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Namengebung
CHRISTOPH SIGWART

 
Weniger die Häufigkeit der Beobachtung, als das Interesse des Menschen bestimmt seine Aufmerksamkeit und die Genauigkeit seiner Auffassung. Die Bilder dessen, was ihn erfreut oder schreckt, was mit seinen Bedürfnissen und Trieben im Zusammenhang steht, prägen sich mit allen Einzelheiten dem Gedächtnis ein; was ihm gleichgültig ist, nimmt er sich nicht die Mühe genau aufzufassen und so läßt es nur einen verwaschenen Eindruck der hervorstechendsten Züge zurück, der sich in weitester Ausdehung mit Ähnlichem verschmelzen kann.

So erklärt es sich, wie nebeneinander bestimmtere und inhaltsreichere Bilder und unbestimmtere, leichter verschiebbare ihn erfüllen und sich mit seinen Wörter verknüpfen. Er benennt etwas das  Huhn, das ihm Eier legt, den  Sperling, der ihn in seinem Garten ärgert, den  Storch, der auf seinem Dach nistet; alles weitere ist  Vogel und er bekümmert sich um die Unterschiede der einzelnen Arten nicht, hat aber ebensowenig das Bewußtsein, daß die Vorstellung "Vogel" in ihrer Unbestimmtheit auch die speziellen bekannten Arten unter sich begreift; "es ist kein Vogel, es ist ein Huhn", kann man nicht bloß Kinder sagen hören. Das unbestimmtere und ärmere Bild, das nur von den Hauptzügen der Gestalt und des Fluges hergenommen ist, genügt, wo kein Interesse ist, die Dinge zu unterscheiden; es dehnt sich auf den fliegenden Käfer und den Schmetterling aus.

Die Geschichte der Sprache zeigt eine ganz ähnliche Entwicklung. Ihre Wurzeln haben eine sehr allgemeine Bedeutung; nicht weil von Haus aus durch einen umfassenden Abstraktionsprozeß gleich das Allgemeinste fixiert worden wäre, sondern weil wenig unterschieden und nur leicht auffassbare, besonders hervorstechende Erscheinungen behalten und benannt worden sind. Die einzelnen Dinge werden nach irgendeiner dieser Erscheinungen benannt, der Fluß vom Gehen, der Hahn vom Krähen usw. Indem man dann verschiedene Seite an ihnen aufgefaßt und sie nur nach diesen benannt werden, entstehen die zahlreichen Synonyma, welche sie in verschiedene Reihen gleichartiger Erscheinungen stellen; im Verlauf der Sprachentwicklung erst tritt weitergehende Spezialisierung durch Ableitung und Verwendung ursprünglicher Synomyme für verschiedene spezielle Klassen von Dingen und Vorgängen ein, aber das Allgemeinere besteht neben dem Spezielleren fort. Ganz entgegen der gemeinen Lehre von der Bildung der allgemeinen Vorstellungen ist im Individuum wie in der Sprache das Allgemeine früher als das Spezielle, so gewiß die unvollständigere Vorstellung früher als das Spezielle, so gewiß die unvollständigere Vorstellung früher ist als die vollständige, die eine weitergehende Unterscheidung voraussetzt.

Ein ähnlicher Prozeß vollzieht sich hinsichtlich der Vorstellungen der Eigenschaften und Tätigkeiten. Auch hier sind die ursprünglichen Auffassungen allgemeinster Art und betreffen nur die großen leicht unterscheidbaren Züge. Mit wenigen und unsicher geschiedenen Vorstellungen der Farben sehen wir das Kind wie die Sprache beginnen; erst allmählich übt sich der Blick zu unterscheiden, was früher ohne weiteres als gleich gesetzt wurde; die geläufigsten Formen der Bewegung werden aufgefaßt und ohne weiteres auf alles Ähnliche übertragen; die mannigfaltigsten Unterschiede finden erst später ihre Beachtung und Bezeichnung. Wie vielerlei Bewegungen muß ein Wort wie  gehen oder  laufen bezeichnen!


LITERATUR, Christoph Sigwart, Logik I, Tübingen 1873