ra-2tb-1M. ReischleM. WeberJ. BergmannR. A. LipsiusJ. F. Fries    
 
WILHELM HERRMANN
Die Religion im Verhältnis zum
Welterkennen und zur Sittlichkeit

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"Ein Wissen von sich als dem identischen Subjekt oder Ich ist nur dadurch möglich, daß es dem Bewußtsein zugleich gelingt, die vielen Einzelvorstellungen, welche ihm zeitlich gesondert gegeben sind, irgendwie auf ein Beharrliches zu beziehen, welches erlaubt, die einzelnen Vorstellungen nicht nur als zeitlich getrennt, sondern auch als irgendwie verbunden zu denken. In sich selbst findet nun das Bewußtsein eine solche beharrliche Einheit nicht, da in ihm alles wechselt; eine Vorstellung folgt der andern. Wenn dem Bewußtsein nichts weiter zur Verfügung stände, als dies, daß es Subjekt der Einzelvorstellungen ist, so müßte sich das identische Ich vielmehr in eine endlose Folge verschiedener Subjekte zersplittern. Es muß etwas Neues hinzukommen, welches nicht schon im Bewußtsein und seinen vereinzelten elementarsten Zuständen enthalten ist. Dieses Neue ist die  räumliche  Anschauung. In ihr besitzt das Bewußtsein ein Beharrliches, auf welches der Wechsel seiner Zustände bezogen werden kann, während die Zeit, mithin alles, was im inneren Sinn ist, beständig fließt. Wenn das Ich nicht imstande wäre, dieselbe Mannigfaltigkeit räumlich geordnet anzuschauen, welche zunächst nichts ist als eine zeitliche Folge von Modifikationen seines Zustandes, so wäre eine Einheit des Bewußtseins überhaupt nicht möglich."

"Wie haben wir nun über die Realität dieses Gedankendings, der so gedachten Natur, zu urteilen? Nicht weil wir sie  erkennen,  halten wir eine so beschaffene Natur für wirklich, sondern weil wir sie  wollen.  Es ist nicht das rein Theoretische im Naturerkennen, welches jenen Gedanken erzeugt, sondern der ihm innewohnende  praktische  Impuls. Bei der Frage nach der Realität eines Gegenstandes handelt es sich für uns immer darum, ob und wie wir ihn in Verbindung setzen sollen mit Vorstellungen von wirklichen Dingen, über welche wir bereits verfügen."


Die Grenzen des
wissenschaftlichen Naturerkennens

Man wird darauf rechnen dürfen, daß auch die eifrigsten Apologeten [Rechtfertiger - wp], wenn sie irgendwie unter dem positiven Einfluß der christlichen Gemeinde stehen, an irgendeinem Punkt dem Eindruck erliegen werden, daß die Gegenstände, zu welchen sich der Glaube erhebt, von den Objekten des wissenschaftlichen Naturerkennens derart verschieden sind, daß wir Menschen außerstande sind, beide in  eine  Welt zusammenzuziehen. Er wird dann auch die Waffen niederlegen, welche er bisher unter der Voraussetzung, daß er jene beiden Gebiete als gleichartig behandeln darf, geschwungen hatte, und wird sich mit derjenigen Überzeugung von der Zusammengehörigkeit beider begnügen, welche zwar durch keine Erkenntnis bloßer Tatsachen errungen, aber in der christlichen Religion dem Menschen geschenkt wird. Dann ist er in der geeigneten Verfassung, um sich auf die spezifischen Aufgaben der Theologie besinnen zu können, durch welche derselben eine eigentümliche Sphäre neben anderen Wissenschaften angewiesen wird. Wir machen nun hier den Versuch, auf diesen Punkt methodisch hinzuführen. Wenn die Welt des Glaubens dem wissenschaftlichen Naturerkennen unzugänglich ist, so muß das letztere denen, welchen jene als wirklich gilt, als begrenzt erscheinen. Das würde zunächst ein lediglich religiöses Urteil sein, welches nur innerhalb der religiösen Gemeinde Verständnis finden könnte. Müßte es dabei verbleiben, so würde auch ein theologischer Beweis unmöglich sein, welcher sich nicht damit begnügt, der besonderen religiösen Gemeinde allein angehörige Prämissen zu entwickeln. Eine Aussicht auf einen solchen Beweis eröffnet sich aber, wenn jeder, der wissenschaftliches Naturerkennen ausübt, zur Anerkennung von Grenzen  dieser  Tätigkeit gezwungen werden kann, welche eine ganz bestimmte Hindeutung auf die Religion enthalten.

Zu den wirklichen Grenzen des wissenschaftlichen Naturerkennens gelangt man aber nur und gegen Mißverständnisse kann man dieselben nur sichern, wenn man zuvor eine Unterscheidung macht, welche dem Menschen, der sich als ein Ich mit einem bestimmten mannigfaltigen Inhalt der Welt gegenüberstellt, leicht als die unnatürlichste Abstraktion erscheint. Man muß vom wissenschaftlichen Naturerkennen das reine Erkennen unterscheiden. Unter einem reinen Erkennen verstehe ich diejenige Tätigkeit des vorstellenden Bewußtseins allein, welche unmittelbar mit dem Dasein desselben gesetzt wird, ohne daß sich dabei der Einfluß jenes Inhalts der Menschenseele, der im Fühlen und Wollen bewegt wird, geltend macht. Aber der Macht dieses Einflusses kann sich das Vorstellen im empirischen Menschen niemals vollständig entziehen. Objekt einer psychologischen Beobachtung kann daher jene isolierte Tätigkeit des Vorstellens niemals sein. Wir würden von ihren eigentümlichen Gesetzen gar nichts wissen können, wenn wir nicht imstande wäre, am vorliegenden Produkt unseres Vorstellens, an der Erfahrung von den Dingen und ihren Beziehungen zueinander diejenigen Tätigkeiten zu erkennen, ohne welche weder ein solches Produkt noch das ihm entsprechende einheitliche Subjekt, die Einheit des Bewußtseins möglich wäre. Diese reine durch Gefühl und Wille nicht beeinflußte Tätigkeit des Erkennens, durch welche sich die Einheit des Bewußtseins stetig vollzieht, deutlich gemacht zu haben, ist das Verdienst der kantischen Erkenntnistheorie. Es wird sich zeigen, wie wertvoll diese Errungenschaft gerade für die Theologie ist, wieviel Mangelhaftes auch die fortschreitende Arbeit der Philosophie an den Resultaten KANTs entdecken mag. Für die Theologie hat KANT damit erst die Möglichkeit, als selbständige Wissenschaft neben der Philosophie zu existieren, geschaffen, indem er durch jene Isolierung der Funktionen des reinen Erkennens die Unmöglichkeit deutlich machte, mit ihrer Hilfe die religiöse Überzeugung zu entwickeln oder zu ihr hinzuführen. Die Vorstellungen, in welchen sich das Leben des Menschen als einer über alle Natur hinausgehobenen Person vollzieht, werden dadurch erst in ihrer Eigenart erkennbar, daß die Funktionen des reinen Erkennens für sich betrachtet werden, deren Tätigkeit die Vorstellung einer Natur erzeugt. Daß die Auffassung der Welt für den Menschen als erkennendes Subjekt eine völlig andere ist wie für den Menschen als sittliche Person -, diese von KANT errungene Erkenntnis vindiziert [beansprucht - wp] auf der einen Seite der exakten Wissenschaft die Pflicht der Selbständigkeit, welcher sie sich mit reichem Erfolg unterzogen hat. Auf der anderen Seite wird durch diese Errungenschaft KANTs die Theologie in die Freiheit entlassen, nach der sie in der Reformationszeit hinausgeblickt hatte. Dieselbe Tat, durch welche die Unabhängigkeit des Naturerkennens von theologischen Voraussetzungen materialistischer oder idealistischer Art ermöglicht wurde, enthob auch die Theologie der Pflicht, das lästige Band zu tragen, durch das sie bisher mit jenem zu  einer  Größe zusammengefaßt war. Daß der Gebrauch dieser Freiheit die notwendige Bedingung ist, um dem evangelischen Christentum zu der ihm entsprechenden theologischen Begründung zu verhelfen, soll im Folgenden bewiesen werden. Wenn der Beweis gelingt, so würde sich dadurch ein Zusammenhang KANTs mit der Reformation ergeben, der daran erinnern könnte, auch die Ethik und Religionslehre dieses zwar nicht sehr gefühlsseligen aber ernsten Mannes ernsthafter zu würdigen, als dies durch die bloße Repetition [Wiederholung - wp] der von den Romantikerns her überlieferten Beurteilung möglich ist (1).

