ra-2F. DehnowL. KuhlenbeckF. KleinK. Schneider    
 
SIGMUND KORNFELD
Zur Geschichte
des Rechtsgefühls


"Das Recht ist, ebenso wie alles Sittliche, nicht Objekt des Willens, sondern Objekt des Erkennens. Es ist also etwas völlig Objektives, so daß jeder es auch wider seinen Willen und sein Bedürfnis annehmen muß. Dies hängt mit dem Primat des Erkennens vor dem Wollen und Handeln zusammen. Der Wille ist abhängig vom Erkennen. Diese Ansicht erscheint bei Plato und Sokrates in der Lehre, daß niemand freiwillig böse ist, sondern nur aus Unwissenheit, und in der Lehre des Aristoteles, daß das Erkennen göttlich, das praktische Leben nach der Gerechtigkeit aber, ein untergeordnetes für die endlichen Geister der Menschen ist."

Die Geschichte des Rechtsgefühls kann sowohl im Sinne der im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zutage getretenen Äußerungsweisen dieses Gefühls gemeint sein, oder auch in dem der wissenschaflichen Erkenntnis dieses Gefühls. Daß sein Auftreten in die frühesten Anfänge menschlicher Kulturentwicklung fällt, gleichzeitig mit dem Auftreten rechtlicher Formen, ist gewiß. Ebenso gewiß, daß es völkerpsychologisch innerhalb eines Volksganzen früher auftritt als es bei einzelnen Individuen höhere, d. h. zu klarem Bewßtsein gelangende Formen annimmt. Innerhalb der Volksgemeinschaft entwickelt es sich instinktiv aus dunkel gefühlten Bedürfnissen und unterhalb des Bewußtseins ablaufenden Drängen zu deren Befriedigung. Hier spielt die Unlust am Streit, der Wunsch, diesem zu entgehen, gewiß zunächst die wesentlichste ROlle, sodann die Anerkennung der Autorität des geistig und körperlich Überlegenen, welcher den Streit durch Auseinandersetzung, Rat und Machtspruch schlichtet. Weiterhin macht sich die Gewohnheit geltend, einmal getroffene Entscheidungen immer weider heranzuziehen. Durch Gewohnheit und Übung werden bestimmte Entscheidungsweisen bevorzugt und erlangen immer größeres Ansehen. So kommen allmählich Rechtsentscheidungen und Rechtsauffassungen zu einer autoritativen Geltung und nehmen teil an der Ehrfurcht, welche das von den Ahnen Überkommene, durch Alter und Sitte Geheiligte genießt. Die Gefühle, welche mit derartigen, aus dem Volksbewußtsein stammenden, in ihm wurzelnden und fortlebenden Rechtsinstitutionen verknüpft sind, sind zunächst solche der Pietät, der erfurchtsvollen Scheu vor dem, was von den Ahnen überkommen und durch das Alter geheiligt ist. Dazu kommt das Gefühl der Sicherheit durch eine bestimmte Ordnung, Streitigkeiten beilegen und auch vermeiden zu können. Erst auf einer höheren Stufe, auf welcher die Scheu vor dem Überkommenen die Reflexion darüber nicht hindert, wird die Einsicht in den wahren Sinn und wahren Wert dieser Rechtsinstitutionen erweckt. Es beginnt die Fragestellung, inwiefern all die Rechtsfragen, die in konkreten Streitigkeiten auftauchen, durch die überkommenen Institutionen tatsächlich gelöst werden. Das primitive, im Volksbewußtsein entstehende Recht ist die unerläßliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Rechtsgefühls. Diese schreitet am Leitfaden des primitiven Rechts so weit, bis das Rechtsgefühl zur vollen Klarheit und Bewußtheit gediehne ist und nunmehr eine begriffliche Erkenntnis des Rechts und eine bewußte Fortbildung desselben durch die Arbeit einzelner Individuen und der Gesellschaft Platz greift.

Da das Rechtsgefühl immer von individuellen Eigentümlichkeiten hinsichtlich seiner Intensität, seiner Erregbarkeit, seiner Verlaufsweise abhängig bleibt, während die Gestaltung des Rechts und seiner Institutionen Sache der Träger der gesellschaftlichen Macht ist, darf man von vornherein kein Parallelgehen der Entwicklung des Rechtsgefühls und der des positiven Rechts sowie der Rechtspflege und der Rechtswissenschaft erwarten. Gerade die Träger des höchstentwickelten Rechtsgefühls können ganz vereinzelt und ohne unmittelbare praktische Wirkung bleiben. Äußerungen des höchstentwickelten Rechtsgefühls können auf einer Kulturstufe vorkommen, auf welcher von einer Besinnung auf das Wesen des Rechts noch gar keine Spur vorhanden ist. Die althebräischen Propheten sind hierfür Beispiele. Auch sonst sind es die Dichter, welche zu allererst dem Gefühl für Gerechtigkeit und Recht Ausdruck geben. Immer sind es die unmittelbaren Erlebnisse, welche das Gefühl wecken, und so sind es die von solchen Erlebnissen Betroffenen und die, welche innig mitfühlen und nachfühlen, in denen das Gefühl zur stärksten Entfaltung kommt. Erst viel später machen sich die praktischen Wirkungen geltend, in der Regel erst dann, wenn ähnliche Erlebnisse sich unter verschiedenen Umständen wiederholt haben, und noch später beginnt die Reflexion, die theoretische Besinnung über das, was das Gefühl angeregt und wozu der Gefühlsausbruch gedrängt hat.

Eine wirkliche Geschichte des Rechtsgefühls müßte alle Äußerungsweisen desselben in der ganzen uns vorliegenden Literatur aufspüren, müßte die graduellen Unterschiede aufzeigen, die es unter verschiedenen äußeren Bedingungen bei verschiedenen Völkern und auf verschiedenen Entwicklungsstufen desselben Volkes darbietet. In gleicher Weise müßten die Arten, wie es sich nach außen kundgibt, wie es seine Befriedigung sucht und findet und dauernde Kultureinrichtungen anregt, erforscht werden. Diese Aufgabe lösen, hieße die ganze menschliche Kulturentwicklung von einem bestimmten Gesichtspunkt aus durchleuchten. Selbst die Beschränkung der Aufgabe auf das engere Gebiet der Rechtsentwicklung würde voraussetzen, daß das gesamte Material an Rechtsbestimmungen, Rechtseinrichtungen und überhaupt allem, was mit dem Rechtsleben irgendwie in Beziehung steht, psychologisch eingehend analysiert und in seinem genauen Zusammenhang mit allen individuellen und nationalen seelischen Lebenserscheinungen dargelegt wird. Bei der Unmöglichkeit, diese Aufgabe zu lösen, mußte die Beschränkung noch viel weiter geübt werden. Es konnte nur das Wesentliche berücksichtigt werden, was die eigentliche Rechtsphilosophie über das Wesen und die Aufgaben des Rechts zutage gefördert hat. In der Rechenschaft, die sich, das philosophische Denken darüber zu geben suchte, zeigt sich wie sich das Rechtsgefühl einzelner Kulturstufen im wissenschaftlichen Denken ausprägt, auf der anderen Seite aber auch, wie dieses Denken die besondere Gestaltung des Rechtsgefühls beeinflußt. Weiterhin zeigt sich, wie sich die gesamte Welt- und Lebensanschauung eines Denkers und insbesondere sein moralisches Fühlen in seiner Stellung zum Recht abspiegelt.


I. Die rechtsphilosophischen Anschauungen
des Altertums und des Mittelalters

Bei den alten Griechen tritt der Begriff des Rechtsgefühls in unserem heutigen Sinne noch nicht zutage. Ein vom Gebiet der allgemeinen Moral unabhängiges Rechtsleben existiert im alten Griechenland nicht, denn das Moment der persönlichen Berechtigung, innerhalb einer gewissen Sphäre zu schalten und zu walten, wie das Individuum als juristische Person will, ist den Griechen fremd. Der Begriff der  Gerechtigkeit  wird innerhalb der griechischen Ethik eingehend erörtert, das persönliche, private Selbstbewußtsein des Rechts tritt jedoch nicht hervor, sondern wird erst von den Römern ausgebildet. Das sittliche Leben stellt sich teils in der einzelnen Person dar, teils im Staat; statt des Gegensatzes von Recht und Moral ist nur der der Einzelnen und des Ganzen vorhanden. Die Ehrfurcht vor dem Überkommenen, die heilige Scheu vor dem göttlichen Gesetz, wie sie im griechischen Volk lebte, tritt uns bei den Dichtern, besonders bei den Tragikern deutlich entgegen. Mit dem Schwinden der naiven und unmittelbaren Hingebung an die nationale Sitte beginnt auch die Erschütterung des unbefangenen Glaubens an die verpflichtende Macht des Rechtlichen und Sittlichen durch die Sophisten. Da diese nichts Allgemeingültiges anerkannten, so war ihnen, wie auf theoretischem Gebiet die Empfindung und die Meinung des Einzelnen, so auf praktischem Gebiet der Trieb und die Begierde eines jeden die höchste Instanz. Mit der Beugung des objektiv Wahren erfolgt auch die Beugung des objektiv Gerechten. Jede dauernd objektive Norm, die das Belieben einschränken will, beruth auf willkürlicher Satzung. Das Natürliche ist, daß jeder seinem Belieben folgen soll, daß im Streit die Macht entscheidet. Hauptsächlich kommt es darauf an, den Menschen stark zu machen. Wie als Mittel hierzu die Überlegenheit des Verstandes, so wird von einigen auch die Tugend im eigentlichen Sinne angegeben; PRODIKOS preist das Rechtsgefühl und die sittliche Scheu und verwirft die sinnliche Zügellosigkeit. Wie also hier schon die Konsequenz des Denkens vom Prinzip des subjektiven Beliebens zur Anerkennung einer allgemeinen Norm des Rechten führt, so sucht SOKRATES mit klaren Bewußtsein ein über die Zufälligkeit der Subjekte hinausreichendes Ewiges und Absolutes zu finden.

