennerschaft und dgl., daß man kaum widerstehen kann, auch den Kenner und Kritiker zu spielen, statt sich einfach zu freuen. Da liegt ein großes Übel. Wir sind weit hinausgekommen über ein kindlich harmloses Betrachten des Schönen. Mit aufgeklemmten Zwicker, vorgehaltener Lorgnette [Lesehilfe - wp] bringt man im Anblick eines Kunstwerks allerlei Weises vor. Wie sieht es doch aus mit der Kritik in der Tagesliteratur! Wie oberflächlich und krumm sind oft die Urteile. Es meint so mancher, der noch feucht hinter den Ohren ist, er sei zum Richter und Führer berufen. Die Not ist groß. -

Wenn ich darin nicht zu schwarz sehe, so werden wir unserem Gegner sagen, da ist an uns durch Wissenschaft nichts mehr zu verderben, drum heilen wir uns lieber durch Homöopathie und gehen auf den Grund. Wir müssen uns hineinstürzen und tüchtig schwimmen. Da kann doch geholfen werden durch klare gesunde Kunstanschauungen, die sich auf richtige, durchgreifende Prinzipien gründen. Das Halbwissen muß ergänzt werden. Kritik soll und kann nur üben der Berufene, der weiß, welche Maßstäbe anzulegen sind, nur der, welcher seine Begriffe geläutert hat durch ernste Studien, welcher z. B. LESSINGs Laokoon und hamburgische Dramaturgie gelesen hat. -

Wenn es auch wahr bleibt, daß das ästhetische Genießen ein Wohlgefallen ohne Begriff ist, da es mit  einem  Schlag und ganz unbewußt eintritt, so schließt das nicht aus, daß darin eingehüllt eine Welt von Begriffen liegt. Ganz ohne Vermittlung ist im geistigen Leben gar nichts; auch das Gefühl bewegt sich ja immer durch Denken hindurch. Nehmen Sie an, es handelt sich um Baustile. Da wird nun der Laie nur verwirrt, weil er sich nicht bewußt ist, daß das Schöne eine Geschichte hat und daß kein Komparativ unbedingt gilt, wo einer fragt: was ist schöner: gotische oder griechische Architektonik? In der Malerei verfolgen z. B. RAPHAEL und RUBENS zwei sehr verschiedene Richtungen. Ein Laie wird nun ganz konfus, er meint, er müsse sich jetzt unbedingt entscheiden; und er muß es doch eigentlich nicht. - Was schickt sich am meisten in Bezug auf die Grenzen der verschiedenen Kunstgattungen? Welche Bedeutung hat das Material für die Form? Und welche der Ort? Alle diese Erwägungen setzt der echt ästhetische Genuß voraus.

Wenn nun einer in einem Gemälde Komposition, Zeichnung, Farbe, Gesamt- und Lokalton unterscheiden und beurteilen kann, ob die räumlichen Verhältnisse richtig und angemessen sind, wenn er sich dann besinnt, was ist der Ausdruck in dem allem, so ist das freilich eine Reihe von Reflexionen. Aber nachher wird er doch zur Einheit zurückkehren und zu einem Ergebnis, das er ganz leicht in Gefühl umsetzen kann; sein Empfinden wird davon gesättigt sein; was er erst nur dachte, ist nun seine Gewohnheit, sein Besitz. So wird er sich auch überzeugen, daß es gar nicht so schrecklich ist mit dem Denken über das Schöne. Es ist keine Säure, von der "die Milch der frommen Denkart" verderbt wird; es greift die Naivität nicht wie ein ätzender Stoff an.

Dabei wollen wir übrigens nicht den Wert der praktischen Erfahrung unterschätzen. Es wird ohne Frage gut sein, das Verständnis durch selbständige Übung zu schulen. Denn nur der erfaßt ein Kunstwerk ganz, der es versucht hat, die Technik, wodurch es entstanden ist, bis zu einem gewissen Grad zu lernen. Ich werden die Farben in einem Bild viel besser beurteilen, wenn ich es selber erprobt habe, wie es beim Malen zugeht. Der Genuß selbst ist ein vollerer, wenn man die Kunst, die ihm gilt, von solchen Übungen kennt. -

