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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Religion
- I I I -

1. Raum-Zeit
2. Bewußtsein
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
  6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
"Alle menschlichen Begriffe sind endlich, da sie mindestens den Gesetzen der Grammatik unterliegen, sofern sie sich sprachlich fassen lassen. Daher können sie den Ursprung der Wirklichkeit niemals bestimmen."

Im Zentrum der Mystik steht das Erleben. Mystik ist unmittelbares Innewerden dessen, wohin weder Anschauung noch Begriff, also überhaupt keine Erkenntnis reicht. Die Grunderfahrung der Mystik ist die Erfahrung der Einheit des Erlebens mit der Welt. Das Mysterium liegt im Gewahrwerden der absoluten Gegenwärtigkeit des Wirklichen. "Es ist eher eine Gegenwart oder Atmosphäre, als eine formulierte Idee." 39) Ziel des esoterischen Weges ist es darum, ständig bewußt in der Gegenwart zu leben. Das Jetzt gehört zur Mystik, wie das Amen zum Gebet. Der wahre Sufi ist ein  Sohn des Augenblicks.  Z e n ist tägliches, stündliches, minutiöses Bewußtsein. Die einzige Realität ist die des  hier  und  jetzt.  "Nun ist vor Gott keine Zeit, weder heute, morgen, vergangen oder zukünftig, sondern allein ein bloßes Jetzt." 40)

In der Unmittelbarkeit der Gegenwart ist die Polarität von Raum und Zeit aufgehoben. Ewigkeit ist nur ein anderer Begriff für das Fehlen von Raum und Zeit. Im vollen Bewußtsein der Gegenwart verschwindet das objektive Zeit- Raumempfinden. Unendlichkeit ist eine Erfahrung, die bei großer Bewußtseinsklarheit gemacht wird, deshalb darf das Bewußtsein durch kein Objekt begrenzt sein. Was die mystische Erfahrung offenbart, ist die Objekt-Abwesenheit.

"Das eigentliche Wesen des Bewußtseins ist es, von jedem Objekt frei zu sein. Daher ist das Fehlen eines Inhalts nicht gleich dem Fehlen des Bewußtseins. Das Bewußtsein lernt, sich vom Objekt zurückzuziehen, um das Wirkungsfeld der Objekte zu begrenzen und so näher zu sich selbst zu stehen." 41)
Meditation wird zum Mittel der Reinigung des Bewußtseins. Yoga ist die Aufhebung des Gewahrwerdens zugunsten des Innewerdens. "Erkenne den Wendepunkt des Atems und du erkennst dich Selbst." Die Meditation ist eine Methode, die Dualität von Subjekt und Objekt zu transzendieren. Die mystische Bewußtseinserweiterung macht  innen  und  aussen  hinfällig. Im Zen wird das Bewußte dem Unbewußten harmonisch angeglichen.
"Im Bezug auf das Bogenschießen bedeutet dies, daß Schütze und Scheibe nicht mehr zwei entgegengesetzte Dinge sind, sondern eine einzige Wirklichkeit." 42)
Die mystische  Erkenntnis  postuliert die Einheit des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts. Mit dem Denken allein kommen wir nicht über das Denken hinaus. Kein Bewußtsein kann hinter sich selbst kommen, so wie sich kein Auge selbst sehen kann. Im tiefen Bewußtseinszustand der Meditation dagegen verschwindet der Gegensatz von Absichtichem und Spontanem.
"Der Geist steht sich selbst wie in einem Spiegel gegenüber und erkennt sich darin. So ist das, was der Geist am Ende lernt, daß er nur sich selbst erkennen kann - daß er in die Irre geführt wurde, verlockt von einem Phantom." 43)"In the end, the mind faces itself." 44)
Die Gegenwart existiert nur unmittelbar und ist darum logisch nicht zu erfassen. Das ganze Suchen nach der Gegenwart ist vergeblich. "Einer zeitlosen Wirklichkeit kann man nicht gewahr werden, solange man danach sucht." 45) Das Suchen erzeugt eigentlich erst den Eindruck des Mangels. Die Haltung der Meditation ist deshalb sowohl Weg als auch Ziel.
"Es gibt keinen Weg zum Hier, es gibt keinen Weg zum Jetzt. Jedes  Wie,  jeder Weg, wohin sie auch führen mögen, führen vom  Jetzt  weg. Wo irgendein Weg dich hinführen kann, da bist du schon. Das Ziel und der Weg sind eins." 46) "Wir verlassen den Weg niemals auch nur einen Augenblick. Was wir verlassen können, ist nicht der Weg." 47)
"Was du suchst, ist das, was sucht", so FRANZ von ASSISI. "Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest. Beunruhige dich also nicht", läßt PASCAL seinen Gott sprechen.