Auf dem Höhepunkt der griechischen Ethik, bei PLATO und bei ARISTOTELES, wird nur der Unterschied zwischen dem privaten und öffentlichen Ethos ausgebildet. Nach PLATON soll der Einzelne, sofern er einer höheren Berufsart, wie der des Kriegers oder der des Beamten, angehört, ganz im Staat aufgehen, so daß er nur eine öffentliche, keine private Existenz hat. Dadurch wird der Gegensatz zwischen der privaten, persönlichen und der öffentlichen Moral wieder zum Verschwinden gebracht. Die einzelnen Staatsbürger kommen nur als Elemente und Glieder des Staates in Betracht. ARISTOTELES räumt dem einzelnen daneben noch eine private Existenz innerhalb des Staates ein und anerkennt neben dem Staat noch das Hauswesen und die Gemeinde. Sowohl PLATO wie ARISTOTELES betrachten als das eigentliche Ethos des Staates, des öffentlichen Lebens, die Gerechtigkeit, welche vollständig nur im Staat zur Darstellung gelangt. Vom Rechtsgefühl kann nur so weit die Rede sein, als der Begriff der öffentlichen Gerechtigkeit reicht. Die Gerechtigkeit ist das Prinzip des sittlichen Lebens, welches sich in der individuellen Person und in der Person des Staates darstellt. Im öffentlichen Leben aber kommt das Ethos erst zu seiner völligen Entfaltung, indem es die Idee der Gerechtigkeit realisiert. Der Einzelne vermag diese Idee nicht zur Geltung zu bringen, dies gelingt erst der Gesamtheit. Das Gerechte bestimmt PLATON als das Gleiche und setzt es in Analogie mit der mathematischen Gesetzlichkeit. Die Gerechtigkeit enthält zwei Forderungen, nämlich erstens, daß jedes Glied der Gemeinschaft des Staates das ihm Angemessene tut, ebenso wie jeder Teil der Seele das ihm Angemessene zum Ganzen beitragen soll. Darin liegt die Forderung der richtigen Ausbildung aller Teile des Ganzen. Die zweite Forderung ist, daß alle einzelnen Kräfte des Ganzen miteinander harmonieren. Somit fordert und bewirkt die Gerechtigkeit die Einheit und die Ordnung aller Tugenden, die  Harmonie des Einzelnen und des Ganzen.  Die diesen Anschauungen entsprechenden Gefühle sind im wesentlichen ästhetische. Das Ideal des platonischen Staates ist die konsequente Durchführung der Forderung eines harmonischen Ganzen, innerhalb dessen jeder Einzelne nur einen einzelnen Ton darstellt. Deshalb verschwindet auf Kosten der Harmonie des Ganzen jede private Berechtigung, denn der Einzelne repräsentiert nur eine einzelne Kraft des Ganzen, dessen Leben und Existenz alleiniger Zweck ist.

In der Bekämpfung der Ansichten der Sophisten betont PLATO, daß das Gesetz die Bedingung des Menschlichen ist. Frei sein heißt der Vernunft gehorchen. Wahrhafte Befriedigung findet ein zur Vernunft berufenes Wesen nur im Seienden und Ewigen. Der Grund des Rechts kann  nicht in der Macht  liegen, schon weil die Vielen mächtiger sind als der Eine, der sich deren Belieben unterwerfen müßte, dann weil wahre Macht nicht in der Befriedigung der Begierden, sondern in der Herrschaft über die Begierde besteht und den Lüsten ergeben sein Ohnmacht ist. Das Recht der Macht würde außerdem jede Gemeinschaft des Lebens unmöglich machen. Denn  nur durch das Gesetz vernünftiger Allgemeinheit, durch Ordnung besteht die Welt.  Für den Gerechten ist das größte Übel die Ungerechtigkeit. Gesetz und Recht sind ihm für die Seele, was Gymnastik für den Leib ist. Er unterwirft sich freudig der Strafe, die das Heilmittel für die Krankheit der Seele ist. Auch das Problem des Verhältnisses des einzelnen guten Willens zum positiven Gesetz wird von PLATO berührt. Gegenüber dem Interesse des Einzelnen hat das Gesetz absolut bindende Macht (KRITON). In der Apologie [Rechtfertigung - wp] wird die Notwendigkeit betont, um des Gewissens willen die Strafe zu tragen. - Es ist ein Mangel der Gesetze, daß sie starr und leblos als feste Normen an die unendliche Verschiedenheit der einzelnen Fälle nicht heranreichen und das Ungleiche gleich behandeln.

Auch ARISTOTELES bezieht die Gerechtigkeit bloß auf den Staat, in welchem sie allein zur Darstellung kommt. Das Staatsleben ist allein das Gebiet ihrer Gültigkeit, während sie in den privaten Verhältnissen des Hauses zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau, Herrn und Sklaven, nur uneigentlich, und zwar nur insofern sie sich auf die Verteilung und Ausgleichung der Güter im Verkehr des öffentlichen Lebens bezieht, Geltung hat. Er nimmt zwei Arten der Gerechtigkeit an: die verteilende und die ausgleichende. Die erstere besteht darin, daß jedem nach seinem Wert das Seine gewährt wird. Die letztere sieht vom speziellen Wert der Personen ab und bezieht sich nur auf den Verkehr des öffentlichen Lebens, in dem sie die Gleichheit zwischen Ware und Tauschmittel erhalten soll. Im Gegensatz zu PLATO anerkennt er die Berechtigung der Privatinteressen des Einzelnen, aber der Staat bleibt ihm doch das Höchste, worin der Einzelne erst seine wahre Bestimmung erlangt. Während nach PLATON die Gerechtigkeit etwas Absolutes ist, sieht ARISTOTELES dieselbe wie das Ethos überhaupt nur als etwas Endliches an. Ihm ist das Höchste die reine Theorie. Neben dieser ist das praktische Leben und die sich darauf beziehende Ethik und Gerechtigkeit nur ewas Untergeordnetes. Die Gerechtigkeit ist also bei beiden nur auf den Staat bezogen und hat ihr Maß im objektiven Begriff der Sache, nicht in den Personen. Nur was der Begriff der Sache fordert, ist gerecht. Die Gerechtigkeit gewährt nicht jedem das Seine, sondern sie verlangt nur, daß jeder tut, was ihm obliegt, d. h. was sein Begriff fordert. Von einem Recht der Individualität, von einer freien Wahl usw. kann hierbei keine Rede sein.

Doch bedeutet ARISTOTELES durch seine eingehende Analyse des Begriffs des Gerechten einen wesentlichen Fortschritt. Es gibt ein Gerechtes schlechthin, als bleibende NOrm und unaufhebbare Anforderung, welche begründet ist in der vernünftigen Natur des Menschen einerseits und in den bleibenden Bedingungen der äußeren Natur andererseits. Das Gerechte hängt unmittelbar zusammen mit den obersten Gesetzen der Weltordnung. Der Richter, als das persongewordene Gerechte ist der Finder der rechten Mitte. Doch ist dem Gesetz möglichst viel, dem richterlichen Ermessen möglichst wenig zu überlassen. Das Gesetz stellt die allgemeinen dauernden Formen auf, das Gesetz ist Vernunft ohne Begierde; Gericht und Volksversammlung unterliegen im gegebenen Fall dem Spiel der Neigungen und Interessen. Gesetze gibt es nur unter Freien, Freiheit nur unter dem Gesetz. Das positive Recht ist teils gerecht nur unter den jeweiligen Bedingungen, denen es sich anzuschließen hat als Anwendung jener allgemeinen Norm auf diese Bedingungen, teils ergibt es sich aus dem jedesmaligen besonderen Ziel, welches sich eine Gesetzgebung steckt und dann kann es auch materiell ungerecht sein.

Geht das Ziel der Gesetzgebung auf das allgemeine Wohl, so ist das Gesetz gerecht als konkrete Realisierung des Gerechten. Übt das Interesse einzelner Personen und Klassen entscheidenden Einfluß, so ist die Konsequenz ein Recht, welches der Norm des Gerechten nicht entspricht.

Weil das positive Recht das Gerechte nur unvollkommen verwirklicht, so tritt als Ergänzung das Billige ein. Das Billige ist selbst ein Gerechtes, nur ein vom fixierten Recht verschiedenes. Es ist ein besseres Recht dort, wo das ausdrücklich fixierte zufällig ihm anhängende Schwächen zeigt; dann ist zurückzugehen vom Wortlaut auf die Absicht des Gesetzes. Es ist aber auch besser als das Recht überhaupt, sofern es vom fixierten, notwendig mit Fehlern behafteten Gesetz auf das von Natur aus Gerechte zurückgeht. Dem starren Festhalten am Buchstaben gegenüber zeigt sich die Billigkeit darin, daß man nicht zum Nachteil des anderen auf seinem strikten Recht besteht. Das Gerechte schlechthin und das den gegebenen Bedingungen angepaßte Gesetz fallen in der unvollkommenen Verfassung auseinander. Legalität  nominon  und materielle Gerechtigkeit sind dann verschieden.

Der Staat ist von Natur früher als das Individuum. Der Staat ist eine EInheit von vielen einander Gleichen zu gegenseitiger Ergänzung. Den Staat auf Krieg und Eroberung einrichten, heißt das Recht vergessen. Die Verfassung ordnet die Gewalten im Staat, von denen ARISTOTELES drei angibt: die beratende, die ausführende und die richterliche. Im Staat sollte jedem Teil sein Einfluß gewahrt bleiben im Verhältnis dazu, wie er für den Zweck und den Bestand des Staates beiträgt; kein Sonderinteresse soll sich vordrängen.