Indem KANT die  Einheit  des Bewußtseins, welche in einer gleichartigen Erfahrung von den Dingen und ihren Beziehungen zueinander vorliegt, auf ihre Bedingungen hin untersucht, gelangt er zu den Funktionen des reinen Erkennens, in deren unwillkürlicher Anwendung sich das menschliche Bewußtseins vollziehen soll.

Die elementarsten Anfänge allen Erkennens, welche als solche niemals direkt zur Erfahrung kommen, können aus den vorliegenden Resultaten desselben erschlossen werden als eine Mannigfaltigkeit von Zuständen des Bewußtseins, welche in einem beständigen Wechsel begriffen sind. Die Zustände des Bewußtseins heißen Vorstellungen. In dieser Mannigfaltigkeit vereinzelter Vorstellungen weiß sich das Bewußtsein als das identische Subjekt, welches sie alle als seine Vorstellungen hat. Aber dieses Wissen von sich als dem identischen Subjekt oder Ich ist nur dadurch möglich, daß es dem Bewußtsein zugleich gelingt, die vielen Einzelvorstellungen, welche ihm zeitlich gesondert gegeben sind, irgendwie auf ein Beharrliches zu beziehen, welches erlaubt, die einzelnen Vorstellungen nicht nur als zeitlich getrennt, sondern auch als irgendwie verbunden zu denken. In sich selbst findet nun das Bewußtsein eine solche beharrliche Einheit nicht, da in ihm alles wechselt; eine Vorstellung folgt der andern. Wenn dem Bewußtsein nichts weiter zur Verfügung stände, als dies, daß es Subjekt der Einzelvorstellungen ist, so müßte sich das identische Ich vielmehr in eine endlose Folge verschiedener Subjekte zersplittern. Es muß etwas Neues hinzukommen, welches nicht schon im Bewußtsein und seinen (von uns hier in der Abstraktion) vereinzelten elementarsten Zuständen enthalten ist. Dieses Neue ist die räumliche Anschauung. In ihr besitzt das Bewußtsein ein Beharrliches, auf welches der Wechsel seiner Zustände bezogen werden kann, während die Zeit, mithin alles, was im inneren Sinn ist, beständig fließt (vgl. Kr. d. r. V., Seite 219) (2). Wenn das Ich nicht imstande wäre, dieselbe Mannigfaltigkeit räumlich geordnet anzuschauen, welche zunächst nichts ist als eine zeitliche Folge von Modifikationen seines Zustandes, so wäre eine Einheit des Bewußtseins überhaupt nicht möglich. Man darf mithin sagen, daß das Erkennen der Eigenschaften an einem räumlichen Gegenstand  reines  Erkennen ist; denn da die Einheit des Ich nicht wäre, wenn es nicht die Anschauung des räumlichen Gegenstandes produzierte, so bedarf es zu dieser Produktion nicht der Anregung durch den Willen, in welchem die Spannung eines Gefühls gelöst wird. Die Einzelvorstellungen, welche sich durch die räumliche Anschauung in eine gegenseitige Beziehung setzen lassen, so daß sie eine Einheit bilden können, nennen wir Empfindungen. Seiner Empfindungen wird das Bewußtsein Herr durch das Mittel der räumlichen Anschauung. Die Empfindungen sind dem Bewußtsein in unbestimmter Mannigfaltigkeit gegeben; dem entspricht es, daß wir die im Raum mögliche Mannigfaltigkeit uns nur als eine endlose vorstellen können. Indessen wenn die räumliche Anschauung auch das Mittel ist, die Empfindungen aufeinander zu beziehen, so kommt doch die Einheit eines Gegenstandes, an welchem die Empfindungen des Bewußtseins als Eigenschaften hervortreten, durch jene allein noch nicht zustande. Sie liefert für sich allein nur die Möglichkeit des Beisammenseins, macht es möglich, daß das Bewußtsein eine neue Vorstellung nicht anders hat als in einem Verhältnis zu irgendeiner bereits vorhandenen Vorstellung. In der Vorstellung des Gegenstandes dagegen ist eine  bestimmte  Gruppe von Vorstellungen zu einer Einheit verbunden, welche aus der allgemeinen Raumanschauung in bestimmten räumlichen Verhältnissen hervortritt. Wenn daher ohne das Erkennen der Eigenschaften am  Gegenstand  im Raum keine Bewußtseinsidentität vorhanden ist, so dürfen wir nach einer weiteren Bedingung fragen, welche jene bestimmte Zusammenfassung oder Synthese von Vorstellungen zu einem Gegenstand ermöglicht. Läßt sich dieselbe entdecken, so dürfen wir auch darauf rechnen, daß überall, wo  reines  Erkennen stattfindet, dieselbe vollständig wirksam sein wird. Wir können die Leistung näher bestimmen, welche wir von der gesuchten Bedingung des Gegenstandes verlangen müssen. Sie muß der Grund der Zusammengehörigkeit der Bestimmungen sein, welche im Gegenstand vereinigt sind. Das bloße räumliche Beisammensein derselben nehmen wir wahr. Aber aus dieser Wahrnehmung allein würde die Vorstellung des Gegenstandes nicht erwachsen. Denn in dieser ist außerdem noch die Vorstellung einer  notwendigen  Verknüpfung der Wahrnehmungen oder einer Zusammengehörigkeit derselben enthalten. Je mehr sich das Bewußtsein aus dem halbbewußten Empfindungszustand heraushebt, je deutlicher sich der Gegenstand von ihm ablöst, desto mehr mach sich auch jene Zusammengehörigkeit bemerkbar. Der Gedanke derselbe ist der Gradmesser für die Klarheit des Bewußtseins und für die Deutlichkeit des Objekts.  Jenes  Verhältnis der Wahrnehmungen zueinander können wir aber unmöglich selbst wahrnehmen. Die Objekte der Wahrnehmung sind zunächst Modifikationen des Bewußtseins, welche in zeitlicher Abfolge zur Erscheinung kommen. Das Zeitverhältnis der Folge kann nur wahrgenommen werden  in  einer Zeit, als einem Beharrlichen. Die Zeit selbst können wir aber doch nicht wahrnehmen. Es bedarf also, um auch nur jene Folge innerer Zustände aufzufassen, des Begriffs eines beharrlichen Substrates, auf welches das Zeitverhältnis der Folge als seine Bestimmung bezogen werden kann. Dieses Substrat kann das Ich selbst, das Subjekt der Einzelvorstellungen nicht sein, da es als solches vielmehr in eine Vielheit einzelner Subjekte zersplittert. Es handelt sich ja gerade darum, wie es sich trotzdem als das identische Subjekt in einer Mannigfaltigkeit von Zuständen behaupten kann. Es tut dies, indem es mittels der räumlichen Anschauungen den bestimmten Gegenstand außerhalb von ihm produziert. Indem es diesen anschaut, kann es seine eigenen Zustände auf ihn beziehen. Der Gedanke aber, daß den Modifikationen des Ich ein äußerer Gegenstand entspricht, an welchem dieselben zugleich sind oder nacheinander folgen, birgt in sich den Begriff von "etwas Bleibendem und Beharrlichen, von welchem aller Wechsel und Zugleichsein nichts als so viele Arten (modi der Zeit) sind, wie das Beharrliche existiert" (Kr. d. r. V., Seite 175). In unserer Vorstellung von einem äußeren Gegenstand steckt also dieser Begriff, der Begriff der Substanz, welchen das Ich handhaben muß, um durch die Erzeugung jener Vorstellung zu sein, was es ist, identisches Subjekt seiner Zustände.