Fragt man aber: liegt es im Zweck des  Künstlers,  daß er sich streng psychologisch ins Schöne vertiefe und mit der Literatur darüber bekannt mache, so ist zu erwidern: die Ästhetik gibt keine Anleitung zur Kunstpraxis; sie ist in diesem Sinne nicht Theorie. Dem Künstler muß es, wie schon gesagt, die Intuition eingeben, was er machen soll; eine Art von Hellsehen muß es ihm zeigen. Bei der Ästhetik kann er nicht Kunst lernen. Mit allem Denken kommt kein Kunstwerk zustand. SCHILLER sagt einmal, er gebe alles ,was er auf dem Weg ästhetischer Forschung gefunden habe, dahin um einen einzigen schwierigen Kunstgriff beim Komponieren. Das ist wohl stark, aber es ist viel Wahres dran.

In dem Augenblick des Erfindens, des Greifens nach einem Motiv und seiner lebensvollen Realisierung, da hilft dem Künstler unsere Wissenschaft nichts. Aber im Ganzen seiner Seelenbewegungen, seines Sinnens und Waltens, sollte es da so sehr vom Argen sein, wenn er über die Stilarten, über Komposition, bzw. durch Denken etwas Klarheit besitzt; - und gehört zur Bildung nicht am Ende auch Bildung zum Denken über die Kunst? Man könnte nur einwenden, daß ihm darin Maßhalten zu raten ist. Indessen rät sich ihm von selbst, eben weil er auf einen so großartigen Instinkt angelegt ist. Diesem widerstrebt zwar nicht allgemein wissenschaftliche Bildung, wohl aber ein philosophisches Eindringen in die letzten Gründe.

Es hat jemand gesagt: der Bildhauer soll eigentlich nicht Anatomie studieren, sondern studiert  haben.  (1) So möchte ich allgemein vom Künstler sagen: Er soll über das Schöne nicht nachdenken, sondern nachgedacht  haben.  Das wird ihm bei seinem Schaffen wenigstens negativ dienlich sein, wird ihn vor Fehltritten bewahren. KARSTENS z. B. hat nach KANT die Begriffe von Raum und Zeit gemalt. Dies wäre unterblieben, wenn er auch nur das ABC der Ästethik in sich aufgenommen hätte. HETSCH hat MARIA gemalt, wie sie mit der Gemahlin des PONTIUS PILATUS wandelt und sie von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Auch Witze werden gemalt. Das geht ja doch nicht. Malerisch darstellen, was nur poetisch darstellbar oder nur poetisch wirksam ist, dies und anderer Unsinn würde nicht so leicht vorkommen, wenn die Künstler weniger Scheu hätten, ihr bewußtes Gedankenleben und dabei ihre ästhetischen Begriffe etwas auzubilden. Sie würden dann auch besser wissen, was eine Kunstgattung leisten kann und was nicht. Die Phantasie des Schaffenden ist nicht so wehleidig, daß ihr Bildung schaden könnte. Kunst und Kunstwissenschaft gehören zusammen. Denken, Forschen ist auch ein Produzieren. Nur in der Wechselwirkung werden beide gedeihen.

Ich habe gesagt: unser Gegenstand, das Schöne, ist heiter und sinnenfreundlich. Das aber wird auch immer wieder unser mühevolles Denken über ihn erfrischen. Uns beschäftigt das heitere Reich der reinen Formen, das Reich der zweiten Schöpfung, welche von der fühlenden Menschenseele in die erste hineingezaubert wird.

Die Kunst zeigt uns dieselben Formen, welche die Natur geschaffen hat. Der Mensch kann eine eigentlich neue Gestalt nicht erfinden. Alles, was er z. B. in Karikaturen Erstaunliches hervorbringt, ist nur eine tolle Zusammensetzung von Naturformen. Aber die Erzeugnisse der Kunst sind frei vom Drick, der in der Wirklichkeit auf den Naturformen liegt. Sie sind hell, frei, heiter, rein. "Es sind die heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen." Die reinen Formen, damit meint SCHILLER die von Erdenflecken freien Formen. In diese selige Welt führt unsere strenge Wissenschaft.