Der Begriff der Gerechtigkeit hat als höchste Forderung eine Harmonie des Ganzen auf Kosten des Einzelnen und eine ebenmäßige Ausbildung des Einzelnen für das Ganze, damit ein Kunstwerk entsteht, dessen Güte in der Schönheit seiner Anschauung besteht. Dieses Kunstwerk ist der Staat, der die Darstellung der Gerechtigkeit nach griechischer Denkweise sein soll. Die Gerechtigkeit in diesem Sinne ist ein vorwiegend  ästhetischer  Begriff, der mit den eigentlich moralischen Gefühlen wenig zu schaffen hat. Ihm felt jedes altruistische Element, auch jede Berücksichtigung der Ansprüche des Individuums an die Gesamtheit und auf die Befriedigung seiner materiellen oder gar idealen Lebensbedürfnisse. Dieser Begriff fordert, daß jeder tut, was zur Harmonie des Staates beiträgt, nicht das, wozu ihn seine Veranlagung und sein innerstes Wesen drängen; er fordert nur, gewährt aber nicht das, was der Einzelne zu einer wahrhaft menschlichen Existenz von der Gesamtheit benötigt. Für die Freiheit des Individuums, für das freie Handeln fehlt hier jeglicher Raum. Begründet wird diese Auffassung der Gerechtigkeit mit der ganzen teleologischen Welt- und Naturansicht, die alle Erscheinungen aus Zwecken erklärt. Der Zweck des Menschen ist der Staat; jener ist nicht Selbstzweck, sondern nur  zoon politikon  [politisches Wesen - wp]. Zu diesem hat ihn die Natur gemacht. Die Natur ist das in letzter Instanz Gebietende und Maßgebende. Sie legt die Zwecke in die Dinge selbst, in ihnen objektivieren und realisieren sie sich. Die Natur der Sache bestimmt die einzelnen Individuen, der Zweck, den die Natur verfolgt. Die Sklaverei erscheint gerecht, weil die Natur die Menschen teils zum Herrschen, teils zum Dienen bestimmt hat. Überall regiert die innere Notwendigkeit des Begriffs der Sache. Die Zwecke regieren die Welt, nicht der persönliche und selbstbewußte Geist. Davon ist auch die Rechtsansicht die bloße Folge. Das Recht besteht nicht in Anforderungen an den Willen, sondern es ist ein Gesetz des Seins, das wir erkennen, das herrscht und zur Gültigkeit kommt durch sich. Das Recht ist, ebenso wie alles Sittliche, nicht Objekt des Willens, sondern Objekt des Erkennens. Es ist also etwas völlig Objektives, so daß jeder es auch wider seinen Willen und sein Bedürfnis annehmen muß. Dies hängt mit dem Primat des Erkennens vor dem Wollen und Handeln zusammen. Der Wille ist abhängig vom Erkennen. Diese Ansicht erscheint bei PLATO und SOKRATES in der Lehre, daß niemand freiwillig böse ist, sondern nur aus Unwissenheit, und in der Lehre des ARISTOTELES, daß das Erkennen göttlich, das praktische Leben nach der Gerechtigkeit aber, ein untergeordnetes für die endlichen Geister der Menschen ist. Das Recht ist ein ursprüngliches Objekt des Erkennens, eine feste Gestalt, ein Gesetz des Seins, eine allwaltende Idee, der der Wille folgen muß, er mag wollen oder nicht. So steht die Ansicht von der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der teleologischen Natur- und Weltansicht und mit dem Determinismus der Griechen.

Wohl haben PLATON und ARISTOTELES das Verdienst im Begriff des Gerechten eine ewige Gestalt, eine Idee, ein Gesetz der Dinge erkannt und darin eine Norm für die Ausbildung des Geistes im Einzelnen und in der Gemeinschaft des Staates gefunden zu haben. Die Mängel ihrer Auffassung liegen in der absoluten Vernachlässigung des Moments der persönlichen Berechtigung, der subjektiven Freiheit und der individuellen Eigentümlichkeit; damit wird für das Ethische ein fremder Maßstab eingeführt. Der Grundfehler liegt in der Verwechslung des Guten mit dem Schönen, des Ethischen mit dem Ästhetischen. Es kommt nur darauf an, daß  das Ganze des Staates eine schöne Harmonie  bildet, ja diese Harmonie selbst ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Aber es kommt nicht darauf an, daß die einzelnen Glieder des Staates auch frei sind und sich wohl befinden. Die Ideale des Willens werden unter die der Phantasie subsumiert. Der gerechte Staat ist ein Kunstwerk, das nach dem Maßstab des Schönen beurteilt wird. Das Ideal des Schönen tritt als Wunsch auf, dessen volle Erfüllung unerreichbar ist.

Gegenüber PLATON und ARISTOTELES sind die Epikuräer und Stoiker schon Repräsentanten des Niedergangs; denn ihnen ist die Gerechtigkeit nicht mehr ein Zweck ansich, der sittlich notwendig ist, sondern nur ein Mittel für andere Zwecke des Lebens und wird dadurch etwas Zufälliges oder Gleichgültiges. Nach EPIKUR beruth alles Recht auf Verträgen zum gegenseitigen Nutzen; der Vorteil, der aus diesen Verträgen gezogen werden kann, ist der einzige Verpflichtungsgrund zu deren Erfüllung, die Furcht vor der Strafe das einzige Motiv, Gesetzesübertretung zu vermeiden. Unrecht handeln ist ansich nicht sittlich verwerflich, sondern nur wegen etwaiger Folgen zu vermeiden. Staat und Recht sind nur Schutzmittel gegen die Angriffe des Ungerechten. Mit diesen Ansichten ist das Recht jedes sittlichen Wertes entkleidet. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den allgemeinen sittlichen Lebensansichten der Epikuräer, denen zufolge das sittliche und rechtliche Handeln ansich keinen Wert hat, sondern nur insofern es dazu dient, uns Genüsse zu verschaffen, welche das letzte Ziel menschlichen Strebens sind. So ist also der Vorteil des Einzelnen das ausschließliche Motiv bei allen Rechtshandlungen, und die Furcht der einzige Antrieb zur Befolgung der Verträge, die allein dem Vorteil des Einzelnen dienen. Das Recht beruth somit ganz auf egoistischen Motiven, wie ja auch die ganze Lebensansicht eine egoistische ist. Das Recht hat nur negativen Wert und ist nur Mittel für den Lebensgenuß. Ein Rechtsgefühl kann sich also auf diesem Standpunkt gar nicht entwickeln.

Der Standpunkt der Stoiker ist ein sittlich höherer, da sie Recht und Gesetz nicht als etwas bloß Willkürliches ansehen; da sie aber ausschließlich Wert auf die Gesinnung legen, ist ihnen Recht und Staat, welche beide auf die äußere Handlung gehen, doch nur etwas Untergeordnetes und Gleichgültiges. Die Ethik der Stoa strebt nach Rettung der Seele aus dem Getriebe der Welt und ein Zurückziehen von derselben. Staat und Recht, die eine aktive Beteiligung des Einzelnen fordern, erscheinen gegenüber der Welt des Inneren gleichgültig und sind nur ein notwendiges Übel. Die Moral des Genusses sowohl, als auch die der bloßen Gesinnung sind somit ihrem Wesen nach der Entwicklung des Rechts feindlich. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Rechts und das Eindringen in sein Wesen sind auf diesen Standpunkten nicht erreichbar. Das Recht bleibt immer nur etwas Zufälliges und Willkürliches, das ansich keinen Wert hat.

Auch der Skeptizismus, der auf ein bestimmte Urteil über das Gerechte und Ungerechte verzichtet, und der Neuplatonismus, dessen überweltliche und transzendente Richtung dem Befassen mit öffentlichen Geschäften entgegensteht, verhalten sich hinsichtlich des Rechts und des Rechtsgefühls ganz negativ.

Bei den Römern wurden die wichtigsten Resultate der griechischen Philosophie hauptsächlich durch CICERO in populärer Form verarbeitet. Er leitet das Recht aus der Natur des Menschen und aus der die Welt beherrschenden Vernunft ab, zugleich aber aus dem natürlichen Wohlwollen, das die Menschen verbindet. Er bekämpft die Meinung, daß das Recht aus der Willkür und der Vereinbarung stammt; vielmehr ist es zugleich mit der göttlichen Vernunft entstanden. Die Gerechtigkeit als das Fundament aller Tugenden, wird durch den Begriff der Gleichheit charakterisiert. Das Gerechte allein ist das wahrhaft Nützliche; die Ungerechtigkeit würde die Liebesgemeinschaft, auf die der Mensch von Natur aus angelegt ist, unmöglich machen. Er unterscheidet das positive Recht, welches durch Rücksichten der Zweckmäßigkeit für gegebene örtliche und zeitliche Verhältnisse bedingt ist, vom  ius gentium  [Stammesrecht - wp], welches übereinstimmend bei vielen Völkern gilt; vor allem geschriebenen Gesetz gibt es ein natürliches, ewiges Gesetz, welches in der göttlichen Ordnung der Welt seine Wurzeln hat. Wie das Recht, stamt auch der Staat  aus der Natur des Menschen, nicht aus seiner Willkür.  Das Wesen der Obrigkeit ist, das Person gewordene Gesetz zu sein.

Die römischen Juristen haben das Verdienst, die Forderung formeller Strenge und die eines möglichst reichen Gehalts an materieller Gerechtigkeit aufgestellt zu haben. Diesen Forderungen zu entsprechen, war ihr hauptsächlichstes Bemühen. Sie beriefen sich auf ein Recht, das in der Natur der Sache begründet ist und das als Gesetz der Natur im Bewußtsein der Menschen lebt. Sie kennen rechtliche Verhältnisse, zu denen die Natur selbst den Menschen die Anleitung gegeben hat und eine von Natur gegebene Rechtsanschauung, die in der menschlichen Anlage begründet und unerschütterlich und unwandelbar fortbesteht; weiter die  naturalis ratio,  die teils die logische Konsequenz der Begriffe darstellt, teils die dem gesunden Urteil sich aufdrängende Anforderung der realen Verhältnisse. Von diesem natürlichen Recht unterscheiden sie das positive. - Durch die Rücksichtnahme auf das natürliche Recht wurde die formelle Streng des überkommenen Rechts gemildert und so nach dem Prinzip der Billigkeit Härten vermieden und günstigere Auslegungen bevorzugt. Das, was die Billigkeit fordert, ist ein objektiv Gegebenes; es ist das von Natur Gerechte im Gegensatz zum formellen Recht und wird durch ein Rechtsgefühl, durch eine wohlwollende Gesinnung (humanitas) gefunden.