Als ebenso notwendige Bedingung für die Vorstellungen, welche wir faktisch von den räumlichen Gegenständen haben, erweist KANT die Begriffe der Kausalität und der Wechselwirkung. Die Folge der Zustände an einer Substanz kann ich als eine nicht bloß subjektive Folge meiner Wahrnehmungen, die ich ebensogut in umgekehrter Reihenfolge machen könnte, sondern als objektive Folge nur so vorstellen, daß ich mir denke, in dem, was dem Übergang aus einem Zustand in den andern vorhergeht, liegt die Bedingung, welche denselben notwendig macht. Wenn ich eine solche Bedingung für die bestimmte Aufeinanderfolge zweier Wahrnehmungen nicht hinzudenke, so bin ich nicht einmal imstande, dieselbe als Zustände auf  eine  Substanz zu beziehen. Wenn beide einfach als Wahrnehmungen aufeinander folgen, so hindert nichts, sie als Qualitäten verschiedener Substanzen anzusehen. Sie zu  einer  Substanz zu rechnen - und nur, sofern wir dies tun, sehen wir ja die Folge als objektiv an - sind wir nur dann imstande, wenn wir eine Bedingung hinzudenken, durch welche die Folge des einen auf den andern bestimmt wird. Wenn aber so der eine Zustand als Folge an den andern geknüpft werden muß, so versteht sich auch von selbst, daß er irgendwie an derselben Substanz haftet wie dieser. Wenn ich mir also eine Veränderung an einer Substanz vorstelle, oder, was dasselbe ist, wenn ich zwei Wahrnehmungen als einander ablösende Zustände auf eine Substanz beziehe, so schließt die Denkhandlung, durch welche ich diese Beziehung zustande bringe, immer den Begriff einer Bedingung ein, durch welche die Aufeinanderfolge der Zustände geregelt wird. Diese Bedingung, welche die Regel ermöglicht: der Zustand  a  folgt auf den Zustand  b,  nicht umgekehrt, nennen wir Ursache. Die Ursache mach den Übergang aus einem bestimmten Zustand einer Substanz in einen anderen bestimmten Zustand für unsere Vorstellung notwendig; diesen Übergang nennen wir die Wirkung der Ursache. Mithin ist der Kausalitätsbegriff in irgendeiner Form überall von vornherein wirksam, wo wir die Erfahrung von der Veränderung an einer Substanz machen. Er steckt darin, weil wir die Vorstellung einer solchen Veränderung nur vollziehen können, indem wir ihn anwenden.  Wenn  wir die Erfahrung einer solchen Veränderung machen, so erhalten wir damit zugleich die Anweisung, nach ihrer Ursache zu fragen. Nicht der Gedanken der bestimmten Ursache, welche für diesen Fall gilt, wird sogleich vollzogen, wohl aber der Ansatz dazu. Denn die Vorstellung des Ereignisses ist von vornherein mit der Voraussetzung behaftet, daß dasselbe aus einem größeren Zusammenhang hervortritt. Darin bestätigt sich an diesem Punkt die bestehende Einheit des Bewußtseins, daß es für jedes vorgestellte Ereignis diese Anknüpfung in Bereitschaft hält. Ohne eine solche, wenn auch noch so unbestimmt gehaltene Anknüpfung wäre die Einheit des Bewußtseins zerrissen. Dasselbe kann nur unter der Voraussetzung einer solchen Bedingung für die bestimmte Aufeinanderfolge der Wahrnehmungen dieselben auf  eine  Substanz als deren sich ablösende Zustände beziehen. Wo es sich auch immer um das Erkennen eines Geschehens handeln mag, ist unsere vorstellende Tätigkeit vom Kausalitätsbegriff beherrscht. Denn nur wenn wir ihn handhaben, breitet sich hinter dem Wechsel des Geschehens die beharrliche Substanz aus, das Korrelat der Einheit des Bewußtseins. Ohne diesen Hintergrund aber könnten wir auch jenen Wechsel nicht vorstellen. Überall daher, wo ein  reines  Erkennen eines Geschehens stattfindet, wird uns auch die Anwendung des Kausalitätsbegriffs begegnen (3).

Wir beschränken uns für unseren Zweck auf diese beiden Begriffe. Sie bezeichnen die Tätigkeiten des Bewußtseins, durch welche die Vorstellungen der Gegenstände und der Veränderungen an ihnen oder eines Geschehens zustande kommen. Jeder psychische Vorgang, welcher nichts weiter ist als eine derartige Vorstellung, läßt auch die Tätigkeiten des Bewußtseins hervortreten, welche durch die Begriffe der Substanz und der Kausalität bezeichnet werden. Im Hinblick auf sie läßt sich nun die  Grenzenlosigkeit  des reinen Erkennens vollständig erläutern.

In jenen Begriffen hat KANT Verfahrensweisen entdeckt, durch welche das Bewußtsein gegenüber der Vielheit der Modifikationen oder Empfindungen seine Einheit behauptet. An der vorliegenden Tatsache des in den Vorstellungsverbindungen einheitlichen Bewußtseins läßt sich erkennen, daß dieselbe fortwährend aus einer solchen Einheitsfunktion resultiert, wie sie sich in der Anwendung jener beiden Begriffe auf die räumlich geordnete Empfindung vollzieht. Durch sie wird das in der Empfindung gegebene Mannigfaltige zur Einheit des Gegenstandes verknüpft. In dem Maß wie eine solche Einheit verwirklicht ist, ist Bewußtsein und ein Gegenstand des Bewußtseins vorhanden. Wenn KANT jene Einheitsfunktion als Akt der Spontaneität des Verstandes bezeichnete, so ist demgegenüber die Korrektur nicht am Platz, daß die Tatsache der Verbindung des Mannigfaltigen in der Empfindung zur Einheit einer Vorstellung ganz wohl ein Vorgang sein kann, durch welchen wir als Subjekt erst entstehen (4). Über den Ursprung der Einheitsfunktion wissen wir freilich nichts, sie liegt als Faktum in unseren Vorstellung vor. Aber mit dem Ausdruck, daß sie eine Handlung des Verstandes ist, will KANT zunächst dies sagen, daß sie nicht als Produkt der Empfindung anzusehen ist. Der Empfindung ist sie möglichste entgegengesetzt, indem sie die Regellosigkeit derselben zu einer einheitlichen Vorstellung umwandelt. Ferner liegt in jenem Ausdruck die Absicht KANTs, nicht durch Vermutungen über den Ursprung der Einheitsfunktion das Gebiet seiner Untersuchungen zu überschreiten. Wir können jene Tätigkeit doch nicht in ihrer Wirksamkeit beobachten, bevor ein Bewußtsein da ist, dem sie dient. Wir kennen sie nur als Funktion des schon vorhandenen Ich, das durch sie im Ablauf der Empfindungen seine Identität erhält, indem es Vorstellungsverbindungen vollzieht. Da KANT aber nur auf eine Analyse der faktisch gegebenen menschlichen Vorstellung ausgeht, so genügt ihm der Nachweis, daß der Gegensatz von *Subjekt und Objekt, welcher das Wesen der Vorstellung ausmacht, immer als Resultat auf einen Vorgang zurückweist, in welchem eine bereits bestehende Einheit des Mannigfaltigen sich als identisches Ich behauptet. Ob die Einheitsfunktion, durch welche dies geschieht, ursprünglich durch irgendwelche andere Faktoren erzeugt ist, geht uns nichts an; wir kennen sie nur als Funktion des Ich, das ohne einen anderen Inhalt zu haben sich in ihr als das einheitliche Subjekt einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen erhält. Mit dem Bewußtsein zugleich ist sein Gegenstand gegeben. Die Einheitsfunktion kann nur hervortreten an einem gegebenen Mannigfaltigen, das sie zusammenfaßt und zur Vorstellung eines Gegenstandes ordnet. Wir können ebensowenig das Bewußtsein für sich erkennen, wie einen Gegenstand, der nicht unsere Vorstellung wäre. Bewußtsein und Gegebensein einer Vielheit von Einzelvorstellungen sind zwar die beiden äußersten von der Abstraktion erreichbaren Schranken, innerhalb welcher erkennbare Gegenstände möglich sind; an jedem Objekt des Erkennens lassen sich die Einheitsformen des Ich und eine Vielheit von Bewußtseinszuständen, welche geformt, in Beziehungen zueinander gesetzt werden, unterscheiden. Aber nur die Resultate der Tätigkeit, durch welche das Bewußtsein die Vielheit seiner Modifikationen ordnet und sich dadurch selbst erhält, sind Objekte des Erkennens. Wir erkennen nichts als unsere Vorstellungen. Weder das Bewußtsein und seine Einheitsfunktionen, noch die Urdata seiner Zustände, die Empfindungen, können wir  für sich  erkennen. Wo etwas als erkennbarer Gegenstand vor das Bewußtsein tritt, lassen sich bereits jene beiden Elemente in ihm unterscheiden, woraus sich die auf ein äußeres Objekt bezogene Vorstellung zusammensetzt. Diese Vorstellungswelt, welche allein für das reine Erkennen vorhanden ist, ist bestimmt und unbestimmt zugleich. Bestimmt ist sie, sofern von vornherein sicher ist, daß alles, was in ihr erscheint, den Bedingungen entsprechen muß, unter welchen die Vorstellung auf einen Gegenstand bezogen werden kann. Was in der uns erkennbaren Welt als möglich angenommen werden soll, dessen Vorstellung muß mit der gesetzmäßig bestimmten, d. h. räumlich geordneten Empfindung in einem Konnex stehen und unter richtiger Anwendung der Einheitsfunktionen gebildet sein.