Der Kern jeder Mystik ist das Bewußtsein einer absoluten Realität, die uns umgibt. Die einfachste und allgemeinste Form der  Erleuchtung  ist die Offenbarung  Gottes  oder der  Allseele  in der Natur. Das Unbewußte wird in seiner tiefsten Schicht als mit dem Universum identisch erfahren.

Die Seele ist lediglich ein anderer Name für das Göttliche in Sonne, Mond, Sterne, Berge, Wolken, Gewässer.  Brahman,  die letzte äußere Realität ist mit  Atman,  der inneren Realität identisch. Das höchste Prinzip ist die Identität des Seienden und des Nichtseienden. Die mystische Erfahrung ist das Erlebnis, daß es nicht viele Welten gibt. Mystik finden wir da, wo die Seele, das Göttliche und die Natur miteinander identifiziert werden.

"Nirvana folgt der Erkenntnis, daß alle Dinge gleich sind." 48) Mystik ist das Bewußtsein der Identität des eigenen Selbst mit dem  Kern  aller Dinge. Das pantheistische Lebensgefühl meint, daß Gott in jedem Element der Wirklichkeit vorhanden ist. Natur und Seele sind Korrelatbegriffe zum Göttlichen. Die mystische Einheit von Subjekt und Objekt läßt das Ich in jeder Gestalt zugleich mit den Gegenständen verschwinden.

"Mystik liegt überall da vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch in dem irdischen und zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt." 49)
Alles, was in der Gottheit ist, ist eins, aber davon ist nicht zu sprechen. Ein absolut Einfaches, Identisches läßt sich nicht durch Begriffe auffassen. Die buddhistische Lehre von der Leere (Sunya Vada) weist deshalb jede Aussage über das Daseiende als verkehrt ab, sowohl die Aussage  etwas ist,  als auch die Aussage  etwas ist nicht.  Keine Aussage stimmt mit der Wirklichkeit überein, weil der Urgrund der Welt sich weder als Etwas, noch als Nicht-Etwas erweisen läßt. Er entzieht sich der begrifflichen Formulierung; und derjenige, welcher jenseits dieser Begrifflichkeit gelangt - dabei aber die Schritte zu ihrer Überwindung im Einzelnen kennt - wird eine Erleuchtung erlangen.

Alle menschlichen Begriffe sind endlich, da sie mindestens den Gesetzen der Grammatik unterliegen, sofern sie sich sprachlich fassen lassen. Daher können sie den Ursprung der Wirklichkeit niemals bestimmen. Der unerschöpfliche Ursprung läßt sich weder beschreiben, noch definieren. Brahman bleibt jenseits von Namen und Form. "Wie die Gottheit namenlos ist und jeder Nennung fern, so ist auch die Seele namenlos. Denn sie ist dasselbe wie Gott." 50) Die Trennung von Subjekt und Objekt im Bewußtsein ist nur eine durch die Sprachform erzeugte Täuschung. Mystik heißt Auflösung aller Gegensätze. Die Mystik hat keine Grammatik.