Die mittelalterliche Rechtsphilosophie schließt sich zwar an PLATO und ARISTOTELES an, bringt jedoch auch eigene Gedanken hinzu. Während den Griechen der Staat und die Realisierung der Gerechtigkeit im Staat als das Höchste erscheint, kennt die mittelalterliche Philosophie noch etwas Höheres, nämlich das Reich Gottes, die Kirche. Diesem wird der Staat als einem Höheren untergeordnet oder beigeordnet. Während die Griechen den Gegensatz zwischen dem Einzelnen und dem Staat als den ausschließlichen behandeln, kennt das Mittelalter, dessen Höhepunkte AUGUSTINUS und THOMAS von AQUIN bildeten, neben dem Staat das Reicht Gottes als eine zweite Form, worin die Totalität des sittlichen Lebens zur Entfaltung kommt. Während bei den Griechen die Staatsbildung aus einem alles beherrschenden Naturzweck hervorgeht, sieht das Mittelalter denselben als eine göttliche Institutioni an zu Erziehung des Menschengeschlechts. Gott regiert die Welt und erzieht die Völker nach seinem Willen. Der Staat ist somit eine Institution des göttlichen Plans. Jetzt erst wird die Geschichte im Zusammenhang aufgefaßt als eine Erziehung nach göttlichem Plan und dadurch erhalten Staat und Gerechtigkeit eine höhere Sanktion. Als Prinzip des Sittlichen wie auch des Rechtlichen gilt jetzt der göttliche Wille. Dieser wird gedacht als  lex aeterna  [ewiges Gesetz - wp], wodurch er über jede Willkür erhaben ist. Das ewige Gesetz ist die weltordnende Vernunft im göttlichen Geist. Gott als Schöpfer und Herrscher der Welt hat auch der Welt eine höchste Norm seines Willens eingeprägt. An diesem ewigen Gesetz nehmen alle Wesen teil; es ist ihnen allen eingeprägt und treibt sie zur Tat. So ist es für sie ein Naturgesetz, das natürliche Sittengesetz, unter das auch die Gerechtigkeit fällt. Das menschliche Gesetz, das der Mensch gibt, ist nur eine weitere Ausführung und genauere Bestimmung des Naturgesetzes. Nur soweit die menschlichen Gesetze übereinstimmen mit dem Naturgesetz, sind sie gerechtfertigt. Moral und Rechtsgesetz sind nicht ihrem Inhalt nach verschieden, sondern nur durch ihre Sanktion. Die positiven Rechtsgesetze haben denselben Inhalt mit dem Moralgesetz, nur ist dieses im Einzelnen weiter bestimmt. Die Gerechtigkeit gehört zum natürlichen Moralgesetz. Sie besteht darin, jedem nach Gleichmaß,  aequalitas,  sein Recht zu erteilen. Gerecht ist, was eine Ausgleichung der Verhältnisse der Menschen nach einem gleichen Maß enthält. Sie bezieht sich nur auf das  Handeln  gegen andere Personen, nicht auf die Gesinnung, mit der etwas geschieht. Dieser Begriff der Gerechtigkeit bezieht sich somit nur auf die äußeren Handlungen und regelt nur das äußerliche Verhalten der Menschen gegeneinander. Die allgemeine Gerechtigkeit bezieht sich auf alles, was zum Zusammenleben in einer Gemeinschaft und damit auch zum Gemeinwohl, zum allgemeinen Besten gehört. Sie fordert  Angemessenheit  der Handlungen im allgemeinen und hat einen viel weiteren Umfang, als das heutige öffentiche und private Recht, insofern darunter die Pflichten gegen Got, die Pietät gegen die Eltern, Achtung, Dankbarkeit, Freundschaft, Billigkeit mit inbegriffen werden. Die besondere Gerechtigkeit ist ebenso wie bei ARISTOTELES eine distributive sein Recht nach dem verschiedenen Wert und Verdienst der betreffenden Person. Die letztere sieht von den Wertunterschieden der Personen ab und bestimmt, was jedem hinsichtlich der Sachen und Handlungen bei Tausch, Kauf und dgl. zukommt. Somit fällt das eigentliche Rechtsgebiet unter den Begriff der kommutativen Gerechtigkeit. Die Begründung von Recht und Staat wird im Willen Gottes, dem ewigen Gesetz, gegeben. Diesen Willen gibt Gott durch sichtbare Taten kund. Das Göttliche im Recht und Staat besteht nicht in seinem Inhalt, sondern nur in der Erlassung; die göttliche Autorität bezieht sich nicht auf den inneren Wert der Gesetze, sondern liegt lediglich äußerlich darin, daß  Gott  dieselben angeordnet, empfohlen hat. Das Rechtsgefühlt fällt auf dieser Stufe zusammen mit der Anerkennung der göttlichen Autorität und der Unterwerfung unter dieselbe.


II. Die rechtsphilosophischen
Lehren der Neuzeit


1. Die Rechtsphilosophie vor Kant

Mit dem Beginn der neueren Philosophie wird auch die Rechtsphilosophie neu begründet. Das Recht wird nicht mehr auf Autoritäten gestützt, sondern auf verschiedene Naturtriebe des Menschen basiert. Die Grundlage des Rechts wird ein Naturgesetz; die Gerechtigkeit, bei PLATO und ARISTOTELES als der eine und höchste Zweck des Staates aufgefaßt, wird jetzt ein Mittel entweder des Eigennutzes, nämlich der Selbsterhaltung des Einzelnen, oder als Mittel des Gemeinnutzens, nämlich als notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Zustandes. Die Deduktion des Rechts erfolgt in der Regel vom Naturzustand, der dem bürgerlichen vorangeht und zu demselben in einen Gegensatz gebracht wird. Die Konstruktion dieses Naturzustandes umfaßt auch den von Natur aus bestehenden Zustand des Rechts, welches vor aller Handlung und vor allem Streben des Menschen schon von Natur aus verwirklicht ist. Dieses Recht wird als  anfänglich erster Zustand  aufgefaßt,  nicht  als Ideal, das erst in ferner Zukunft erreicht werden soll. Dieses Recht soll dem Menschen vermöge seiner Natur zukommen, es ist unabhängig vom Willen des Menschen, wie auch vom Willen Gottes, es ist durch die bloße Natur bestimmt. Die Verschiedenheiten der Auffassung des Rechts hängen mit der verschiedenen Art und Weise zusammen, wie die menschliche Natur aufgefaßt wird.

Der Antrieb zur Ausbildung der Rechtsphilosophie im Beginn der neueren Philosophie ist ist derselbe, der zur Ausbildung der neueren Naturphilosophie geführt hatte; nämlich einerseits die Abneigung gegen die auf ARISTOTELES beruhende Scholastik; andererseits das Bedürfnis, mit Rücksicht auf die Lostrennung der Gesellschaft von der alten religiösen Ordnung, neue Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft zu finden. Gegenüber der Ableitung des Rechts aus der göttlichen Ordnung wird nunmehr der Versuch gemacht, es aus der Natur des Menschen als solcher zu begründen. Die Philosophen der Reformation, vor allem MELANCHTHON, halten noch am Standpunkt der Scholastik fest. Im Gegensatz hierzu begründet MACHIAVELLI (1469 - 1527) die Staatslehre rein naturalistisch und gründet die oberste Gewalt auf die materielle Übermacht. Die nun folgenden drei Rechtsphilosophen zeigen hingegen in ihrer Auffassung des Rechts einen deutlichen moralischen Einschlag.

JEAN BODIN (1530 - 1596) stellt an die Spitze den Begriff der Majestät, die er als absolut unteilbares Recht behauptet und nur dadurch beschränkt, daß der Träger dem Naturgesetz und Gott sich zu unterwerfen hat. Ungehorsam gegen die Befehle des Herrschers ist nur bei einem unzweifelhaften Widerspruch mit Gottes Gebot gestattet. Der Staat kann als eine auf der religiösen Ordnung ruhende, sittliche Gemeinschaft nicht ohne Religion bestehen. Er kann aber mehrere Religionen zulassen und dies ist ihm sogar vorteilhaft. Damit erscheint neben der Ableitung allen Rechts aus dem göttlichen Gebot doch schon  die Individualität des Einzelnen gegenüber der Herrschergewalt  anerkannt.

ALBERICUS GENTILIS (1551 - 1611) strebt danach, das Recht,  unabhängig von Geschichte und Autorität,  aus der Natur des Menschen zu bestimmen. Recht gibt es nur in der Gemeinschaft der Menschen und Völker. Er fordert Toleranz gegen die verschiedenen Religionen. Den Krieg sieht er als nur zur Abwehr erlaubt an; er muß nach bestimmten Gesetzen angekündigt und geführt werden. Hier tritt also das Recht, auch als Völkerrecht,  gewaltbeschränkend  auf.

JOHANN ALTHUSIUS (1577 - 1638) sieht die  majestas  (Staatsgewalt) des Volkes für unübertragbar und unteilbar an. Die dem gewählten Träger der Regierungsgewalt erteilte Vollmacht ist widerruflic. Der König ist nur der oberste Beamte. Die Einzelnen sind zwar Untertanen, aber die Gesamtheit behält die Herrschaft und läßt ihre Rechte gegenüber dem obersten Magistrat durch ein Ephorenkollegium [Beamte - wp] verwalten. Zwischen Individuum und Staat vermitteln Genossenschaften in stufenweiser Folge: Familie, Korporatioin, Gemeinde, Provinz. Hier wird somit das  Recht  des Individuums gegenüber der höchsten Staatsgewalt betont und durch bestimmte Einrichtungen gewahrt.

Die nahe Verwandtschaft von Recht und Moral tritt besonders in den Ansichten von HUGO GROTIUS (1583 - 1645) hervor; dieser geht in seiner Begründung des Naturrechts vom Geselligkeitstrieb des Menschen aus. Das Motiv seines Bestrebens, Rechtsprinzipien aufzustellen, ist das  Mißfallen an Krieg und Streit.  Dem Vorteil und der Gewalt stellt er als Norm für den Völkerverkehr das Recht entgegen, welches seine Sanktion in sich selber findet.  Im Gegensatz gegen jedes durch Willkür aufgestellte Recht, ist das Naturrecht ein ewiges und unveränderliches.  Es fließt aus der menschlichen Natur und, nach dem stoischen Prinzip naturgemäß zu leben, sind aus ihr die Prinzipien dafür zu entnehmen, was für ein Recht gelten muß. Die moralische Grundlage dieser Rechtsauffassung ergibt sich daraus, daß es GROTIUS als das Wesen der menschlichen Natur hinstellt, nach allgemein gültigen Vorschriften zu handeln und nicht allein über das gegenwärtig Angenehme und Unangenehme, sondern auch über  alle zukünftigen Folgen der Handlungen  zu urteilen und dem als allgemein gültig befundenen Urteil zu folgen. Alles, was diesem widerspricht, ist gegen das Recht der Natur im weitesten Sinne, das mit der Ethik zusammenfällt. Das Naturrecht im engeren Sinne wird aus dem Trieb nach Gesellschaft abgeleitet. Dieser tritt schon qualifiziert als solcher nach einer ruhigen und geordneten Gemeinschaft auf und begreift schon in sich die Enthaltung von fremdem Eigentum, die Heilighaltung von Versprechen, eine Verpflichtung zum Schadenersatz und die Berechtigung der verdienten Strafe. Das natürliche Recht im objektiven Sinne ist ein Ausspruch der richtigen Vernunft, durch welchen einer Handlung nach ihrer Übereinstimmung oder ihrem Widerstreit mit der vernünftigen Natur eine moralische Notwendigkeit oder Verwerflichkeit beigelegt wird. Was der Natur der Gesellschaft vernünftiger Wesen widerspricht, ist Unrecht, was nicht Unrecht ist, ist Recht. Dieses Naturrecht  hängt von keiner Willkür ab, ist somit unveränderlich.  Nur die unveränderlichen Prinzipien des Rechts sind auf den Willen Gottes zurückzuführen. Die subjektive Seite des Rechts wird aus der objektiven abgeleitet, deren oberstes Prinzip, die Bewahrung einer friedlichen und geordneten Gesellschaft, die rechtliche Freiheit oder die Macht eines jeden bedingt. Die subjektive Bedeutung des Rechts besteht in der moralischen Qualität oder Befugnis, etwas mit Recht zu besitzen oder zu tun. Aus dem obersten Prinzip des Rechts folgt im besonderen die absolute Heiligkeit der Verträge, die sich nicht auf den Nutzen oder die Güte ihres Inhaltes stützen, sondern  rein formell auf die Übereinkunft des Willens.  Daher berechtigt die Schlechtigkeit einer Staatsform nicht zur Revolution. Das Recht des Eigentums gründet sich immer auf eine ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft und nie auf einen einseitigen Willen. Bei Bestimmung des Inhaltes des Rechts ist  nicht die bloße Gerechtigkeit maßgebend, sondern auch andere sittliche Ideen,  wie die Billigkeit und das Wohlwollen. Für das Strafrecht besteht der Grundsatz, daß die Strafe sich nur auf eine Übeltat als ihre Vergeltung bezieht, und daß innere Handlungen nicht gestraft werden können; daß derjenige, welcher  mit Recht  strafen will, ein Recht zum Strafen haben muß; daß nicht bloß um der Strafe willen gestraft werden darf, sondern der Besserung und Sicherung wegen; daß schließlich niemand über das Maß seiner Schuld hinaus gestraft werden darf.