Dieser durchgängigen Bestimmtheit, welcher die Gegenstände des reinen Erkennens unterworfen sind, steht aber eine ebenso große Unbestimmtheit seines Gebietes gegenüber. Unsere Vorstellungen von Gegenständen lassen sich nicht vollständig auflösen in die immer gleichen Formen der verknüpfenden, beziehenden Tätigkeit des Bewußtseins. Es bleibt immer als das, woran sich jene erst betätigen können, eine Mannigfaltigkeit von Modifikationen des Bewußtseins übrig, welche in einer räumlichen Ordnung angeschaut werden. Von den Unterschieden der Empfindungen und demgemäß von der qualitativen Differenz unserer Anschauungen läßt sich von vornherein wohl dies sagen, daß sie dasein müssen als Bedingung für die verknüpfende Tätigkeit des Bewußtseins. Aber der Reichtum der Qualitäten selbst, die größere oder geringere Vergleichbarkeit der durch sie bestimmten Vorstellungen ist dem Bewußtsein empirisch gegeben. Wenn wir die nach den Gesetzen des Erkennens geordneten Anschauungen Natur nennen, so ist diese Natur für das Bewußtsein kein Ganzes, welches von ihm selbst aus bestimmt wäre, sondern eine ins Unbestimmte wachsende Vielheit, deren das Bewußtsein durch seine Einheitsfunktionen Herr zu werden suchen muß. Die Möglichkeit der Entdeckung neuer Natureigenschaften geht ins Unendliche, ebenso wie in der Mathematik die Kombination der Raumelemente und die Bestimmung der Verhältnisse relativer Größen. Wenn ferner das Naturerkennen darauf gerichtet ist, die Gegenstände und die Veränderungen ihrer Zustände möglichst vollständig zu bestimmen, so läßt sich auch für diese Tätigkeit keine bestimmte Grenze denken.  Es liegt in der Natur unserer Begriffe, daß unser Versuch, die Vorstellung des Gegenstandes zu vollziehen, selbst niemals völlig zum Abschluß gelangt.  Wenn wir eine Gruppe von Vorstellungen als zusammengehörige Eigenschaften eines Gegenstandes denken, so beziehen wir dieselben auf eine Substanz als deren Akzidenzien [Merkmale - wp] Jedes vorgestellte Ding weist diese Unterscheidung in sich auf. Aber diese Unterscheidung von Substanz und Akzidenz läßt sich nun nicht an einem einzelnen Ding vollziehen, sondern nur an einem solchen, welches in einem Zusammenhang mit andern steht. Die Eigenschaften und Zustände, deren Träger die Substanz sein soll, lassen sich von ihr selbst nur unterscheiden, indem sie in Beziehungen zu anderen Substanzen aufgefaßt wird, durch deren Einfluß eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen an ihr selbst gesetzt wird. So weist der Versuch, den Gegenstand zu bestimmen, unweigerlich über ihn selbst hinaus auf andere Punkte der Vorstellungswelt, bei denen sich derselben Prozeß wiederholen muß, sobald in der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz die Vorstellung eines Gegenstandes zustande kommt. Daher kommt es, daß wir eine letzte Substanz, welche nicht wiederum als Prädikat eines umfassenderen Ganzen gedacht werden müßte, nicht erkennen können.
    "Die reine Vernunft fordert, daß wir zu jedem Prädikat eines Dings sein ihm zugehöriges Subjekt, zu diesem aber, welches notwendigerweise wieder nur Prädikat ist, fernerhin sein Subjekt und so weiter bis ins Unendliche (oder so weit wir reichen) suchen sollen. Aber hieraus folgt, daß wir nichts, wozu wir gelangen können, für ein letztes Subjekt halten sollen und daß das Substantiale selbst niemals von unserem noch so tief eindringenden Verstand, selbst wenn ihm die ganze Natur aufgedeckt wäre, gedacht werden kann; weil die spezifische Natur unseres Verstandes darin besteht, alles diskursiv, d. h. durch Begriffe, mithin auch durch lauter Prädikate zu denken, wozu also das absolute Subjekt jederzeit fehlen muß." (Kant, Werke III, Seite 102)
Ebenso schließt die Anwendung der Begriffe des Ganzen und seiner Teile, der Ursache und Wirkung jedesmal die Aufforderung in sich, sie noch einmal anzuwenden, damit der erstere Akt vervollständigt wird. Das Bestreben, durch diese Begriffe unsere Gegenstände zu ordnen, erreicht nie ein solches Resultat, welches durch sich selbst dazu berechtigen würde, die ordnende Tätigkeit abzubrechen, anstatt die erreichte Grenze dadurch zu bestimmen, daß man von Neuem über sie hinausgeht. Wenn jener Abbruch dennoch erfolgt, so kann dies nur aus Rücksichten geschehen, welche nicht innerhalb der vorstellenden Tätigkeit selbst liegen. Wo solche Rücksichten nicht obwalten, also der Tätigkeit des Vorstellens freier Lauf gelassen wird, da muß sich uns die Natur als der Zusammenhang der durch jene Begriffe geordneten Gegenstände grenzenlos ausdehnen. Wenn daher reines Erkennen die vorstellende Tätigkeit ist, durch welche sich das einheitliche Bewußtsein in einem Wechsel seiner Empfindungen behauptet, so ist das reine Erkennen in sich grenzenlos. Die Art der Begriffe, in welchen es sich bewegt, bringt es mit sich, daß seine Aufgabe fortwährend ins Unbestimmte wächst.