"Ihr sollet wissen, wer sich damit läßt begnügen, was man zu Worte bringen kann -  Gott  ist ein Wort,  Himmelreich  ist auch ein Wort -, wer nicht weiter kommen will mit den Kräften der Seele, mit Erkenntnis und mit Liebe, als je zu Worte ward, der soll gerechter Weise ein ungläubiger Mensch heißen." 51)
Darum darf Gott keinen Namen tragen, weil jeder Name der Ausdruck einer Ordnung ist, eines Gesetzes, einer Gesetzheit, einer Gesetzlichkeit. "Gott darf nicht einmal das Unaussprechliche genannt werden. Denn hierin eben liegt schon eine Aussage über ihn." 52) Das Göttliche ist unvorstellbar und undenkbar. "Hätte ich einen Gott, den ich verstehen könnte, ich wollte ihn nimmer für Gott halten." 53) Kein Gleichnis oder Bild kann ihm entsprechen. "Das heilige Wissen ist kein Wissen." 54)

Gleichstellung des Göttlichen mit den Menschen und aller Natur bedeutet in der Mystik, daß Gott nicht über und außer der Welt steht, er ist  in  der Welt. Mystik ist die Erfahrung des Undifferenzierten, des Unterschiedslosen, ist die Idee, daß Gott in allem, d.h. auch in allen von uns ist. "Gott ist dasselbe Eine, das ich bin." (Tat tvam asi) 55) "Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein." 56)

Den Mystikern wird deshalb auch der Vorwurf gemacht, ihr Ideal wär, wie das der alten Schlange,  zu sein wie Gott,  ja noch Ärger: Gott selber zu sein. Was aber gemeinhin als religiöser Wahn bezeichnet wird, entsteht nur, wenn das Ego sich nur scheinbar auflöst und unter dem religiösen Deckmantel weiterhin seine eitlen Ziele verfolgt. Viele Menschen geben vor, Gott zu suchen; in Wahrheit machen sie aus Gott eine Kerze, mit der sie etwas anderes suchen, und wenn sie es gefunden haben, so werfen sie die Kerze weg. 57)

Die Mystik - wo es sich wirklich um Mystik handelt - ist vom rationalen Standpunkt aus unangreifbar. Die mystische Dimension ist eine Geisteshaltung, die schließlich unfehlbar ist und von keiner objektiven Kritik durch Wissenschaft, Philosophie, Politik oder Moral berührt wird. Alle Erkenntnisse beruhen auf Urteilen. Mystische Kraft ist die Fähigkeit, auf rationales Urteilen verzichten zu können.

Für das wahrhaft religiöse Gefühl sind alle dogmatischen Unterschiede bedeutungslos. Die Heiligkeit oder das Genie ist eine Ekstase der Seele, welche die gewöhnlichen, das heißt rationalen Grenzen überschreitet und deshalb oft als dämonische Kraft erscheint. Tiefe Empfindungen und Überzeugungen sind weder gut noch böse. Gut und Böse gibt es nur für die, die ein Ziel haben. Wo es keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles Mittel und Zweck zugleich. Das Seiende  ist  einfach, jenseits von Gut und Böse. Himmel und Hölle verbinden sich in mystischer Einheit.

Eine Trennung in objektiv-moralische Qualitäten gibt es nur durch Verstandesoperationen. Mystische Wahrheit und Wirklichkeit sind jenseits aller menschlichen Autorität. Von der mystischen Wahrheit gibt es keine Setzung und keine Verneinung. Ein Heiliger darf darum objektiv Unrecht tun, denn er kann gar nicht Unrecht tun. "Also hat, wer in Gott lebt überhaupt kein Gebot. Ursache: er ist in der Freiheit, die kein Gebot leiden kann." 58) Das mystische Eine untersteht keinen Regeln. Für den Mystiker gibt es kein Gesetz. Seine Formulierung wäre viel zu kompliziert und würde höchstens lauten: Es ist alles so, wie es ist. "Es ist das Vorrecht der Mystik, die Wahrheit ohne Sorge um die Korrektheit lebendig zu denken." 59)