Bei GROTIUS tritt also die Selbständigkeit des Rechts gegenüber der Macht deutlich zutage. Das Recht hat seinen Quell in der Rücksicht auf das Wohl des Einzelnen, wie auch der Gesellschaft und die Macht, mit der die Gesellschaft das Recht zur Geltung bringt, wird wiederum durch die Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl und auf die Pflicht der Gesamtheit gegenüber dem Einzelnen beschränkt. Auch die Heranziehung der anderen sittlichen Ideen neben der bloßen Rechtsidee zur Ableitung der einzelnen Rechts.

Unvergleichlich lockerer ist der Zusammenhang zwischen Moral und Recht bei dem jüngeren Zeitgenossen des GROTIUS, THOMAS HOBBES (1588 - 1679); dieser geht von der Bestreitung der aristotelischen Lehre aus, daß der Mensch ein zur Gesellschaft geborenes Wesen ist. Es sucht die Gemeinschaft nicht um ihrer selbst willen, sondern um seines Vorteils willen. Was ihn daher die Gemeinschaft suchen läßt, ist nicht, wie bei GROTIUS, Wohlwollen, sondern Furcht. Infolge der natürlichen Gleichheit der Menschen kann ein jeder den andern töten. Im Zustand der Natur ist der Streit unter den Menschen notwendig, entweder weil ihre Meinungen verschieden sind, oder weil viele dasselbe erstreben, was sie nicht gemeinsam genießen oder teilen können. Jeder wird zum Begehren des ihm Guten und zum Meiden des ihm Üblen mit nicht geringerer Naturnotwendigkeit getrieben, als ein Stein zum Fallen nach unten. Es ist daher mit Recht getan, daß man sich selbst zu erhalten suchen, sich also vorsieht und verteidigt. Denn  das Recht ist die natürliche Freiheit eines jeden, seine natürlichen Fähigkeiten nach der richtigen Vernunft zu gebrauchen.  Das erste Fundament des natürlichen Rechts ist, daß jeder Leib und Leben nach Möglichkeit schützt. Ein Recht zum Zweck wäre aber vergeblich ohne das Recht zu den Mitteln. Was zu seiner Verteidigung gehört, darüber er allein Richter. Im Naturzustand hat also jeder Recht zu allen; das einzige Maß seines Rechts ist sein Nutzen. Dieses Maß wird dadurch eingeschränkt, daß alle dasselbe Recht haben. Der Naturzustand ist demnach ein durchaus rechtlicher, überdies ewiger Krieg aller gegen alle. Da nun aber dieser Krieg der Selbsterhaltung schädlich ist, widerspricht er dem obersten Prinzip der Ethik, welches die Selbsterhaltung zum Inhalt hat. Um nicht in diesen Zuständen des  bellum omnium contra omnes  [Krieg aller gegen alle - wp] zu bleiben, sucht der Mensch Genossen, um nicht allein gegen alle Krieg führen zu müssen. Solche Genossen kann er sich durch gegenseitige Einwilligung oder durch Gewalt verschaffen. Um aber volle Sicherheit zu erreichen und einen absoluten Frieden herzustellen, muß jeder sein natürliches Recht völlig aufgeben, entweder durch Entsagung oder Übertragung auf einen anderen. Nimmt dieser das übertragene Recht an, so entsteht der Vertrag. Im Naturzustand gelten jedoch Verträge nur solange, als der eine keinen Vertragsbruch des andern zu fürchten braucht, daher muß um des Friedens willen dahin getrachtet werden, daß der Vertrag als heilig gilt. Zur Sicherung des Friedens sind noch viele andere Gesetze nötig, nämlich das der Dankbarkeit, der Geselligkeit, Versöhnlichkeit, Bescheidenheit, Billigkeit usw. Diese Gesetze gehören zum Moralgesetz im engeren Sinne; dieses ist das göttliche Gesetz, welches Gott der Vernunft eines jeden gegeben hat. Im Naturzustand verpflichten sie aber nur vor dem  forum internum,  dem eigenen Gewissen. Da die Erfüllung jener Gesetze für den Frieden erforderlich ist, muß man sich die Sicherheit schaffen, daß man sie nicht zum Nachteil seiner Selbsterhaltung erfüllt. Hierzu bedarf es der Errichtung einer Gesellschaft, die so stark ist, daß jeder Angreifer von ihr Schaden zu fürchten hat. Diese Gesellschaft wird dann durch Furcht geschützt und zusammengehalten. Zur Stiftung einer solchen gemeinsamen Macht wird die Einzheit des Willens gefordert. Jeder muß sich dem Willen eines Menschen oder eines Konzils so unterwerfen, daß dessen Willen für den aller zu halten ist. Übertragen also alle dem Regenten das Recht ihrer Kräfte und Fähigkeiten, so hat dieser so große Macht, daß er jeden Einzelnen zum Friedenzwingen kann. Eine solche Einigung ist der Staat oder die  persona civilis,  deren Wille für den aller Vertragsteilnehmer gilt (pactum subiectionis). Damit dieser Staat seinen Zweck erreicht, muß dem Regenten alles Recht und alle Macht übertragen werden. Zunächst das Recht der Strafe, das er nach Gutdünken ausüben darf. Die höchste Gewalt schließt auch ein, daß der Regent alle zu allem zwingen kann. Das Recht der Gesetzgebung erstreckt sich nicht bloß auf Recht und Unrecht, sondern auch auf Sittlich und Unsittlich, auf Gut und Böse. Daraus fließt das Recht zur Bestimmung dessen, was gelehrt werden darf, der Art und Weise der Gottesverehrung, wie überhaupt der Religion. Eine Garantie gegen den Mißbrauch der höchsten Macht gibt es nicht, denn die menschlichen Dinge sind unvollkommen, und die Bürger sind an dem daraus erwachsenden Schaden selbst schuld. Könnten sie sich selbst regieren, bräuchten sie keinen Staat. Der Herrscher hat nur  eine  Pflicht: das Heil des Volkes; zwar keine erzwingbare Pflicht, doch die der richtigen Vernunft. Die Sicherung des Rechts wird also  einem  Willen,  einer  Macht übertragen; an diese wird die Forderung der ethischen Handhabung ihrer Befugnisse gestellt; eine Bürgschaft dafür ist in keiner Weise vorhanden. Auch werden andere Moralvorschriften, die außerhalb der Sphäre des Rechts liegen, zu seiner Stütze herangezogen, sie bleiben aber in rein äußerlicher Beziehung zu ihm. In der Begründung der Rechtsinstitutionen gibt sich also noch kein Rechtsgefühl kund, dieses leuchtet nur schwach in dem Wunsch durch, daß die Handhabung dieser Institutionen in einem Sinn erfolgen soll, der den göttlichen Moralvorschriften entspricht.

Die Rechtslehre des SPINOZA (1632 - 1677) fußt auf seiner ethischen Grundanschauung, der zufolge die Tugend gleich der Macht ist, sich selbst zu erhalten. Die Macht des Menschen ist ein Teil der göttlichen Macht und ist ihr wesensgleich. Gott hat das Recht zu allem, und das Recht Gottes ist identisch mit der Macht Gottes. Deshalb hat jedes Ding von Natur aus soviel Recht, als es Macht hat zu existieren und zu handeln. Diese Macht ist sowohl die der Vernunft, wie auch die der Begierde, denn beide explizieren die Kraft, mit der jeder sein Sein zu erhalten strebt. Deshalbverbietet das Recht der Natur nichts, als was niemand will oder kann. Aus der Identität von Recht und Macht folgt sodann, daß jeder nur so weit unter dem Recht eines anderen steht, als er dessen Macht unterworfen ist. Die Macht des Menschen wird aber nicht bloß nach der Kraft des Körpers, sondern auch nach der Tapferkeit und Stärke des Geistes bemessen. Das natürliche Recht, das sich mit der Macht des Einzelnen deckt, hilft im Naturzustand wenig, weil die Menschen ihren Leidenschaften unterworfen, daher Feinde gegeneinander sind, weshalb keine Sicherheit vorhanden ist. Um eine solche zu begründen, bedarf es eines gemeinschaftlichen Rechts. Die Gesellschaft hat das Recht, jeden zur Unterwerfung unter das gemeinschaftliche Recht zu zwingen, weil die vereinigten Vielen mächtiger sind als jeder Einzelne. Das Recht der Vereinigten ist daher die Herrschaft, das Imperium.  Nur wo ein solches gemeinsames Recht errichtet ist, also im Staat, darf von Recht und Gerechtigkeit, sowie von Vergehen und Strafe gesprochen werden.  Im Naturzustand wird niemand gehalten, nach der Vernunft zu leben. Auch im Staat behält jeder sein Naturrecht, da ein jeder notwendig nach den Gesetzen seiner Natur handelt und seinen Nutzen sucht. Der Unterschied vom Naturzustand besteht nur darin, daß im Staat alles dasselbe hoffen und fürchten. Die Gewalt des Staates hat ihre Schranke in der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur und der Vernunft, nach der alle darin übereinstimmen, was sie wünschen und verabscheuen. Zwischen mehreren Staaten besteht das Naturrecht; jeder Staat hat gegen den anderen soviel Recht, als er Macht hat. Jeder Krieg kann daher mit Recht unternommen werden, da es hinreicht, daß ein Staat den Willen dazu hat. Bündnisse gelten nur so lange, als die Ursachen ihres Zustandekommens, Furcht und Hoffnung, wirksam sind. Wenn sich daher ein Staat auf Bündnisse verläßt, so hat er selbst darüber zu wachen, ob für die Bundesgenossen noch der Antrieb zur Beobachtung der eingegangenen Verpflichtungen besteht, und hat im gegenteiligen Fall nicht die Untreue des anderen anzuklagen, wenn dieser das Bündnis bricht, sondern seine eigene Unvorsichtigkeit, seine Wohlfahrt jemanden anvertraut zu haben, dessen höchstes Gesetz das eigene Wohl ist.