Dieselbe Grenzenlosigkeit kommt nun aber, wie es scheint, erst recht dem wissenschaftlichen Naturerkennen zu. Denn dasselbe ist nichts weiter als eine  absichtliche  Steigerung der Vorstellungstätigkeit, welche sich  mannigfach gehemmt  in jedem Bewußtsein vollziehen muß. Alle Methoden der Naturforschung laufen schließlich in die eine Anweisung zusammen, von der Vorstellung des Gegenstandes und von der Verfolgung der Zusammenhänge, in welchen er steht, alle störenden Einflüsse fernzuhalten. Begreifen oder Erklären besteht auf diesem Gebiet darin, daß man sich die Beziehungen zu vergegenwärtigen sucht, welchen nachzugehen nichts weiter ist als eine Erweiterung der Vorstellung selbst, welche wir uns vom Gegenstand machen. Das wissenschaftliche Natur erkennen  ist immer zugleich ein Versuch zum Begreifen oder Erklären der Naturvorgänge, weil dieselben gar nicht anders aufgefaßt werden können, als in irgendwelchen Beziehungen, durch welche sie bedingt gedacht werden. Ein solches Erklären aber hat offenbar, solange es ungestört durch fremdartige Rücksichten bleibt, überhaupt keine Grenzen. Wenn man nur festhält, daß das Gebiet der Naturerklärung durch nichts bestimmt ist, als durch das Bewußtsein und durch das Gegebensein der Empfindungen, so leuchtet auch ein, daß es in sich grenzenlos ist. Die Fülle dessen, was durch die Empfindung zur Erfahrung kommen kann, ist für uns unermeßlich. Ebenso unbegrenzt ist die auf dieses Gebiet bezogene Aufgabe der Naturerklärung. Wenn die innerhalb jener beiden Bedingungen möglichen Gegenstände der Vorstellung dadurch erklärt werden, daß man sie mit anderen derselben Art verbindet, so verbietet die Natur unserer Begriffe einen Abschluß dieser Tätigkeit. Sobald wir irgendeinen Gegenstand in seine Beziehungen zu einem größeren Komplex von Erscheinungen aufgelöst und ihn dadurch erklärt haben, so erhebt wiederum eben dieser Komplex von Erscheinungen ganz denselben Anspruch auf Erklärung, der vorher darauf geführt hatte, ihn überhaupt vorzustellen. Solange diese Tätigkeit des Naturerkennens  gleichartig  ist, d. h. solange sie ihren eigenen Gesetzen gemäß sich innerhalb ihrer Schranken bewegt, lassen sich von ihr keine bestimmten Grenzen denken.
    "Die Erweiterung der Einsichten in der Mathematik und die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; ebenso die Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze durch fortgesetzte Erfahrung und Vereinigung derselben durch die Vernunft." (5)
In diesen Worten ist in Übereinstimmung mit dem oben Dargelegten ausgesprochen, daß das Erkennen, wenn es in Mathematik und Naturwissenschaft rein in seiner Art bleibt, auf keine Grenze stößt. Wenn der menschliche Geist über Gedanken verfügt, welche gegen jenes Resultat Einspruch zu erheben scheinen, so liegen sie außerhalb der Sphäre des reinen Erkennens, müssen vielleicht von dieser aus als Einbildungen abgewiesen werden. Ginge die geistige Tätigkeit des Menschen in der gesetzmäßigen Verknüpfung von Vorstellungen auf, so würde er jene Gedanken gar nicht erzeugen. Sie gehen ihn deshalb nichts an, sofern er sich als rein erkennendes Wesen verhält, denn er ist sicher, daß sie ihn beim Erkennen oder Erklären eines Gegenstandes nicht fördern, sondern hemmen. Je unabweisbarer sich diese Folgerungen ergeben, desto mehr müssen die Worte auffallen mit welchen KANT die eben angeführte Äußerung fortsetzt.
    "Aber Schranken sind hier gleichwohl nicht zu verkennen, denn Mathematik geht nur auf Erscheinungen, und was nicht ein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann, wie die Begriffe der Metaphysik und Moral, das liegt ganz außerhalb ihrer Sphäre und dahin kann sie niemals führen;  sie bedarf aber derselben auch gar nicht.  Es ist also kein kontinuierlicher Fortgang und Annäherung zu diesen Wissenschaften, und gleichsam ein Punkt oder Linie der Berührung. Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d. h. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrund der Erscheinungen dienen kann, entdecken; aber sie braucht auch dieses nicht zu ihren physischen Erklärungen; ja, wenn ihr auch dergleichen anderweitig angeboten würde (z. B. Einfluß immaterieller Wesen), so soll sie es doch ausschlagen und gar nicht in den Fortgang ihrer Erklärungen bringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegenstand der Sinne zur Erfahrung gehören, und mit unseren wirklichen Wahrnehmungen nach Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gedacht werden kann."
Hier ist zwar die Unabhängigkeit der Naturwissenschaft von dem, was nicht zur Erzeugung des Gegenstandes aus dem Mannigfaltigen der Anschauung gehört, mit möglichster Entschiedenheit ausgesprochen. Auch die Bemerkung, daß Mathematik nur auf Erscheinungen geht und daß Naturwissenschaft nicht das Innere der Dinge entdeckt, soll nur hervorheben, daß sich das Naturerkennen innerhalb der oben angegebenen Schranken bewegt, aber in dieser Beschränkung auch selbständig und in sich grenzenlos ist. Das reine Naturerkennen wird auf die Frage nach dem Innern der Dinge gar nicht kommen. Wohl wird es über die vereinzelte Wahrnehmung hinausgeführt, denn nur indem es dieselbe durch die Beziehungsbegriffe in eine gesetzmäßige Verbindung mit anderen Wahrnehmungen bringt, gewinnt es eine dem Bewußtsein entsprechende wirkliche Welt. Aber über das im Raum bewegte hinauszuschweifen, dazu hat das reine Naturerkennen keine Veranlassung, weil der zur Vorstellung des erkennbaren Gegenstandes unentbehrliche Substanzbegriff für uns nur durch räumliche Anschauungen einen Sinn bekommt. Als das kontinuierliches Substrat für die Zusammengehörigkeit räumlicher Wahrnehmungen wird die Substanz in jedem erkennbaren Gegenstand mitgedacht. Das hat hier einen guten Sinn. Denn wir erhalten damit die Anweisung, die Einheit der verschiedenen Bestimmungen an einem Gegenstand auf ein dahinterliegendes Kontinuum, an welchem sie haften, zurückzuführen. Das einzige Beispiel aber sowohl von einem Zugleichsein des Mannigfaltigen als auch von einem solchen Kontinuum liefert uns eben die räumliche Anschauung. Eine Naturerklärung, welche sich streng innerhalb der gegebenen Schranken unseres Erkennens hält, wird außerhalb des Raumes keine Gegenstände suchen, da alsdann eine unumgängliche Bedingung derselben, der Substanzbegriff keine Anwendung fände. In Bezug auf die Frage nach dem Inneren der Natur gibt daher KANT die auf dem Standpunkt des reinen Naturerkennens allein richtige Antwort:
    "Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen und man nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit gehen wird." (6)
Anstatt eines festen Ruhepunktes, welcher mit dem "Inneren der Natur" gemeint ist, wird dem Naturerkennen vielmehr eine Aussicht in eine unbestimmte Weite eröffnet. Denn das Beharrliche im Raum, welches als das Substrat der Einheit der Wahrnehmungen gedacht wird, enthält nichts schlechthin Innerliches sondern lauter Verhältnisse. (7) - Auf der anderen Seite redet doch KANT in den oben angeführten Worten von etwas, "was zum obersten Erklärungsgrund der Erscheinungen dienen kann" und doch der Naturwissenschaft unzugänglich ist. Haben wir vielleicht hierin die Grenze zu erkennen, auf welche die in Mathematik und Naturwissenschaft entfaltete Tätigkeit des reinen Erkennens von selbst führt?

Diese Vermutung ist zurückzuweisen. Es ist doch gar nicht abzusehen, wie man in einem obersten Erklärungsgrund der Erscheinungen eine Grenze des Erkennens statuieren kann, wenn sich nicht nachweisen läßt, daß dasselbe auf seinem eigenen Weg jemals jenem Begriff begegnet. Läßt sich ein solcher Nachweis nicht führen, so hat man alles Recht, den Begriff eines obersten Erklärungsgrundes der Erscheinungen, der dem Erkennen dann durch störende Einflüsse aufgedrängt wird, ebenso abzuweisen, wie jede andere unsinnige Verbindung von Subjekt und Prädikat. Aus unseren obigen Ausführungen ergibt sich, daß jener Beweis nicht zu erbringen ist. Die Aufgabe des reinen Erkennens ist, im Ablauf der Vorstellungen einen gesetzmäßigen Zusammenhang herzustellen, ohne welchen es ein einheitliches Bewußtsein nicht geben könnte. Innerhalt dieser Aufgabe gibt es keine Veranlassung, nach einem letzten Erklärungsgrund zu fragen, der nicht selbst wieder eine Erklärung verlangen würde. Der Versuch, die Vorstellungen für das Bewußtsein zu ordnen, führt ins Endlose; und das gänzlich unbestimmte Gegebensein der Empfindungen legt der ordnenden Tätigkeit des Erkennens die Bereitschaft auf, in jedem Augenblick seinen Versuch von Neuem zu beginnen, d. h. es wird ihm zur Pflicht gemacht, seinen Produkten immer nur eine hypothetische Geltung zuzuschreiben. Eben deshalb aber, weil unser Erkennen seiner Natur nach allem Abschluß widerstrebt, kann man nicht sagen, daß es sich in der Aufstellung eines obersten Erklärungsgrundes seiner Gegenstände vollendet. Es ist vollendet in sich, wenn es seinen eigenen Produkten gegenüber die Unbegrenztheit seiner Aufgabe im Auge behält und sich in steter Beweglichkeit dem Wechsel der Empfindungen gewachsen zeigt. Eine solche Tätigkeit wird durch eine Erklärung, welche mit dem Anspruch eines definitiven Abschlusses auftritt, nicht vollendet, sondern nur zu Ende gebracht. Sowenig aus dem Erkennen allein ein Abbruch seiner Tätigkeit folgen kann, sowenig auch das, was KANT den obersten Erklärungsgrund der Erscheinungen nennt.

KANT hat dies an jener Stelle selbst ausgesprochen: "Solange die Erkenntnis der Vernunft  gleichartig  ist, lassen sich von ihr keine bestimmten Grenzen denken". Ohne Zweifel werden die meisten Leser der "Kritik der reinen Vernunft" erleichtert aufatmen, wenn nach der Abstraktion, welche die Absonderung des reinen Erkennens in der transzendentalen Ästhetik und Analytik erforderlich macht, das Zugeständnis begegnet, daß die befremdlichen Gegenstände des Erkennens, welche aus lauter Verhältnissen bestehen sollten,  nur  Erscheinungen sind (Kr. d. r. V., Seite 255). Es wird sich aber fragen, wie KANT über den Bann jener Abstraktion hinausgekommen ist, wie er einen Standpunkt hat gewinnen können, von welchem aus jenes fast abschätzig klingende Urteil über die Vorstellungswelt des reinen Erkennens möglich wird, daß sie  nur  Erscheinungen umfaßt.