Das Schöne will gar nichts als erfreuen, edel erfreuen, so daß die Freude eine Erhebung ist. Die Kunst veredelt ungesucht. Es ist uns nie wohl im Gemeinen; und so ist freilich die Kunst auch völkererziehend. Ihre Welt ist angstlos. Auf dem Leben liegt so ein eigentümlicher Druck. Der muß noch nicht lange gelebt haben, der nicht verspürt hat, wie eine Gespensterhauch über dem Leben webt. "Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus", können wir auch im Leben oft sagen. Das vergessen wir in der Kunst, weil sie uns in einem reinen Schein, der aber nicht inhaltslos ist, sondern Wahrheit ausstrahlt, das Gefühl und die Vorstellung einer vollkommenen, einer harmonischen Welt gibt. Im wirklichen Leben gehen wir keinen Schritt, von dem wir gewiß wissen, daß nicht im nächsten Augenblick ein Konflikt kommt, aus dem wir nicht rein hervorgehen. Das dürfen wir in der Kunst vergessen.
    "Nur der Körper eignet jenen Mächten,
    die das dunkle Schicksal flechten;
    Aber frei von jeder Zeitgewalt,
    Die Gespielin seliger Naturen,
    Wandelt oben in des Lichtes Fluren,
    Göttlich unter Göttern, die Gestalt."
Die reine Kunstgestalt ist in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt; sie steht in ihr wie ein seliger Geist. So wirkt aber nur wahre, hohe Kunst. Sie verklärt, was sie in die Hand nimmt.

GOETHE sagt in Wahrheit und Dichtung: "Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch glückliche geistreiche Darstellung Lust wie Schmerz zu mäßigen."

Mit reinen Formen, von Erdenschwere befreiten, von den Flecken des Lebens geläuterten Formen, haben wir es tun tun. In den Künsten, die man nachahmende nennt, gibt es nur die von der Natur gegebenen Formen. Nicht nachahmende Künste sind Architektur und Musik. Sie bilden eigene Formen. Wir wollen nun vorerst eine Überschauch über das Reich der Künste halten.

Die Architektur  - steht zwar mit ihren Wurzeln auf dem Boden des Bedürfnisses, aber ihr Dienst wird ein freier und an diesem ihren Dienst entzündet sich die Künstlerphantasie und wächst, je höher der Zweck steigt. Wenn es gilt, nicht mehr bloß eine Hütte, sondern für den edel gebildeten Menschen Räume herzustellen, da wird es auch gelten, den Adel der Menschenbildung dem Bauwerk aufzudrücken. Und gar, wo man einen Tempel errichtet, das Haus, worin der Gott wohnt! An diesem höchsten Zweck hat sich überall der Stil der Architektur entwickelt. Wenn Sie nur einen Teil eines künstlerischen Bauwerks, selbst in der Zertrümmerung, sehen, so werden Sie spüren, hier weht Idealgeist. Ein Ausdruck dieser Empfindung ist in GOETHEs Gedicht "Der Wanderer" enthalten; und man könnte glauben, des sei in Italien entstanden, dort, wo man eine andere Art von Schutt aus dem Boden gräbt als bei uns; allein GOETHE hatte nur im Elsaß Reste eines Tempels an der Hütte eines Landmannes gesehen; und davon hingerissen, läßt er seinen Wanderer ausrufen:
    "Spuren ordnender Menschenhand
    Zwischen dem Gesträuch!
    Diese Steine hast du nicht gefügt,
    Reich hinstreuende Natur." -
    Ich erkenne dich, bildender Geist!
    Hast dein Siegel in den Stein geprägt."
Das ist die Kunst; wo Sie nur ein Stück von ihr sehen, ist ein Adel da, eine menschlich durchfühlte Natur mitten in der Natur.

In der Skulptur  - will sie die Rundheit, die Gediegenheit, die Formenharmonie im organischen Gebilde des menschlichen und tierischen Körpers wiedergeben. Um dies ganz zu erschöpfen, verzichtet sie auf die Darstellung der Farben und auf den Versuch, die Bewegungen wirklich nachzuahmen. Der Verzicht hierauf befähigt sie, alle Reize auszuatmen, welche in dieser wunderbaren Flächen- und Kurvenwelt liegen. Diese Kunst wird dann aber auch wahrhaft verewigend.

In der Malerei  - vollzieht die Kunst den Schritt, die Farbe aufzunehmen. Will sie aber erreichen, was sie mit der Farbe sagen kann, so muß sie auf die Raumausfüllung verzichten. Sie wirft einen bloßen Schein von Körpern auf eine Fläche und gewinnt durch diese Beschränkung an Darstellungsreichtum. Sie kann sich so fast über den ganzen Umkreis des Sichtbaren erstrecken; die Welt des Seelenausdrucks, des Furchtbaren und Komischen ist ihr in weit größerem Maße erschlossen als der Skulptur.