Diese Rechtslehre SPINOZAs ist die strenge Konsequenz seiner gesamten Weltanschauung. Sofern das Einzelindividuum ein  modus  des Absoluten oder der Gottheit ist, ist das Streben nach Selbsterhaltung zugleich das Streben, vollkommen oder dem Absoluten adäquat zu sein. Das höchste Ideal der Macht ist zugleich das der Gottähnlichkeit, und je geringer die Macht, desto unvollkommener oder desto weniger gottähnlich ist das Einzelindividuum.  Die Identität von Recht und Macht befriedigt das Rechtsgefühl nur insofern das Ideal der Vollkommenheit erreicht wird;  sofern aber der Mensch unter diesem Ideal bleibt, ist das Recht nur mangelhaft, was mit der allgemeinen Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur notwendigerweise zusammenhängt. Die Einsicht in diese ist es dann auch, die SPINOZA zu der Anschauung führt, daß es nicht darauf ankommt, nach seinem Recht, sondern am besten zu handeln, und daß der bürgerliche Zustand der des Friedens und der Sicherheit ist.  Die  Regierung ist die beste, unter der die Menschen einträchtig leben und die Gesetze halten. Die Mangelhaftigkeit des Rechts und der Rechtsinstitutionen wird also auch hier, wie bei HOBBES, durch außerhalb der Rechtssphäre liegende moralische Instanzen zu ergänzen gesucht.

In engster Beziehung zur Moral, jedoch noch ohne tiefergehende psychologische Analyse, behandeln das Recht die nun folgenden deutschen Rechtsphilosophen.

SAMUEL von PUFENDORF (1632 - 1694) behandelt das Naturrecht als Pflichtenlehre. Durch eine Vernachlässigung der Pflichten gegen uns selbst entsteht ein Unrecht gegen die Gesellschaft, welche ein Recht hat zu fordern, daß jeder für sie tätig ist und damit die höchst mögliche Kraft in ihre Dienste stellt. Die Pflichten gegen andere gebieten, niemanden zu verletzen und das Wohl der anderen positiv zu fördern. Die Heilighaltung der Verträge, worauf das Recht des Eigentums, der Familie und des Staates beruth, folgt aus der geselligen Natur der Menschen. Bei PUFENDORF erscheint also das Recht, da es Pflichtenlehre ist, eigentlich als Teil der Ethik; sein Prinzip, daß  der Einzelne in der Befriedigung seines Selbsterhaltungstriebes die Interessen der Gesellschaft nicht verletzen darf,  weil die seinigen die Geselligkeit, die Respektierung ihrer Bedingungen fordern, ist ein ethisches.

G. W. LEIBNIZ (1646 - 1716) betrachtet das Recht als ein moralisches Vermögen, die Pflicht als eine moralische Notwendigkeit. Moralisch ist, was einem guten Mann dem Natürlichen gleich gilt, gut aber ist der, welcher alle liebt, soweit es die Vernunft erlaubt.  Die Gerechtigkeit ist daher die Liebe der Weisen.  Lieben heißt, sich über die Glückseligkeit anderer freuen, oder die fremde Glückseligkeit zu der seinigen machen. Die Weisheit aber ist die Wissenschaft der Glückseligkeit; diese ist der Stand einer beständigen Freude. Es lassen sich drei Grade des Naturrechts unterscheiden:
    1. Das strenge Recht, welches aus dem Prinzip, den Frieden zu bewahren, entsteht, und das das Elend verhütet, indem es gebietet,  niemanden zu verletzen. 

    2. Die Billigkeit, welche zugleich einen höheren Grad darstellt, welche auch zu dem verpflichtet, wozu man rechtlich nicht gezwungen werden kann. Sie gebietet  allen  zu nützen, soviel jedem zuträglich ist und so viel jeder verdient.

    3. Die Pietät als der höchste Grad des Rechts. Aus dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an Gott als den Lenker des Universums ergibt sich, daß alles Löbliche nützlich und alles Schändliche schädlich ist. Daraus entspringt  die alles umfassende Gerechtigkeit, welche alle Tugenden in sich begreift. 
Nur das strenge Recht, das  ius strictum,  hat das Merkmal der Erzwingbarkeit. Darin liegt die Unterscheidung des Naturrechts und der Moral.

CHRISTIAN THOMASIUS (1655 - 1728) scheidet das Naturrecht, welches vom  ius strictum  handelt, von der Politik als der Wissenschaft des  decorum  [das Angemessene - wp], und der Ethik als der Wissenschaft des  honestum  [Ehrenvollen - wp]. Die Gerechtigkeit befiehlt: Tue keinem anderen, was du nicht willst, daß dir geschieht; die Wohlanständigkeit: Tue anderen, was du willst, daß sie dir tun; die Ehrbarkeit oder Sittlichkeit: Tue dir selbst, was du willst, daß andere sich tun. Die beiden ersteren beziehen sich auf den äußeren, die dritte auf den inneren Frieden. Nur die Gebote der ersteren Art sind erzwingbar.

Nach CHRISTIAN WOLFF (1679 - 1754) ist das Naturgesetz dasjenige, welches den zureichenden Grund der Verpflichtung in der Natur des Menschen und der Dinge erkennt. Das positive Gesetz, dessen verpflichtende Kraft vom Willen eines vernünftigen Wesens abhängt, kann zu nichts dem Naturgesetz Widersprechenden verpflichten. Dasselbe Naturgesetz gibt uns das  Recht,  die Handlungen zu begehen, zu deren Begehung es uns verpflichtet,' also auch zu den Mitteln, ohne welche wir dieser Verpflichtung nicht nachkommen können. Durch dieses Recht gebietet es aber andern, den Gebrauch unseres Rechts nicht zu hindern und gibt uns durch dieses Gebot das Recht, dem zu widerstehen, der uns daran hindern will. So entsteht das Zwangsrecht. Die Menschen können durch Strafen verpflichtet werden; denn einen Handlung, welche mit einem  malum  [Makel - wp] verknüpft ist, wird selbst für eine  mala  gelten.

Der wichtigste Fortschritt in der Betonung und Geltendmachung der Rechte des Individuums gegenüber dem Staat erfolgt in England, und zwar durch JOHN LOCKE.

JOHN LOCKE (1632 - 1704; Two treatise on government, 1689) ist der Vertreter des aus den englischen Revolutionskämpfen hervorgegangenen Konstitutionalismus. Sein Hauptverdienst ist, die Trennung der verschiedenen obrigkeitlichen Gewalten mit Nachdruck gefordert zu haben.  Die höchste Souveränität ruht im Volk.  Die gesetzgebende und die königliche Gewalt müssen sich seinem Ausspruch beugen. Wenn die Regierung sich der ihr übertragenen Macht durch die Übertretung eines Gesetzes unwürdig und verlustig gemacht hat, kehrt die Souveränität zum Volk zurück, von dem sie ausgegangen ist. Die Entscheidung darüber, ob die Repräsentanten und der Monarch das ihnen geschenkte Vertrauen rechtfertigen, gebührt dem Volk, welches die Befugnis hat, dieselben bei einer Verletzung ihrer Vollmacht abzusetzen. Der Fürst, der den Gehorsam bricht, den er dem Gesetz eidlich gelobte, setzt sich in einen Kriegszustand zum Volk; die Revolution erscheint somit als Notwehr gegen einen Angreifer. Mit Nachdruck betont LOCKE, daß  alle Menschen von Geburt frei und an Fähigkeiten und Rechten gleich  sind. Außer der väterlichen Gewalt gibt es von Natur aus keine Herrschaft des Menschen über andere. Jeder soll sich selbst erhalten, ohne die anderen zu verletzen. Das Recht, von jedermann als ein vernünftiges Wesen behandelt zu werden, gilt schon vor der Gründung des Staates, durch die erst die autoritative Macht, Streitigkeiten zu entscheiden, geschaffen wird. Der Naturzustand ist nicht ansich ein Zustand des Krieges, aber ein solcher würde herbeigeführt werden, wenn jedermann sein Recht, sich gegen Schaden zu bewahren, selbst ausüben würde. Der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft ist die Verhütung von Gewaltsamkeiten. Sie ist durch freien Vertrag gegründet und jedes Glied überträgt ihr seine Freiheit und Macht. Durch den Vertrag werden die natürliche Rechte nicht aufgehoben, sondern geschützt,  die Unterwerfung unter die Staatsgewalt ist eine freiwillige.  Politische Freiheit ist Gehorsam gegen das  selbst gegebene  Gesetz. Unterordnung unter den durch eine Majorität sich kundgebenden gemeinsamen Willen. Zwischen Obrigkeit und Untertanen findet eine Gleichheit des Vernunftgebrauches statt. Daher darf die politische Gewalt weder eine tyrannische, noch eine patriarchalische sein. Die volle Anerkennung der Individualität tritt besonders in LOCKEs "Briefen über die Toleranz" zutage. Er erklärt die unbeschränkte und gleichmäßige Duldung gegen jede religiöse Ansicht und Gemeinschaft für Recht, Pflicht und Bedürfnis. Er verlangt nicht bloß dieselben und gleichen Rechte in Bezug auf Versammlungen, Feste und öffentlichen Gottesdienst für alle religiösen Sekten, sondern es sollen sogar Juden, Mohammedaner und Heiden ihrer Religion wegen von den Rechten der Staatsbürger nicht ausgeschlossen werden. "Wer gegen Meinungen unduldsam, gegen Laster duldsam ist, der trachtet nach einem anderen Reich als dem Reich Gottes." Die Kirche ist ein freiwilliger Verein zum Zweck der öffentlichen Verehrung Gottes nach der Weise, die ein jeder für gottgefällig und seligmachend hält. Sie ist ein freier Verein, denn niemand wird als Mitglied einer Kirche geboren, sondern muß sich erst freiwillig an einen religiösen Verein anschließen. Die Mittel, der Kirche Gehorsam zu verschaffen, sind nur sittliche: Ermahnung, Erinnerung, Rat. Die Anwendung der Gewalt steht der Kirche nicht zu. Der Staat ist ein Verein ausschließlich für bürgerliche Interessen, nämlich für Leben, Freiheit, leibliches Wohl und Besitz äußerer Dinge. Zur Sorge für die Seelen hat die staatliche Obrigkeit keine Vollmacht, weder von Gott noch vom Volk. Über den Kultus, sowie über theoretische Lehren und Religionsartikel hat der Staat keine Autorität;  Überzeugung ist etwas Freies und kann nicht erzwungen werden.  Über praktische Meinungen hingegen hat die Obrigkeit und Gesetzgebung insofern zu wachen, als sie für die Sicherheit und das äußere Wohl der Gesellschaft zu sorgen hat. Die Obrigkeit darf keine Meinung dulden, welche den Regeln zuwiderläuft, die zur Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft notwendig sind. Die Kirche ist etwas vom Staat absolut Getrenntes. Dieser hat es nur mit dem leiblichen Wohl, jene mit dem Seelenheil zu tun. Die Duldung derjenigen, die anderer Meinung sind, und die Anerkennung der Gewissensfreiheit als ein natürliches Recht ist die sicherste Grundlage der eigenen Freiheit für alle Kirchen.