Auf dem Gebiet des reinen von allem Zusammenhang mit anderen geistigen Funktionen isoliert gedachten Erkennens gibt es einen solchen Standpunkt nicht. Nehmen wir an, ein solches in der Abstraktion isoliertes bloß vorstellendes Bewußtsein wäre über sein eigenes Wesen durch die kantische Kritik erkenntnistheoretisch aufgeklärt, so würde es wissen, daß sein Gegenstand nichts ist, als das Resultat der Ordnung, welche es selbst durch seine Einheitsfunktionen in einer Vielheit von Einzelvorstellungen oder Empfindungen gestiftet hat. Es würde ferner wissen, daß diese Ordnung vollzogen wird an der bestimmten Art, wie sich ihm seine Empfindungen d. h. seine elementarsten Modifikationen immer darstellen, an den räumlich-zeitlichen Verhältnissen derselben. Dieser Gegensatz zwischen seiner Einheit und seinen in räumlich-zeitlichen Verhältnissen sich darstellenden Modifikationen würde dem Bewußtsein alles enthüllen, was es von seinem eigenen Wesen wissen kann. Auch sein Gegenstand überhaupt wäre ihm damit erklärt; denn jeder Gegenstand ist dadurch zustande gekommen, daß das Mannigfaltige der Anschauung in die Formen jener Einheit eingegangen ist. Ob nicht ein solcher Gegenstand bloßer Schein ist, dem keine Wirklichkeit entspricht, diese Frage kann hier gar nicht entstehen. Der im Raum angeschaute Gegenstand ist ganz ebenso wirklich, wie das Bewußtsein selbst - nur sofern jener da ist, ist ja auch Bewußtsein da. Ohne die Anschauung der Dinge im Raum, also unserer Welt der Erfahrung, würde sich das Bewußtsein als Einheit im Ablauf seiner Vorstellungen nicht erfassen. Das Bewußtsein bracht die Wirklichkeit der Dinge im Raum nicht erst zu erschließen. Dieselbe ist ihm unmittelbar gewiß wie die Wirklichkeit seiner selbst. "Das Bewußtsein meines eigenen Daseins" (nämlich als de in einem zeitlichen Ablauf von Vorstellungen einheitlichen Ich) "ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins der Dinge außerhalb von mir" (Kr. d. r. V, Seite 209). Diese Antwort, welche KANT in der zweiten Auflage seines Hauptwerks zur Widerlegung des subjektiven Idealismus erteilt hat, wird einem nur dann genügen, wenn man sich erinnert, daß in dem Zusammenhang, in welchem sie sich findet, jene Abstrakt, jene Isolierung des reinen Erkennens von allen übrigen geistigen Funktionen vollzogen ist. Dann wird die Antwort aber auch ganz genügen. Ist man dagegen gesättigt mit den naiven Vorurteilen, welche auch jenen subjektiven Idealismus BERKELEYs erzeugt haben, so wird man sich nicht zufrieden geben können. Denn der Dogmatismus des von jenen Vorurteilen geleiteten lebendigen Menschen verlangt allerdings, wie sich zeigen wird, mit Recht mehr vom Ding, als ihm der kantische "Gegenstand" zu bieten vermag. Abstrahieren wir dagegen vor allem, was nicht als Bedingung für die Vorstellung des Gegenstandes legitimieren kann, so müssen wir uns auch mit der Antwort zufrieden geben, daß ohne die Anschauung der Dinge im Raum eine Identität des Bewußtseins, eine Einheit der Erfahrung nicht stattfände. Sobald man Anstoß nimmt an dem Gedanken, daß das Ding aus lauter Vorstellungen bestehen soll, sobald man nach einer weiteren Erklärung des Mannigfaltigen im Raum fragt, welche über die immanente Verknüpfung desselben in sich hinausführt, so läßt man sich bereits von einem Interesse leiten, welches nicht mehr das des bloßen Erkennens ist. Jene weitere Erklärung könnte nur noch darauf abzielen, wie denn diese Vielheit von Vorstellungen räumlicher Gegenstände, welche untereinander in Bejahung stehen, in uns entstehen kann. Das reine Erkennen aber ist auf die Gegenstände selbst gerichtet, nicht auf die Möglichkeit des Daseins derselben überhaupt. Die Frage nach dieser Möglichkeit wäre gleichbedeutend mit der Frage nach der  Möglichkeit  des Bewußtseins. Das reine Erkennen aber hat KANT verstehen gelehrt als den ununterbrochenen Prozeß, in welchem sich die  wirkliche  Einheit des Bewußtseins behauptet. Innerhalb dieses Prozesses selbst, wenn er ungestört bleibt, kann jene Aufgabe nicht hervortreten, da sie nicht dazu anleitet, gegebene Modifikationen des Bewußtseins zur Einheit einer Erfahrung zu ordnen.

Indessen hat KANT in den angeführten Worten auch gar nicht behauptet, im Prozeß des reinen Erkennens selbst müsse der Gedanke auftauchen, daß etwas außerhalb von ihm liegt, wohin dasselbe doch niemals gelangen kann. Wohl aber hat er dies von der Naturwissenschaft gesagt. Freilich scheint es auf diese noch weniger zu passen. Denn das absichtliche Erkenntnisstreben der Naturwissenschaft ist es ja erst, welches uns auf die Grenzenlosigkeit, die sich vor dem Erkennen ausbreitet, reflektieren lehrt. Ohne diese Absichtlichkeit würde der Prozeß der Erfahrung zwar faktisch fortwährend ins Unbestimmte fortgehen, in jedem relativen Abschluß eines Moments die Anknüpfung für den folgenden offen lassend. Aber es fehlte die Veranlassung, diesen Fluß des Vorstellens durch die Erwägung zu stören, daß er ununterbrochen fließt, wenn nicht die Absichtlichkeit des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens dazu auffordern würde. Wenn also die Naturwissenschaft die Grenzenlosigkeit des reinen Erkennens erst an den Tag bringt, so scheint sie sehr wenig geeignet, von sich aus auf eine Grenze des Erkennens blicken zu lassen. Dazu kommt noch, daß die Naturwissenschaft mit ihrer Methode gerade darauf ausgeht, die Funktion des Erkennens vor fremdartigen Einmischungen möglichst zu bewahren. Trotzdem ist die Naturwissenschaft unleugbar mit einer Voraussetzung behaftet, welche es ihr fortwährend in Erinnerung bringen könnte, daß es für sie eine Grenze des Erkennens gibt.