Je mehr die Kunst bloßer Schein ist, umso höher wird sie stehen und umso mehr kann sie darstellen. Die Künste zeigen sich als stufenmäßig aufsteigend, aber diejenige, welche beziehungsweise die ärmere ist, behauptet dann wieder einen Vorzug nach anderer Seite. Malerei und Skulptur haben nicht den Ton und nicht die wirkliche Bewegung. Sie fesseln einen Moment in einer Reihe von Bewegungen. Dieser Moment ist der einzig dargestellte, wird nun aber im höchsten Grad anschaulich.

An die bildenden Künste schließt sich das Kunstgewerbe. Es ist dies ein Gebiet, worin sich das Schöne mit Dingen verbindet, die dem Zweck der Notdurft und Bequemlichkeit dienen, als ein anhängendes Gebiet. Auch in ihm erkennen wird die Macht des Schönen. Es zieht sich so kräftig hinein in die empirische Welt, es umschlingt sie so innig, daß wir geradezu vergessen, wie alles, was uns umgibt, einen Bund des Schönen mit dem Nützlichen darstellt. Und wie arm das Leben ohne das Schöne wäre, können wir nur ahnen.

Die Musik  - kann als solche keine Gegenstände darstellen, außer mit Zuhilfenahme von Text und Bühne. Wir reden aber von reiner, d. h. von Instrumentalmusik. Sie kann nicht die Sache selbst geben, sondern nur ihr Echo in der menschlichen Seele. Die Außenwelt ist weg, der Geist der Kunst webt hier nur im Geheimnis des Gefühlslebens. Dieses ist im gewöhnlichen Leben so gedrückt und belastet, so unaufhörlich affiziert von Verdrießlichkeiten, daß es einer Kunst bedarf, wodurch es harmonisiert wird. Die Musik bringt zwar auch Dissonanzen, nicht aber ohne sie zu lösen; und so erhebt sie uns in eine himmlische Sphäre, durch Töne idealisiert sie die Stimmung.

Mit dem unendlichen Reichtum ihrer Reize ist aber auch eine unendliche Armut da. Denn eigentlich soll die Kunst doch ein erhöhtes Bild der Welt geben. Die Welt ist aber sichtbar und im Raum; und diese ganze sichtbare Welt des Raumens haben wir verloren in der Musik. Darum hat die Menschheit müssen

die Dichtkunst  - erfinden, die auch im Ton tätig ist, aber im artikulierten Ton, im Wort, in der Sprache. Hiermit ist der letzte, höchste Schritt geschehen. Die Kunst spricht und jetzt erst kann sie alles darstellen, was ist. Sie weckt die Phantasie zu Vorstellungen. Jetzt erst ist die ganze Welt erschlossen, weil hier eigentlich auf alles Material verzichtet ist. Denn das Wort ist für die Poesie nicht Material wie Stein und Erz für die Plastik, wie die Farbe für die Malerei; es ist nur elektrischer Draht, durch welchen das Phantasiebild des Dichters hinüberläuft in die Phantasie des Lesers oder Zuhörers. Gar nichts mehr wird eigentlich sichtbar, selbst auf das Hören kann verzichtet werden. Nur an den Geist wendet sich der Dichter.

Der Wert der anderen Künste soll nicht verkannt werden. Jede hat ein Gebiet, worin es ihr eine andere nicht nachtun kann, aber die Dichtkunst ist doch die reichste unter allen und sie ist die tiefste. Sie erschließt das Reich des Sichtbaren wieder und mit dem Wort offenbart sie zugleich das geistige Leben. Und indem sie so die ganze Welt gewinnt, gibt sie ihr das ideale Licht einer höheren Harmonie. Darin hat sie einen Umfang und eine Tiefe wie keine andere Kunst.
LITERATUR Friedrich Theodor Vischer, Vorträge, Das Schöne und die Kunst - Zur Einführung in die Ästhetik, Stuttgart 1898
    Anmerkungen
    1) MICHELANGELO hat zu viel Anatomie studiert. Weil er aber ein großes Genie war, hat es ihn natürlich nicht verderbt, es ist ihm nur anzuspüren.