In diesen von LOCKE vertretenen Anschauungen ist das Recht der Individualität in vollstem Maß anerkannt. Insbesondere wird das Recht zur Bildung der eigenen Meinung, zur selbständigen Verarbeitung der eigenen Erfahrungen und zur Bildung einer eigenen theoretischen Lebensansicht in vollstem Maße gewahrt. Auch das Prinzip der Nichteinmischung der Staatsgewalt in das innere Leben der verschiedenen religiösen Bekenntnisse entspricht der vollen Wahrung der Freiheit des Innenlebens. Damit ist dem Recht die Grenze gezogen, welche dasselbe nur auf die äußerlich kontrollierbaren und konstatierbaren Handlungen und Äußerungen beschränkt. Die Begründung des Rechts auf die Autonomie des Volkes als der  Gesamtheit der gleichberechtigten Einzelindividuen  ist grundverschieden von jeder Tyrannei, die nur die Übermacht allein als Quelle des positiven Rechts anerkennt. Auch die Loslösung der Gesetzgebung und des Rechts von jeder kirchlichen Autorität und damit die Abweisung jeder Zurückführung auf eine vermeintliche göttliche Offenbarung ist nur die Konsequenz der Fundierung des Rechts auf die Überzeugung jedes Einzelnen. Es klingt damit schon die Erkenntnis an, daß die Wurzel des Rechts in der sittlichen Überzeugung des Individuums ruht und daß alle Sicherheit des Rechtslebens im Gewissen des Einzelnen und damit in dem der Gesamtheit die einzige Grundlage hat.

Die weitere Fortbildung der Moral- und Rechtsphilosophie geht in England von einer Reihe von Denkern aus, die unter der Bezeichnung "englische Moralisten" zusammengefaßt werden.

Diese englischen Moralisten sind die ersten Vertreter einer autonomistischen Moralphilosophie. MATTHÄUS TINDAL (1656 - 1733) hatte schon vorher die Sittlichkeit als das Handeln gemäß der Vernunft der Dinge (reason of the things) bezeichnet; SHAFTESBURY (1671 - 1713) begründete die Lehre, daß das menschliche Sittengesetz auf einem in der menschlichen Natur gegebenen  autonomen Trieb  beruth; der Mensch trägt in den ihm angeborenen Neigungen den Gegensatz des Guten und Bösen, und die sittliche Aufgabe des Menschen besteht darin, die bösen Neigungen zu unterdrücken, die guten aber in Harmonie zu setzen. Die  Harmonie  zu suchen treibt den Menschen ein sittlicher Instinkt an, der sogenannte  moralische Sinn.  Gut ist vor allem die natürliche, auf die Erhaltung und Wohlfahrt der Gattung gerichtete Neigung. Tugendhaft kann ein empfindendes Wesen nur sein, wenn es über seine eigenen oder fremde Handlungen reflektieren kann. Hierin liegt ein Gebrauch der Vernunft, welcher hinreichend ist, die richtige Anwendung der Neigungen zu sichern und einen stetigen gleichförmigen Willen zu bilden. Die Tugend besteht in einem richtigen Verhältnis der Neigungen eines vernünftigen Geschöpfs zu den moralischen Gegenständen von Recht und Unrecht.

RICHARD CUMBERLAND (1632 - 1719) tritt in seinem Werk als Gegner von HOBBES auf. Er gründet Recht und Moral auf das  Wohlwollen.  Der Mensch ist von Natur ein geselliges, zum Wohlwollen geneigtes Wesen; die Gesetze unserer Natur verlangen, daß ein jeder auf sein Wohl bedacht sein, aber zugleich das allgemeine Wohl fördern soll. Die menschliche Gesellschaft soll sich ähnlich gestalten, wie das System der Himmelskörper, und wie in der Bewegung der letzteren keiner den andern hindert, sondern jeder vielmehr zur Bewahrung des Ganzen nötig ist, so soll sich auch der Mensch mit seinen Kräften frei bewegen, sich aber zugleich auch denjenigen Handlungen unterordnen, welche zur Bewegung und Bewahrung des Ganzen nötig sind. Mit dem Gesetz der Bewahrung des Wohlwollens Aller ist zugleich das Gesetz der Konstituierung und Bewahrung des Eigentums auf Sachen und Personen und der Rechte des Einzelnen gegeben. Alle Pflichten folgen aus dem allgemeinen Gesetz: "Bib anderen und bewahre dich selbst."

FRANCIS HUTCHESON (1694 - 1747) sucht die Lehren SHAFTESBURYs systematischer auszuführen. Er bringt  den moralischen Sinn in Parallele mit dem Schönheitssinn.  Der moralische Sinn beruth darauf, daß keinem Menschen von gesundem Verstand alle Handlungen indifferent erscheinen; auch ohne Rücksicht auf den eigenen Vorteil und Nachteil gibt es eine Freude der Selbstbilligung und ein warmes Gefühl für fremde Not. Sobald wir uns dieses moralischen Sinnes bewußt werden, wissen wir auch, daß er bestimmt ist, all unser Vermögen zu beherrschen. Die erste und höchste der Willensbestimmungen, welche vom moralischen Sinn gebilligt werden, ist das allgemeine und besondere Wohlwollen; sodann kommen Tapferkeit, Rechtschaffenheit, Wahrheitsliebe. Die eigentliche Pflichtenlehre erscheint bei HUTCHESON in Gestalt eines Naturrechts, welches die speziellen Gesetze, Rechte und Pflichten zuerst ohne Rücksicht auf das gesellschaftliche Leben, dann nach ihrer Betätigung in der bürgerlichen Gesellschaft behandelt.

ADAM SMITH (1723 - 1796), der Begründer der Nationalökonomie, verwirft den moralischen Sinn HUTCHESONs und geht von der Tatsache aus, daß wir über die Handlungen anderer tatsächlich urteilen und daß wir dazu nur dadurch instandgesetzt werden, daß  wir uns durch die Phantasie in die Lage der anderen versetzen.  Daraus entsteht eine Art von Mitgefühl oder Sympathie, welche weder mit dem Mitleiden verwechselt, noch auch als ein selbstisches Prinzip aufgefaßt werden soll, da diese Sympathie nicht frägt, was mich selbst, sondern was andere betrifft. Die sittliche Billigung trifft die Absicht oder Gesinnung der Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, der Wohl- oder Übeltätigkeit der Handlung. Strafbar sind die ungerechten Handlungen, die anderen Schaden zufügen, welche wir von Natur mißbilligen aus unmittelbarer Antipathie gegen die Gesinnung des Handelnden und aus unmittelbarer Sympathie mit dem Unwillen des Leidenden. Je größer das zugefügte Übel ist, desto höher steigt der Zorn des Leidenden, der sympathetische Unwille der Zuschauer und das Schuldgefühl des Täters. Erfahrungen über die Handlungen anderer leiten uns unmerklich zu gewissen allgemeinen Regeln über das, was billig und schicklich ist. Die  Achtung vor diesen Regeln  ist das  Pflichtgefühl,  und die  Ehrfucht vor diesem allgemeinen Gesetz  wird gekräftigt durch die Auffasung dieser Gesetze als Gebote Gottes.

WILLIAM WOLLASTON (1659 - 1724) stellt als Prinzip auf, daß jedes tätige, intelligente und freie Wesen sich so betragen soll, daß es durch seine Tätigkeit keiner Wahrheit widerspricht, oder daß es jedes Ding als das, was es ist, behandelt. Diejenige Handlung ist gut, welche der Natur des Gegenstandes angemessen ist; jede schlechte Handlung ist eine Lüge, und einen Vertrag verletzen heißt ihn leugnen.

Ähnlich sucht SAMUEL CLARKE (1675 - 1729) das Wesen der Tugend darin, daß der Mensch jedes Ding nach seiner Stelle im Weltganzen harmonisch gebraucht. Gegen HOBBES behauptet CLARKE die Notwendigkeit eines ebenso vom Willen Gottes, wie von menschlichen Verträgen unabhängigen Sittengesetzes. Durch die Erkenntnis der natürlichen notwendigen Beziehungen der Dinge und Wesen werden die Handlungen der intelligenten Wesen beständig gelenkt, wenn nicht ihr Wille durch besondere Interessen und Gemütszustände verdorben oder von unvernünftigen Lüsten beherrscht ist. Der vom Willen unabhängige, unvoreingenommene Vernunftausspruch als  Urteil des unmittelbaren Wahrheitsinstinktes  belehrt uns richtig und sicher über die Angemessenheit der Beziehungen und Verhältnisse zwischen Dingen und Wesen. Der Mensch handelt naturgemäß und tugendhaft, wenn alle seine Handlungen den natürlichen Verhältnissen der Wesen untereinander entsprechen und wenn er die  Angemessenheit der Dinge zum Weltganzen  in seinem Teil fördert.

