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Die Möglichkeit rechtloser Zeiten
FELIX SOMLÓ

Dem Umstand, daß eine Macht ein weites Gebiet der menschlichen Lebensverhältnisse ergreifen muß, damit es Rechtsnormen überhaupt geben könne, wird bei den üblichen Bestimmungen des Rechtsbegriffs gewöhnlich nicht Rechnung getragen. Verschiedene Unklarheiten hängen damit zusammen.

So läßt sich die Frage, ob es rechtlose Zeiten geben könne, erst auf der hier gebotenen Grundlage entscheiden, und damit läßt sich auch die Irrtümlichkeit der landläufigen Meinungen über den Anarchismus zeigen.

Es ist nicht undenkbar, daß es zu Zeiten jene höchste Macht, die Recht setzen könnte, nicht gibt.

Alle Zeiten, in denen diese bestimmt geartete oberste Macht in bezug auf bestimmte Menschenkreise nicht zustande kommt, sind rechtlose. Wenn z. B. ein Bürgerkrieg lange und unentschieden wütet, wenn allgemeiner Aufruhr an Stelle der Ordnung tritt wenn eine äußere Macht die bestehende Staatsgewalt niederwirft, sich aber nicht behaupten kann und auch sonst keine Macht zustande kommt, deren Normen allgemein befolgt würden, so besteht eben zu solchen Zeiten kein Recht. Allerdings wird sich ein solcher Zustand nicht lange erhalten. Die allgemeine Zügellosigkeit und Unordnung würden den betreffenden Kreis bald vernichten. Denn, und das sei besonders betont, nur allgemeine Zügellosigkeit und Unordnung würde den betreffenden Kreis bald vernichten. Denn, und das sei besonders betont, nur allgemeine Zügellosigkeit und Aufruhr kann Platz greifen, wenn das Recht aufhört zu sein. Es muß kein Recht geben, aber die Alternative lautet: entweder rechtlich geregelter Zustand oder jener  bellum omnium contra omnes  [Krieg aller gegen alle. - wp] des HOBBES. Als vorjuristischer Naturzustand, als die Kennzeichnung einer einstmaligen historischen Stufe, der gegenüber der Rechtszustand ein historisches Posterius [später - wp] wäre, ist diese Gegenüberstellung sicher unrichtig aber als logisches Entweder-Oder ist sie durchaus richtig erkannt. Man wird vielleicht geneigt sein, die naheliegende Frage zu erheben, ob sich denn nicht auch ein Zustand denken ließe, der uns einen Kreis von Menschen in friedlichem Besammensein zeigte, ohne Macht und Obrigkeit, in dem das ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkommen die Stelle des Zwanges einnähme und die freiwillige Befolgung der freien Verabredung jedes Recht unnötig machte. Vielleicht - wird man sagen - sind die Menschen nicht gut und vernünftig genug, einen solchen Zustand herbeizuführen, aber auch dann wäre er nur psychologisch unmöglich, weshalb sollte er aber auch logisch unmöglich sein?

Man kann nun zwar nicht leugnen, daß sich der geschilderte Zustand denken läßt, aber man muß hinzufügen, daß damit auch schon ein Rechtszustand gedacht ist. Wenn die Menschen die im Übereinkommen gesetzten Normen befolgen, so ist ja auch wiederum jene höchste Macht in Gedanken mitgesetzt, die wir als Rechtsmacht bezeichneten und deren Merkmal es gerade ist, daß die von ihr herrührenden Normen gewöhnlich mehr als irgendwelche anderen befolgt werden. Dann wäre in so einer Gesellschaft eben die Gesamtheit der Menschen die Rechtsmacht. Zum Begriff der Rechtsmacht gehört es ja nicht, daß einer den anderen mit Gewalt und Strafe zwingt, daß es Zwingende und Gezwungene gibt. Wenn alle übereinstimmen und einverstanden sind, so hat deswegen die Rechtsmacht nicht aufgehört zu sein. Wenn wir immer  einen  aus der Gruppe der Gezwungenen zur Gruppe der Zwingenden hinzudenken, wenn wir alle Fälle des nicht freudigen Befolgens der Rechtsnorm wegdenken, haben wir den Begriff des Rechts noch durchaus nicht zerstört. Mit einem Wort, wenn wir eine  konventionelle  Macht zur höchsten machen, so hat sie eben aufgehört, eine (im technischen Sinne des Wortes) konventionelle zu sein und ist zur Rechtsmacht geworden.


LITERATUR, Felix Somló, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917