Der Versuch, eine Ordnung der Vorstellungen zu erzeugen, eine Einheit der Erfahrungen herzustellen, bleibt immer notwendig, wenn Bewußtsein sein soll. Denn nur in einem solchen Versuch erhält sich das Bewußtsein als das, was es ist, als Subjekt der auf ein Mannigfaltiges der Anschauung bezogenen Einheitsfunktionen. Mit dem gänzlichen Aufhören jener Tätigkeit würde das Bewußtsein selbst erlöschen. Aber eine andere Frage ist, ob die Versuche des Bewußtseins, Gegenstände vorzustellen und zu verknüpfen, so gleichartige Resultate haben müsen, daß das eine das andere bestätigt und fortsetzt. Die Naturwissenschaft setzt nun eine solche Gleichartigkeit der Dinge voraus. Denn nur wenn diese stattfindet, erleben wir eine solche Regelmäßigkeit des Geschehens, welche die Aufstellung besonderer Naturgesetze, d. h. die Lösung der naturwissenschaftlichen Aufgabe ermöglicht. Daß dies so sein muß, läßt sich aber aus nicht aus den Bedingungen ableiten, unter welchen sich das identische Bewußtsein in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen erhält. "Der Verstand ist zwar  a priori  im Besitz allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand der Erfahrung sein könnte"; (diese allgemeinen Naturgesetze sind also die Gesetze des Vorstellens, unter welchen der äußere Gegenstand für das Bewußtsein zustande kommt) "aber er bedarf doch auch überdies noch einer gewissen Ordnung der Natur, in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können und die in Anbetracht seiner zufällig sind". (8) Die Aufgabe, eine "zusammenhängende Erfahrung" herzustellen, ist vom Bewußtsein selbst untrennbar, "liegt  a priori  in unserem Verstand". In welchem Maß aber diese Aufgabe gelingen wird, läßt sich nach den bloßen Gesetzen des Bewußtseins nicht bestimmen.
    "Denn es läßt sich wohl denken, daß ungeachtet all der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form einer Erfahrungserkenntnis überhaupt gar nicht stattfinden würde, die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur, samt ihren Wirkungen, dennoch so große sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken, ihre Produkte in Gattungen und Arten einzuteilen, um die Prinzipien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und Begreifung des anderen zu gebrauchen, und aus einem für uns so verworrenen (eigentlich nur unendlich mannigfaltigen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffe eine zusammenhängende Erfahrung zu machen." (9)
Wenn daher die Naturwissenschaft von der Voraussetzung ausgeht, daß die Natur nach ihren besonderen Gesetzen nicht eine unübersehbare Mannigfaltigkeit darstellt, sondern eine unserer Fassungskraft angemessene Ordnung, so ist diese Voraussetzung von der zusammenhängenden Begreiflichkeit der Natur offenbar anders beschaffen, als die allgemeinen Urteile über die Dinge, welche wir deshalb als allgemeingültig aussprechen, weil sie nur der Ausdruck der Verfahrensweise sind, welche das Bewußtsein befolgt, wenn es Dinge vorstellt. Sie sind "die allgemeinen Gesetze des Verstandes, welche zugleich Gesetze der Natur sind".  "Ihre Erzeugung setzt keine Absicht mit unseren Erkenntnisvermögen voraus,"  weil das Bewußtsein selbst in ihnen prozediert; jene Voraussetzung von der Begreiflichkeit der Natur dagegen begleitet nur ein von einem Zweck beherrschtes Erkennen. Sie wird von uns erhoben, weil wir nur, sofern wir uns von ihr als einem sicheren Prinzip des Naturerkennens leiten lassen, "mit dem Gebrauch unseres Verstandes in der Erfahrung fortkommen und Erkenntnis erwerben können". (10) Wenn die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, welche dem Bewußtsein gegeben werden, der Fähigkeit des letzteren faktisch soweit entspricht, daß ihm eine zusammenhängende Erklärung der Natur eine durchgängige Gleichmäßigkeit der von ihm gestifteten Ordnung zu gelingen scheint, so ist dies eine Erfahrungstatsache, welche fortgesetzt der Bestätigung bedarf. Aber da ohne das ungebrochene Obwalten jener Bedingung eine zusammenhängende Naturerklärung unmöglich wäre, so setzen wir, weil wir diese  wollen,  jene als sicher voraus.
    "Wir dürfen uns hierin durch den gewohnten Anblick der Naturordnung nicht täuschen lassen. Die besondere Gesetzmäßigkeit ist durchaus nicht selbstverständlich. Ebensogut, wie die Natur eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Objekte und Gesetze zeigt, welche uns deren Subsumtion unter Gattungen oder höhere Gesetze ermöglicht, ebensogut könnte sie eine unvergleichbare Mannigfaltigkeit enthalten, die aller Bemühungen unseres zusammenfassenden Denkens spotten würde; ebensogut könnte sie andererseits eine Dürftigkeit der Gestaltung zeigen, durch welche der Bereicherung unserer Einsicht ein nahes Ziel gesteckt wäre." (11)
Die zusammenhängende Begreiflichkeit der Natur läßt sich weder erkenntnistheoretisch ableiten aus den Bedingungen der Erfahrung, noch empirisch beweisen. Jener Begriff ist der Widerschein des Zweckes, dem wir das Erkennen unterordnen, im Gebiet des Erkennens. Es ist ja nun eine bekannte Tatsache, wie sehr das Hineinspielen individueller Zwecke in die wissenschaftliche Tätigkeit die Reinheit und Allgemeingültigkeit ihrer Resultate beeinträchtigt. Gegen Vorurteile, welche von dorther stammen, die Auffassung des Tatbestandes zu schützen, ist eine Hauptaufgabe wissenschaftlicher Methode. Soweit dieses Schutzmittel nicht in Anwendung kommt, ist das Erkennen fortwährend in Gefahr, in seiner Beweglichkeit dadurch gehemmt zu werden, daß ihm ein kräftiger Zwang praktischer Interessen die Form seiner Resultate vorschreibt. Aber wie sehr nun auch die Sorgsamkeit des wissenschaftlichen Forschers darauf ausgehen mag, seine Arbeit von den Spuren praktischer Antriebe zu befreien, vollständig kann ihm dies niemals gelingen. Derselbe Augenblick, welcher das Erkennen von einer derartigen Direktion befreien würde, bezeichnete auch das Ende der wissenschaftlichen Naturerklärung. Denn die letztere, als absichtlicher Versuch, die Erkenntnis zu erweitern, erfolgt immer unter der subjektiv motivierten Voraussetzung, daß sich die Naturvorgänge auch wirklich zusammenhängend werden erklären lassen. In dieser Beziehung verhält sich das bewußte Streben der wissenschaftlichen Welterkenntnis ganz ebenso, wie das dunkle Meinen des Naturmenschen, welcher die Natur beseelt, um ihrem Verhältnis zu seinem Hoffen und Wünschen einen Ausdruck zu geben. In beiden Fällen ist es der Zweck des Menschen, welcher über die Welt der Dinge, die für das bloße Erkennen ein gleichgültiger Zusammenhang von Vorstellungen ist, den Schein eines uns verwandten Wesens ausgießt. Daß jene Voraussetzung ein Besitz unseres geistigen Lebens ist, hat seinen Grund allein darin, daß wir die Natur nicht bloß vorstellen, sondern daß wir sie zugleich als Veranlassung von Lust und Unlust im Gefühl erleben und demgemäß darauf ausgehen, auf sie zu handeln und unsere Zwecke in ihr zu verwirklichen. Für den Willen, auf die Natur zu handeln, ist das Vertrauen notwendig, daß ein stetiger Zusammenhang des Geschehens stattfindet, dessen sich der Mensch durch die Erfahrung bemächtigen kann, um durch ihn geleitet die Natur zu beherrschen. Die grundlegende Hypothese der wissenschaftlichen Naturerklärung, die Hypothese von der Begreiflichkeit der Natur, ist nur möglich für fühlende und wollende Wesen. Diese Einsicht beleuchtet die Anforderungen, welche man an die Naturwissenschaft zu stellen hat. Sie dient keineswegs dem reinen Trieb des Erkennens. Sie soll freilich nur mit den reinen durch keine praktische Voraussetzung getrübten Erkenntnismitteln arbeiten. Aber die Grundvoraussetzung, auf welche hin ihre Arbeit unternommen wird, läßt sich aus der bloßen Bewegung des reinen Erkennens nicht ableiten. Denn Gegenstände zu erkennen, würde immer möglich sein, auch wenn die Feststellung einer konstanten Geltung besonderer Naturgesetze, worauf die Naturforschung ausgeht, nie gelingt. Die Quelle jenes von der Naturwissenschaft unablösbaren Vorurteils, der durch das Gefühl der Lust und Unlust erregte Wille auf die Natur zu handeln, ist auch die Quelle der Naturwissenschaft selbst. Sie ist vorhanden nicht schon deshalb, weil das Bewußtsein die Natur erkennen muß, sondern deshalb, weil der fühlende und wollende Mensch die Natur beherrschen will. Wer die wissenschaftliche Erklärung der Welt in völliger Ablösung von  diesem  praktischen Zweck auszuüben vermeint, vergißt ihren Ursprung und ihre Aufgabe und ist in Gefahr, sich in ebenso nutzlose wie grundlose Phantasien zu verlieren. Für einen Solchen wird die Begreiflichkeit der Natur zum metaphysischen Dogma.

Damit wären wir bei einer Grenze angekommen, welche zwar nicht für das reine Erkennen als solches, wohl aber für das wissenschaftliche Naturerkennen besteht. Und nicht bloß für dieses in seiner methodischen Ausbildung, sondern für alles Naturerkennen in dem Maße, als es, wenn auch in noch so unvollkommener Weise, der bewußten Verfolgung praktischer Zwecke als Mittel dient. Der Wille, auf die Natur zu handeln, ist allen Menschen gemeinsam, sofern dieselben nicht bloß gefühllose Spiegel der Vorstellungswelt sind, sondern sie in Lust und Unlust erleben. Hier handelt es sich also nicht bloß um eine Zwecksetzung individueller Art, sondern um eine solche, welche, gemäß der Vorstellung, welche wir uns im Verkehr mit ihnen von den Menschen machen, in der ganzen menschlichen Gattung anzutreffen ist. An der Allgemeinheit jenes Zweckes nimmt natürlich auch die Voraussetzung teil, welche immer mit ihm verknüpft ist. Von ihm geleitet machen wir ja bei all unserem Naturerkennen die Voraussetzung, daß ein stetiger Zusammenhang desselben stattfindet, oder daß sich die Natur zusammenhängend begreifen läßt. Was aus dem Wesen des Erkennens selbst nicht folgen wollte, irgendeine Einschränkung seiner Beweglichkeit, das ist die notwendige Folge seiner praktischen Ausübung durch das menschliche Individuum. Das Erkennen, welches unter der Leitung jener aus praktischen Gründen notwendigen Voraussetzung ausgeübt wird, ist nicht mehr unbegrenzt. Die Zuversicht, daß dem Ablauf der Vorstellungen ein begreiflicher Zusammenhang zugrunde liegt, drängt den Gedanken an die Möglichkeit gewaltsam zurück, daß eine regellose Vielheit uns eine zusammenhängende Erklärung unserer Welt verwehren könnte.