Auch ADAM FERGUSON (1723 - 1816) tritt als Gegner von HOBBES auf. Er führt die Willenserscheinungen auf drei Grundgesetze zurück, nämlich auf das der  Selbsterhaltung,  der  Geselligkeit  und der  Wertschätzung.  Die richtige Anwendung dieser Grundgesetze im Einzelnen bildet den Inhalt der Moral, der Rechtslehre und der Politik.

Das den englischen Moralisten Gemeinsame ist die Annahme feststehender, natürlicher Verhältnisse sowohl der Dinge und der Wesen, als auch derartiger Willensverhältnisse. Von denen müssen die einen unbedingt gelobt, die anderen getadelt werden.  Den ethischen Verhältnissen stehen die ästhetischen parallel,  über beide wird dieselbe Art von Urteilen gefällt, nämlich Geschmacksurteile. Die zu billigenden ethischen und ästhetischen Verhältnisse werden noch nicht systematisch dargestellt, aber die Erkenntnis tritt hervor, daß sie nicht auf einander zurückgeführt werden können, sondern zu koordinieren sind. Der Begriff der Pflicht, der nur aus hochentwickelten Achtungsgefühlen hervorgehen kann, wird in seiner tieferen Bedeutung als die Grundform des Ethischen noch nicht erkannt.

Den englischen Moralisten nahe steht der Skeptiker.

DAVID HUME (1711 - 1776); er trennt scharf Vernunft und Willen. Erstere ist bloß theoretisches Denken in der Welt der Ideen, der Wille aber gehört zum Reich der Realitäten. Ebensowenig wie die Vernunft einen Willen hervorrufen kann, kann sie ihn verhindern; dies könnte sie nur, wenn sie den Passionen eine andere Richtung zu geben imstande wäre; aber die Passionen sind ursprüngliche Modifikationen der Existenz und haben mit Wahrheit und Vernunft nichts zu tun. Die Moralität gehört zur praktischen und nicht zur spekulativen Philosophie, da ihre Regeln nicht Schlüsse der Vernunft sind;  löblich  und  schändlich  sind auf praktischem Gebiet dasselbe wie  vernünftig  und  unvernünftig  auf theoretischem. Die Vernunft ist nur die Entdeckung der Übereinstimmung oder des Widerstreits des Denkens mit den wirklichen Relationen der Ideen oder mit der realen Existenz und den Tatsachen. Der Unterschied zwischen Tugend und Laster entspringt nicht den Ideen, sondern den Impressionen. Die Impressionen der Tugend sind angenehm, die des Lasters unangenehm. Das Löbliche oder die Tugend ist entweder künstlich oder natürlich; ersteres dann, wenn es auf einer nicht von der Natur gegebenen Lage der Menschen beruth. Die Gerechtigkeit gehört zur künstlichen Tugend, weil ihre Regeln durch eine künstliche Tätigkeit der Menschen festgesetzt sind. Wegen der unendlichen Vorteile der Gesellschaft suchen die Menschen die äußeren Güter fest und konstant zu machen, um die Gesellschaft nicht zu stören. Dies geschieht durch die Übereinkunft, jeden in Frieden genießen zu lassen, was er durch Fleiß und Glück erringen mag. Mit dieser Übereinkunft entstehen unmittelbar die Ideen der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit; nach diesen die des Eigentums, des Rechts und der Verpflichtung. Die Quelle der moralischen Billigung der Gerechtigkeit ist die  Sympathie mit dem allgemeinen Wohl.  Die ethischen Ausführungen HUMEs sind durch die strenge Scheidung der theoretischen und praktischen Philosophie bemerkenswert. Die Idee des Rechts ist noch zu sehr mit der des Wohlwollens verknüpft, doch wird sie von der der Vergeltung streng geschieden. Die Schranke der Rechtsauffassung bei HUME ist die, daß das Gefühl der Sympathie für eine tiefere Fundierung des Rechtsgefühls und für seine Sicherheit allein nicht ausreicht. Die Sympathie, in ihren Schwankungen und in ihrer leichten Beeinflußbarkeit durch allerlei nebensächliche und nicht zu den strengen Rechtsfragen gehörenden Momente, vermag keine sichere Grundlage für die Betätigung des Rechtsgefühls zu bilden.

Die Ausbildung der Moral- und Rechtsphilosophie innerhalb der  französischen Philosophie der Aufklärung  steht vorwiegend unter dem Einfluß der englischen. MONTESQUIEU (1687 - 1755) folgt hauptsächlich den Lehren LOCKEs. Er betont die  Naturbedingtheit aller staatlichen und rechtlichen Einrichtungen  durch Boden und Klima. Sittenbildung und Religion, und lehrt die innige  Wechselwirkung zwischen den Gesetzen und dem Volksgeist  und sieht den Zweck des Staates in der Verwirklichung gesetzlicher Freiheit, die am besten durch die konstitutionelle Monarchie erreicht wird. Als Voraussetzung der gesellschaftlichen Ordnung nimt er einen Naturzustand an, der nicht im Gefühl der Stärke besteht, sondern in dem der Schwäche. Erst in der Gesellschaft beginnt der Mensch sich stark zu fühlen, und darum beginnt erst mit dieser der Kriegszustand. Zu seiner Beeindigung dienen die Gesetze und zwar das bürgerliche Recht, das Staats- und Völkerrecht. Jede Verfassung hat ein eigentümliches Prinzip und fordert zur Sicherung der politischen Freiheit ein bestimmtes Erziehungsgesetz und ein bestimmtes Staatsgesetz. In jeder Staatsverfassung muß eine Trennung der gesetzgebenden, richterlichen und vollziehenden Gewalt vorhanden sein. Die verschiedenen Inhalber der Staatsgewalt müssen sich gegenseitig kontrollieren. Das Wichtigste ist, die Omnipotenz zu vermeiden und die Leidenschaften auszugleichen. Durch das wohlverstandene Interesse werden die Menschen zur Ausübung der Gerechtigkeit geführt, während sie durch Selbstsucht und Ungerechtigkeit zugrunde gehen. Die politische Tugend, die Liebe zum Vaterland und die Achtung der Gesetze besteht nur im Voranstellen des allgemeinen Interesses vor das eigene.

VOLTAIRE (1694 - 1778) hat sich hauptsächlich durch die Bekämpfung der mangelhaften Rechtspflege seiner Zeit und durch persönlichen Eifer für Wahrheit und Gerechtigkeit verdient gemacht. Er hält die Gerechtigkeit für die Voraussetzung des Bestandes jeder Gesellschaft.
    "Keine Gesellschaft kann ohne Gerechtigkeit bestehen, also ist unser Gott gerecht, und wenn der Staat die ans Tageslicht getretenen Verbrechen straft, so ist es Gott, der auch die heimlichen und verborgenen heimsucht. Wie das Gesetz der Gravitation auf die ganze Stoffwelt wirkt, so wirkt auch das Grundgesetz der Moral in gleicher Art auf alle Menschen und Völker; bei allen Abweichungen in der Anwendung und Auslegung des Gesetzes ist der Grund überall ein und derselbe: er ist die Idee von Recht und Unrecht."

    "Die idealen Güter, um die er ein langes Leben hindurch mit unermüdetem Eifer, mit leidenschaftlicher Hingebung, mit jeder Waffe des Geistes, vor allem mit seinem schrecklichen Spott gerungen hat, Duldung, Geistesfreihiet, Menschenwürde, Gerechtigkeit sind uns gleichsam zum natürlichen Lebenselement geworden, wie die Luft, an die wir erst denken, wenn sie uns fehlt, mit einem Wort, was einst aus VOLTAIREs Feder floß, ist heute Gemeinplatz geworden." - Du BOIS REYMOND (1).
VOLTAIREs Bedeutung für die Entwicklung des Rechts liegt somit weit mehr als in seinen theoretischen Darlegungen in seiner praktischen Wirksamkeit und in der Begeisterung wie überhaupt in der Gefühlswärme, die er für Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit zu wecken verstanden hat.

Auch JEAN-JAQUES ROUSSEAU (1712 - 1778) hat seine Bedeutung vorwiegnd in der starken Gefühlsbetonung, die seine Darlegungen über Recht, Staat und Gesellschaft begleitet. Es genügt nicht, daß ein "Gesetz eben Gesetz sei", sondern es muß unmittelbar durch die Stimme der Natur zu uns sprechen; dagegen zeigt der Staat, wie er ist, nur die Gewalt der Mächtigen und die Unterdrückung der Schwachen; "aber man muß sondern, was der göttliche Wille hervorgebracht hat und was nur die Künstelei der Menschen." Sein politisches System entwickelt er in dem Werk "Du contrat social ou principes du droit public". Im Unterschied zu HOBBES leitet er aus dem Gesellschaftsvertrag nicht die absolute Gewalt der Fürsten ab, sondern behält die Gewalt dem Volkswillen vor. Er proklamiert die absolute und unveräußerliche Souveränität des Volkes. Die Regierung des Staates ist das Organ des Volkswillens; das Volk übt die gesetzgebende Gewalt selbst unmittelbar aus, während es die Exekutive Einem und Einigen überträgt. Ob ersteres wie in der Monarchie oder letzteres wie in der Demokratie stattfinden soll, hängt ganz vom Volk ab, welches auch jederzeit seinen Willen zu ändern berechtigt ist. Der Gesamtwille -  volonté générale  - im Gegensatz zum Willen aller einzelnen -  volonté des tous  - soll das innerste Streben des ganzen Volkes ausdrücken, welches auf die gemeinsamen Interessen, auf das, was die Wohlfahrt des Volkes im Ganzen und im Einzelnen während der wechselnden Generationen sichern und fördern kann, gerichtet ist. Die Abhängigkeit vom Gesamtwillen ist für den Einzelnen keine Unfreiheit, weil dessen eigener Wille und eigenes Interesse in ihm enthalten ist. Durch seine Teilnahme an ihm ist jeder Einzelne  membre du souverain,  während er in seinem Gehorsam gegen die an ihn gestellten Forderungen als Untertan dasteht.
LITERATUR Sigmund Kornfeld, Zur Geschichte des Rechtsgefühls, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Bd. 2, Leipzig 1919
    Anmerkungen
    1) EMIL DUBOIS-REYMOND, Voltaire in seiner Beziehung zur Naturwissenschaft, Berlin 1868