"Der Mystiker erweist sich in jeder Zeit und Gesellschaft daran, daß er von seiner Absolutheitserfahrung her alle äußeren Formen, Gesetze, Anschauungen und Überlieferungen weder annimmt, noch ablehnt, sondern als  uneigentlich  durchschaut und damit relativiert." 60)
Es gibt keine Religion, in deren Geschichte sich nicht Bewegungen finden, die jede Autorität geistlicher oder weltlicher Art verwarfen und das Recht beanspruchten, in völliger Freiheit nur nach der eigenen inneren Erleuchtung zu handeln. Wer die radikale Abtötung der Eigenmächtigkeit auf sich nimmt, gelangt in Wahrheit über sich hinaus. Der Sieg der Willenlosigkeit ist der Sieg der Liebe. "Wenn du nur (Gott) liebst, magst du tun, was dir beliebt." 61)

Die Liebe hat kein Gesetz, sondern ist das Gesetz selber. Für MARTIN BUBER ist deshalb jeder echte Anarchismus im Grunde religiöser Natur. Menschen, in denen das Göttliche in unwiderstehlicher Weise wirkt, bedürfen keines Gesetzes. Die mystische Idee immanenter Gerechtigkeit heißt: Dem Gerechten gilt kein Gesetz.

"Es wäre besser, daß die ganze Welt zerstört würde und zugrunde ginge, als daß der freie Mensch sich von einer Tat zurückhalten würde, zu der ihn die Natur treibt." 62)
Um möglichen Mißverständnissen zu begegnen, muß hier noch ausdrücklich vor übereilten Schlußfolgerungen gewarnt werden. Die  Mystik  als solche ist nicht mitteilbar, daher kann und will sie auch nicht überzeugen oder irgendwelche Rechtfertigungen liefern. "Niemals kann Mystik Dogma werden." 63) Die Mystik ist nicht missionarisch. Um wirklich verstehen zu können, müßten wir selbst Mystiker sein.

LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    39) OSWALD VIREN, Chinese Sculpture, London 1925, Seite XX
    40) SEBASTIAN FRANCK, Paradoxa, Berlin 1966, Seite 57
    41) WILLIAM S. HAAS, Westliches und östliches Denken, Hamburg 1966, Seite 140
    42) D.T. SUZUKI in EUGEN HERRIGEL, Zen in der Kunst des Bogenschiessens, Bern/Mchn/Wien1985, Seite 7
    43) WILLIAM S. HAAS, Westliches und östliches Denken, Hamburg 1966, Seite 124
    44) A. S. EDDINGTON, The nature of the physical world, Cambridge 1928, "Am Ende steht der Geist sich selbst gegenüber."
    45) KRISHNAMURTI in ANAGARIKA GOVINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, Bern/Mchn/Wien 1975, Seite 330
    46) KEN WILBER, Das Spektrum des Bewußtseins 1987, Seite 308
    47) AMAKUKI SESSAN, A first Zen Reader, Vermont 1971
    48) BUDDHA in RICHARD M. BUCKE, Kosmisches Bewußtsein, Celle 1925, Seite 44
    49) ALBERT SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1981, Seite 1
    50) MEISTER ECKHART in H. BÜTTNER, Meister Eckharts Schriften und Predigten, 2.Bd. Jena 1912, Seite 209
    51) MEISTER ECKHART in MARTIN BUBER (Hrsg), Ekstatische Konfessionen, Heidelberg 1984, Seite 230
    52) AUGUSTINUS in I. BERNHART, Augustin, München 1922, Seite 146
    53) MEISTER ECKHART in FRANZ PFEIFER, Meister Eckhart, Leipzig 1857, Seite 319
    54) JUNJIRO TAKAKUSU, Buddhism, o.J. Seite 105
    55) MEISTER ECKHART in H. BÜTTNER, Meister Eckharts Schriften und Predigten, 2.Bd. Jena, Seite 88
    56) MEISTER ECKHART, Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, Seite 29
    57) Vgl. MEISTER ECKHART, Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, Seite 29
    58) SEBASTIAN FRANCK, Paradoxa, Berlin 1966, Seite 32
    59) ALBERT SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1981, Seite 376
    60) RUDOLF GELPKE, Drogen und Seelenerweiterung, München ohne Jahr, Seite 220
    61) AUGUSTINUS ohne Quelle
    62) HEINRICH SUSO in GORDON RATTRAY TAYLOR, Das Experiment Glück, Frankfurt 1978, Seite 12
    63) ALBERT SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1981, Seite 376