Aber ist denn das so schwer, diesen Gedanken zurückzudrängen? Es existiert doch faktisch eine Naturwissenschaft, welche mit der naturgesetzlichen Erklärung des Geschehens schon eine geraume Zeit glücklich weitergekommen ist? Wohl existiert sie. Aber ihr selbst wohnt auf fortgesetzt der Gedanke inne, welcher als den Tatsachen vorgreifende Idee ihre ersten Anfänge beschirmt hat, daß die Natur für den Menschen dasein und deshalb auch seinem Erkenntnisstreben entsprechen muß, mag sich dasselbe in einem sehr engen Gesichtskreis oder in unabsehlicher Ferne seine Ziele stecken. Dieser Gedanke hat seine praktische Kraft immer neu zu bewähren, je mehr die echte Forschung, welche weiterkommen will, sich das Bruchstückartige ihrer Resultate gegenwärtig erhält. Und eine solche Voraussetzung ist eine Grenze unseres Naturerkennens, weil sei von ihm nicht zu trennen ist, aber doch sich weder erkenntnistheoretisch ableiten, noch sich etwa aus dem Zusammenhang der empirischen Tatsachen belegen läßt. Obgleich sich das in jener Voraussetzung enthaltene Urteil über die Natur weder als eine Bedingung noch als ein Produkt des bloßen Erkennens legitimieren kann, so wirft man dasselbe doch nicht weg. Solange die Menschen in der Absicht übereinstimmen müssen, ihren eigenen Zwecken die Natur handelnd zu unterwerfen, solange werden sie sich auch wegen der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Urteils über die Natur nicht behelligen. Denn die Natur wird dabei von vornherein nicht bloß als Gegenstand des Vorstellens gedacht, sondern als Objekt unseres Handelns, als Naturboden unserer Zwecke. Die unter diesem Gesichtspunkt aufgefaßte Natur denken wir uns notwendig als zusammenhängend erklärbar.

Wie haben wir nun über die Realität dieses Gedankendings, der so gedachten Natur, zu urteilen? Nicht weil wir sie erkennen, halten wir eine so beschaffene Natur für wirklich, sondern weil wir sie wollen. Es ist nicht das rein Theoretische im Naturerkennen, welches jenen Gedanken erzeugt, sondern der ihm innewohnende praktische Impuls. Bei der Frage nach der Realität eines Gegenstandes handelt es sich für uns immer darum, ob und wie wir ihn in Verbindung setzen sollen mit Vorstellungen von wirklichen Dingen, über welche wir bereits verfügen. Seine Realität besteht dann in den gesetzmäßigen Beziehungen, in welchen er zu dieser unserer Welt steht. Der bloß räumlich angeschaute sinnliche Eindruck entscheidet noch nicht über die Realität. Aber er fordert das Bewußtsein auf, seine Vorstellung vom Wirklichen zu bereichern, indem es ihn in einen gesetzmäßigen Zusammenhang mit anderen Gegenständen aufnimmt. Realität bedeutet die Art, wie das Bewußtsein seine Zustände mit einer ihm schon feststehenden Ordnung von Gegenständen in Verbindung bringt; sie ist die Art der Geltung, welche eine Vorstellung für das Bewußtsein hat. Die Realität der Sinnestäuschung besteht in ihrem Inhärenzverhältnis zum Sinnesorgan, für dessen Veränderung wir weiter nach einer Ursache fragen. Die Realität der Vorstellung als solcher besteht in der Assoziationi, in welcher sie mit anderen Vorstellungen erscheint. Auch der elementarste Bewußtseinszustand, die Empfindung, läßt sich doch nur in der Abstraktion isolieren; Zustand für das Bewußtsein ist sie nur, indem sie zugleich in irgendeiner Verbindung mit anderen Zuständen desselben gedacht wird.

Daraus erhellt sich, daß der als zusammenhängend begreiflich gedachten Natur eine andere Art von Realität nicht zuerkannt werden kann, als die, welche jeder Vorstellung überhaupt zukommt. Sie fordert nur dazu auf, sie als Vorstellung psychologisch zu erklären; und nur durch die Aussicht, welche diese Forderung eröffnet, ist sie überhaupt mit unserer wirklichen Welt verknüpft, welche neben den Gegenständen einer räumlich angeschauten beharrlichen Wirklichkeit auch noch einen Wechsel von Vorstellungen umfaßt, die sich in eben diese beharrliche Wirklichkeit nicht als gleichartige Elemente einfügen lassen. Sollte das letztere mit jener Vorstellung von einem Ganzen der Natur geschehen, so müßte dasselbe als ein Gegenstand neben anderen in einer räumlichen Anschauung gegeben sein. Aber mit der Hypothese von der durchgehenden Begreiflichkeit der Natur haben wir uns über den Ablauf unserer Vorstellungen erhoben; nicht ein Teil desselben wird mit einem anderen in jenem Urteil gesetzmäßig verbunden, sondern über ihn selbst wird geurteilt. Wenn wir vom Ablauf unserer Vorstellungen überhaupt mehr aussagen als dies, daß in ihm und wie in ihm das einheitliche Bewußtsein faktisch prozediert, so bilden wir den Gedanken eines Weltganzen. Bei diesem Gedanken wird aber gerade dasjenige absichtlich abgeschnitten, worin sich sonst für unser Erkennen die Realität eines Gegenstandes bewährt, die unermeßlichen Beziehungen desselben zu anderen Gegenständen in einer beharrlichen Wirklichkeit. Eine dieser entsprechende Realität hat daher das Weltganze für unser Erkennen sicher nicht; unsere Begriffe sind wohl zum Verfolgen endloser Beziehungen geeignet, nicht aber zum Auffassen einer beziehungslosen Totalität. Für die zusammenhängend begreifliche Natur, in welcher es für uns ein harmonisches Ineinandergreifen besonderer Naturgesetze gibt, bliebe also nur die Realität einer Vorstellung überhaupt; d. h. eine Realität, welche auf der Forderung einer psychologischen Erklärung beruth, auf dem intendierten Nachweis von gesetzmäßigen Zusammenhängen mit anderen Zuständen des Bewußtseins.

Auf die Schwierigkeiten einer solchen psychologischen  Erklärung  brauchen wir hier nicht näher einzugehen. Da bei psychologischen Vorgängen das Substrat, an welchem sich eine Vielheit von Beziehungen entfalten kann, die beharrliche, räumlich angeschaute Substanz nicht vorhanden ist, so kann hier die Erklärung immer nur eine analoge sein, mit Hilfe uneigentlich genommener räumlicher Bilder. Will man mehr, so muß man sich an materielle Bewegungen wenden, welche den psychischen Vorgängen korrespondieren, an Veränderungen der körperlichen Organe. Gesetzt aber, jene psychologische Erklärung lieferte gesichertere Resultate, als die faktisch bis jetzt der Fall ist, gesetzt, sie zeigte uns, wie jene Vorstellung von der Begreiflichkeit der Natur aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken anderer Zustände des Bewußtseins sich gebildet hat - wäre damit die  Geltung  erschöpft, welche jener Gedanke für uns Menschen behauptet? Niemand wird das behaupten wollen. Wir meinen mit der Realität seines Inhaltes mehr als seinen gesetzmäßig bestimmten Ort im Vorstellungswechsel. Es genügt uns nicht, zu erfahren, daß im Zusammenhang von Vorstellungen, welche wir faktisch haben, sich nach den Naturgesetzen des Seele auch der Gedanke jener Natur, eines für unser Erkennen einheitlich geordneten Weltganzen einfindet.

LITERATUR Wilhelm Herrmann, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle/Saale 1879
    Anmerkungen
    1) vgl. indessen für eine bessere Würdigung KANTs RITSCHL, Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Seite 13 und GOTTSCHICK, Kants Beweis für das Dasein Gottes, Torgau 1878.
    2) Ich zitiere die  Kritik der reinen Vernunft  nach der KEHRBACH-Ausgabe, die übrigen Werke KANTs nach ROSENKRANZ und SCHUBERT.
    3) Auf den Streit des modernen Empirismus (vgl. CARL GÖRING, System der kritischen Philosophie, Bd. 2, Seite 161f) gegen die kantische Behandlung des Kausalitätsbegriffs brauche ich hier nicht einzutreten. Die Folgerungen, welche ich aus dem Begriff des  reinen  Erkennens ziehe, würde dieselben bleiben, auch wenn ich mich an die empiristische Erkenntnistheorie anschließen würde. Übrigens scheint mir die Opposition vielfach auf einen Wortstreit hinauszulaufen (vgl. COHENs, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 218 oder STADLER, Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der kantischen Philosophie, Seite 100, 150 Anm. 113, Seite 153 Anm. 123 und dazu GÖRING, a. a. O., Seite 156.
    4) So F. A. LANGEs  Logische Studien,  1877, Seite 136
    5) KANT, Werke III, Seite 126
    6) KANT, Kr. d. r. V., Seite 351
    7) vgl. Kr. d. r. V., Seite 255 und 242.
    8) KANT, Werke IV, Seite 22
    9) a. a. O., Seite 24
    10) a. a. O., Seite 26
    11) STADLER, a. a. O., Seite 128